Volle Kraft voraus von cooking_butty (Drei Götter in Weiß) ================================================================================ Kapitel 11: Elendiges Warten ---------------------------- Das Piepen brach ab, um kurz darauf in regelmäßigen Abständen immer wiederzukehren. Die im Behandlungsraum anwesenden Mediziner atmeten erleichtert auf. „Wir haben ihn wieder“, beruhigte Andreas seinen Chef und gab die Paddels des Defibrillators einer Schwester zurück. „Gott sei Dank“, stieß Dirk aus und drückte den stark mitgenommenen Rodrigo an sich. Aber der Ältere wusste, dass der Rettungsarzt noch lange nicht übern Berg war. „Er muss sofort in den OP“, befahl der Notaufnahmearzt den Assistenzärzten, die daraufhin sofort die Bremsen der Trage lösten und den Verletzten zum Lift schoben. Das unvollständige Team der Helikopterstaffel ging gemeinsam mit den beiden Schwarzhaarigen zum nächsten Lift und wartete. Jetzt konnten sie nur noch hoffen, dass die Operation gut verlief und die Blutungen gestoppt werden konnten. Dr. Ron Wieser machte sich währenddessen fertig für eine Operation. Er selbst kannte den Patienten, der eben in den Saal gebracht wurde, nur flüchtig, wusste aber, dass dieser für viele ein Held war. Des Weiteren wusste er, dass der Verletzte auch ein guter Freund seines Kollegen Dr. González war. Die Haube auf dem Kopf, den Mundschutz über Mund und Nase und die feuchten Hände von sich gestreckt ging der Chefarzt mit dem Rücken voran durch die Tür in den Saal. Zwei OP-Schwestern zogen ihm den sterilen Kittel und die Handschuhe an. Der Grauhaarige warf einen Blick auf die Galerie, die gesteckt voll mit Assistenzärzten war. Den Chilenen fand er nicht unter ihnen. Wäre es eine normale Notoperation bei einem normalen Patienten, würden sich wohl nur eine Handvoll Menschen hinter der Glasscheibe befinden. Doch ein Dr. Jan Vetter war kein normaler Patient. Er war vielmehr ein Held, ein Arzt, der durch riskante Rettungsaktionen so manches Leben gerettet hatte, das andere wahrscheinlich schon für verloren abgeschrieben hätten. „Er ist soweit“, berichtete der Anästhesist. Entschlossen, dieses Leben zu retten, koste es, was es wolle, begann Dr. Wieser an der Seite der Kardiologin Nina mit der Operation. Unruhig ging Karo auf dem Gang vor den OP-Sälen auf und ab. Die drei Männer saßen, nicht minder angespannt, auf den grauen Metallstühlen an der Wand. „Was machen die da drin gerade“, fragte die Sanitäterin nach dem Ablauf. „Sie werden versuchen, die Aorta zusammenzuflicken. Wir können von Glück reden, dass sie nicht gänzlich durchtrennt wurde, sonst könnten wir nichts mehr…“, der Neurochirurg brach ab. Daran, was alles hätte passieren können, wollte er nicht denken. Jan lebte und er würde es auch überleben. Er war ein Kämpfer, wenn er es nicht schaffte, wer dann? „Außerdem müssen sie auch noch den Schnitt in der Luftröhre nähen“, beendete Rodrigo seine Erklärung. „Ist so was leicht? Ich meine, machen die das öfters? Wie stehen seine Chancen?“, hakte die Frau verzweifelt nach und kaute nervös an ihren Fingernägeln. Der Chilene warf einen Blick auf den neben ihm sitzenden Dirk. Leichenblass und apathisch saß dieser auf dem Stuhl. Vorsichtig ergriff der Jüngere dessen Hand und drückte sie leicht. Er wollte ihm zeigen, dass er nicht alleine war, dass sie alle Angst hatten. „Es ist eine sehr schwierige Operation, immerhin wurden Aorta und Luftröhre getroffen. Jan hat schon viel Blut verloren und wenn sie es nicht schaffen, die Blutung zu stillen, dann…“, erklärte der Chirurg mit zittriger Stimme. „Verdammt“, fluchte der chirurgische Chefarzt, als die technischen Geräte und die Schwestern ein Kammerflimmern signalisierten. „Paddels, laden auf zweihundert“, verlangte er. Schnell hatte man das Tuch vom Oberkörper des Patienten genommen. Dem Grauhaarigen wurden die Geräte zum Schocken in die Hand gedrückt, während eine Schwester den Defibrillator auflud. „Geladen“, verkündete sie kaum eine Sekunde später. Dr. Wieser legte die Paddels auf den Oberkörper des Patienten, in einer Diagonale, in deren ungefähren Mitte das Herz lag. „Und weg“, rief er und schon zuckte der auf dem OP-Tisch liegende Körper unter dem Stromstoß. Kurz sah die Mannschaft auf den Monitor des EKGs, doch zeigte er nur einen unveränderten Zustand. „Laden auf dreihundert“, verlangte der Chefarzt und die Prozedur wiederholte sich. Noch immer keine Veränderungen. „Komm schon“, stieß einer der Assistenzärzte durch zusammengebissene Zähne aus. „Laden auf dreihundertsechzig“, kommandierte Dr. Wieser. Der narkotisierte Körper bebte wieder unter dem Stromstoß. Ein regelmäßiges Piepen ertönte, die Wellen auf dem Monitor kamen in größeren Abständen. „Sinusrhythmus“, bestätigte eine Krankenschwester. Tief durchatmend gab der mittelgroße Mann die Dinger aus seiner Hand und sah ins Gesicht des schlafenden Patienten. Aufgrund der geringen Menge Blut, die zurzeit in seinem Körper zirkulierte, war der Blonde extrem blass, sodass die Wunde neben seinem rechten Auge geradezu hervorstach. „Wir sind noch nicht bereit, Sie gehen zu lassen, Herr Vetter“, flüsterte der Chefarzt seinem Patienten zu, ehe er sich wieder auf die Operation konzentrierte. Nach etlichen Stunden des bangen Wartens erhielten die vier, zu denen inzwischen auch Karin gestoßen war, von einer Krankenschwester die Nachricht, dass der Eingriff erfolgreich beendet werden konnten und Dr. Wieser bald kommen würde, um ihnen nähere Informationen zu geben. Erleichtert grinsten sich die Angehörigen an. Sie trauten sich nicht, sich zu freuen, aus Angst vor noch auftretenden Komplikationen, immerhin bedeutete eine gut verlaufende Operation nicht, dass ihr Freund über dem Berg war. Sie brauchten nicht lange zu warten, bis der Chefarzt an sie herantrat. „Die OP ist gut verlaufen, wir konnten die Blutungen stoppen und die Gefäße vernähen. Leider ist der Zustand von Herrn Vetter noch äußerst instabil, weshalb wir ihn auf die Intensivstation verlegen werden. Während der Operation traten zweimal Herzrhythmusstörungen auf. Er ist noch bewusstlos und wir können nicht sagen, ob und wann er wieder aufwacht“, gab der Grauhaarige die ernüchternden Informationen wider. „In welches Zimmer wird er gebracht?“, meldete sich nun Karin zu Wort. „Drei-i“, erwiderte der Chirurg und verabschiedete sich dann. Die fünf gingen langsam in den Stock, auf dem die Intensivstation untergebracht war. Sie gingen auf die breite Tür zu, neben der ein kleines Schild angebracht war, auf dem „Zimmer 3.i“ stand. Gerade, als sie die Tür öffnen wollten, kam eine Schwester aus dem Zimmer. „Sie können jetzt zu ihm“, erklärte sie lächelnd und brachte die Krankenakte, die sie in der Hand hielt, in das Stationsbüro. Dirk betrat gemeinsam mit Karin als Erster das Krankenzimmer, gefolgt von Karoline, Tom und Rodrigo. Jan schlief auf einem Krankenbett an der Mitte der rechten Wand des fensterlosen, großen Raumes, der durch fünf Leuchtstoffröhren an der Decke erhellt wurde. Über Kabel oder Schläuche war der Blonde mit Geräten oder Infusionen verbunden. Das dünne Schläuchlein, das ihn mit Sauerstoff versorgte, verlief von der Nase hinter die Ohren und kam vor dem Hals wieder zusammen, um dann im scheinbaren Wirrwarr der Kabel zu verschwinden. Der Hals wurde von der linken Seite aus bis knapp zur Mitte von einem großen weißen Pflaster bedeckt. Auch die Wunde neben dem rechten Auge war versorgt und mit einem weißen Pflaster verbunden worden, dessen Farbe sich kaum von der blassen Hautfarbe des Patienten unterschied. Vorsichtig traten die vier an das Bett heran. „Was machst du bloß für Sachen“, hauchte Karin leise, als sie sich an die linke Seite ihres Vaters setzte und dessen kühle Hand, auf der eine Infusionsnadel haftete, vorsichtig in ihre nahm. „Ich glaube, wir gehen dann wieder“, meinte Tom nach einer Weile, in der er seinen bewusstlosen Freund betrachtet und überlegt hatte, was die Beweggründe des Verbrechers gewesen waren. Er spürte, dass Karin gerne mit ihrem Vater alleine sein wollte. Karo nickte zustimmend, während sich die beiden Schwarzhaarigen einen kurzen Blick zu warfen. Sie würden gerne noch etwas bei dem Hünen bleiben, aber sie mussten auch das Bild einer reinen Freundschaft aufrechterhalten. Nach kurzem Zögern stimmten auch sie zu. Nacheinander verabschiedeten sich die vier von Karin und ihrem Vater. „Dirk, Rodrigo? Könnt ihr noch kurz hier bleiben?“, fragte die junge Frau, als sie gerade gehen wollten. Überrascht drehten sich die beiden Schwarzhaarigen um. „Klar“, antworteten sie verwirrt und verabschiedeten sich noch rasch von dem Rettungsteam. „Was gibt’s denn?“, wollte der Chilene wissen, als sie nur noch zu dritt bei Jan im Zimmer waren. „Naja, ich dachte, ihr würdet gern noch etwas hier bleiben“, erwiderte sie schmunzelnd. Sie wusste mittlerweile Bescheid über die sonderbare Beziehung der drei Männer. „Danke“, nuschelten die zwei und setzten sich auf ihre Plätze auf der rechten Seite des Bettes. „Wann…wird er denn wieder aufwachen“, wollte Karin wissen. „Das kann man nie so genau sagen, aber…ein paar Tage wird er schon noch brauchen“, erklärte Dirk. „Oh Gott…warum…hat der Typ ihm das angetan?“, stieß die junge Frau aus und konnte nicht verhindern, dass sie zu weinen begann. Rodrigo stand auf, ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Sschhh, dein Vater ist ein Kämpfer, der schafft das schon“, flüsterte er, während er ihr beruhigend über den Rücken strich. „Warum hat er das getan?“, fragte Karin erneut, als sie wieder etwas gefasster war. „Die Polizei hat gesagt, es war ein Racheakt, weil Jan den Kerl damals bei der Geiselnahme zur Aufgabe gebracht hatte…und die Tatsache, dass dein Vater…nun ja…homosexuell ist, hat ihn seiner Aussage nach noch gestärkt“, gab Dirk die Informationen wider, die ihnen die Polizei vor ein paar Stunden gegeben hatten. „Dieses Schwein“, zischte die Studentin kopfschüttelnd. Die drei blieben so lange, bis sie von einer Krankenschwester höflich darauf hingewiesen wurden, dass die Besuchszeit zu Ende wäre. „Hey, wir fahren jetzt, okay? Sollen wir dich mitnehmen?“, begann Dirk, als sie aus dem Zimmer kamen. „Nein, danke! Ich…ich werd noch hier bleiben, denk ich“, erwiderte Karin leise. „Bist du dir sicher?“, wollte Rodrigo besorgt wissen. „Ja, ich…ich würd’s zu Hause nicht aushalten, ich…hab Angst“, schluchzte die junge Frau. Während Dirk sie an sich drückte, strich ihr Rodrigo beruhigend über den Arm. „Er wird nicht sterben, hörst du?“, flüsterte der Chilene. Langsam verebbten die Tränen der Studentin wieder. „Sorry, ich –“, wollte sie sich entschuldigen, doch die beiden Schwarzhaarigen ließen es nicht zu. „Ist doch verständlich“, wehrte der Ältere und strich die Tränen aus ihrem Gesicht. „Komm…lass uns in die Cafeteria gehen und was essen, oder?“, schlug Rodrigo vor. Froh, über diese Ablenkung stimmten die anderen beiden zu und schon bald waren sie vor dem Buffet und suchten sich etwas Essbares. Die Tage vergingen und nichts änderte sich an Jans instabilem Gesundheitszustand. Während Karin ihre sämtlichen Vorlesungen schmiss und beinahe die gesamte Besuchszeit bei ihrem Vater verbrachte, versuchten Rodrigo und Dirk ihren Dienst so gut wie möglich hinter sich zu bringen. Die Pausen, sowie die Zeit zwischen Arbeit und Ende der Besuchszeit waren auch sie bei ihrem Freund. Ihren Beruf als Ärzte nahmen sie sich auch zu Nutze und schlichen sich auch so in Jans Zimmer. Es musste doch bestimmt der Zustand kontrolliert werden, oder so. Rodrigo saß wieder einmal bei seinem Lebensgefährten am Krankenbett. Wie immer auf einem Sessel auf der, vom Patienten aus gesehenen, rechten Seite. Es war einer der wenigen Momente, an dem er alleine war. Dirk hatte am Vortag die Drohbotschaften gefunden, die Jan bekommen hatte. „Und das alles nur, weil wir zusammen sind“, warf Rodrigo in den Raum. „Naja, könnte man zumindest sagen“, fügte er noch hinzu, als ihm einfiel, dass der Grundgedanke des Verbrechers ja eigentlich die Rache für die verpatzte Geiselnahme gewesen war. „So viel zum Thema ‚Heutzutage ist man tolerant demgegenüber’“, fluchte der Chilene und strich dem Bewusstlosen vorsichtig durch die Haare. Mit gleicher Behutsamkeit nahm er die rechte Hand des Hünen in seine und drückte sie, darauf bedacht, die Infusionsnadel nicht zu berühren. Er stützte seine Arme mit den Ellbogen auf dem Bett ab und küsste die kühle Hand, die kraftlos in seinen lag. Während er den Oberkörper seines Freundes beobachtete, der sich mit jedem Atemzug langsam hob und wieder senkte, streichelte er gedankenverloren den Handrücken auf und ab. Auf einmal spürte er etwas. Nur der Windhauch einer Berührung, aber dennoch real. --------- Kochlöffixikon (oder auch: kochlöffel’s gefährliches Halbwissen, basierend auf Wikipedia und diverse Ärzteserien): Defibrillator (oder auch Defi): ein Elektroschocker; wenn das Herz abnormal schnell schlägt, sollen die Elektroschocks das Herz wieder in normalen Rhythmus bringen („laden auf 100 usw.“ bedeutet, dass das Gerät auf 100 Joule (oder was auch immer verlangt wird) geladen wird, die dann durch den Körper gejagt werden) Paddels: [sprich: Pädels] die Enden des Defibrillators, die man auf den Oberkörper legt und durch die geschockt wird Anästhesist/-in: Narkosefacharzt Kardiologe/-in: Facharzt für Herzkrankheiten Kammerflimmern: eine lebensbedrohliche, pulslose Herzrhythmusstörung Sinusrhythmus: normaler, regelmäßiger Herzschlag EKG: Elektrokardiogramm; misst den Herzschlag Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)