Volle Kraft voraus von cooking_butty (Drei Götter in Weiß) ================================================================================ Kapitel 10: Bis zum letzten Atemzug ----------------------------------- Es war nicht die Person, die Jan entsetzte. Nein, die Anwesenheit eben jener verwirrte ihn nur, hatte er sie doch hinter Gittern vermutet. Auch nicht der Rucksack, den diese auf ihrer linken Schulter trug, konnte ihn so aus der Fassung bringen. Es war eher der Gegenstand, den die Person in der Hand hielt, der den Rettungsarzt geschockt einen Schritt zurücktaumeln ließ. „Mario?“, stieß er aus, ohne den Blick von dem großen Küchenmesser zu lösen. „Ich hab nicht gedacht, dass ihr es mir so einfach macht“, erwiderte der verurteilte Geiselnehmer und trat, während er seine Lippen zu einem widerlichen Grinsen verzog, an den blonden Hünen heran. Jan wich mit jedem Schritt, den Herr Schumick machte, einen Schritt zurück und konnte nicht verhindern, dass der Mann in sein Haus kam. „Ich hab das eigentlich noch nicht so früh eingeplant, aber die Situation ist einfach so perfekt, dass ich sie ausnützen MUSSTE“, fuhr dieser fort. „Dann steckst du hinter der ganzen Sache?“, fragte der Rettungsarzt etwas gefasster. Er ging noch einen Schritt und schon spürte er die kalte Wand in seinem Rücken. Kurz sah er sich nach etwas um, was ihm in dieser Situation helfen könnte, doch er fand nichts. Mario kam immer näher. Der Hüne konnte dessen starken Mundgeruch riechen. Nun stand der Braunhaarige direkt vor ihm und stützte sein Hände links und rechts von Jans Kopf ab. Der Rettungsarzt saß in der Falle. „Ja, Tunten wie ihr sollten ausgerottet werden. Ihr Perverslinge habt kein Recht zu leben“, zischte Mario und legte seine kalte Hand um den Hals des Blonden. „Was hast du vor?“, fragte Jan gepresst, da der Verbrecher seinen Griff verstärkte. „Feierabend“, stieß Dirk erfreut aus, während er seinen Spind verschloss. „Und, hast du noch was vor heute?“, wollte Andreas wissen, der auf einem der schwarz-weißen Hocker saß und sich seine braunen Schuhe zuband. „Ich werd mal wieder bei mir zu Hause schlafen“, antwortete der Schwarzhaarige und könnte sich sogleich ohrfeigen. Bisher hatte er es geschafft, sein Sexleben vor seinen Kollegen geheim zu halten. „Wieder bei dir zu Hause? Wo hast du denn sonst geschlafen? Hast du etwa wen kennengelernt?“, hakte sein Kollege sofort nach. „Ja, hab ich“, antwortete Stationschef schlicht. Was sollte er denn jetzt machen? Sollte er von seiner Beziehung zu Jan und Rod erzählen? Was würden seine Kollegen wohl sagen, wenn er ihnen offenbaren würde, dass er homosexuell war? „Soso, der Herr Felsenheimer ist wieder vergeben. Wie heißt denn die Glückliche?“, fragte Andreas unbeirrt. „Das verrat ich dir nicht“, erwiderte Dirk grinsend, schnappte sich seine Tasche und ging, nachdem er sich mit einem „Ciao“ von seinem Kollegen verabschiedet hatte. „Deine beiden Toyboys kommen heute nicht mehr, oder?“, fragte Mario sein Opfer belustigt. Er kannte die Antwort, er wollte sie nur von seinem Gegenüber persönlich hören. Jan wurde bewusst, wie schwierig seine Lage war. Seine beiden Freunde würden an diesem Tag nämlich, nicht wie in letzter Zeit, den Abend bei ihm verbringen, sondern in ihren jeweiligen Wohnungen. Resignierend schüttelte er den Kopf. „Tja…das ist jetzt ziemlich blöd für dich, oder?“, erwiderte der Braunhaarige und lachte ein gehässiges Lachen, das seinen Körper erzittern ließ. „So, jetz komm mal schön mit“, fuhr er dann fort und zog Jan gewaltsam mit sich in die Küche. „Setz dich“, zischte er und schubste ihn zu den Stühlen. Der Rettungsarzt tat, wie ihm befohlen. Er hoffte, dass alles noch ein gutes Ende nehmen würde. Mario warf seinem Opfer den Rucksack zu. Ihm das Messer an die Kehle drückend, wies er den Blonden an, die Tasche zu öffnen und das Klebeband herauszuholen. „Na, war doch wieder ein guter Tag heute, oder?“, meinte Rodrigo, als er im Umkleideraum der chirurgischen Oberärzte stand und sich sein Oberteil auszog. „Jap, find ich auch“, erwiderte Hanno, der plastische Chirurg, der seine Spindtür öffnete und sein Stethoskop in das obere Fach legte. „Gehn wir noch zu Joe auf ein Bier?“, schlug der Chilene vor und wechselte die Hosen der Krankenhauskleidung gegen seine Jeans. „Dagegen hab ich nichts einzuwenden“, grinste der aus Finnland stammende Arzt, verstaute seine Dienstkleidung in seinem Schrank und schlüpfte in seine schwarze Hose. Die beiden beeilten sich, ihre Sachen anzuziehen und das Krankenhaus zu verlassen. Mittlerweile hatte Mario die Hände des Rettungsarztes hinter der Sessellehne mit dem breiten grauen Klebeband zusammengebunden und ihm mit einem Streifen den Mund zugeklebt. Ein weiterer Streifen fixierte die Arme an das Holz des Möbelstückes. Der Verbrecher schickte sich an, die Vorhänge vorzuziehen. Die Nacht war inzwischen eingebrochen und man konnte nicht sehen, ob jemand draußen vorm Fenster stand und sie beobachtete. Der stämmige Braunhaarige stellte sich einen Stuhl vor Jans und drehte ihn so, dass er die Lehne vor dem Bauch hatte, als er sich hinsetzte. Er stützte die Arme ab und betrachtete sein Opfer eingehend. „Du widerst mich an, weißt du das?“, erwiderte er nach einer Weile verachtend und verpasste dem Hünen eine schallende Ohrfeige. Kampflustig sprang der Mann auf, schob den Sessel beiseite und baute sich vor Jan auf. Das Messer, das er bis eben noch in der Hand hatte, legte er auf dem Tisch ab. Grob packte er den Blonden am Shirtkragen. „Schämst du dich den überhaupt nicht, du Schwuchtel?“, schrie er ihn an und schlug ihn mehrmals mit der Faust ins Gesicht oder in den Bauch. Keuchend ließ Mario ab und bedachte den Rettungsarzt, der schwer atmend auf seinem Sessel hing, mit einem abschätzigen Blick, ehe er sich abwandte und zum Kühlschrank ging. Seufzend schloss Dirk die Tür hinter sich, fasste nach links, um das Licht anzudrehen, während er gleichzeitig den Schlüssel auf die Anrichte warf. Sofort wurde das Vorzimmer in ein warmes Gelb getaucht. Der Schwarzhaarige schlüpfte aus seinen Schuhen, legte seine Tasche ab und zog sich die Jacke aus. Unachtsam warf er sie auf den Kleiderständer, der daraufhin etwas wackelte, aber stehen blieb. Durch die Küche, wo er sich ein Glas Wasser einschenkte, gelangte er in sein Wohnzimmer. Er legte seine Tasche auf dem Couchtisch ab und ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen. Er nahm einen tiefen Schluck seines Getränks, lehnte sich entspannt zurück und schloss für einige Minuten die Augen, um sich von seinem harten Arbeitstag zu erholen. Als er merkte, dass er endgültig bei sich zu Hause angekommen war, stand er auf, ging zurück in die Küche und suchte seinen Kühlschrank nach etwas Essbarem ab. „Wie geht’s eigentlich Jan? Ich hab ihn schon länger nicht mehr gesehen“, fragte Joe, der Barkeeper, Rodrigo, der mit Hanno an der Bar saß. „Ganz gut. Hatte in letzter Zeit oft Nachtschicht und konnte wahrscheinlich deshalb nicht“, erwiderte der Chilene fröhlich und beobachtete der Barkeeper, wie er sich der chirurgischen Assistenzärztin Dr. Mon zuwandte und ihr zwei Tequilas zubereitete. Die Japanerin nahm die zwei Gläser und bahnte sich den Weg zu einem Tisch, an dem ein paar ihrer Kolleginnen und Kollegen saßen. Rodrigo nahm einen Schluck von seinem Bier und wandte sich dann wieder dem Finnen zu. „Ich sag dir, Häkkinen schafft heuer den Titel! Und das sag ich nicht, weil er Finne ist. Der Typ ist gut“, trug Hanno zu ihrem Gesprächsthema, den Autorennen, bei. „Träum weiter Hanno“, schnaubte Rodrigo belustigt. „Hey, er ist stark, Mercedes ist stark – die gewinnen heuer“, erklärte der Blonde. „Also, eins muss ich dir lassen: Dein Haus ist echt das geilste, dass ich je gesehen hab“, lobte Mario und biss von seinem Käsebrot ab, dass er sich zubereitet hatte. Mittlerweile saß er wieder auf dem Stuhl vor Jan. „Ich mein, ich hab noch nicht alles gesehen – leider sieht man den Keller nicht von außen – aber das, was ich gesehen hab, ist erste Sahne!“ Der Rettungsarzt beobachtete jede Bewegung seines Geiselnehmers genau. Er konnte die Arbeit des Unterkiefers sehen, als der Braunhaarige an einem weiteren Bissen kaute. Sein rechtes Auge schmerzte und er spürte ein kleines Rinnsal Blut, das sich von einer Platzwunde an seiner rechten Schläfe den Weg nach unten bahnte. „Sag mal, weiß deine Tochter eigentlich, was für einen perversen Vater sie hat?“, wollte er kauend wissen. Ein Aufbegehren Jans konnte er mit einem Tritt in dessen empfindliche Körpermitte unterbinden. Der Hüne stöhnte schmerzvoll auf und versuchte sich vergeblich aus seinen Fesseln zu befreien. Mario sah genüsslich zu, aß sein Brot zu Ende und stand auf. „Du solltest brav sein, dann muss ich dir nicht weh tun“, grinste er und nahm das Messer wieder an sich. Er zog den Kopf seines Opfers ruckartig an den Haaren zurück, was den Blonden erneut kurz aufstöhnen ließ. Beinahe zärtlich fuhr er mit dem Messer die kleine Blutspur nach. Die Klinge war so scharf geschliffen, dass sie sofort in die zarte Haut des Gesichts eindrang und eine weitere Blutspur erzeugte. Nicht tief, aber immerhin. „Ich glaub, wir sollten uns ein Taxi nehmen“, schlug Rodrigo vor, der die Nebenwirkungen seines doch sehr beträchtlichen Alkoholkonsums spürte. Er ahnte, dass es dem Finnen nicht besser ging, der mit ihm zum Ausgang des Lokals wankte. „Jap, das glaub ich auch“, erwiderte dieser lallend. „Joe, kannst du uns ein Taxi rufen?“, bat der Neurochirurg den Barkeeper, der angesichts der wenigen Menschen, die die Bar zurzeit besuchten, wenig zu tun hatte. „Kann ich, ja“, erwiderte dieser grinsend und wandte sich dem Telefon zu. Etwa zehn Minuten später verabschiedeten sich die beiden Ärzte von Joe und traten hinaus in die kalte Novemberluft. Schnell stiegen sie in das Taxi ein, gaben dem Fahrer ihre Adressen und warteten darauf, nach Hause zu kommen. Müde trat Dirk aus der Dusche, trocknete sich mit einem Handtuch ab, dass er sich anschließend um die Hüfte wickelte und trat dann an den Spiegel, der vom Dampf, den das heiße Wasser erzeugt hatte, angelaufen war. Mit der Hand schuf er sich eine freie Fläche und betrachtete kurz sein Spiegelbild. Er nahm die Zahnbürste und die Zahnpasta aus dem Becher, drückte etwas aus der Tube auf den Bürstenkopf und begann dann, sich die Zähne zu putzen. Als der Schwarzhaarige sein Schlafzimmer betrat, war er so müde, dass er nicht einmal mehr die Augen richtig offen halten konnte. Erschöpft schlüpfte er in Boxershorts und in sein Schlafshirt und ließ sich auf sein Bett fallen. Kaum hatte er sich zugedeckt, war er auch schon eingeschlafen. Geräuschvoll machte Rodrigo die Wohnungstür hinter sich zu und war in diesem Moment froh, dass er alleine wohnte. Er schlüpfte so schnell es sein Zustand zuließ aus seinem Mantel und seinen Schuhen und ging dann ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Duschen würde er am nächsten Morgen, dazu konnte er sich zu nun nicht mehr aufraffen. Nach seiner abendlichen Körperpflege ging er in sein Schlafzimmer und machte sich bettfertig. Die nach Zigarettenrauch stickende Kleidung warf er noch schnell in den Wäschekorb, ehe er unter die Bettdecke schlüpfte, das Licht abdrehte und die Augen schloss. Bald darauf fiel auch er in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Mario hatte inzwischen mit dem Messer das Klebeband, das den blonden Hünen an den Stuhl gefesselt hatte, durchgeschnitten und zog ihn mit sich in den oberen Stock ins Gästezimmer. So viel Anstand hatte selbst er, dass er nicht die Privatgemächer seines Opfers bezog. Oder widerstrebte es ihm deshalb, weil er wusste, was Jan mit seinen beiden Freunden in seinem Schlafzimmer getrieben hatte? Der Rettungsarzt versuchte, sich aus dem eisernen Griff, der sich um seinen Oberarm legte, zu befreien, doch je mehr er sich herauswand, desto fester wurde der Griff. Recht unsanft wurde der Hüne ins Zimmer gestoßen, wodurch er ins Stolpern kam und schließlich hinfiel. Er hörte das verächtliche Lachen hinter sich und wünschte sich ein Wunder. Grob wurde er gegen den kleinen, quadratischen Tisch aus Buchenholz gedrückt und mit einer Menge Klebeband am Flüchten gehindert. Mario drehte das Licht ab und ging zum Bett, wobei er „unabsichtlich“ gegen Jan stieß, was diesen aufkeuchen ließ. Er wünschte ihm grinsend eine angenehme Nacht und legte sich ins Bett, wo er kurz darauf einschlief. Der blonde Hüne brachte die ganze Nacht kein Auge zu. Immer wieder überlegte er, warum ihm das angetan wurde und, vor allem, was ihm noch angetan werden würde. Als sein Wecker klingelte, seufzte Dirk und wünschte, er wäre bereits im Ruhestand oder im Urlaub. Lustlos glitten seine nackten Beine unter der warmen Bettdecke hervor und fanden Halt auf dem kühlen Laminatboden. Genauso unmotiviert setzte sich der Schwarzhaarige auf und stieß sich von der Matratze ab, um in die Küche zu gehen. Dort ging er schnurstracks zur Kaffeemaschine, füllte mit einem Glas Wasser in den dafür vorgesehenen Behälter, steckte den Filter in das dafür konstruierte Fach, gab noch den geriebenen Kaffee hinein und schaltete die Maschine an. Während das Wasser durchlief stellte der Arzt einen Teller und eine Tasse auf den Tisch, schnitt sich mit der Brotschneidemaschine eine Scheibe vom Laib ab und brachte es, gemeinsam mit der Butter, der Marmelade und einem Messer an den Tisch. Abschließend holte er noch die Kanne mit dem frisch gebrühten Kaffee und begann mit dem Frühstück. Rodrigos erste Bewegung an diesem Morgen war das Abstellen des nervenden Weckers. Gähnend schob er die Decke beiseite, streckte sich noch einmal und schwang sich dann aus dem Bett. Seine Beine gingen wie von selbst ins Bad, wo er das Wasser in der Dusche anstellte. Während das Wasser warm wurde, streifte er sich seine Sachen ab. Als er sich den Gestank, der noch von seinem Barbesuch am vorigen Abend an ihm haftete, abwusch, überlegte der Chilene, welchen Dienst Jan heute hatte und ob er ihm einen Überraschungsbesuch abstatten könnte. Es sich fest vornehmend, drehte er das Wasser ab und stieg voller Vorfreude auf das Treffen mit dem blonden Hünen aus der Duschkabine. Er griff nach dem weißen Handtuch, das auf dem Hacken direkt neben der Kabine hing und trocknete sich ab. Das Frottee um seine Hüften gewickelt, ging der Arzt zurück in sein Schlafzimmer, wo er sich aus seinem Kleiderschrank schwarze Unterwäsche, dunkelblaue Jeans, ein weißes T-Shirt und einen grauen Sweater holte und sich anzog. Völlig erschöpft vernahm Jan Marios Erwachen. Seinen Blick hatte der Gefesselte aus dem Fenster gerichtet, wo gerade die Sonne aufging. ‚Vielleicht der letzte Sonnenaufgang, den ich erlebe‘, schoss es ihm durch den Kopf und ließ ihn erzittern. Daran hatte er bis eben noch nicht gedacht. Was, wenn er diese Sache nicht überleben würde? Energisch schüttelte er den Kopf. Nein, er durfte nicht sterben! Er musste doch noch Rod und Dirk fragen, ob sie bei ihm einziehen wollten! Er musste doch noch mit ihnen auf Urlaub fahren! Er musste doch noch… Dem Rettungsarzt fielen noch tausende Dinge ein, die er noch tun wollte. Ihm überkam die Panik. Sein Atem beschleunigte sich, die Augen waren weit aufgerissen. Er hörte nicht, wie sein Geiselnehmer aufstand und an ihn herantrat. Jan zuckte erschrocken zusammen, als er das Gesicht des Anderen dicht vor ihm sah. „Na, ist dir endlich klar geworden, dass du das Ganze nicht überleben wirst?“, fragte der Braunhaarige mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen. Der Rettungsarzt sah ihn an. Sollte dieser Mann die letzte Person sein, die er vor seinem Tod sah? Er zwinkerte und rief sich zur Raison. ‚Ruhig bleiben, Jan! Irgendwie schaffen wir das schon‘, versuchte er sich im Gedanken zu beruhigen. Der Verbrecher nahm sein Messer und schnitt den Hünen mit einem Ruck vom Tisch los. Er packte ihn grob am Oberarm, zog ihn auf die Beine und ging mit ihm hinunter in die Küche, wo er ihn zurück auf seinen Sessel schubste und ihn wieder mit Klebeband fixierte. Dirk kontrollierte noch einmal, ob er alle wichtigen Sachen in seiner Tasche hatte, ehe er sich seine dicke, schwarze Winterjacke überzog, in seine schwarzen Schuhe schlüpfte und dann aus der Wohnung trat. Er schloss die Tür ab und ging hinunter zu seinem silbernen BMW. Mit einem genervten Seufzen stellte er fest, dass er die Windschutzscheibe erst einmal von einer dünnen Schicht Eis befreien musste. Fluchend setzte er sich auf den Fahrersitz, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn etwas, damit die Heizung aufgedreht wurde. Er stellte sie auf eine hohe Stufe und drückte einen Knopf, damit die Scheibe gewärmt wurde. Dann holte er sich den Schaber aus dem Seitenfach der Autotür und begann mit der Arbeit. Nachdem er gefrühstückt und das Geschirr sorgsam in der Spüle abgestellt hatte, ging Rodrigo ins Bad, um sich fertig für die Arbeit zu machen. Während er sich die Zähne putzte, überlegte er, ob er seinem blonden Freund mal etwas schenken sollte, schließlich waren sie die meiste Zeit bei ihm zu Hause. Der Chilene erinnerte sich an nur einen Abend, an dem seine beiden Freunde bei ihm in seiner Wohnung waren und auch nur an zwei, an denen sie bei Dirk waren. Ansonsten schliefen sie immer in Jans Haus. Außerdem hatte er das Gefühl, dass die Sache mit Dirks und seinem kleinen Ausflug vor ein paar Monaten noch immer nicht ganz gegessen war. Rodrigo beschloss, an diesem Tag einmal pünktlich die Arbeit zu beenden und noch in einen Plattenladen zu schauen. Musik kam bei Jan immer gut an. Der Chilene warf einen kurzen Blick auf die Uhr und erkannte, dass er noch genügend Zeit hatte, um zum Bus zu gelangen. Da er am vorigen Tag mit dem Taxi nach Hause gekommen war, stand sein Auto immer noch beim Krankenhaus, weshalb er auf die öffentlichen Verkehrsmittel zurückgreifen musste, um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen. Gut gelaunt trat der Arzt aus dem Bad und ging ins Vorzimmer, wo er sich seine Schuhe und seinen Mantel überzog. Ein kurzer Blick durch die Wohnung, ob das Licht auch überall abgedreht war und schon ging er durch die Tür, schloss sein Zuhause ab und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus. Inzwischen hatte Dirk sein Auto vom Eis befreit. Zufrieden setzte er sich hinters Lenkrad, machte die Tür zu und schnallte sich an. Die Kupplung durchtretend drehte er den Zündschlüssel um und wartete darauf, dass der Motor ansprang, doch mehr als ein Ächzen gab dieser nicht von sich. Auch eine weitere Drehung erbrachte kein anderes Ergebnis. „Jetzt komm schon“, zischte Dirk genervt und versuchte es ein drittes Mal. „Yes“, jubelte er, als er das beruhigende Brummen des Motors vernahm. Vorsichtig manövrierte er den Wagen aus der kleinen Parklücke und fuhr weiter in Richtung Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin dachte er an seine beiden Freunde und überlegte, was den Blonden so aus der Fassung bringen konnte, doch ihm fiel nichts ein. Jan sah auf die Uhr. Er hätte seit dreizehn Minuten auf der Helikopterbasis sein müssen. Er wandte seinen Blick zurück auf Mario, der, ein Marmeladenbrötchen kauend, vor ihm saß. Das Telefon klingelte. Wahrscheinlich waren es Tom oder Karo, die wissen wollten, wo ihr Kollege blieb. Der Verbrecher ignorierte es und aß weiter genüsslich sein Frühstück. Der Rettungsarzt sah aus dem Fenster hinaus. Wäre es ein normaler Tag gewesen, wäre er wahrscheinlich schon Laufen gewesen und hätte sich an der selten zu sehenden Sonne erfreut. Doch es war kein normaler Tag und so zuckte er erschrocken zusammen, als er spürte, wie Mario ihn vom Sessel löste. „Aufstehen“, befahl er barsch. Wieder legte sich dieser eiserne Griff um Jans Oberarm und er wurde zum Telefon gezogen. „So, jetzt werden wir ein paar Anrufe machen“, meinte der Geiselnehmer grinsend. Mit Hilfe des Messers löste er das Klebeband von den Handgelenken des Blonden. Dieser dachte nicht einmal daran, seinen Gegner irgendwie auszuschalten. Er hatte seit etwas weniger als einem Tag nichts mehr gegessen und nicht geschlafen. Er war zu schwach, um siegreich aus einem Kampf mit diesem Kerl hervorzugehen. Jan seufzte leicht, als das Klebeband von seinem Mund gerissen wurde. „Du wirst jetzt deinen Dirk anrufen und schön mit ihm Schluss machen“, kommandierte Mario, drückte seinem Opfer den Hörer in die Hand, stellte sich hinter den Hünen und hielt ihm das Messer an die Kehle. Mit zitternden Fingern wählte Jan die Nummer des Älteren, hielt den Hörer an sein Ohr und wartete darauf, dass der Andere abnahm. „Hey Jan, was gibt’s?“, meldete sich der Schwarzhaarige fröhlich. „Dirk, wir…müssen reden“, erwiderte der Rettungsarzt mit zittriger Stimme. „Was ist los?“, fragte Dirk besorgt. „Ich…wir sollten aufhören, uns zu treffen“, sagte der Jüngere geradeaus. „Heißt das, du machst Schluss?“, hakte der Andere ängstlich nach. „Es tut mir Leid“, hauchte Jan. Er hoffte inständig, dass er noch solange leben würde, dass er die Sache noch berichtigen konnte. Bevor sein Freund noch etwas erwidern konnte, drückte Mario auch schon auf die Gabel und das Gespräch war beendet. „Super, dann zu Rod“, grinste er. Wieder tippte der Blonde die Nummer ein und lauschte. „Jan, hey, was gibt’s?“, wollte der Jüngere wissen, nachdem er abgehoben hatte. „Ich…will nicht mehr mit dir zusammen sein“, hielt sich der Rettungsarzt kurz. „Was? Wieso?“, wollte Rodrigo aufgebracht wissen. „Lo siento pero tiene un arma“, erwiderte Jan leise und hoffte, dass sein Freund ihn verstanden hatte. Wütend riss Mario dem Größeren den Hörer aus der Hand, knallte ihn auf die Gabel und schrie: „Was hast du ihm gesagt?“ „Fuck“, stieß der Neurochirurg entsetzt aus. Sofort stürmte er aus dem Umkleideraum und lief hinunter in die Notaufnahme. „Wo ist Dirk?“, fragte er den Mann am Empfangsschalter atemlos. „Im Ärztezimmer, warum?“, erwiderte Jerry verwirrt. Ohne zu antworten lief Rodrigo auf besagten Raum zu, stieß die Tür auf und fand seinen Freund vor, der am Boden zerstört beim Tisch saß. „Dirk, wir müssen auf der Stelle zu Jan“, verkündete er und blieb vor dem Älteren stehen. „Dann hat er mit dir also auch Schluss gemacht?“, fragte dieser ihn betrübt. „Ja hat er, aber ich weiß warum“, erwiderte der Chilene und nahm Dirks Gesicht in seine Hände. „Er hat gesagt ‚lo siento pero tiene un arma‘. Das heißt ‚Es tut mir Leid, aber er hat eine Waffe‘. Dirk, er wird bedroht! Er musste das wahrscheinlich sagen“, fuhr er atemlos fort. Der Ältere sah ihn entsetzt an. Wenn Rodrigo Recht hatte, dann mussten sie so schnell wie möglich zu ihrem Freund! „Worauf warten wir noch“, rief er, sprang auf und lief gemeinsam mit dem Neurochirurgen zu seinem Auto. „Was hast du gesagt“, schrie Mario und schlug den Blonden so fest, dass dieser zu Boden sackte. „Ich hab ihm nur gesagt, dass ich einen anderen habe“, log dieser verzweifelt und rutschte etwas von dem Verbrecher weg. „Als würde euch das etwas ausmachen“, knurrte dieser und schlug weiter auf sein Opfer ein. „Warum tust du das?“, fragte Jan verzweifelt, als der Andere von ihm abgelassen hatte. Ob Rodrigo die Botschaft verstanden hatte? Ob er ihn retten konnte? Wütend drückte Mario den Rettungsarzt gegen die Wand. Seine Hand legte er fest um den Hals des Anderen, was diesen nach Luft schnappen ließ. Jan versuchte, sich zu befreien, aber der Geiselnehmer war stärker. „Ich habe meine Frau verloren und als ich mich rächen wollte, bist du mir in die Quere gekommen. Deinetwegen hat mich die Polizei geschnappt, deinetwegen haben sie mich verurteilt und deinetwegen will mein Sohn nichts mehr von mir wissen“, erklärte Mario sein Tun. „Aber…dadurch machst du noch alles schlimmer“, erwiderte der Blonde keuchend. Er bekam kaum noch Luft. „Du wirst das Ganze sowieso nicht überleben und ich werd mich in die Karibik absetzen“, verriet der Kleinere. „Hör mal –“, begann Jan, wurde aber mit einem gebrüllten „Halt die Klappe“ unterbrochen. „Ich ruf Karo an, die sollen mit’m Heli zu Jan. Sicher ist sicher“, meinte Rod und griff nach seinem Handy. Dirk nickte und sah weiterhin konzentriert auf den Straßenverkehr. Sich selbst verfluchend dirigierte er den silbernen BMW an den anderen Wägen vorbei. Seine Gedanken überschlugen sich. War dieser Mann der Grund, warum Jan so beunruhigt gewesen war? Was, wenn Jan bereits tot war? Wie hatte er vorhin nichts merken können? „Der Hubschrauber ist unterwegs“, meldete der Chilene. Der Ältere wunderte sich. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sein Freund telefoniert hatte, so sehr war er in seine Gedanken vertieft gewesen. „Wir sind bald da“, erwiderte Dirk und konzentrierte nun voll und ganz auf die Fahrbahn. Wenig später konnten sie schon von weitem das Dach von Jans Haus sehen. Ein weiter Schlag in seine Magengrube ließ Jan kurz schwarz vor Augen werden. Er vernahm das Geräusch eines heranfahrenden Autos, doch war es so leise, dass er dachte, er würde es sich einbilden. Mittlerweile hatte Mario die Schläge wieder eingestellt und zog sein Opfer zurück auf die Beine. Er drückte den Rettungsarzt fest gegen die Wand, da klingelte jemand ohne aufhören zu wollen an Jans Haustür. „Jan?“, hörten sie Dirks Rufe. Das Klingeln hörte auf und gleich darauf hörten sie, wie jemand einen Schlüssel in das Schloss steckte und aufsperrte. Rasch zog Mario den Verletzten vor sich und drückte ihm das Messer an die Kehle. Die Tür ging auf und gleich darauf standen die beiden Schwarzhaarigen vor ihnen. „Jan“, hauchte Dirk entsetzt. Er erkannte den Bluterguss, der sich um das rechte Auge des Blonden gebildet hatte und die mittlerweile getrocknete Blutspur knapp daneben. „Keinen Schritt näher“, brüllte Mario. Die beiden blieben stehen, wo sie waren und hielten die Arme abwehrend vor ihrem Oberkörper. Leise drang das Rotieren des Hubschraubers zu ihnen vor und verlieh den beiden Ärzten Sicherheit. Bald würden Karo und Tom hier sein und hoffentlich würde auch bald die Polizei kommen, die sie gerufen hatten. „Herr Schumick, beruhigen Sie sich doch“, versuchte der Chef der Notaufnahme den Mann zur Aufgabe zu bringen, doch vergebens. Mario drückte das Messer nur noch fester gegen Jans Hals, verursachte so eine Wunde, aus der sofort das Blut herausrann. Erschrocken keuchte der Blonde auf. Der Hubschrauber kam immer näher und verursachte einen ohrenbetäubenden Lärm. „Jan?“, hörten sie bald darauf Karos Stimme und dann ging alles ganz schnell. Der Geiselnehmer drückte das Messer noch fester gegen Jans Hals und zog durch. Sofort floss das Blut aus der tiefen Wunde. Erschrocken schrien Dirk und Rodrigo auf. Als Mario sein Opfer losließ und zurücktrat, sank der Blonde sofort zu Boden und hielt sich die Wunde. Die beiden Schwarzhaarigen stürzen auf ihren Freund. Der Verbrecher wurde von Tom und Karo aufgehalten, die ihn mit einer Beruhigungsspritze außer Gefecht setzen konnten. Dann lief auch das Rettungsteam mit einer Trage zu ihrem schwer verletzten Kollegen. Gemeinsam hoben sie Jan auf die Trage, schnallten ihn fest und trugen ihn so schnell wie möglich zum Helikopter, der im riesigen Garten des Hünen gelandet war. „Halt durch Jan“, hauchte Rodrigo seinem Freund zu, drückte dessen freie Hand und sah zu, wie Dirk die blutige Hand des Blonden von der Wunde wegnahm und stattdessen mit einem Verbandstuch darauf drückte. Die gerade eintreffende Polizei wurde vom Piloten ins Haus gewiesen. Flink schoben sie die Trage ins Innere des Hubschraubers und stiegen ein, damit Tom abheben konnte. Sie setzten sich alle die Funkkopfhörer auf. Vorsichtig setzte die Sanitäterin auch Jan welche auf, damit sie sich verständigen konnten. Schon drang die gepresste Stimme des Blonden durch die Hörer. „Luft“, verlangte er leise. Rodrigo schnappte sich die Sauerstoffmaske und hielt sie über Mund und Nase seines Freundes. „Besser?“, wollte er wissen. Verzweifelt schüttelte Jan den Kopf. „Der Scheißkerl hat vielleicht die Luftröhre getroffen“, schimpfte Rodrigo mit Tränen in den Augen. Auch Karo konnte nicht fassen, was da geschah. Entsetzt starrte sie auf Dirks Hände, die immer wieder die blutgetränkten Tücher wechseln mussten. Zwar hatte sich der Rettungsarzt hin und wieder bei ihren Einsätzen verletzt, aber noch nie war er der Grund gewesen, warum sie in solch hohem Tempo durch die Lüfte rasen mussten. „Wir sind gleich da“, verkündete Tom endlich. Nur noch unscharf nahm Jan wahr, wie er aus dem Hubschrauber geschoben wurde. Ganz dumpf, als würde Watte auf seinen Ohren liegen, drangen die Geräusche an ihn heran. Karo sah ihn fragend an und ihr Mund bewegte sich, doch was sie von ihm wissen wollte, verstand er nicht. Hilfesuchend blickte er zu Rodrigo, doch der schien nichts vom veränderten Zustand seines Freundes zu merken. Es ruckelte etwas, als die Trage in den Lift geschoben wurde. Der Rettungsarzt spürte, wie seine Kräfte schwanden. Er verlor immer mehr Blut. Da wurde die Trage wieder in Bewegung gesetzt. Er kam in einen hellen Raum, wahrscheinlich das Behandlungszimmer. Mehrere Köpfe drängten sich in sein Blickfeld, schienen ihm Fragen zu stellen. Er vernahm ein Piepen, wahrscheinlich das Gerät, das seinen Herzschlag signalisierte – wie hieß es noch? Er schaute zur Decke, sah die Lampe, die den Raum in ein unnatürlich helles Weiß tauchte. Das Weiß wurde immer intensiver und ließ die Szenerie verschwinden. Der Blonde hörte, wie sein Herzschlag stetig langsamer wurde und schließlich aussetzte. Er bemerkte noch den schrillen durchgehenden Ton der Maschine. Jan dachte daran, dass er seine Mutter noch einmal hätte besuchen sollen, ehe seine Augen sich schlossen, sein Bild sich schwärzte und sein Kopf schlaff zur Seite fiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)