Schlaflos von Cookie-Hunter (Der Albtraum endet nie...) ================================================================================ Kapitel 4: Die Welt mit neuen Augen sehen ----------------------------------------- Nicht ein Auge hatte Kyo in der darauf folgenden Nacht zu bekommen. Die Angst, er könnte hiervon nur geträumt haben, hielt ihn wach. Er wollte nicht wieder in dieser kalten, lieblosen Zelle aufwachen. Wollte nicht wieder von allen herumgeschubst und abgewiesen werden. Nicht jetzt, nachdem er wieder gefühlt hatte, wie wärmend doch die Nähe seiner Freunde war. Wie hatte er nur jemals an ihnen zweifeln können? Was war er doch für ein Dummkopf gewesen. Das Strahlen in ihren Augen und die Freude, die sie ausgestrahlt hatten, seit sie ihn abgeholt hatten, machten es ihm leichter in die Zukunft zu sehen. Mit ihrer Hilfe würde das Ganze ein Kinderspiel werden. Oder zumindest vieles, denn schließlich waren sie auch nur Menschen. Das Zimmer, welches er von Toshiya für die nächste Zeit zur Verfügung gestellt bekommen hatte, war von der Grundfläche her um einiges größer, als die Zelle, die er in den letzten Jahren bewohnt hatte. Und obwohl die Wände auch hier weiß und der Raum noch sporadisch eingerichtet war, fühlte er sich hier wohl. Denn die Tür war nicht aus Metall, sondern aus Holz und er war derjenige, der sie abschließen konnte. Vor dem Fenster waren keine Gitterstäbe angebracht, die einem die Aussicht verderben konnten. Vor dem Bett lag ein kleiner, bunter Teppich, damit man nicht gleich morgens mit dem kalten Laminat in Berührung kam. Toshiya hatte ihm erzählt, dass es ursprünglich ein Kinderzimmer werden sollte, es jetzt aber hauptsächlich als Gästezimmer fungierte. Aber an kleinen Details hier und da konnte man den ursprünglichen Verwendungszweck für diesen Raum erahnen. Während er versuchte doch noch für einige wenige Stunden Schlaf zu finden, überlegte Kyo schon einmal, was er am nächsten Tag und dem Rest der Woche alles zu tun hatte. Als Erstes musste er zu seinem Bewährungshelfer und ihm Bescheid geben, dass er vorübergehend hier zu erreichen war. Dann musste er ganz dringend zur Bank. Ging ja nicht, dass seine Freunde alles für ihn bezahlten. So weit, dass er sich aushalten ließ, war er noch nicht hinab gesunken. Sobald er dann Zugriff auf sein Konto hatte, sollte er auch erst einmal ein paar Klamotten einkaufen. Viel durfte von seinem alten Zeug vermutlich nicht mehr übrig geblieben sein. „Alles Mottenfraß geworden“, murmelte er und konnte sich gut vorstellen, wie aus einigen seiner Lieblingsstücke richtige Netze geworden waren, durch die hinein gefressenen Löcher. Seufzend setzte er sich auf. Das mit dem Schlafen wurde einfach nichts. Einer alten Angewohnheit folgend ging er zum Fenster und betrachtete die Straße, die vor dem Hochhaus verlief. Die Autos –zumindest glaubte er, dass es welche waren, schließlich hatte das von Kaoru am Mittag so ähnlich ausgesehen- wirkten futuristisch mit ihren Formen, jedoch nicht ganz so ungewöhnlich wie die aus all den alten Serien und Zukunftsvisionen, die er manchmal im Fernsehen verfolgt hatte damals. Und auch das mit der Kleidung schien sich in Grenzen zu halten. Nicht ganz so viel Silber, wie er fast erwartet hatte. Die Leute glaubten immer, dass sich innerhalb weniger Jahre die halbe Welt komplett von der unterschied, die sie im Moment umgab. Aber Kyo konnte ihnen jetzt eindeutig sagen, dass der Prozess doch viel langsamer verlief, als sie alle glaubten. Auf jeden Fall sollte er Toshiya beim Haushalt helfen, wenn er sich schon hier einnistete, wie er fand. Er konnte ja beim Einkaufen helfen und das Geschirr spülen. Da hatte er mittlerweile nämlich reichlich Übung drin. Irgendwas musste er ja gut können. Wenn er schon nicht mehr sang. Ob er es überhaupt noch konnte? Ob seine Stimme dazu noch fähig war? Darauf hatte er keine Antwort, schließlich hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr richtig gesungen. Nicht einmal mehr gesummt… Danach war ihm in den letzten Jahren nicht wirklich zumute gewesen. Aber vielleicht sollte er zumindest damit wieder anfangen, wenn er mit den Anderen wieder zusammen Musik machen wollte. Vielleicht sollte er mit einem ihrer alten Songs anfangen. Einfach, um wieder ein bisschen in Schwung zu kommen. Und damit er sich die Texte leichter wieder ins Gedächtnis rufen konnte. Gedankenverloren lehnte er die Stirn ans kalte Glas. Und wie früher sorgte es dafür, dass die Unruhe in ihm zum erliegen kam. Mit einem leichten Lächeln schloss er die Augen, genoss die Kühle, die in ihn drang. Außerdem hatte sie den angenehmen Nebeneffekt ihn müde werden zu lassen. Ein Gähnen unterdrückend drehte Kyo sich wieder dem Bett zu und schlüpfte unter die Decke. „Vielleicht klappt es ja jetzt“, murmelte er und kuschelte sich in die weichen Laken. Sein Bewährungshelfer schien ein ganz netter Kerl zu sein, so kam er Kyo jedenfalls vor. Der hatte nämlich mit so einem steifen Knochen gerechnet, der auf ihn herab sah, als wäre er der allerletzte Dreck. Und der war er nicht. Durch die ganzen Therapiestunden, war er mit seinem Selbstbewusstsein zumindest schon mal bei sowas wie Gartenerde angekommen. Nun gut, jetzt konnte man sagen, dass Gartenerde auch Dreck war, wenn man sie unter den Schuhen ins Haus schleppte, aber für den kleinen Japaner war es schon mal eine große Steigerung. Denn eine solche Erde war nützlich und bei vielen Leuten erwünscht. Nicht so wie Dreck, den man einfach nur loswerden wollte und entsorgte. Er würde sich in nächster Zeit auch erst mal um einen vernünftigen Beruf bewerben. Das hatte ihm sein Bewährungshelfer zumindest empfohlen. Schließlich stand es ja noch in den Sternen, ob das mit der Musikkarriere je wieder etwas werden würde. Nur, welcher Arbeitgeber stellte schon einen Mann ein, der wegen Mord gesessen hat? Noch dazu nichts Richtiges gelernt hatte? Das würde eine verdammt schwere Aufgabe werden. Eine, der er sich stellen musste. Vielleicht hatte er ja auch Glück und es gab noch einen netten Menschen, der sich seiner erbarmte. Vor dem Gebäude, in dem der für ihn zuständige Beamte saß, wartete Toshiya in seinem Wagen, bereit, den Älteren dahin zu fahren, wo er hin musste. „Wars schlimm?“, fragte dieser auch gleich, als er den Freund erblickte. Kyo zuckte, gespielt desinteressiert, mit den Schultern: „War besser, als ich erwartet hatte.“ „Freut mich. Was hat er dir denn so erzählt?“, erkundigte sich der Größere neugierig. „Nichts besonderes. Nur, dass ich mich regelmäßig melden soll und er mir ein bisschen dabei unter die Arme greifen will einen Job zu finden. Den muss ich nämlich haben, um meine Auflagen zu erfüllen.“ Kyo seufzte auf und fuhr sich übers Gesicht. Es stand noch so viel auf seiner gedanklichen Liste. Toshiya lächelte verschmitzt und öffnete die Beifahrertür. „Steig ein. Es gibt da einen Ort, an den ich dich bringen möchte.“ Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch stieg Kyo in den Wagen. Er wusste noch von früher, was für einen Blödsinn seine Freunde gerne machten. Deswegen konnte man nicht vorsichtig genug sein. „Darf ich fragen, wohin?“, erkundigte er sich dennoch, hatte die leise Hoffnung, er würde es erfahren. Doch stattdessen war die Antwort: „Lass dich überraschen.“ Die Augen verdrehend setzte sich Kyo artig auf den Beifahrersitz. „Kriege ich denn nicht einmal einen kleinen Hinweis?“ „Hm“, überlegte der Jüngere gespielt, „vielleicht.“ „Also nicht.“ „Genau.“ Kyo seufzte auf und fing an zu lächeln. Unglaublich, aber diesen Humor und die Unbeschwertheit des Anderen hatte er irgendwie vermisst. Während der Fahrt beobachtete er den Freund dabei, wie er mit dem Wagen umging. Es war nicht viel anders, als früher, aber es gab doch einige Knöpfe, von denen er nicht wusste, wozu sie da waren. Vielleicht sollte er demnächst in einer Fahrschule vorbei schauen und den berühmten ‚Lappen’ noch mal machen. Eher würde er sich nicht wieder hinters Steuer setzen. Seiner müsste eh ungültig sein mittlerweile. Jedoch wüsste er gerade gern, wohin ihn dieser seltsame Wagen und sein Fahrer brachte. „Komm schon Toshiya. Was hast du mit mir vor?“ „Nein, Kyo. Nicht ich, wir.“ „Wie, wir?“ „Na, wir eben.“ Ganz klasse. Jetzt war er auch schlauer als vorher. Blöder Toshiya. Grummelig schaute er wieder aus dem Fenster, bemerkte, dass sie auf eine große Fläche mit vielen Gebäuden zu fuhren, die sich alle hinter einem großen Zaun in die Luft reckten. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf und er fühlte sich wieder zurück ins Gefängnis versetzt. Der Wachposten am Eingang verstärkte diesen Eindruck für ihn noch. Am liebsten hätte er den Bassisten gebeten, vielleicht auch ein wenig angefleht, umzudrehen. Unbemerkt verkrampfte er sich total, erschrak, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. „Ganz ruhig. Wirst schon sehen. Alles halb so wild. Sogar besser.“ Sie fuhren zum Tor vor und Toshiya gab dem Pförtner eine Art Kreditkarte. Diese wurde durch ein Lesegerät gezogen und schon hatte er Zutritt zu dem Gelände. Das Tor öffnete sich beinahe Geräuschlos. Sie passierten ein Gebäude nach dem Anderen und allmählich dämmerte es Kyo, wo sie waren. „Kann es sein, dass das alles Lagerhallen sind?“ Erwartungsvoll wandte Kyo seinen Blick von den Hallen ab und Toshiya zu. „Ja, sind es. Und in einer von ihnen lagern deine ganzen Möbel und so weiter. Weißt du nicht mehr? Das haben wir dir damals erzählt, kurz nachdem du… naja, du weißt schon. Und jetzt fahre ich mit dir hierhin, damit wir ein bisschen was davon abholen können. Ich wollte zwar nachher mit dir ein bisschen durch die Stadt gehen, damit du deinen Kleiderschrank auffüllen kannst, aber ich hab gedacht, dass du gerne noch was von den alten Klamotten hättest.“ Der Ältere fühlte wie seine Sicht verschwamm. Aber er wollte nicht wieder weinen. Das hatte Zeit bis später. Er wollte sich bedanken, fand aber einfach nicht die richtigen Worte. ‚Oh man’, verspottete er sich gedanklich selbst, ‚ein Songwriter, dem die Worte fehlen. Das gibt’s doch nicht.’ Sie hielten vor dem Gebäude mit der Nummer 27. „Da wären wir“, verkündete Toshiya. „Hey, Kyo. Alles in Ordnung?“ Besorgt sah er seinen Beifahrer an, der ganz verkrampft wirkte. „Kyo? Sag doch was.“ Behutsam legte er eine Hand abermals auf die Schulter seines besten Freundes, brachte ihn mit sanfter Gewalt dazu, ihn anzusehen. Er musste ein wenig grinsen, als er die Tränen sah. „Du brauchst doch nicht weinen, weil wir auf deine Sachen aufgepasst haben. Das versteht sich doch von selbst. Schließlich haben wir alle auf den Tag gewartet, an dem du wieder bei uns bist. Und damit du nicht gleich die volle Ladung Zukunft abbekommst und du dich wieder wohler fühlst haben wir dir deine Einrichtung aufgehoben. Na ja, bis auf den Kühlschrank. Die Lebensmittel darin hatten sich schon beinahe buchstäblich in den Kunststoff gefressen. Der war absolut nicht mehr zu retten.“ Kyo erinnerte sich wieder an das seltsame Grünzeug. Obwohl, ‚Grün’ war, farblich gesehen, wohl nicht wirklich die passende Bezeichnung. „Ist wohl alles unter Biowaffe gelaufen, was?“ Der Scherz tat gut und hielt die Tränen auf. Toshiya grinste: „Wir waren kurz davor den Sicherheitsdienst mit einem Spezialteam anzufordern, aber wir haben dann einfach allem darin mit einem kleinen Flammenwerfer den gar aus gemacht. Dabei ist dann auch der Kühlschrank noch in gutes Stück in sich zusammengeschrumpft. Noch ein Grund, warum wir ihn entsorgt haben.“ Er befreite sich von dem Sicherheitsgurt und stieg aus, wartete darauf, dass der Andere seinem Beispiel folgte. „Als wir vor 2 Wochen das letzte Mal zur Kontrolle hier waren, sah auch noch alles Top aus. Ein bisschen muffig wars, aber keine größeren oder kleineren Schäden von irgendwelchem Ungeziefer.“ Als der Ältere neben ihm stand, schloss Toshiya die Tür auf und ließ dem Freund den Vortritt. Dann betätigte er den Lichtschalter, sodass Kyo einen besseren Blick über sein Eigentum hatte. „Wir haben Möbel und Matratze vor dem Einlagern auch noch professionell reinigen lassen, damit irgendwelche Keime nicht auf die dumme Idee kamen, vor sich hin zu brüten und alles unbrauchbar werden zu lassen.“ Fasziniert und überwältigt strich Kyo über die Folie, die seine Couch umhüllte. „Ihr habt wirklich an alles gedacht, was?“ „Wir, Shinya, wo ist da der Unterschied“, grinste der Bassist und freute sich, dass er dem Anderen eine Freude machen konnte. „Alles ist Luftdicht verpackt worden, damit es die kleine Zeitreise, wie wir es genannt haben, übersteht.“ Völlig fertig von den vielen auf ihn einströmenden Gefühlen ließ sich der Sänger auf sein Sitzmöbel plumpsen und starrte auf den Boden. „Warum?“, flüsterte er. „Weil du unser Freund bist“, antwortete ihm der Größere und setzte sich neben ihn. „Weil wir wollen, dass du glücklich bist.“ „Ich weiß, Toshiya, ich weiß“, entgegnete er, „Aber ich meinte eigentlich gerade eher mich. Ich frage mich seit fünfzehn Jahren, warum ich mich nicht früher auf euch verlassen habe. Warum ich nicht früher erkannt habe, dass ihr die einzigen sein würdet, die mich nicht verurteilen und für mich da sein würden. Was war ich doch für ein Dummkopf. Ein hoffnungsloser Dummkopf. Und dass ihr mir nach all den Jahren jetzt immer noch so zur Seite steht, werde ich euch nie vergessen.“ „Wenn du es uns wirklich danken möchtest“, fing Toshiya an, „Dann fang bitte wieder an zu schreiben und zu singen. Lass uns wieder eine Band sein und zusammen etwas erschaffen. Und wenn es nur für uns Fünf und nicht für die Welt da draußen gedacht ist, würde es den Anderen und mir schon reichen. Solange wir nur wieder miteinander Musik machen und wieder in unserer gewohnten Welt sein dürfen.“ Schniefend versteckte Toshiya sein Gesicht an Kyos Schulter, worauf dieser ein wenig perplex war. Er vermisste es auch. Es war sogar das, was er während der letzten Zeit am meisten vermisst hatte. Ein Teil eines Ganzen zu sein. „Könnt ihr denn überhaupt noch spielen?“, fragte der kleine Schwarzhaarige, sein Tonfall leicht ironisch und sah neckend auf den Bassisten hinab. „Klar, das ist wie Fahrrad fahren“, grinste dieser von unten herauf. „Als ob wir uns von einem Tag auf den anderen nicht mehr hinter unsere Instrumente setzen würden.“ Beruhigend strich Kyo ihm über den Rücken. „Ich hatte nichts anderes erwartet.“ Kurz schwieg er und sah sich um. Betrachtete eingehend sein Eigentum. „Wir können uns ja morgen oder so zusammensetzten. Mal schauen, wie viel ich noch hinkriege.“ Mit großen, leuchtenden Augen sah der Jüngere zu dem Sänger hoch und fing überschwänglich an ihn zu herzen. „Du bist wirklich erste Sahne, Kyo-chan.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)