. von bells-mannequin (punktpunktpunktpunkt...) ================================================================================ Kapitel 1: Kuriose Merkwürdigkeiten Einer Liebe ----------------------------------------------- KURIOSE MERKWÜRDIGKEITEN EINER LIEBE Seht ihr diesen Jungen da? Ja, genau, der mit dem unsteten Blick, der, der die Lehrer zum Weinen und die Jungs zum Sich-In-Die-Hose-Pissen bringt. Dies ist mein Freund, meine große Liebe, mein Seelenverwandter. Glaubt ihr nicht? Stimmt, ich vergaß. Ihr wisst schließlich, wer ich bin und was und wieso und sowieso seid ihr viel klüger als ich, hm? Ich weiß nicht, was ihr entdeckt, wenn ihr mich anseht – manchmal ist ein Blick eines Dritten gar nicht mal so schlecht – aber wenn ich mich im Spiegel betrachte, dann frage ich mich doch hin und wieder, genau wie ihr, warum ich mit diesem Typen zusammen bin. Ich bin hübsch, oh ja, sehr hübsch. Und ich habe den Ruf als anständiges Mädchen mit süßem Mund weg, seit dieser Liste damals in der Achten, als rumgefragt wurde, wer das heißeste Mädchen der Klassenstufe ist. Nein, ich bin nicht sexiest girl dieser High School, aber ich bin zumindest genug, dass belesene Jungs und untadelige Footballspieler sich nach mir umdrehen. Dieser Junge, mein Junge, sagt immer, ich bin eine sommerlaue Regennacht – und manchmal frage ich mich, wieso. So wie ich mich in letzter Zeit sowieso immer frage, wieso – denn ich verstehe es leider besser, als es gut für mich und meinen unglaublich labilen Geisteszustand sein würde. „Hey, Ria!“ Merkt ihr’s? Selbst mein Name ist nett. Ma-ri-a. Eklig. Vor mir steht der allseits beliebte und einfühlsame Maximilian, Stufensprecher mit süßem Lächeln und anziehenden Grübchen. „Hallo, Max.“ Ich warte ab. Und hey – schaut bloß nicht so. Wenn ich warten kann, werdet ihr das auch können. Ihr werdet schon noch die Pointe dieses Gesprächs sehen. „Ich… ähm, na ja, jetzt, wo ich mich-… um die Belange meiner Mitschüler sorgen soll“, er zuckt unsicher mit den Schultern, „also, was ich fragen will: Bist… bist du noch mit ihm zusammen?“ Na? Seht ihr jetzt, was ich gemeint habe? Mit ihm. Ist sein Name jetzt schon eine ansteckende Krankheit, oder was? „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Max.“ Ich kann mittlerweile nicht mehr einschätzen, was für einen Ton ich Leuten wie ihm gegenüber anschlage, und ehrlich – es ist mir auch ziemlich egal. Max’ Gesicht verzieht sich gekränkt. Natürlich. Wie konnte ich bloß vergessen! Uns verbindet, müsst ihr wissen, eine tiefe und innige Beziehung, wie er des öfteren schon erwähnt hat. Ich mach ihm da keine Vorwürfe – die Stufenwahlen waren knapp und so einen Eyecatcher wie gewisse Hintergrundinformationen zu der größten Sache des Jahres darf man sich nicht entgehen lassen. Und da ich versuche, ehrlich zu bleiben, kommt hier die große Enthüllung: Max und ich – jahhh, wir waren mal miteinander aus. Vor einem halben Jahr bei McDonalds und er hat für mich bezahlt und es war nett – sehr nett. Dass daraus nicht mehr geworden ist, dafür kann schließlich niemand was. Zumindest nicht so sehr. Hoffe ich. „Ich mach mir Sorgen um dich, Ria.“ Uhh, er zieht das Besorgter-Freund-Register auf! Chapeau! Und ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Süßer.“ Dann klopfe ich ihm auf die Schulter und gehe den Gang entlang in meine Englischklasse. Was mich dort erwartet, ist nicht viel besser, wenn ich ehrlich bin. In der einen Ecke sitzt Taylor, deren besorgte Blicke ich im Moment echt nicht ertrage, in der anderen Andrew, der gerade mit Taylor Schluss gemacht hat, und gedankenverloren in unsrer Lektüre krakelt. Und natürlich, mitten in der Klasse, sitzt Griffin. Griffin. Griff-in. Grif-fin. Griffin. Komisch. Egal, wie sehr ich den Namen anders intoniere – es ist immer wieder nur ein Name und kein Terrorangriffalarm. Ich frage mich echt, wie dieser Junge es tatsächlich geschafft hat, sich innerhalb einiger Jahre so stark zu etablieren, dass den Frischlingen bei seinem Namen Angst und Bange wird. Die Leute auf dieser Schule werden ihren zukünftigen Sohn niemals Griffin taufen, und sie werden immer wieder dieses mulmige Schluck-Gefühl haben, wenn sie einen Kollegen kennenlernen, der diesen Namen trägt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, wühle in meiner Tasche nach meinem Lieblingskugelschreiber und überlege mir noch andere alberne Dinge, um Zeit zu schinden, die ich damit verbringe, panisch zu überlegen, neben wem ich es in den nächsten Minuten am besten aushalten werde und bei wem die Nebenwirkungen und das Gemurmel sich am meisten in Grenzen halten wird. Ich stöhne innerlich, als ich mich Andrew nähere und mich dann mit einem lauten Plumps neben ihn fallen lasse: „Gott des Wahnsinns, rette mich.“ Andrew lacht mich aus und nicht zum ersten Mal in diesen Monaten frage ich mich, ob ich nicht vielleicht eine masochistische Ader habe. Soweit ich weiß, hat meine Mutter meinen Vater schon seit dem Studium an der Backe – freiwillig. So erklärt sich zumindest das. Und wenn ich mal Revue passieren lasse… doch, könnte hinkommen. Ich zähle mal für euch zusammen: Zuerst treffe ich vor sechs Monaten beim Nachsitzen auf diesen Jungen, Griffin, den Schulbösewicht. Dann verliebe ich mich in ihn. Wollt ihr noch mehr Grausamkeit? Er verliebt sich auch in mich. Und wir kommen zusammen. Seht ihr? All dies ist fatal. Jetzt kommt unsre Englischlehrerin in den Raum, eine Frau, deren Blütezeit vorbei ist, und die sich ihre Haare pink gefärbt hat und öfter mal rote Kontaktlinsen trägt, mit Shakespeares berühmten Worte auf den Lippen: „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage!“ Manchmal frage ich mich, ob sie nicht auf so einer Cosplay-Convention besser dran wäre. Oder in einem Hippiezirkus. Andrew murmelt „Auftritt Arschloch“ und routinemäßig drehe ich mich zu Griffin, der in diesem Moment seine Sachen zusammenklaubt und aus dem Unterricht geht. Ms Thompsen schreibt es nicht mal mehr auf. Vielleicht mag sie ihn ja. Guter Witz, huh? °°° Normalerweise habe ich mit meinen Freunden in der Kantine gegessen, aber jetzt, wo ich entweder genervt von ihnen, oder sie eben von mir sind, setze ich mich lieber auf eine nette Grünfläche neben dem Sportplatz und esse Haferflocken-Vollkornbrote, die meine große Schwester momentan am liebsten mit Bananenscheiben und Salz belegt, weil sie meint, damit hätten die Maya früher böse Geister vertrieben. Ich will einzig erwähnen, dass es eklig schmeckt. Nur, dass ihr Bescheid wisst und euch niemals von eurer Schwester so’n… Zeug auftischen lasst. Ein Schatten fällt auf mich und ich weiß, Lady Kummerkasten will mich wieder einmal retten. Ich seufze. „Taylor, setz dich doch.“ Und steh mir gefälligst nicht in der Sonne. Würd ich echt gern sagen – aber ehrlich, ihr würdet euch auch nicht gern mit Taylor anlegen. Schon gar nicht, wenn ihr mit Griffin zusammen seid. Taylor ist für mich das, was einer besten Freundin am nächsten kommt. Das ist das Problematische, denn ich hasse beste Freundinnen mit ihrer Anhänglichkeit und ihrem Gehabe und ihren Insidern und all dem. Gut, okay, streicht den letzten Satz, der war gelogen. Ich bin ein Mädchen wie jedes andere und ganz einfach aus einer Natur heraus liebe ich es, zu reden und zu giggeln und natürlich auch zu tratschen und mich über albernen Liebeskummer ausweinen zu können. Taylor ist ein liebes Mädchen, in der ganzen Schule bekannt dafür, immer Pfirsichnektar und ein offenes Ohr zu haben, und sie hat mich zu ihrer besten Freundin erkürt. Ich sollte mich geehrt fühlen, so einfach ist das. Taylor O’Bryan ist eine dieser klassischen Schönheiten mit blassem perfekten Teint und dichtbewimperten nussbraunen Augen und sie nutzt es vollkommen aus. Ihrem Augengeklimper kann niemand widerstehen – wahrscheinlich wird auch Andrew spätestens in zwei Wochen wieder bei ihr zu Kreuze kriechen und sie wird ihn zurücknehmen, weil sie ihm nun mal einfach verfallen ist und weil es so schrecklich gut zu ihr passt, einen intellektuellen Außenseiter mit Scheißdrauf-Image an der Angel zu haben. Nicht böse gemeint. Die Wahrheit ist es dennoch. „Danke, Maria.“ Taylor ist die einzige Person in dieser und allen anderen Galaxien, der ich es nachsehe, wenn sie mich Maria nennt – und das auch nur, weil sie so eine weiche angenehme Stimme hat, mit der dieser Name tatsächlich nach jungfräulichem Weiß klingt statt nach Fischweib in Camaar. Sie legt ihre Tasche neben meine, setzt sich in den Schneidersitz und holt dann zwei überaus verführerisch aussehende Muffins hervor. Ist euch nun klar, was für ein Biest dieses Mädchen ist? „Karamell oder Schoko?“, fragt sie mit einem Kichern in der Stimme. „Du solltest wissen, edle Taylor, dass Ria für Karamell morden würde.“ Einsatz Griffin. War so klar. Ich denke, ich brauche keine großen Erklärungen abgeben, liebe Leute. Ihr hört es doch und ihr seid schließlich auch nicht blind. Selbst in diesen zehn Wörtern ist so viel Dynamit und Arschloch enthalten, dass Taylor gar nicht anders kann, als rot zu werden und hastig den Blick zu senken. Griffin grinst spöttisch. Was für ein Wichser. Und den hab ich mir tatsächlich an Land geholt? Ich bin so eine Idiotin. Und dann – sieht er mich an. Grau sind seine Augen. Sturmwettergrau. In diesem Moment. Hört ihr das? Oh Gott, ich hoffe nicht. Und scheiße, ihr merkt es doch, oder? Wie fahrig meine Hände werden, als ich den Muffin von Taylor nehme, wie unsicher, als ich nach meiner Wasserflasche greife und dabei nahezu Griffins Arm berühren muss. Das ist die Erklärung dafür. Eine andere gibt es nicht. Ich bin in diesen Jungen verliebt. Und so sehr ich mich auch dagegen sträube – ich glaube kaum, dass Griffin mich jemals wieder gehen lässt. Dazu bräuchte er Dinge wie Empathie oder Freundlichkeit oder dieses romantische Denken, das manche Kerle pflegen. Ihr wisst schon: Ich lass dich gehen, weil du nur ohne mich glücklich wirst. Vergiss mich. Ich liebe dich. Pusteblume. Falls Griffin tatsächlich glücklich ist, wenn er mit mir zusammen ist, falls er wirklich Gefühle für mich hat – dann zählt für ihn alleine das. Dann ist es ein unwichtiger Nebenpunkt, ob ich will oder nicht. Er wird mich niemals gehen lassen. Ach kommt schon, seht mich doch nicht so skeptisch an! Ja, ich weiß. Niemand von euch Deppen braucht mir zu sagen, dass ich eh nicht gehen will. Es gibt genügend Momente am Tag, an denen mir das selbst klar wird. Schrecklich. Dieses Gefühl. Ich rate euch dringlichst: Wenn ihr der Liebe aus dem Weg gehen könnt, macht das auch. Oder ihr werdet enden wie ich. Als Taylor sich genügend gesammelt hat, versucht sie ihrer Stimme ein wenig ihrer alten Kummerkastenkraft zu verleihen: „Ich gehe jetzt.“ Aber viel mehr sagt ihr missbilligender Blick. Mach endlich Schluss mit diesem Versager, sagt er. Du hast was Bessres verdient. Ist mir durchaus bewusst, liebste Taylor. Und, was gedenkst du, soll ich tun? Sie wendet den Kopf ab, steht schnell auf, erwischt ihre Sachen und läuft Richtung Bücherei. Ich hebe den Blick und schließe meine Augen vor der flimmernden Sonne. Mehr kann ich nicht machen. Niemals mehr. „Hey Ria; hey Arschloch! Na, wie geht’s euch?“ Andrew kommt vorbei, fläzt sich sofort zu uns ins Gras und greift nach meinem unberührten Muffin. Andrew Parker ist, seit ich denken kann, immer da gewesen. Er war in meinem Kindergarten, in der Primary School, Middle School – und jetzt sogar hier. Wenn ich nicht schon behaupten würde, Griffin sei mein fleisch gewordener Albtraum, würde ich diesen Titel mit Ehre und Sahnetorte an Andrew weitergeben. Aber ich will natürlich nicht gleich einen auf theatralisch machen, was meint ihr? „Warum gehst du nicht einfach sterben, Alter?“, erwidert Griffin ungerührt und greift in seine Jackentasche nach seiner Zigarettenschachtel. Oh, ich sehe was, was ihr nicht seht, und das sind eure Stirnen! Noch so’n Laster, steht da drauf, und: Ob der Marihuana raucht? Ich kann euch beruhigen – hoffe ich zumindest, denn falls ihr andere Informationsquellen haben solltet, dann werde ich wohl in Panik ausbrechen müssen, wenn dieser versoffene und arrogante Schleimbeutel auch noch andere Sachen macht. Er raucht. Oft. Er kifft. Manchmal. Und er ist einem Bier – oder zwei, drei, vier – nicht abgeneigt, aber das ist schließlich nichts Außergewöhnliches, in keiner Hinsicht. Nur ist es bei ihm plötzlich der erste Schritt in die Sucht, bis er später an irgendeiner mysteriösen Leberkrankheit plus Lungenkrebs verstirbt, wohingegen alle anderen Jugendlichen auf der Welt nur ein bisschen chillen – welch impertinentes Wort – wollen. Ihr würdet doch niemals über die Stränge schlagen, oder? Ich sehe euch eure hübschen Köpflein schütteln? Sehr schön. Andrew findet Griffin lustig. Keine Ahnung, was bei dem schief gelaufen ist, aber irgendwie fühlt er sich nicht… beleidigt. Weiß der Geier, wieso. Andererseits ist Andrew auch wie jeder andere von Griffins Potential als Vollspacken des Jahrhunderts überzeugt und somit schließt sich der Kreis wieder und wir sind beim Anfang. Und drehen uns weiter. Immer und immer wieder. „Lass mich in Ruhe, Andrew“, sage ich. Er zuckt unberührt mit den Schultern: „Hast du Taylor gesehen?“ „Nein“, lügt Griffin sanft. „Haben wir nicht.“ Wer würde ihm nicht glauben? Andrew hebt eine Augenbraue, aber das ist eigentlich ziemlich egal. Ich ächze und halte mich nur knapp davon ab, ihn zu schlagen. „Geh sie einfach suchen.“ Er küsst mich als Antwort auf die Wange, wuschelt mir einmal mit Schwung durch die Haare und weg ist meine Frisur und mein bester und komischster Freund dazu. Und dann sind wir allein. Furchtbar. Ihr fragt euch sicherlich, was ein Mädchen wie ich und ein Junge wie Griffin machen, wenn sie alleine sind. Am besten noch in einem leeren Klassenzimmer oder auf der Mädchentoilette, um die pervers Angehauchten unter euch zufrieden zu stellen. Sicherlich, wir könnten rumknutschen und fummeln und all das. Könnten wir. Tun wir aber nicht. Oh, und streicht das Klassenzimmer weg. Die Schule ist aus. Also machen wir uns auf zu mir nach Hause, und auf dem Weg dahin reicht es mir, dass Griffin mich so komisch wie immer ansieht und ich mir vorkomme, als hätte ich ein Loch in meinem Bauch, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob meine Gedärme rausfallen oder nicht. Iehh. Ich bin eklig. Wir gehen eigentlich immer zu mir. Oder irgendwo anders hin. Um genau zu sein, habe ich Griffins Heim ungefähr fünf Mal innerhalb von sechs Monaten gesehen und davon auch nur Toilette, Küche und Griffins Zimmer. Das Gute an zu mir ist die Tatsache, dass meine Eltern in einem kleinen Familienbetrieb mit meinen beiden Tanten und ihren Männern arbeiten und sie so gut wie alles selbst arbeiten – dementsprechend spät kommen sie auch immer nach Hause. Zwei Punkte sind damit erfüllt: Privatsphäre. Und Heimvorteil. Was auch immer das mir bei Griffin helfen soll. Er verändert sich nicht, das ist das Problem. Griffin ist… einfach immer Griffin, in jeder Situation, und es hat absolut nichts mit Image zu tun, dass er immer so ein Riesenwichser ist und jeden beleidigt und sowieso. Ich hab ihn mal gefragt, ob er wirklich alle so verabscheut, wie er tut, und er hat gesagt, dass er es nicht weiß – was mich schließen lässt, dass all diese Leute ihm tatsächlich nicht wichtig genug sind, dass er sich nicht zumindest ein kleines wenig um sie kümmert. Auf einmal aber weiß ich nicht, ob ich ihm wichtig genug bin, und dann bemerke ich wieder, wie mädchenhaft ich mich verhalte, weil ich doch schließlich zumindest das Eine weiß, und das ist, dass Griffin tatsächlich in mich verliebt ist. Wenn schon nichts anderes Positives für ihn spricht, dann zumindest das. Liebe ist doch immer ein edler Punkt, oder? Das sagen die Leute zumindest andauernd, aber wenn ihr selbst ehrlich seid, dann müsst ihr zugeben, dass es eine langatmige Floskel ist, oder? Mir zumindest hat seine Liebe nichts als Ärger gebracht, zumindest von dem einen Gesichtspunkt aus gesehen: Mein Image ist jetzt nur noch schlagzeileninteressant, meine Clique hat sich aufgelöst, weil ich mit diesem Megasuperschurken zusammen bin, und alle Welt fragt mich verdammt noch mal, ob ich den Verstand verloren habe, mit solch einem rohen Kerl verkehren zu können. Hat das was Positives? Ich hab zumindest bisher noch nie gehört, dass er vielleicht ein Idiot ist, aber doch irgendwas haben muss, weil er in mich verliebt ist. Ihr etwa? Wenn ja, sagt mir Bescheid – würd mich aufmuntern. Liebe hat nie etwas in den Augen der Menschen geschaffen, das sich positiv ausgewirkt hat, wenn der eine nicht passt. Oder glaubt ihr, man würde einem Mörder ein wenig mehr Nächstenliebe entgegenbringen, wenn er ganz offensichtlich seine Frau abgöttisch liebt? Sicherlich nicht. Und damit klärt sich auch diese Frage. °°° Ich sehe kaum die Hand vor Augen, als mein Freund – findet ihr den Klang dieser Worte in Verbindung mit Griffin auch so ekelhaft? Ja? Gut, dann bin ich zumindest nicht die einzige – und wir über das Tor zum Stadtpark klettern und uns irgendwo in der Nähe eines Brunnens auf eine Bank setzen. Merkt ihr, wozu er mich verleitet? Ich tue illegale Dinge! Seht her, irgendwann werde ich vielleicht sogar einen Kaugummi klauen gehen! Oder schlimmer! Kein Trinkgeld zahlen! Griffin steht nicht so auf dieses Kitschi-Liebesbekundigungszeug. Meistens sagt er mir, dass er mich liebt, wenn ich Dinge labere wie „Ich muss mal“ oder „Spaghetti oder Spirelli?“ Es ist zum Mäusemelken. „Tut mir leid“, murmelt er irgendwann in die Dunkelheit. Zwischen uns ist immer noch dieser Sicherheitsabstand, den, den ich suche, wann immer ich kann. Weil ich vielleicht doch noch Angst vor ihm habe. „Was?“ Ich schlucke rau. „Das alles. Dass ich nicht mit dir Schluss mache.“ „Und wirst du?“ Er schüttelt sachte den Kopf und seine dunkelbraunen Haarfransen fallen ihm ins Gesicht. Sein Lächeln ist selbstironisch. Und ein bisschen traurig. „Sorry, das ist nicht mit drin.“ Na, was hab ich gesagt? Er funktioniert nicht so. Was man von ihm erwartet, das wird man sicherlich nicht finden. Niemals. Dafür hat er gesorgt. Er sucht meine Hand im Dunklen, findet sie. Wisst ihr, wie das ist? Dieses flatternde Ding in der Brust zu spüren, das Sachen veranstaltet, die ihr bei vollem Verstand nicht einmal denken würdet? Griffin hebt meine Hand, führt sie an seinen Mund, berührt sie, nur ganz kurz. Weil das reicht. Mein Herz bebt. Mit der freien Hand fahre ich in sein Haar. „Du solltest mal wieder zum Friseur, Bursche.“ Seine Augen sind durchsichtig in der mondlosen Nacht, und ich sehe darin so plötzlich alles, dass ich mich geplättet fühle. Er will mich küssen. „Willst du mit mir Schluss machen, Ria?“ Er grinst verächtlich. „Das könnte ich gut nachvollziehen, weißt du? Max würde dich sofort nehmen.“ „Natürlich will ich, du Depp. Ich hasse dich“, antworte ich schnippisch. „Gut“, murmelt er. Dann küsst er mich. Da ist keine Sanftheit, aber die hat es bei ihm noch nie gegeben. Realität. Verlangen. Und dahinter diese schroffe Liebe, die ich auf seiner Zungenspitze schmecke, die Echtheit seiner Gefühle hinter der Maskerade, die keine ist und es niemals sein wird. Ich falle. Für diesen Moment. Ich denke, ihr könnt es nicht glauben. Ich kann es ja selbst nicht glauben. Aber das ist der Grund dafür, dass ich nicht einfach gehe. Weil er mich nicht gehen lässt. Weil du nicht gehen willst. Genau, Leute. Vielleicht liebe ich ihn ja doch. Vielleicht zwingt er mich gar nicht. Irgendwann seht ihr’s noch ein. Versprochen. Kapitel 2: Zurückgehen ---------------------- Heyho, Leute! Eigentlich war Kuriose Merkwürdigkeiten Einer Liebe ja als Oneshot geplant, aber jetzt wird daraus eine ganze Reihe, muahaha. Dies also ist der Prequel, also eine Geschichte vor KMeL. Außerdem ist dieser Oneshot für eine Challenge gedacht. Die letzten Sätze waren vorgegeben, ich hab sie allerdings ein wenig abgewandelt. Und ich hoffe, es gefällt euch^^ PS: In Arbeit ist außerdem ein Oneshot aus Andrews Sicht; in Planung einer aus Taylors und Griffins. Liebe Grüße, bells °°° ZURÜCKGEHEN „Ich bin tot“, sage ich, wie um den Klang dieser Worte ganz aufzunehmen. Ich meine, ich hab schon öfter gesagt, dass ich tot bin, ein toter Mann, dass ich die längste Zeit meine Schwester mit dreckigen Socken beworfen habe, dass ich die Karotten bald schon von unten wachsen sehen kann. Wenn ich eine Arbeit vermasselt habe, zum Beispiel. Wenn meine Familie sich zusammengerottet hat, um mich entweder fertigzumachen oder mich an meinem achtzehnten Geburtstag zu Grandma Katie zu bringen. „Ich bin tot.“ Es ist merkwürdig, tot zu sein. Weil, ich fühle mich immer noch genauso wie vorher, ich sehe, höre, rieche, denke. Fühle. Wie lange bin ich eigentlich schon tot? Habt ihr da ’ne genaue Uhrzeit? Oder gibt es überhaupt so etwas wie Zeit, wenn man schon längst körperlos sein sollte? Mein Vater redet gerne mit mir über solchen Stuss. Aber meistens zumindest lässt er das an Mom aus. Es gibt vermutlich nur einen Grund dafür, dass die Ehe zwischen den beiden noch läuft, und das ist ihr Drang, zu diskutieren. Aber hier habe ich niemanden zum Diskutieren. Ich bin tot. Bin ich jetzt körperlos? Ich… atme. „Hallo, du da!“ Ein schönes, rothaariges Mädchen kommt von… irgendwo her, und die Welt nach dem Tod verändert sich. Plötzlich. Und leise. Ganz leise. „Ähm… hey“, mache ich und komme mir dabei unheimlich blöd vor. Ist es möglich, als zwanzigjähriger Toter immer noch bei tollen Frauen zu stottern und sich dabei vorzustellen, Sex mit ihnen zu haben? Willkommen bei den Toten. Langsam ist die Veränderung sichtbar und jetzt kann ich den Ort beschreiben, an dem ich bin. Es ist eine Waldlichtung mit dem Geruch von Moos, der grünen Sonne und leisem Vogelgezwitscher, während das Gewitter ganz weit hinten grollt wie ein gemächlicher Bär. „Du bist?“, fragt sie und ihr Lächeln ist bernsteinfarben und schmeckt wie süßer Ahornsirup. Es tropft von ihren Lippen auf den grünen Boden und sickert dort ein. Ich frage mich, ob der Waldboden süß schmeckt. „Jeffrey“, sage ich. „Freut mich, dich kennenzulernen, …“ „Nenn mich Ari.“ Ihre Augen sind ganz hell, während sie einige Schritte auf mich zugeht und dann mit ihren Händen meine umfasst. „Ich weiß zwar noch nicht, wieso, aber ich denke, ich habe dich irgendwann mal gekannt.“ Ich bewege mich nicht. Aber ich frage mich, wieso ich mich so menschlich fühle, wenn ich tot und zufrieden auf die Himmelspforten zulaufen sollte. „Mach dir keine Sorgen, Jeffs“, sagt sie und nimmt den Namen, den sonst nur meine Schwester benutzt. Ich weiß zwar nicht, wer sie ist, aber ich weiß ganz sicher, dass das Absicht ist. „Warum bin ich nicht im Himmel? Oder in der Hölle? Oder im Körper eines Eichhörnchens, ist mir egal. Und warum fühle ich mich so lebendig, obwohl ich ziemlich sicher weiß, dass ich tot bin?“ Du bist tot. Sie glättet den Kragen meines Hemdes und lächelt leise. Du bist tot, Jeffrey. „Ich weiß“, antworte ich auf ihre Gedanken. Ich bin tot. Ich kann ihre Gedanken sehen. Und ich bin mir sicher, dass sie meine sehen kann. Sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken kann. „Das Dasein eines Menschen nach dem Sterben seines Körpers ist merkwürdig. Und es kennt keine Regeln. Stell dir alle Religionen der Welt vor, Jeffs, alle, die du kennst und alle, die du dir nicht einmal im Traum vorstellen könntest, vermische sie und potenziere diesen Wahnsinn mit deinem Geburtsjahr – und du hast die ungefähre Vorstellung, wie der Tod ist. Das Weitergehen. Das Danach.“ Sie zuckt nonchalant mit den Schultern. Als wäre es nichts. Als wäre ich nicht verdammt noch mal tot. „Jedenfalls… ich weiß natürlich auch nicht alles. Ich bin nur hier und manchmal bin ich auch bei meinen toten Eltern oder bei meinem toten Verlobten, der mich umbringen wollte, und so weiter. Es gibt hier keine Regeln.“ Sie stoppt kurz. Die Irritation rasselt in ihrer Stimme: „Ich soll dir nur erklären, wie du zurückgehen kannst.“ Ich sehe sie ratlos an. „Normalerweise bleibt man oder man geht weiter. Ich musste bisher noch niemanden zurückschicken.“ „Heißt das“, ich habe Kopfschmerzen von diesem ganzen verrückten kranken Scheiß, „dass ich… ähm… mich entsterbe?“ Ari spielt mit ihren Händen. „Ich weiß es nicht, Jeffs. Ich habe keine Ahnung.“ Und mit diesen Worten und einem leichten Schwenken ihres Kopfes fühle ich ein Ziehen wie ein starkes Gewicht an mir. In meinem Bauch. Überall. Es tut weh. Mehr weh als der Tod. -- Was kommt jetzt? Könnt ihr mir da vielleicht helfen? Ich mein, das ist krank. Ich bin tot und jetzt bin ich… halbtot oder ganztot und wandle trotzdem wieder auf Erden und – Gott des Wahnsinns – das ist mir echt zu viel. So viel kann ein einziger Kerl echt nicht aushalten. Nicht an einem Tag. Oder wie viel auch immer. Die Sonne geht gerade unter, während ich durch unbekannte Straßen wandere. Soweit ich weiß, bin ich noch in meiner Heimatstadt, allerdings in einem der äußeren Bezirke, die man zwar mit der Bahn in einer halben Stunde erreicht, vor denen alle in der Schule einen aber gewarnt haben. Selbst die oberkrassesten Ghetto-Kiddies haben sich selten hierhin getraut. Ich weiß echt nicht, was ich hier soll. Ich mein, was bedeutet dieser ganze gequirlte Mist überhaupt? Ich bin tot, verdammt noch mal, also will ich auch mit dem gebührenden Respekt, den ein Toter verdient hat, behandelt werden, aber die Leute, die mir entgegenkommen, kennen mich natürlich nicht, und vielleicht bin ich auch ganz froh darüber. Nicht, dass ich ’ne Lusche wäre, aber-… Gut, okay. Ich geb’s zu. Ich war in meinem Leben erst einmal mutig und danach hab ich es bereut bis in den… nein. Bis in den Tod zu bereuen, ist die schlechtes Formulierung, um dieses Desaster zu schreiben. Aber ihr wisst schließlich, was ich meine. Als ich weiter den fremden Straßenschildern folge, komme ich irgendwann an eine Bushaltestelle. Mit einer Buslinie, die ich kenne. Sie fährt direkt zwei Straßen vor unsere Haustür und Mom benutzt die Linie jeden Donnerstagabend, um zu ihrem Kochkurs zu fahren und dort ordentlich kochen zu lernen. Im Bushäuschen sitzt jemand, mit Kapuzenjacke und der Wenn-du-mich-auch-nur-anschaust-wirst-du-Berührung-mit-dem-Messer-machen-das-ich-einem-Ex-Guantanamo-Häftling-abgekauft-habe-Haltung, bei der ich normalerweise, mir halb in die Hose pissend, das Weite suche, bevor ich gekillt werde. Aber hey – ich bin tot, ich sollte aufhören, mir weitere Gedanken zu machen. Ich schaue auf den Busplan. Der Bus kommt alle zwanzig Minuten und natürlich weiß ich nicht, wie viel Uhr es ist. Ich drehe mich gedanklich zu dem Typen um und will ihn nach der Uhrzeit fragen, bis mir einfällt, dass ich ja auch noch Geld brauche, um nach Hause zu gelangen. Dann drehe ich mich wirklich um und räuspere mich: „Ähm-… hey.“ Mein zivilisiertes Gegenüber grunzt zur Begrüßung. Aber gut, bisher hab ich zumindest keine Messer blitzen sehen. Ist doch supi, was? „Ähm-… also… hast du, äh, hast du Geld?“ Der Typ hebt seinen Kopf, aber ich kann sein Gesicht immer noch nicht sehen, weil mich die blutrote Sonne blendet. Hoffentlich bleibt die Sonne das einzig rote hier. „Also, ich meine, ich bin kein Schnorrer und du musst natürlich nicht, ich zahl’s dir auch zurück, ganz sicher, meine Mutter ist reich, na ja, mein Vater nicht, aber dafür ist er ganz intelligent eigentlich, und meine Schwester ist hübsch, ja, ich könnte ein Date mit ihr besorgen, nicht, dass du’s nötig hast, aber…“, blubbere ich. „Halt’s Maul“, murrt der Typ nur. „Ist ja echt zum Kotzen.“ „Ich weiß.“ Nur noch diese beiden Wörter fallen aus meinem Mund, klingen leise auf dem Boden nach und rollen dann auf die Straße, bis ein Laster sie überfährt. „Aber jetzt ehrlich mal: Ich muss den Bus bekommen. Es-… ist wirklich wichtig.“ Er zuckt mit den Schultern und irgendwie sieht er in einem kurzen Moment fast so aus wie Ari, als sie mir gesagt hat, sie wisse nicht, was mich hier unten wieder erwartet. Hier oben. Keine Ahnung, wo ihre Waldlichtung gelegen ist. „Kann ja sein, Kumpel, aber falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Diese Bushaltestelle wird nicht mehr befahren.“ „Und was machst du dann hier?“ „Sitzen.“ Aha. Mann, der Junge ist vielleicht spritzig. „Wohnst du hier?“ „An der Bushaltestelle? Nein.“ Gelangweilt. Wenn ich nicht immer noch Angst vor ihm hätte, würde ich die Augen verdrehen. „Wo wohnst du dann?“ „Hier.“ „Hier?“, echoe ich dumpf. „In diesem gottverdammten Scheißviertel, genau. Hier.“ „Na ja – weil, ich müsste auch mal auf Klo.“ Ich räuspere mich. Er steht auf und schiebt die Kapuze runter, damit ich seinen genervten Gesichtsausdruck sehen kann. „Du bist ’n Loser, was?“ Ich zucke mit den Schultern: „Jepp.“ Für einen Augenblick verändert sich die Härte in seinen Augen. Es ist. Mitleid. Ich hasse Mitleid. Ich wünschte, ich wäre wieder tot. -- Als er die Tür aufschließt, wabert zuerst der aufgestaute Alkoholgeruch eines Abhängigen um meine Beine, in mein Gesicht. Ich verziehe nicht den Mund, aber es ist schwierig, alte Gewohnheiten abzulegen. Ich bin ein Snob-Loser. Das ist hart. Der Typ, dessen Namen ich immer noch nicht kenne, weist nachlässig mit seiner Hand nach rechts und sagt: „Da, wo’s am meisten stinkt, ist’s Klo.“ Ich antworte lieber nicht. Und ich frage mich, wer schlimmer dran ist. Ich oder er. Fünf Minuten später sind wir beide, so unterschiedlich wie wir sind, in seiner Küche, er an die Küchentheke gelehnt, ich am kleinen Tisch sitzend. Vor mir steht eine Dose Noname-Cola. Er fragt nicht ‚Wie heißt du?’, weil es ihn nicht interessiert. Er kann mich schon jetzt nicht leiden, weil ich ihn gezwungen habe, wieder hierherzukommen, obwohl er zu Hause offensichtlich hasst, er kann mich nicht ausstehen, weil er weiß, wir sind beide Versager, weil ich ihn an ihn selbst erinnere. Wir sind uns absolut unähnlich, aber irgendwie konnte er mich nicht da stehen lassen und ich kann ihn auch nicht in Ruhe lassen, obwohl ich das tun sollte. Es tut nicht gut, seine eigenen Fehler vor Augen zu sehen, und es ist furchtbar anstrengend, wenn man weiß, dass man nichts mehr ändern kann. Ari hat zwar nichts gesagt, aber ich weiß relativ sicher, dass ich immer noch tot bin. Nicht im Zombie-Sinn, aber trotzdem. Ich bleibe nicht für immer hier. Und ich werde nicht meine Familie suchen. Es würde ihnen nur wehtun, wenn ich auftauchen und dann wieder verschwinden würde. Ihm nicht. Weil wir uns hassen. Weil wir uns ähneln. Zu sehr. „Jeffrey“, sage ich. In die stickige Sommerluft. „Interessiert mich ’n Dreck.“ Das weiß ich doch. Dann: „Was machst du hier, Jeffrey? Warum streunerst du in dieser gottverdammten Gegend rum und hast nicht mal Geld dabei? Scheiße, mit deinen Klamotten könnte ich die Miete für diesen Monat bezahlen.“ Ohne Grund. „Ich denke, ich musste dich finden.“ Ganz ohne Grund. „Damit du nicht stirbst, ohne gelebt zu haben.“ Von irgendwoher kommt dieser Gedanke, von ganz nah und weit fern. Das ist es. Es wäre übertrieben, würde ich behaupten, meine Leben wäre beschissen gelaufen – mein Leben war in Ordnung. Vollkommen. Ich hatte – habe – eine superkranke, supermerkwürdige, lustige Familie, ich hatte eine Freundin, die mit mir Schluss gemacht hat, um sich an meinen besten Kumpel ranzumachen, und ich hatte – habe – einen besten Kumpel, der sich ’n Dreck um besagte Ex-Freundin gekümmert hat und sich stattdessen mit mir zweitklassige Horrorstreifen reingezogen hat. Aber ich war trotzdem ein Loser. Und ich denke, wenn ich ihm helfe, herauszufinden, warum er einer ist, wird es mir helfen, in den Tod zu gehen, und sagen zu können: Ich bin tot. Ich bin okay. Ich bin ein Loser. Der anderen Losern hilft. Ich bin zufrieden. Sein Gesicht fällt in sich zusammen. Und gerade, als er sich fast soweit gesammelt hat, dass ich meinen Blick von der Getränkedose lösen kann, kreischt eine hohe Stimme: „G’finn! Finn! Komm ma’ häää’!“ Eine Frau Anfang vierzig torkelt in die Küche, wirbelt eine unkoordinierte Pirouette und landet dann in Finns Armen. Sie beginnt hysterisch zu lachen und sabbert sein Shirt voll. „Mom…“, sagt er leise, „Mom, geh wieder ins Bett.“ Sie nickt wie wild und lächelt ihn schmerzhaft zufrieden an. Dann nuschelt sie irgendetwas Unverständliches und Finn seufzt tief und bringt sie zurück in ihr Zimmer. Als er zurückkehrt, ist die grimmige Drohung, die immer in der Luft um ihn herum ist, verschwunden. Das ist grausam. „Sie versucht es. Jedes verdammt Jahr an Weihnachten verschwindet sie in ’ne Entzugsklinik und kommt dann trocken wieder und nachdem Dad wieder mal angerufen hat, fängt sie an, sich zu besaufen.“ Er versucht, seine Mutter zu entschuldigen. „Wie alt bist du, Finn?“ Zuerst sieht er mich erstaunt an, aber dann glättet sich seine Stirn: „Sechzehn.“ Er sieht älter aus. Er ist es vermutlich auch. Vermutlich. Ich kann so was nicht einschätzen. Ich zucke mit den Schultern: „Hast du schon mal überlegt, auszuziehen?“ Sein Blick verhärtet sich. „Niemals.“ „Vielleicht schafft sie’s mal richtig, wenn nicht immer wieder jemand da ist, der ihr hilft, wenn sie besoffen ist.“ Ich spucke die Worte abfällig aus, so abfällig, wie sie sein sollen. Es ist ein Teil meiner eigenen Meinung und ein Teil dessen, was ich tun muss, um ihm Leben einzuhauchen. „Nein“, sagt er. Nein. Es klingt wie eine Steinmauer. Sie ist unüberwindbar. Aber ich war im Klettern schon immer gut. „Aber“, ich setze an und hör sofort auf. Es gibt viele Einwände. Ich habe sie alle. Aber es bringt nichts, wenn er sie sich anhört und denkt, was für ein Wichser ich bin. Vielleicht bringt’s was, dass ich sage, er kann etwas verändern. Vielleicht nicht. Und dann ist es auch egal. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Es ist viel. Wenig. Und immer mehr. Aber der Himmel dunkelt sich und über uns legt sich die dreckige Sternendecke mit ihrem nachtschwarzen Schweigen. Dann. Das Telefon klingelt im Wohnzimmer. Als er ansetzt. Er lässt es klingeln. „Ich würde gerne-…“ Es klingelt weiter. Penetrant. Marias Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge. „Ich würde gerne in ein anderes Viertel ziehen. Neu anfangen. In meiner Schule sind sie alle so normal und spießig und normal und einfach und normal. Es geht mir-… gar nicht darum… Mom im Stich zu lassen. Ich will bei ihr bleiben und auf sie aufpassen. Aber ich möchte auch hier weg. Das ist alles so scheiße.“ Das ist gut. Ein Weg. Ein Anfang. Als das Telefon nicht aufhört zu nerven, stöhnt Finn und geht ans Telefon. „Wer?“, blafft er genervt. Eine weibliche Stimme schwirrt über den Hörer in das Zimmer und setzt sich sanft ab. Es klingt vertraut und weich. Durch die Telefonleitung. „Ja. Ich-… tut mir leid.“ Finns ganzer Körper entspannt sich, während die andere Stimme mit ihm redet. Ich setze mich auf die Couch im Wohnzimmer und beobachte ihn. Ich bin ein Losertyp, der sich so oft verknallt, wie Ebbe und Flut kommen. Finn scheint einer der Leute zu sein, die lieber niemanden an sich ranlassen, obwohl sich tief in ihnen ganz schön viel sexueller Frust aufbaut. Hey – nicht, dass Mädchen nur dafür gut sind. Aber eben auch. Sex ist Sex und Jungs sind Jungs. Loser mit eingeschlossen. „Ria, ich…“, setzt Finn an und ich erstarre. „Ria??“, rufe ich aufgebracht und springe auf. Finn sieht mich irritiert an. Rias Stimme – ich erkenne sie. Die Stimme meiner Schwester. Ich vermisse sie. Finn weiß nicht, was hier gerade passiert, aber automatisch stellt er das Telefon auf Lautsprecher und Rias Stimme erfüllt den ganzen Raum. Das polternde Echo sickert in mein totes Herz. „Jeffs? Jeffs? Bist du das?“ Sie schluchzt, ganz leise. Ich weiß, sie hält sich die Hand vor den Mund, um nicht die Fassung zu verlieren. Sie weint. Meinetwegen. „Ich…“ Ein Flüstern. Sie hört es nicht. Hoffentlich. „Griffin?“ Ihre Stimme. Und darin ist ein merkwürdiges Gefühl, keine Liebe, noch nicht. Abscheu, schon. Zuneigung. „Was ist, Ria?“ „I-ist Jeffrey bei dir?“ Ich forme ein Nein und nicke mit dem Kopf, ich weiß alles und nichts und zu viel und mein Kopf pocht. „Ria, beruhige dich und-“ „Halt den Mund!“, fährt sie Finn an. Sie verstummt, als wäre sie sich der Schärfe in ihrem Ton bewusst geworden. „Entschuldige. Ich… komm vorbei. In einer halben Stunde bin ich da.“ „Nein!“, sage ich, aber da füllt schon das Freizeichen die schreckliche Stille zwischen Finn und mir. Jeffrey. Der Tote. -- „Du heißt also Griffin?“ „Ja.“ Er sieht mich prüfend an. „Das Mädchen am Telefon. Ihr Bruder ist vor zwei Monat gestorben. Unfall. Ein betrunkener Wichser hat ihn von ’ner Brücke gestoßen.“ Er verzieht das Gesicht zu einem bitteren Grinsen. „Er ist geflogen, bevor er gestorben ist.“ Dann: „Er hieß Jeffrey.“ „Was für ein merkwürdiger Zufall“, sage ich, ohne die Miene zu verziehen. Und kurz darauf: „Ich muss gehen, Finn. Ich-… du schaffst das alles. Und diese Ria scheint nett zu sein. Ist sie hübsch?“ Finns Blick ist spöttisch. Als wisse er mehr als ich. „Sie hat die gleichen Augen wie du, Jeffrey. Die gleichen grünen Augen wie ihr Bruder.“ Ich mache den Mund auf, um zu protestieren, aber er fährt fort: „Ich hab keine Ahnung, was das alles bedeuten soll, aber ich möchte nicht, dass du Ria traurig machst. Sie war das unglücklichste Mädchen, das ich kannte, als ich sie kennengelernt habe.“ „Und du machst sie wieder glücklich, was?“ Finn grinst. „’Türlich, Alter.“ Ich stehe auf, werfe ihm einen letzten Blick zu und sage: „Pass auf dich auf, Finn.“ „Volltrottel“, gibt er zurück und er hält mich nicht auf, als ich diese merkwürdige, stickige Wohnung verlasse, um vor meiner Schwester wegzurennen. -- Die Nacht ist klar, stadtklar, ohne Sterne. Man fühlt sich unsichtbar, in dieser Nacht. Das ist das beste, was mir heute passieren kann. Ich weiß nicht, was ich hier machen soll. Vielleicht muss ich ja mit Ria reden, um wieder zu den Toten zu kommen, oder vielleicht bin ich hier in einem Paralleluniversum und ich denke nur, dass ich nicht tot bin, aber ich bin schon tot und bin nur ein bisschen psychisch labil und komm nicht klar. Vielleicht. Aber in diesem Vielleicht habe ich zumindest Finn ein wenig geholfen. Ich bin mir fast sicher, dass Ria auch mit ihm irgendwann darüber geredet hätte – aber je früher, desto besser. Außerdem ist Ria ein hübsches, warum-auch-immer-beliebtes Mädchen – und ich bin ein Loser, genauso wie Finn. Finn ist zwar ein beängstigender Loser, aber dennoch. Ich grinse in mich hinein. „Jeffrey!“ Ria weint, während sie mich ruft. Ich war zu langsam. Sie rennt auf mich zu und ich will sie umarmen und sie festhalten und ihren Geruch einatmen und mit ihr reden. Wie sehr sie mich immer genervt hat und wie dumm sie ist und wie hirnrissig, sich mit so einem wie Finn einlassen zu wollen. Ich möchte ihr sagen, wie sehr ich sie lieb habe. Und dann. Ich fühle mich leicht. Ganz einfach. Als ich zurückgekehrt bin, war es gewaltsam, um Finn zu helfen, vielleicht, um ihr zu helfen, meiner süßen kleinen Schwester. Aber jetzt. Ich muss gehen. Und es tut mir so weh. Ich hätte mehr aufpassen sollen. „Jeffrey! Bitte! Ich – ich vermisse dich. Mom und Dad vermissen dich! Ich liebe dich, Jeffs, bitte, komm zurück!“ Sie schluchzt unkontrolliert und ihre Stimme klammert sich an mich. Verzweifelt. Irgendwo hinten sehe ich Finns Schritte, schnell und hastig. Er will bei Ria sein. Er will ihr helfen. Er wird ihr helfen. Ich wende mich um und kehre dorthin zurück, wo Ari mich schon erwartet. Vielleicht. Wartet. Ich weiß es nicht. Ich kann nicht ändern, was geschehen ist. Sie wird sich damit abfinden. Sie alle werden. Leben. Ich bin tot. Ari wartet. Kapitel 3: Der Idiot und die Trennung ------------------------------------- Der Idiot und die Trennung „Ich bin schwul.“ Taylor verschluckt sich an ihrem Pfirsichnektar und sieht mich aus großen Vollmilch-Nuss-Augen an. Ihre Augen sind wirklich wunderschön. Mit langen Wimpern und einem warmen Schimmern darin, immerzu; sie ist das bewundernswerteste Mädchen, das ich kenne. Oder zumindest hat sie die bewundernswertesten Augen. Ich klopfe ihr auf leicht auf den Rücken, während ihr Tränen in die Augen treten. Es wäre nicht so gut, wenn sie jetzt anfangen würde, zu heulen. Für ihr Make-up, meine ich. Ha. Ha. Ich bin so witzig, findet ihr nicht auch? „Was?“, prustet Taylor, während sie den Pfirsichnektar, der ihr aus der Nase läuft, mit einem Kleenex wegwischt. „Ich habe eine homosexuelle Veranlagung“, sage ich. Vielleicht klingt es für sie so… wissenschaftlicher, vielleicht ist sie dann nicht so emotional geladen und schlägt mich nicht an unangenehmen Stellen. Okay, nehmt das zurück. War klar, dass sie anfängt, zu flennen. Das macht sie immer. Ich habe schon mindestens zehn Mal mit ihr Schluss gemacht, und egal, welche Masche sie davor abzieht, das Heulen kommt immer. Heute hatte sie offensichtlich Lust auf die direkte Lösung: Auf die Tränendrüse drücken und hoffen, dass ich weich werde. Werd ich aber nicht. Hoffe ich. „N-n-neiiin! L-lüg mich v-v-v-verda-dammt noch mal nicht an, du Wichser!“, schluchzt sie. Wichsen? Ts, ts. „Wie kannst du m-miiiir das b-b-bloß antu-tu-tun! Ich liebe-be dich, du k-kannst das d-doch nicht ma-machen!“, brabbelt sie weiter, während ich betreten neben ihr sitze und ihr den Rücken tätschle. Die Tränen kullern von ihrem Gesicht und einige davon landen auf ihrem Jeansrock. Sie malen Muster auf dem Stoff und die Tropfen breiten sich aus wie ein verdammtes Kunststück. Plötzlich schreit sie, klatscht mir eine, springt auf: „Du perverser Sack!“ Nun, zumindest stottert sie nicht mehr. Und sie hickst auch nicht. „Starr mir nicht auf die Beine, wenn du verdammt noch mal ’ne Tunte bist!“ Super. Danke, Taylor, jetzt weiß auch der Rest der Stadt Bescheid. Und ich bin das dumme Alien, das bestaunt wird wie dieser eine Pinguin aus diesem Animationsfilm. Sappy Speed oder so was… Huch. Jetzt hab ich doch tatsächlich zugegeben, dass ich mir den angesehen hab. Aber hey: Ich bin ein Nerd, ein sozial inkompetenter Schüler, ein Vergissmichschnell. Ich darf das. Taylor, die theatralische Kummerkastentante, noch und nöcher, hat auf jeden Fall ihren Auftritt bekommen. Nach zwei Monaten war das doch mal wieder nötig, oder? Sie stampft ein letztes Mal mit ihrem Fuß auf, ich sehe kurz ihre Unterwäsche durchblitzen – selber Schuld, wenn sie so was trägt. Pfft – und brüllt zum Abschied: „Fahr zur Schwuchtelhölle!“ Damit wirft sie mir umständlich den Ring an den Kopf, den ich ihr ganz zu Anfang unserer On-Off-Beziehung geschenkt habe. Herrje. „Cool, Mann. Echt.“ Griffin haut mir von hinten auf den Kopf und setzt sich dann in seiner Oberkrasser-Gangster-Pose mir gegenüber. Der Volltrottel. „Lass mich in Ruhe. Zieh Leine. Verpiss dich. Hau ab. Stirb.“ „Schlecht drauf, huh?“ Griffin grinst böse, während er sich eine Kippe anzündet. „Sieht wohl so aus, was?“, gifte ich zurück. Jedes Mal, bevor ich mich von Taylor getrennt oder sie so sehr genervt habe, dass sie sich von mir trennt, fühl ich mich richtig gut, egal, welche Ausrede ich nutze, egal, wie schlimm es mit ihr ist oder nicht; aber danach fühl ich mich immer, als hätten mich die süßen, netten Footballer – ihr wisst schon, die vom Format 2m x 2m x 2mm (letztere Angabe für die Gehirngröße) – ein wenig vermöbelt und ich wäre auf der Notfallstation. Ehrlich – damit hab ich genügend Erfahrung. Wo wir gerade schon bei Footballern sind… „An welcher Ecke hast du Ria stehen lassen, Brigg?“ Griffin verzieht in unübersehbarem Ekel das Gesicht. Strike. „Nur weil ich mit der dummen Schlampe zusammen bin, heißt das noch lange nicht, dass sie mir die ganze Zeit hinterherlaufen kann, kapiert?“ Er pustet mir den Rauch seiner Zigarette direkt ins Gesicht, aber ich bin viel zu männlich und zu cool, um zu blinzeln, obwohl es höllisch wehtut. Scheiße. Nicht heulen, Andrew, nicht heulen… Ich mach das nicht, weil ich irgendwie Rias Ehre retten will oder so, sondern einfach nur, weil Griffin und ich nun mal auf so einer Basis kommunizieren. Ria kann sich selbst genauso gut retten. Außerdem hasst sie Griffin. Mit Leib und Seele, und es ist absolut witzig anzusehen, wie sehr ihre Augen, ihre grünblaugrüngraugrünen Augen, dann lodern und verbrennen und da bleibt nur noch die verkohlte Gefühlswelt hinter dem Hass und die ist genauso gruselig wie Griffin und Ria es eben sind; einzeln und getrennt. „Hör verdammt noch mal auf, dir meine Freundin nackt vorzustellen“, knurrt Griffin, während er mit seinem Zippo spielt, einem altmodischen, das er vermutlich von seinem Großvater geerbt hat, der im zweiten Weltkrieg Überoberunteroffizier war. Vermutlich. Ich sage: „Ich stell sie mir nicht nackt vor.“ Kunstpause. „Nur in Reizwäsche.“ „Bastard.“ Seine Antwort ist wie ein schneller Schuss aus einer Pistole. Peng und du bist tot. Das hat er wirklich gut drauf, dieser Typ. „Hey, Alter, ich bin nicht der, der sie behandelt, als wär sie Dreck“, grinse ich. „Genau, du bist der, der sie behandelt, als würde sie in die Klapse gehören.“ „Touché.“ „Fuck, was willst’n du jetzt?!“ „Ach, das hat Taylor immer gesagt, wenn ich irgendwas Fieses geantwortet habe.“ Ich grüble. „Aber dann könnte ich eigentlich auf alles, was du sagst, ‚Touché’ antworten…“ „Bastard“, wiederholt Griffin nur. „Hallihallo, ihr hässlichsten aller Erdenbewohner!“ Ria stellt mit Schwung ihre Sporttasche auf den Tisch, dass Griffins Zippo auf den Boden fliegt und meine Colaflasche umkippt. „Och nee“, nöle ich, „Ria, du weißt ganz genau, dass ich das Zeug ohne Kohlensäure hasse!“ Ria zuckt zwar mit den Schultern, aber sie wäre nicht Griffins Freundin und mein bester Kumpel, wenn sie es nicht mit Absicht getan hätte. Sie setzt sich neben mich, Arme vor der Brust verschränkend, und misst uns beide mit berechnenden Blicken ab. Sie hat einen echten Killerblick drauf, dieses Mädel. Mannomann. „Okay, Jungs“, sagt sie langsam und betont friedfertig, dieses Luder, „warum heult sich Taylor bei Jenny und dieser neuen Rothaarigen aus? Und warum fragt mich jeder verdammte Arsch, ob du schwul bist?“ Griffin grinst, lehnt sich zurück und genießt die Show. War klar, dass er mein Verderben witzig findet. „Nun…“ „Andrew Stewart, du kannst mir echt nicht sagen, dass du homo bist. Weißt du noch, in der Neunten? Da hast du mir deine Zunge in den Hals gesteckt. Inbrünstig.“ Griffin setzt sich wieder gerade hin, seine Hände zu Fäusten geballt. Ha. Doch nicht so witzig, stimmt’s, Kumpel? Er zischt leise und ich schaue prüfend auf meine Brust herunter, nur, um sicherzugehen, ob seine Blicke nur so wehtun wie verrostete Dolche oder auch so gefährlich sind. Ziemlich possessiv, der gute Junge. „Du guckst allem nach, was irgendwie weiblich erscheint. Plus du hast anscheinend Taylor auf die Beine gestarrt, als du mit ihr Schluss gemacht hast. Plus in deiner Favoritenliste sind zehn Pornoseiten. Wenn du kein verdammter schwanzgesteuerter Hetero bist, weiß ich auch nicht weiter.“ Ich zucke mit den Schultern und sage nonchalant: „Ich sag ja auch nicht, dass ich schwul bin.“ Ria klappt ihren Mund auf: „Äh-… doch!“ Ich tippe mir gedankenverloren ans Kinn. „Hm…“, mache ich, „stimmt. Du hast gewonnen, Ria.“ „Ich gewinne immer“, sagt sie resigniert, obwohl ich und sie und Griffin wissen, dass das gelogen ist. Zum Beispiel ist sie mit Griffin zusammen und nicht mit Wonderboy Max. Zum Beispiel ist sie mit mir befreundet und nicht mit einem normalen Menschen. Zum Beispiel hasst sie Taylors Kummerkastentantengeschwafel, obwohl jeder es liebt. Zum Beispiel ist sie immer wieder schockiert, dass ich einfach lüge, wenn’s um Taylor geht. So gesehen ist sie eigentlich gefickt fürs Leben, oder? „Wie auch immer“, fährt Ria fort, „ich geh jetzt nach Taylor schauen und ihr tötet euch nicht gegenseitig und wir sehen uns heute Abend um halb neun vorm Kino?“ Sie schaut Griffin fragend an. Er gibt sich nicht die Mühe, zu antworten, sondern steht auf um Belle, das französische Austauschmädchen, anzupöbeln. Nicht um sie anzumachen. Nein. Um sie fertig zu machen. Mit so vulgärem Französisch, wie sie es vermutlich noch nie im Leben gehört hat. Ria schüttelt den Kopf und ihre Haare wirbeln dabei. Beinahe wirken sie wie diese Schlangen der Medusa. Sie zischt. „Wann wird er endlich aufhören, so ’n Scheiß zu machen?“ „Was? Du meinst deinen Freund?“ Ich starre sie an. „Also bitte, Ria, du kannst mir doch nicht sagen, dass du immer noch hoffst, er wird irgendwann normal.“ „Gut, hast recht“, sagt sie seufzend. Dann schultert sie ihre Sporttasche. „Ich muss zu Geschichte. Wir sehen uns.“ Ich hebe zum Abschied die Hand und schon bin ich allein. -- Nachmittags ist es immer langweilig ohne Taylor. An sich ist es sowieso ziemlich langweilig ohne sie. Ich sage nicht, dass sie nicht irgendwie absolut theatralisch und nervig ist, aber sie ist eben auch sehr lustig und fröhlich. Zehn Gründe, nicht mit Taylor zusammenzusein: 1. Sie mischt sich in jedermans Angelegenheiten ein. 2. Sie ist theatralisch. 3. Sie ist nervig. 4. Ich muss immer auf sie aufpassen, weil sie sonst von irgendwelchen notgeilen Arschlöchern angemacht wird. 5. Warum müssen ihre Fingernägel immerzu rot angemalt sein? 6. Sie ist zu nett. 7. Sie ist eine verdammte Kummerkastentante. 8. Dad kann sie nicht leiden. 9. Sie ist Rias beste Freundin. 10. Sie sieht aus wie Mama. Zehn Gründe, mit Taylor zusammenzusein: 1. Sie versucht immer zu helfen. 2. Sie ist sich für keine Arbeit zu schmutzig. 3. Sie ist heiß. 4. Sie ist lustig. 5. Jeden Sonntag backt sie mit ihrem kleinen Bruder Pizzabrötchen und Karamell- und Schokomuffins. 6. Jeden Montag schenkt sie Ria den letzten Karamellmuffin und/oder Schokomuffin. 7. Sie liebt ihre Familie über alles. 8. Sie ist heiß. 9. Wenn sie mich küsst, fliege ich. 10. Sie sieht aus wie Mama. -- „Ich wollte nur vorbeikommen, weil ich Romeo und Julia bei dir vergessen habe“, zischt sie mich sofort an, als ich die Tür öffne. Sie hat immer noch denselben Rock an wie heute Mittag, aber ich traue mich nicht, länger als zwei Zehntelsekunden draufzuschauen – man sieht ja, was passiert, wenn es nicht passiert. „Romeo und Julia, eh?“ Aber ich bin schließlich immer noch Andrew, ich kann sie nicht einfach in Ruhe machen lassen, nachdem ich heute mit ihr Schluss gemacht habe, weil ich angeblich homosexuell bin. Schwul. Ei-ne Schwuch-te-el. „Ja, genau!“ Sie starrt mich böse an, aus ihren großen schönen Augen. Ich grinse. „Hör auf, so dumm rumzuglotzen, Andrew! Hör auf… mich anzustarren! Hör einfach auf, zu existieren, okay?“ In ihren Augen sind wieder Tränen, kugelrund und salzig und sie färben ihre Augen hell, fast bernsteinfarben. Es sieht schön aus, unnatürlich. Und irgendwie macht es mich traurig. Sie sagt: „Ich hab keine Lust mehr auf dieses hin und her, Andrew. Wirklich. Ich halt das nicht mehr aus.“ Diese Tränen… sind echt. Sie sind nicht aufgesetzt und sie sind auch nicht bedauernd oder scheu. Taylor hat ihr Limit erreicht. „Ich kann nicht mehr. Bitte, Andrew… ich – ich weiß, dass du nicht schwul bist. Ich… wenn du wirklich mit mir zusammen sein willst, dann sag es bitte jetzt. Wenn… wenn nicht – das kann ich akzeptieren. Sag mir nur einmal, was du wirklich denkst, Andrew. Ich verstehe dich nicht.“ Ich fahre mir durchs Haar. Ich werde nicht wieder mit ihr zusammenkommen. Ich werde es nicht. Das mit uns hat nie funktioniert und wird auch nicht funktionieren. „Warum wolltest du überhaupt mit mir zusammensein?“ Hey. Es interessiert mich wirklich. In erster Linie will ich ihr zwar nur zeigen, was für ein Flachwichser ich bin und dass ich es nicht wert bin, dass sie traurig ist, aber interessieren tut es mich trotzdem. Und vielleicht, ganz vielleicht, wenn sie lang genug redet, vergisst sie, dass ich ihr noch antworten muss. Ich bin ein Loser und ein Schisser dazu. Ich geb’s zu. Taylor lächelt schief, ihre Augen in Erinnerung schwimmend. „Maria war das einzige Mädchen, mit dem du geredet hast. Und ich bin um Längen hübscher als sie. Also hab ich versucht, zu verstehen, warum du sie mir vorgezogen hast, und anscheinend war ich so dumm, mich dabei in dich zu verknallen.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Vermutlich hätt ich’s schon damals lassen sollen. Ich hätte mich lieber in Maximilian verlieben sollen. Und jetzt ist der Idiot mit dieser Bohnenstange Gin unterwegs. Kannst du dir das vorstellen? Ein Mädchen, das Gin heißt? Wenn es die Abkürzung von Ginevra – die Hure von Potter – wäre, oder von Gina – wie eine billige italienische Nutte mit unechten Brüsten – oder ein Spitzname für Feranda Justine Chazraél Renaldo – ein Alienname – okay. Aber nein, ihre Mutter hat sie wirklich Gin genannt! Wie kann man nur so eine schlechte Mutter sein? Hallo? Wenn sie nicht so verdammt schön wäre, würde man sie dafür mobben und sie würde als Putze bei Kentucky Fried Chicken enden!“ „Taylor“, sage ich. „Was?“, blafft sie. „Du laberst.“ „Ach? Wirklich? Willst du lieber, dass ich wieder so tue, als wäre ich ’ne gottverdammte Heilige, die nie ficken oder Hurensohn oder Spast oder verdammter Sohn einer Schmeißfliege sagt? Willst du lieber, dass ich wieder rumheule? Dass ich sage, dass ich verliebt bin und dass ich nicht will, dass wir für immer und ewig Schluss machen? Soll ich wieder rumkrakeelen, und behaupten, der Sex mit dir wäre der beste meines Lebens gewesen?“ Sie verzieht ihr Gesicht zu einer unattraktiven Grimasse. Die Maske aus Oberflächlichkeit und Make-up zerkrumpelt. Dann fällt ihr Blick auf das Regal, neben dem sie steht. Sie kräuselt die Stirn mit laufender Nase. „Ehrlich, Andrew, deine Mutter sollte öfter mal Staub wischen. Sonst kriegt ihr noch alle Hausstauballergien oder so.“ „Das macht immer Dad. Beziehungsweise er sagt, dass er’s macht, und dann macht er’s doch nicht.“ Taylor wischt sich mit einer müden Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sieht mich lang an, sehr lange. Sie seufzt. „Ich mag dich wirklich sehr, Andrew. Sehr sehr. Sag mir nur bitte, ob’s überhaupt irgendetwas bringt, zu hoffen, dass du irgendwann erwachsen genug bist, um eine vernünftige Beziehung zu führen.“ Ich hole tief Luft. 10. Sie sieht aus wie Mama. „Meine Scheiße, Taylor. Vernünftige Beziehung? Erwachsen genug?“ Ich grinse abfällig. „Sei nicht albern. Wir sind keine dreißig. Du redest, als würde ich morgen Griffins Beerdigung besuchen müssen. Bist du irgendwie dumm?“ Sie macht den Mund auf und zu, immer wieder, wie ein dummer süßer nerviger Goldfisch. „Ich weiß, dass ich ’n Wichser bin. Nerv mich nicht damit.“ Taylor schluckt hörbar. Dann strafft sie sich und sieht mich auf die hochnäsigste Weise an, die sie drauf hat: „Stirb, Andrew.“ Es passt zu ihr, dass sie die Tür nicht knallt, als sie die Wohnung verlässt. Sie ist nach allem immer noch erwachsen, nicht wahr? -- „Andrew?“ Ria steht vor mir, ihr Blick wandert von der Wodkaflasche zu der Zigarette in meiner Hand. Ihre Stirn ist gerunzelt und alles an ihr drückt diese Mädchenbesorgnis aus, bei der man sich geborgen und verstanden fühlt. Mütter sind so. Und beste Freundinnen. Ich hab das Gefühl, kotzen zu müssen. Griffin hat einen Arm um Rias Taille. Er grinst ironisch, dann wirft er einen Blick auf die Marke der Wodkaflasche verzieht das Gesicht. „Alter, wenn du dich schon besäufst, dann gib nächstes Mal mehr als drei Dollar aus.“ Ria stößt ihm ihren Ellenbogen in den Magen und löst sich von ihm. „Ihr habt euch getrennt.“ Es klingt nach mehr als dieser Tatsache, wie eine Frage – „Ihr habt euch getrennt?“ – und eine Information – „Taylor hat mich gerade angerufen. Du willst gar nicht wissen, was sie alles gesagt hat“ – und ein wenig wie Enttäuschung. „Die trennen sich doch immer. Hast du schon mal ’ne Woche gehabt, wo sie sich nicht getrennt haben?“, grunzt Griffin. Und betatscht sie. „Ich mein–… so richtig, du Vollpfosten. So wie ich mich gleich von dir trenne, wenn du nicht sofort deine Griffel von mir nimmst.“ Griffin grinst zynisch und wuschelt ihr einmal durch die Haare. Sie hassen sich abgrundtief; genauso sehr, wie sie sich lieben. Ria verdreht verliebt die Augen und hockt sich dann zu mir herunter. Sie schaut mich prüfend an. „Es ist wirklich aus, oder?“ „Mh-hm.“ „Sie ist total in dich verknallt. Wenn du – also… du hättest bestimmt noch ’ne Chance bei ihr.“ „Mh-hm.“ „Aber du willst nicht mehr.“ „Mh-hm.“ „Warum? Und wag es ja nicht, noch mal Mh-hm zu machen!“ „Sie ist’s einfach nicht wert. Nicht diesen ganzen Stress mit Dad, nicht die paar Fummeleien oder die Blicke auf den Schulfluren. Ich-… will’s nicht. Nicht mehr.“ Ria steht auf. Angsthase, sagt ihr Gesicht. Bin ich auch, antworte ich. Griffin gähnt, die Hände in seine Hosentaschen steckend. „Du willst wirklich, dass es so endet, Mann?“ „Ja.“ Er runzelt die Stirn: „Nur, weil sie wie deine Mom aussieht, musst du nicht andauernd mit ihr Schluss machen.“ „Das ist nicht das Problem“, wirft Ria ein, „es ist alles. Er will keine Beziehung mit ihr. Es ist ihm zu kompliziert und zu gefährlich. Ehrlich? Was soll’s? Es ist nicht mein Problem.“ „Teufel, er ist dein bester Freund, Ria!“ „Na und? Ich bin auch deine Freundin und du behandelst mich wie Scheiße!“ Er spuckt auf den Boden. „Scheiße, wenn ihr alle zu dumm seid, um ein Mal glücklich zu sein – schön, von mir aus.“ Mit diesen Worten schlendert er weg. Weil er niemals geht, weil er zu cool dafür ist. Selbst sein Schlendern ist wütend. „Arschloch“, murmelt Ria. „Er hat ausnahmsweise mal recht und du beschimpfst ihn trotzdem?“ Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen. „Scheiße, ich habe gerade Griffin recht gegeben.“ Mir ist übel von dem billigen Alkohol und auf meiner Zunge liegt der Geschmack von Zigaretten und Pfirsichnektar. „Genau deswegen ja.“ Sie seufzt dramatisch. „Ich kann verstehen, warum du nicht mit Taylor zusammensein willst. Aber ich an deiner Stelle hätt’s anders gemacht.“ „Ich will’s nicht hören, Ria.“ Sie redet ungefragt weiter. „Ich hätte ihr von meiner toten Mom erzählt. Ich hätte ihr gesagt, dass die beiden sich total ähnlich sind. Ich hätte mehr für diese Beziehung getan.“ „Und deswegen“, sage ich abschließend, „bin ich auch ganz froh, dass du nicht ich bist. Weil mir nämlich nichts an dieser Beziehung liegt. Rein gar nichts.“ Wenn man sich daran gewöhnt hat, kann man alles ertragen. Rias wütende Blicke. Die Stille. Moms Tod. Und Taylor auch. Die sowieso. -- So, der dritte OS. Ich hab dank meines Pragaufenthaltes und dem dortigen Schwarzen Theater eine tolle Idee zu Ari, dem komischen toten Mädchen, und hoffe, dass ich euch bald mit noch mehr Oneshots... erfreuen, vergraulen, belustigen, etc kann. Grüße und ein schönes Restwochenende, bells Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)