Volle Kraft voraus von cooking_butty (Drei Götter in Weiß) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Wenn Die Ärzte richtige Mediziner wären, dann wäre Bela ein sympathischer, beherzter Chef der Notaufnahme, Farin ein furchtloser Rettungsarzt der Helikopterstaffel und Rod ein cooler Neurochirurg. Jeder von ihnen würde seine eigene Lebensgeschichte schreiben und ein hoch angesehener Kollege, ein erfolgreicher Lebensretter oder ein gefragter Spezialist werden. Nie würden sie auf die Idee kommen, sich Pseudonyme anzulegen. Jeder von ihnen würde seinen Beruf lieben und ihn gerne ausüben. Bis sie sich eines Tages treffen würden, würden sie niemals bemerken, dass ihnen etwas in ihrem Leben fehlen könnte. Und erst bei dieser Zusammenkunft würden sie merken, wie sehr ihre jeweiligen Geschichten miteinander verstrickt wären. Doch beginnen wir von vorn… Kapitel 1: Rettung naht! ------------------------ Jans Crew befand sich gerade im dunkelblauen Rettungshubschrauber auf dem Weg zum nächsten Einsatzort. Ein Schiff war kurz vor der Nordseeküste gekentert und es galt, die Besatzung zu retten. Der große Blonde saß neben Tom, dem Piloten, im Cockpit, die Rettungssanitäterin Karoline saß hinten und checkte ein letztes Mal ihre Ausrüstung. Da es im Helikopter sehr laut war, verständigten sie sich über die Mikros, die in ihren weißen Helmen integriert waren. „Da drüben, auf neun Uhr“, wies Jan den Piloten Tom an und legte das Fernglas, mit dem er bis gerade eben nach dem Schiff gesucht hatte, beiseite. Dann ließ er seinen Sitz zurück gleiten, um sich im hinteren Teil des Hubschraubers den kletterähnlichen Gurt anzulegen. Als sie über dem Schiff schwebten, meinte Tom, der sich mithilfe der Fenster zu seinen Füßen, orientierte: „Ich werd dich da jetzt runterlassen. Pass auf, dass das sich Seil nicht in den Masten verfängt!“ „Geht klar, Chef“, antwortete Jan, obwohl eigentlich er das Oberhaupt der Truppe war. Er schulterte den Rucksack und öffnete die linke seitliche Schiebetür, um sich und zwei einfache Rettungsgurte an der Seilwinde einzuhacken. Sofort blies ihm der eisige Wind entgegen. Er setzte seine Füße auf dem Quergestänge der Helikopterkufen ab und drehte sich um, sodass er Karoline ansah. Diese hatte sich in die Öffnung gesetzt, um mit der Fernbedienung in ihrer Hand das Seil zu steuern. Mit einem ausgestreckten Daumen gaben sie sich das Zeichen, dass es losgehen konnte. Auf dem sinkenden Fischkutter, der schon eine leichte Schräglage aufwies, hakte sich der große Blonde aus und ging auf die vier Männer zu, die ihrem Retter entgegen rannten, so gut es der glitschige Holzboden eben zuließ. „Geht es Ihnen gut, sind Sie verletzt?“, fragte Jan schreiend, nachdem er seinen Helm abgenommen und ihn an seinem Gurt befestigt hatte. Der Lärm des Hubschraubers und der Wellen war unbeschreiblich. „Ich glaube, mein Arm ist gebrochen!“ „Mein Kopf blutet!“ „Mein Bein tut weh!“ Antworteten drei mit deutlichem, ausländischem Akzent. Die Aufmerksamkeit des Arztes galt aber dem vierten, der kurz davor stand, bewusstlos zu werden. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er ihn. „Er kann kein Deutsch“, antwortete ein anderer für den Mann, der der Jüngste der Truppe zu sein schien. Jan handelte schnell und legte die beiden Gurte dem stummen Herren und dem, der zuletzt gesprochen hatte um, hakte sie ans Seil und gab seiner Kollegin via Walkie Talkie die Anweisung, sie hochziehen zu lassen. Während diese Arbeit ausgeführt wurde, rief der Arzt den anderen beiden Männern zu, dass sie die nächsten seien. „Ist außer ihnen noch jemand auf diesem Schiff?“, fragte er sie dann. „Der Kapitän!“ – „Er war zuletzt unten in seiner Kajüte“, antworteten die beiden. Das Seil wurde wieder heruntergelassen und Jan legte ihnen den Gurt um. „Fliegt sie zum Ufer, dort müsste ein Krankenwagen für sie da sein. Ich such einstweilen den Kapitän!“, funkte er seinen Kollegen zu, während er zusah, wie die beiden Männer im Hubschrauber verschwanden. „Pass auf dich auf“, drang Karos Stimme aus seinem Walkie Talkie. „Wir sind in einer Viertelstunde wieder da“, meldete sich Tom noch zu Wort, dann drehte der Helikopter ab. Währenddessen wurde im Hamburger Unfallkrankenhaus dem Chef der Notaufnahme gerade der neue neurochirurgische Oberarzt vorgestellt. „Dirk, darf ich vorstellen: Dr. Rodrigo González. Er wird die Neurochirurgie leiten! Herr González, das ist Dr. Dirk Felsenheimer, Chef der Notaufnahme“, stellte der Klinikchef die beiden einander vor und ließ sie anschließend alleine, da Rodrigos Führung nun zu Ende war. „Herzlich willkommen! Keine Panik, wenn Sie sich mal verlaufen, das passiert mir auch noch hin und wieder“, begrüßte Dirk sein Gegenüber, der ein paar Jahre jünger als er zu sein schien. „Na da bin ich ja beruhigt! Diese vielen Gänge hier haben in der Tat etwas Verwirrendes“, schmunzelte der andere. „Woher kommen Sie? Sind Sie neu in der Stadt?“ „Ich komm vom UKH in Berlin und nein, ich bin nicht neu in der Stadt, ich bin hier aufgewachsen!“ „UKH, echt? Da hab ich auch angefangen…vom einen Unfallkrankenhaus ins nächste, oder wie?“ „So sieht’s aus!“ Da ertönte Dirks Pieper. „Tja, die Arbeit ruft! Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen“, verabschiedete sich der Ältere im Gehen. Im Gedanken ließ er seinen Blick noch einmal über seinen neuen Kollegen gleiten. Die dunkelblauen Scrubs verdeckten einen Großteil seines Körpers, doch ließen sie eine sportliche Figur vermuten. Die schwarzen, gepflegten Haare waren zwar etwas länger als normal, aber die Länge wirkte keinesfalls störend, im Gegenteil, kürzere Haare würden vielleicht gar nicht zu Rodrigo passen. Sein dunkler Teint ließ vermuten, dass er aus einem südlichen Land stammte, die schwarzen Augen strahlten Ruhe aus. Alles in allem ein gut aussehender Mann. ‚Stopp, aus! Dirk, was denkst du denn?’, rief er sich zur Vernunft. Seine Freundin hatte ihn zwar eben erst verlassen, aber das war noch lange kein Grund, ans andere Ufer zu wechseln! Doch konnte ein Mann nicht einfach, ohne Hintergedanken, einen Eidgenossen attraktiv finden? Jan hatte sich einstweilen in das Innere des Schiffes vorgewagt. Das kalte Wasser stand ihm hier bis zu den Knien. Da entdeckte er den Kapitän. Der stämmige, bärtige, ältere Mann schien mit seinen Beinen in einem metallenen Ding eingeklemmt zu sein. „Hallo, können Sie mich verstehen?“, fragte der Arzt, während er vorsichtig dessen untere Hälfte, die im Wasser lag, abtastete. Das rechte Bein schien schwer verletzt zu sein. „Ja“, antwortete jener mit erstickter Stimme. Der Arzt versuchte, das Gerüst hochzuheben, doch es war einfach zu schwer. Er musste sich aber beeilen, um den Kapitän hier raus zu bringen, denn das Wasser stieg rasch an. Die unheimlichen Geräusche, die das Schiff erzeugte, ignorierend, suchte Jan etwas, wodurch er das Gerüst wie durch eine Art Hebel hochheben konnte. Schnell fand er einen stabilen Metallstab. „Okay“, wandte er sich wieder an den Kapitän. „Ich werde jetzt versuchen, das Ding hier hochzuheben. Wenn es hoch genug ist, müssen Sie sich rausziehen, verstanden?“ Der andere nickte, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Der große Blonde steckte den Stab in ein Loch des Gerüstes und stemmte ihn mit aller Kraft nach unten. Tatsächlich erhob sich das Ding und der Ältere konnte sich, laut schreiend, befreien. Nun konnte der Arzt das Ausmaß der Wunde erkennen: der Mann musste so schnell wie möglich in ein Krankenhaus, sonst würde er sein Bein verlieren. Jan holte einen Verband aus seinem Rucksack und wickelte ihn fest um die Wunde, damit der Verletzte nicht allzu viel Blut verlor. Dann schulterte er dessen Arm, stützte ihn so gut er konnte und gemeinsam gingen sie zurück an Deck, wo der Rettungshubschrauber schon auf sie wartete. Der Arzt, der sich mittlerweile den Helm wieder aufgesetzt hatte, legte den Gurt um den Mann und hakte sie beide ans Seil. Schon wurden sie hinaufgezogen, doch als sie sich noch etwa zwei Meter unter dem Helikopter befanden, stockte die Winde. „Was ist los?“, funkte Jan und sah nach oben. „Ich glaub, das Seil hat sich verklemmt“, antwortete Karoline. Sie drückte an ihrer Fernbedienung herum, doch nichts tat sich. „Wir bringen euch ans Ufer, da steht ein Krankenwagen“, meldete sich Tom zu Wort und wendete den Hubschrauber in diese Richtung. Da hörten die beiden Insassen einen Schrei über die Kopfhörer. „Jan, alles in Ordnung?“, fragte Karoline und blickte zu ihrem Kollegen hinunter. Jener hatte sich nach vorgebeugt und hielt nur noch mit seiner linken Hand den Verletzten fest. „Sein Gurt ist gerissen“, keuchte der Arzt erklärend. „Wie lange würde das Auto zum Krankenhaus brauchen?“, fragte er dann. „Etwa 40 Minuten“, schätzte der Pilot. „Das dauert zu lange. Er verliert sein Bein, wenn er nicht so schnell wie möglich operiert wird.“ „Jan, das nächste Krankenhaus mit Hubschrauberlandeplatz ist in Hamburg. Selbst wenn wir mit Höchstgeschwindigkeit fliegen, dauert das noch eine halbe Stunde. Solang hältst du nicht durch“, rief Tom. Durch das linke Bodenfenster konnte er seinen Freund am Seil baumeln sehen. „Ich schaff das schon. Wenn wir nicht nach Hamburg fliegen, verliert der sein Bein!“ „Wenn wir nach Hamburg fliegen und du kannst nicht mehr, dann verliert der mehr als nur sein Bein!“ „Tom, ich bin immer noch der Chef, also flieg uns sofort nach Hamburg!“ „Tom, tu was er sagt. Jan weiß, was er tut“, meldete sich nun auch Karo zu Wort. Überredet gab der Pilot Gas, sodass der Helikopter bald mit etwa 200 km/h durch die Luft sauste. Der große Blonde verstärkte seinen Griff um das Handgelenk des Kapitäns und konzentrierte sich nur noch darauf, ihn nicht loszulassen. Da spürte er einen stechenden Schmerz, der sich von der Schulter aus über seinen ganzen linken Arm zog. „Fuck“, keuchte er. „Jan, alles in Ordnung?“, hörte er Karos Stimme. „Wie lange dauert es noch?“, fragte er und tat so, als hätte er seine Kollegin nicht gehört. „Etwa sieben Minuten“, war Toms knappe Antwort. Jan stöhnte. Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Kurz überlegte er, ob er die Hand wechseln sollte, doch die Gefahr, den Verletzten zu verlieren, war einfach zu groß. Er biss die Zähne zusammen, da hörte er, wie Tom um Landeerlaubnis beim Krankenhaus ansuchte. „Es tut mir Leid, unsere Notaufnahme ist schon voll, wir können keine Verletzten mehr aufnehmen“, antwortete eine tiefe Männerstimme. „Hören Sie zu, Sie verdammter Wichser! Wenn wir nicht sofort landen, dann verlier ich meinen Patienten! Also entweder, Sie nehmen uns auf, oder ich verklage Sie wegen unterstellter Hilfeleistung“, schrie Jan wütend durchs Mikro. Er konnte den Kapitän auf keinen Fall noch länger halten. Ein paar Sekunden verstrichen dann meldete sich die Männerstimme wieder: „Okay, Sie können landen!“ Kurz darauf verlangsamte der Helikopter seine Geschwindigkeit und ein Krankenhaus kam in Sicht. Vorsichtig wurden die beiden auf den Boden des Daches aufgesetzt und erst als der große Blonde sah, dass der verletzte Mann von den anderen Ärzten festgehalten wurde, ließ er ihn los, hakte sich vom Seil und ging in Sicherheit, damit der Hubschrauber problemlos landen konnte. Nachdem er die Mediziner über den Gesundheitszustand des Patienten aufgeklärt hatte und diese im Gebäude verschwunden waren, ließ sich Jan erschöpft auf den Boden sinken, wobei er seinen linken Arm vorsichtig festhielt. Er zuckte schreiend zusammen, als ihm Karo aufmunternd auf die linke Schulter klopfte. „Jan, alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. Dieser lächelte schwach und antwortete: „Das fragst du mich jetzt schon zum dritten Mal!“ „Und?“ „Mein Arm“, erwiderte er bloß. Karo tastete ihn vorsichtig ab und meinte dann: „Du hast dir die Schulter ausgerenkt.“ Stöhnend stand der Arzt auf und ging mit seiner Kollegin in das Gebäude hinein, während Tom den Motor des Hubschraubers abstellte und ihnen dann folgte. „Tja Herr Vetter, Sie haben sich nicht nur die Schulter ausgekugelt, sondern auch sämtliche Sehnen und Bänder gerissen“, beurteilte ein junger Assistenzarzt, nachdem er den Arm gründlich untersucht hatte. „Na toll“, seufzte der Blonde und musterte den Mann. Er trug unter seinem weißen Kittel, an dessen Brusttasche die Akkreditierungskarte und mehrere Kugelschreiber hingen, hellgrüne Scrubs, hatte die braunen kurzen Haare streng zurückgekämmt und war etwa 20 cm kleiner als er selber. Er wippte unaufhörlich mit den Füßen, welche in beigen Gummilatschen steckten. Jan schätzte ihn ins erste Dienstjahr. „Wann kann ich operiert werden?“, fragte er dann. „Ihre Verletzung muss nicht unbedingt operiert werden. Neueste Studien haben ergeben –“, begann der Mediziner. „Hören Sie, ich bin selber Arzt, ich weiß, was die neuesten Studien ergeben haben. Ich will trotzdem eine OP“, unterbrach ihn Jan. „Okay, wenn Sie das so möchten. Sie können noch heute operiert werden, die Nacht verbringen sie dann im Krankenhaus. Morgen können Sie also schon wieder nach Hause.“ Der Rettungsarzt nickte einverstanden und ließ sich dann die Schulter einrenken. Während der Jüngere ihm vorübergehend den Arm mit einem Verband an den entblößten Oberkörper band – die Jacke und das Hemd seiner Uniform musste er für die Untersuchung ausziehen – damit er nicht bewegt werden konnte, betrat ein Mann das Zimmer. „Sie müssen der Verrückte sein, der mich angeschrieen hat“, sprach er belustigt. „Und sie müssen der Vollidiot sein, der uns fast nicht landen lassen wollte“, erwiderte Jan im selben Tonfall. Der Mann betrachtete das Röntgenbild und kommentierte es mit einem „Autsch“. Unauffällig musterte er den Patienten. Die gefärbten blonden Haare waren kurz geschnitten und passten perfekt zu dem sonnengebräunten Teint, den seine Haut aufwies. Auf seiner linken Schulter hatte sich ein großer blauer Fleck gebildet, auf dem Oberkörper zeichneten sich deutliche Muskeln ab. Die langen Beine steckten in der Uniformhose der Rettungsärzte, die dunkelblau mit rotem Längsstreifen an der Seite war, die Füße in schwarzen Stiefeln. Dass der, durchaus ansehnliche, Mann fix vergeben war, verriet ein silberner Ring auf seinem rechten Ringfinger. Der große Blonde ließ seinerseits einen Blick über den anderen gleiten. Er schien kaum älter als er selbst zu sein, hatte seinen Körper in dunkelgrünen Scrubs versteckt, wobei er unter dem Oberteil noch ein langärmliges schwarzes Shirt trug. Die Akkreditierungskarte hing an der Brusttasche, die Füße steckten in schwarzen Gummilatschen. Die schwarz gefärbten, etwas längeren Haare wirkten locker gekämmt, die grünen Augen strahlten etwas Undefinierbares aus. „Eine Schwester wird dann kommen und Sie auf die OP vorbereiten“, erklärte der junge Arzt, nachdem er seine Tätigkeit beendet hatte und ging. „Ist das so etwas wie eine Uniform bei euch?“, fragte Jan ironisch, auf die Scrubs deutend und wunderte sich dann über das einfache „Ja“, das er als Antwort bekam. „Unser Chef leitet das Krankenhaus nach amerikanischem Vorbild, und dort sind diese Kittel Gang und Gebe“, fuhr der Kleinere fort und ließ sich auf einen der Stühle, die im Zimmer standen, nieder. „Und was hat es mit den Farben so auf sich?“ „Jede Station hat ihre eigene Farbe. Die Notaufnahme eben grün, die Chirurgie blau, die Pädiatrie lila, die Gynäkologie rot und so weiter. Hell steht für Assistenzärzte und dunkel für die Oberärzte und Chefs“, erklärte der Chef der Notaufnahme. „Da steckt ja richtig ein System dahinter“, stieß der Rettungsarzt erstaunt aus. „Jan Vetter“, stellte er sich dann vor und hielt seinem Gegenüber die rechte, gesunde Hand entgegen. „Dirk Felsenheimer“, erwiderte der andere und schlug ein. Er wusste nicht, was er hier tat. Denn eigentlich hatte er jetzt Pause und vielleicht Besseres zu tun, als bei diesem Typen zu sitzen. Aber andererseits strahlte dieser so etwas Vertrautes aus und er wünschte sich, mehr über ihn zu erfahren. „Hey Jan, wie sieht’s aus?“, fragte Karoline, als sie gemeinsam mit Tom das Zimmer betrat. „Schulter ausgerenkt, Bänder und Sehnen gerissen, werd nachher noch operiert“, informierte sie der Angesprochene nüchtern. „Och, du Armer“, bedauerte Tom seinen Freund und lachte über den gespielt Mitleidserregenden Gesichtsausdruck, den der blonde Hüne aufgesetzte. „Wie geht es dem Kapitän?“, wollte Jan dann wissen. „Er wird gerade operiert. Dank dir wird er sein Bein behalten und wieder voll belasten können“, antwortete die Sanitäterin. Stolz auf ihren heldenhaften Kollegen klopfte sie ihm auf die Schulter, diesmal auf die rechte, um ihm ja nicht weh zu tun. Jener kommentierte es mit einem fröhlichen Lächeln. Bald darauf verabschiedeten sich die beiden, wünschten ihrem Oberhaupt noch gute Besserung und begaben sich zurück zum Hubschrauber. Auch Dirk musste den Patienten verlassen und sich wieder um seine Arbeit zu kümmern. Kurz bevor Jan operiert wurde, musste er noch telefonieren. „Hey Papa, wie geht’s? Karo hat mir erzählt, was passiert ist. Ich hab versucht, dich zu erreichen, aber –“, meldete sich seine Tochter. „Schon gut, Karin. Mir geht’s eigentlich gut. Hab mir die Schulter ausgerenkt und so ziemlich alles gerissen, was es in einem Arm zu reißen gibt. Werd daher noch operiert und kann erst morgen entlassen werden“, unterbrach er ihren Redefluss. „Was, du musst operiert werden? Ich komm nach der Uni zu dir, okay?“, beschloss sie sofort. „Hey, Karin das musst du nicht, ehrlich nicht“, meinte er abwehrend. „Aber –“ „Hey, bis du da bist, lieg ich schon im OP und nachher werd ich schlafen. Es reicht, wenn du mich morgen abholen kommst“, erklärte er. „Aber –“ „Schatz ehrlich, es geht mir gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, beruhigte er sie. Eine Schwester betrat sein Zimmer und wollte ihn zu den OP-Sälen bringen. „Ich muss jetzt Schluss machen, okay? Ich hab dich lieb!“ „Ich hab dich auch lieb“, antwortete Karin und legte auf. Währenddessen kümmerte sich Dirk um einen offensichtlichen Junkie, der ihm weismachen wollte, dass er keine Drogen nehmen würde, aber Medikamente gegen seine starken Schmerzen im Knie brauchte. Eine alltägliche Situation für den erfahrenen Arzt, der den „Patienten“ mit einem Flyer für eine Entzugsklinik wieder nach Hause schickte. „Es ist immer das gleiche mit den Junkies“, seufzte er, als er die Patientenakte einordnete und anschließend das durchsichtige Board, auf dem die derzeit behandelten Patienten standen, betrachtete. Auf dem Board war eine Tabelle, wo man den Namen des Patienten, dessen derzeitigen Aufenthaltsort, die (vermutete) Diagnose und den behandelnden Arzt eintragen konnte. „Sieht doch gut aus“, kommentierte er das, was er sah. Vor drei Stunden noch versank die Station unter einer Flut von Unfallopfern, nachdem es auf der Autobahn zu einer Karambolage mehrerer Autos gekommen war. Nun schien der Stress abgeflaut und der Alltag wieder zurück zu sein. „Ja, haben wir gut hingekriegt“, meinte Andreas, einer der Oberärzte und wischte mit dem dafür vorgesehenen Schwamm einen Namen von der Tafel. Als er Dirks fragenden Blick sah, erklärte er: „Frau Edlinger; hatte sich beim Unfall den Arm gebrochen, ich hab ihn eingegipst und sie wieder nach Hause geschickt!“ „Gut!“ „Was, keine Fragen, ob ich sie auch gründlich untersucht habe?“, fragte Andreas lachend, der wusste, wie sehr sein Chef auf Genauigkeit bei den Behandlungen beharrte. „Du bist ein Oberarzt, das wird schon seinen Grund haben. Bei deinem Posten setz ich Gründlichkeit voraus“, antwortete Dirk schmunzelnd und ging dann in den Aufenthaltsraum, um etwas vom Papierkram abzuarbeiten. Zur selben Zeit stand Rodrigo vor dem weißen Board auf der chirurgischen Station. Es war ähnlich dem der Notaufnahme, nur befanden sich auf diesem, neben dem Namen des Patienten, des Arztes und dessen Assistenten, die Operation, die durchgeführt werden musste, die zu erwartende Dauer, die Startuhrzeit und die Nummer des OP-Saales. Das Krankenhaus, das auch ein Lehrkrankenhaus war, verfügte über vier Säle, von denen zwei mit einer Aussichtsgalerie für die Studenten ausgestatten waren. In eine dieser Galerien ging der Schwarzhaarige nun. Von dort aus konnte man von oben durch eine Glasscheibe die Operation verfolgen, für näheres Betrachten waren Monitore in den zwei vorderen Ecken des Raumes angebracht, wodurch man die Tätigkeiten des Chirurgen genau verfolgen konnte. Rodrigo aber war weniger gekommen, um sich die Operation anzusehen, sondern vielmehr, um den Saal zu erkunden, wenn er gebraucht wird. Außerdem konnte er so erkennen, was für ein Feeling es für die Zuseher auf der Galerie sein musste, ihren Kollegen, Mentoren oder Freunden bei der Arbeit zuzusehen. Am nächsten Morgen wachte Jan schon früh auf. Der linke Arm war mit einer dunkelblauen Bandage an seinen Oberkörper fixiert worden, damit er nicht bewegt werden konnte; die Gelenke des Ellenbogens und der Hand waren verbunden und geschient worden. An seinem rechten Arm bemerkte der Blonde eine Infusion, mit der wahrscheinlich ein schmerzstillendes Medikament in sein Blut gelangte. Ein Blick auf den Beutel der Infusion gab ihm Recht in seiner Vermutung. Kaum hatte er sich etwas in seinem Zimmer umgesehen, ging die Tür auf und eine sportlich schlanke und auch ebenso gekleidete junge Frau kam herein. „Karin, mein Sonnenschein“, begrüßte der blonde Hüne seine Tochter, die ihn mit ihren wilden Haarstylings schon öfters zur Verzweiflung gebracht hatte. Seit kurzem trug sie ihre schulterlangen Haare schwarz gefärbt mit roten Strähnchen. „Hey, mein Held, wie geht’s dir denn?“, fragte sie und umarmte ihn vorsichtig. „Eigentlich ganz gut“, erwiderte Jan und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Was machst du bloß für Sachen.“ Karin schüttelte leicht den Kopf. Da fiel ihr etwas ein und sie zog einen Teddybären, der als Patient verkleidet war, aus ihrer Tasche. „Der is von Karo. Er wird gut zu dem Teddyarzt passen, den sie dir voriges Jahr geschenkt hat, hat sie gemeint“, erklärte sie und überreichte ihrem Vater das Geschenk. Dieser nahm es lachend entgegen und betrachtete den Teddy, der sich anscheinend das Bein gebrochen hatte. Bald darauf kam eine Schwester und brachte die unterschriebenen Entlassungspapiere. Sie gab dem Patienten die Anweisung, dass er zwar unter der Bandage ein Shirt oder ein Hemd tragen konnte, mehr jedoch nicht, denn ansonsten wäre die fixierende Wirkung nicht gegeben. Sie merkte außerdem noch an, dass er sich in ungefähr einer Woche wieder untersuchen lassen sollte, damit man sah, wie schnell die Heilung voranschritt. Danach entfernte sie die Infusion, verabschiedete sich und ging. Mit Karins Hilfe schlüpfte der Blonde in seine Kleidung, die seine Tochter ihm mitgebracht hatte. „Wenigstens hast du mir ein Hemd mitgenommen. In ein T-Shirt wär ich jetzt definitiv nicht gekommen“, bedankte sich Jan. „Ich weiß ja, was ich tu“, gab die junge Frau lachend von sich. Sie nahm ihrem Vater vorsichtig die Bandage ab, half ihm aus dem Nachthemd des Krankenhauses und in sein eigenes Hemd, knöpfte es zu und legte ihm anschließend ebenso vorsichtig die Bandage wieder an. Dann half sie ihm noch in seine restliche Kleidung und bald konnten sie gehen. „Dein Chef hat übrigens schon angerufen“, begann Karin, als sie im Auto saßen und nach Hause fuhren. „Er hat gesagt, dass du jetzt zwei Wochen im Krankenstand sein wirst und dann bis zu deiner vollständigen Genesung Stützpunktdienst schieben darfst.“ Jan stöhnte auf. Er hasste diesen Dienst, der darin bestand, auf dem Stützpunkt beim Funkgerät zu sitzen, den Verlauf des Einsatzkommandos zu verfolgen und ihm, wenn nötig, Anweisungen zu geben. Was bedeutete, dass er die ganze Zeit über am Schreibtisch sitzen und praktisch nichts tun würde. Eigentlich perfekt, wenn es nicht gerade sinnvollere Sachen zu tun gäbe. Jan schnappte sich das Funkgerät, das im Auto über dem Radio eingebaut war und über das er die ganzen Gespräche, die via Funk vom Stützpunkt oder vom Hubschrauber aus geführt wurden, verfolgen konnte und funkte sein Team an: „Hey ihr Knalltüten, wie geht’s euch da draußen?“ „Jan, hallo! Tja, uns geht’s gut und selbst?“, meldete sich Tom. „Kann mich nicht beklagen!“ „Wann wirst du uns wieder beehren?“, fragte nun Karo. „In zwei Wochen“, antwortete der Blonde. „Und dann Stützpunktdienst, oder wie?“, fragte sie mitleidig. Niemand führte diesen Dienst gerne aus. „Mir bleibt ja nichts erspart“, seufzte der Arzt, wünschte der Truppe noch viel Spaß und beendete das Gespräch. Kapitel 2: Neue Erkenntnisse ---------------------------- Einige Zeit war vergangen. Zeit, in der Jan von der Schiffscrew, die er gerettet hatte, besucht wurde, weil sie sich bei ihm bedanken wollten; Zeit, in der seine Verletzung am Arm wieder vollständig verheilen konnte, wodurch er wieder richtig arbeiten konnte. Zeit, in der Rodrigo sich an seinen neuen Arbeitsplatz eingewöhnen konnte; Zeit, in der er mit seinen Fähigkeiten brillieren konnte. Zeit, in der Dirk neue Studenten einweisen musste; Zeit, in der er so manches Leben retten konnte, wo andere längst aufgegeben hätten. Zeit, in der die beiden Ärzte vom Unfallkrankenhaus in Hamburg und der Rettungsarzt gute Freunde wurden; Zeit, in der alle drei aber kaum etwas über ihre Vergangenheiten preisgaben… Rodrigo und Dirk saßen an diesem späten Nachmittag in der Bar, die in der Nähe ihres Arbeitsplatzes lag. Die meisten der Besucher dieses Lokals waren Ärzte, die sich nach ihrer harten Schicht amüsieren wollten. Die beiden gehörten definitiv dazu. „Rod“, begann der Chef der Notaufnahme. „Ich wollte dich da mal was fragen. Ich will nicht irgendwie rassistisch klingen, oder so. Ich mein, vielleicht ist diese Frage jetzt völlig sinnlos, aber –“ „Du willst wissen, woher ich komme, hab ich Recht?“, unterbrach der Jüngere ihn. Dirk sah ihn ertappt an und nickte. „Chile. Valparaíso, um genau zu sein“, antwortete Rodrigo knapp. „Und, warum bist du hergekommen?“ „Meine Eltern sind mit meiner Schwester und mir damals aus politischen Gründen geflüchtet. Weißt du, damals kam Pinochet gerade an die Macht und meine Familie war nicht mehr sicher.“ „Kam dir manchmal der Gedanke, dass du gerne dort aufgewachsen wärst?“, wollte Dirk nach einiger Zeit, in der beide geschwiegen hatten, wissen. „Manchmal…vor allem am Anfang…“, antwortete der Chilene ehrlich. Dann wechselten sie das Thema. „Sag mal…ich will dir jetzt echt nicht zu nahe treten, oder so…aber, hast du eigentlich eine Freundin?“, wollte der Jüngere dann wissen. „Nein“, seufzte Dirk. „Lass mich raten: Du hast entweder nicht einmal die Zeit für eine, oder sie jammert dann, dass du keine Zeit für sie hast“ „Voll ins Schwarze getroffen, Herr González“, gab der Kleinere zu und lachte. „Bei mir ist das genauso…als ob ich was dafür könnte, dass bei einer OP Komplikationen auftauchen, wodurch ich dann natürlich später nach Hause komme“, erzählte Rodrigo. „Mann, als Arzt hat man’s echt nicht leicht: Auf der einen Seite ist man ein Gott, weil man Leben rettet, auf der anderen ein Arsch, weil man keine Zeit für anderes hat“, seufzte der Chef der Notaufnahme. Der Jüngere wollte gerade etwas erwidern, als seine Aufmerksamkeit durch die anderen Barbesucher auf den kleinen Fernseher gelenkt wurde. „Vor kurzem ist eine Maschine in einer Parfumfabrik nähe Hamburg explodiert, das Gebäude stand sofort in Flammen. Noch immer sind Menschen in der Fabrik eingeschlossen, Feuerwehr und Rettung sind bereits vor Ort. Wir schalten nun live zum Ort des Geschehens“, sprach eine Nachrichtensprecherin. Das Bild wechselte auf einen Reporter, im Hintergrund konnte man das brennende Gebäude sehen. Ein Hubschrauber schwebte über dem Haus und zwei Menschen wurden hochgezogen. „Wir sehen hier, wie die Menschen aus der Fabrik geborgen werden. Viele können von der Feuerwehr durch den Eingang herausgeholt werden, aber ein paar sind so eingeschlossen, dass der Hubschrauber kommen musste, um sie zu retten. Ein Mann hat sich in das Gebäude abseilen lassen und sucht noch nach Überlebenden“, berichtete der Reporter. „Kann man schon etwas über die Ausmaße sagen?“, fragte die Nachrichtensprecherin ihren Außendienstkollegen, doch die Besucher der Bar hörten schon gar nicht mehr zu. Viele tranken ihre Getränke aus und wollten so schnell wie möglich zahlen. Unter ihnen auch Dirk und Rodrigo. Es wird sicher einiges zu tun sein im Krankenhaus. „Glaubst du, das war Jan Vetter, der sich da abgeseilt hat?“, hörte der Notaufnahmechef eine junge Assistenzärztin neben sich fragen. Sofort wurde er hellhörig. Woher kannte sie ihn? „Bestimmt! Der ist doch für so was wie geschaffen“, meinte deren Begleiter. „Ich hab gehört, der soll schon über 100 Leuten das Leben gerettet haben; wenn man mal von denen absieht, die sowieso überlebt hätten“, erzählte die Frau. „Ich hab gehört, es sollen sogar über 200 sein“, mischte sich der Mann hinter ihr in das Gespräch ein. „Habt ihr das von dem Schiffskapitän auf der Nordsee gehört?“, fragte der erste Mann. „Wer nicht? Vetter musste ihn eine halbe Stunde lang am Seil hängend halten, weil die Winde geklemmt hat und der Gurt des Kapitäns gerissen ist. Er hat sich dann die Schulter ausgerenkt und so ziemlich alles gerissen“, berichtete die Frau enthusiastisch. „Ich hab bei seiner OP assistiert“, berichtete der zweite Mann stolz. „Echt? Wah, das hätt ich auch gern getan…“, beneidete ihn die Frau. Dirk hatte das ganze Gespräch interessiert verfolgt und versuchte nun, die Informationen zu verarbeiten. Warum hatte er nicht gewusst, dass sein Freund Jan so „berühmt“ war? Der schien ja eine richtige Koryphäe zu sein. Eine halbe Stunde hatte er durchgehalten? Das war doch unmöglich, das kann man nicht schaffen! „Dirk, bist du noch da?“, fragte ihn Rod lachend und winkte ihm zu, obwohl er doch direkt vor dem Älteren stand. „Äh, was? Ja klar“, antwortete der Angesprochene verwirrt, schnappte seine Jacke und ging zur Tür. „Was weißt du über Jan?“, fragte er den Chilenen, als sie draußen waren und zum Krankenhaus zurückgingen. „Nur das, was ich eben gehört hab. Und das, was du auch schon weißt…also gar nichts“, antwortete dieser resignierend. Sie drei waren doch gute Freunde geworden, warum wussten sie dann so wenig voneinander? Er nahm sich vor, diese Tatsache bald zu ändern. „Der Typ ist echt…“, begann Dirk, doch er fand kein passendes Wort. „Dabei wirkt er gar nicht so!“ „Ich glaub kaum, dass sich jemand wie Jan damit aufplustert“, warf Rod ein. „Hast auch wieder Recht“, seufzte der Ältere und betrat die Klinik. Die beiden Männer verabschiedeten sich und gingen zu ihren jeweiligen Stationen, um sich umzuziehen und sich für den kommenden Ansturm bereit zu machen. Jan war währenddessen in die brennende Fabrik vorgedrungen und suchte Menschen, die das Gebäude nicht mehr verlassen konnten, sei es, weil ihnen die Kraft fehlte oder weil der Ausgang versperrt war. Die Hitze machte diese Aktion unerträglich, der Rauch war so dick, dass er kaum noch etwas sehen konnte. Obwohl er sich ein Tuch vor das Gesicht gebunden hatte, musste er ständig husten, um überhaupt noch Luft zu bekommen. Da entdeckte er zwei Männer und eine Frau, die auf ihn zu liefen. „Karo, gib mir Seil“, funkte der Rettungsarzt zum Hubschrauber hinauf. Die drei, sie schienen leicht verletzt zu sein, klammerten sich ängstlich an ihn. „Bitte, sie müssen uns helfen“, flehte die Frau. Jan versuchte sie zu beruhigen und ging mit ihnen zu dem Loch im Dach, durch das er eingedrungen war. Da baumelte schon das Seil. Der Arzt legte den beiden Männern die Rettungsgurte an. Er wollte dasselbe bei der Frau machen, aber sie war verschwunden. Er gab seiner Kollegin das Zeichen, die beiden Männer hochzuziehen und suchte die dritte Person. „Hallo?“, rief er immer wieder, was auch jedes Mal einen neuen Hustanfall mit sich brachte. Nach kurzer Zeit hatte er sie wieder entdeckt. „Sie müssen mir helfen. Meine Tochter ist hier noch irgendwo“, entgegnete sie ihm weinend und fiel ihm in die Arme. „Hören Sie, ich verspreche Ihnen, ich werde Ihre Tochter finden, aber Sie müssen jetzt unbedingt hier raus“, beruhigte er sie und brachte sie zurück zum Seil, das mittlerweile wieder heruntergelassen wurde. „Ich wollte ihr heute die Fabrik zeigen. Sie hat sich das immer so gewünscht…und bis eben war sie noch bei mir“, weinte die Frau. „Ich werde sie finden“, versprach er ihr, als sie hochgezogen wurde. Da fiel ihm noch etwas ein: „Wie heißt sie?“ „Sabrina, sie heißt Sabrina“, rief die Mutter ihm noch zu, dann war sie durch das Dach verschwunden. In Dirks Notaufnahme war die Hölle los. Die meisten Opfer wurden ins UKH gebracht, dementsprechend viele Patienten mussten dort versorgt werden. Dirk bewies wieder einmal sein wahrliches Organisationstalent, indem er sein altbewährtes Kartensystem einführte, mit denen jeder Verletzte mit der Dringlichkeit seiner Behandlung gekennzeichnet wurde, wodurch die Ärzte auf dieser Station effizienter arbeiten konnten. Jeder Behandlungsraum war gefüllt, die wenigen Schwerverletzten wurden in den Traumaräumen erstbehandelt, bevor sie an die weiteren Stationen übergeben wurden. Schnaufend kam Dirk aus einem dieser Räume. Während er sich die blutigen Gummihandschuhe und den Schutzkittel abstreifte, beobachtete er, wie der Patient, den er bis eben behandelt hatte, in Richtung Station für Verbrennungsopfer gebracht wurde. Er sah sich um: Überall standen, saßen oder lagen Menschen, deren Gesichter vom Ruß ganz geschwärzt waren. Viele hatten Sauerstoffmasken bekommen, dennoch war das Geschoss von ständigem Husten aus allen Richtungen beschallt. Schon ging die Eingangstür auf und ein Schwerverletzter wurde schnell herein geschoben. „42-Jähriger. Verbrennungen zweiten Grades auf Brust und Oberarmen, schwere Rauchgasvergiftung, sowie Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma“, berichtete der Rettungssanitäter, der die Trage schob. Dirk folgte dem Verletzten in einen freien Traumaraum und gemeinsam mit zwei Assistenzärzten und drei Schwestern untersuchte er ihn. Er ließ ein CT anfertigen und nachdem dieses ergab, dass es nur eine Gehirnerschütterung war, übergab er an den plastischen Chirurgen, damit der sich die Verbrennungen näher ansehen konnte. Zur selben Zeit irrte Jan noch immer durch das Gebäude und rief nach Sabrina. Der Rauch und die giftigen Dämpfe, die in der Luft lagen, machten ihm schwer zu schaffen. „Jan, mach schnell, der Heli hat nicht mehr viel Sprit“, funkte Tom gerade. „Ich hab sie noch nicht gefunden“, gab dieser hustend zurück. „Vielleicht ist sie ja schon längst in einem Krankenhaus!?“ „Das kann nicht sein, das Mädchen war doch die ganze Zeit über bei ihrer Mutter, sie kann unmöglich raus gekommen sein“, antwortete der Arzt. Da vernahm er ein leises Wimmern. Je weiter er ging, desto lauter wurde es. Da entdeckte er ein Mädchen, das in einer Ecke kauerte und weinte. „Sabrina?“, fragte er, worauf das Kind ängstlich nickte. „Ich hab sie gefunden“, sendete er hinauf. Er nahm sein Tuch ab und wickelte es dem Mädchen über den Mund. „Da kommt weniger Rauch durch, so kannst du besser atmen“, erklärte er ihr, legte einen Arm um ihren Rücken, einen unter ihre Kniebeugen und hob sie hoch. „Wenn der jetzt nicht schnell kommt, dann dreh ich ab, ich schwör’s dir“, fluchte Tom leise, was er aber natürlich nicht so meinte. „Er wird bestimmt bald kommen“, versuchte ihn Karo zu beruhigen, während sie sich um die drei Verletzten kümmerte. „Ich bin gleich da“, hörten sie Jans Stimme über ihre Kopfhörer. „Na siehst, du! Ich hab’s dir doch gesagt!“, meinte die Rettungssanitäterin lachend. Plötzlich hörten sie den lauten Knall einer Explosion. Schnell stand das Dach in Flammen. „Jan“, schrieen Tom und Karoline gleichzeitig, doch sie bekamen keine Antwort. Mehrere Male versuchten sie, ihren Kollegen zu erreichen, doch er meldete sich nicht. Dirk, der das ganze Gespräch des Rettungsteams über das Funkgerät der Notaufnahme mitverfolgt hat, geriet in Panik. Was wenn Jan…? ‚Nein, nicht mal denken’, rief er sich zur Vernunft. „Alpha 10-67, wie ist Ihre Lage“, fragte er, so ruhig er konnte. „Wir haben nicht mehr viel Sprit. Wenn wir nicht bald abdrehen, dann müssen wir wo notlanden…oder stürzen ab“, antwortete Tom, der wusste, dass Dirk und Jan Freunde waren. Dirk versuchte, die Situation objektiv zu betrachten und antwortete dann: „Ihr müsst die Verletzten jetzt her bringen, sonst passiert noch etwas!“ „Aber…was ist mit Jan“, hörte er Karos verzweifelte Stimme. „Wir müssen ihn zurücklassen“, antwortete der Pilot bedrückt. So schwer es ihm fiel, aber Dirk hatte Recht. Sofort wies der Chef der Notaufnahme einen der Erstjährlinge an, beim Funkgerät zu bleiben. Er sollte ihn anpiepen, wenn eine der Personenbeschreibungen auf Jan passte. Dirk hoffte so sehr, dass sein Freund sich aus dem Gebäude retten konnte. Er lief hinauf in die Chirurgie und informierte Rodrigo über die Lage. Dieser hatte gerade eine OP erfolgreich beendet. Beide versuchten, sich durch Arbeit in der Notaufnahme abzulenken. Da in letzter Zeit keine Schwerverletzten mehr ins Krankenhaus gebracht worden waren, mussten sie auch keine schwierigen Fälle übernehmen. Der Rettungshubschrauber landete und brachte die drei Verletzten. „Gibt’s was Neues?“, fragte Karoline gehetzt, als sie Dirk entdeckte. „Leider nein. Ich hab die anderen Krankenhäuser anrufen lassen. Man wird uns informieren, wenn Jan dorthin gebracht wird“, antwortete dieser traurig. „Können wir irgendwas tun?“, fragte sie. „Sind viele Hubschrauber im Einsatz?“, wollte der Notaufnahmechef wissen, weil er sich nicht sicher war, ob der Landeplatz des Krankenhauses frei sein musste. „Wir waren der Letzte“, antwortete Tom. „Okay…ähm…geht lieber in die Cafetería und wartet da, ich informier euch, wenn ich Näheres erfahre“, meinte Dirk dann. Die anderen beiden wollten gerade gehen, da rief einer der Schwestern: „Chef“ und deutete auf den Eingang. Dirk richtete seinen Blick dorthin und fühlte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. „Karo, Tom“, rief er den beiden zu und gab ihnen zu verstehen, dass sie zum Eingang kommen sollten, dann lief er selbst dorthin. Er sah, wie eine Trage mit einem Mädchen herein geschoben wurde, doch vielmehr interessierte ihn der Mann, der, gestützt von einem Rettungssanitäter, folgte. Sein Gesicht war vom Ruß total geschwärzt, ständig musste er husten. Er war zu schwach, um sich eigenständig auf den Beinen zu halten, seine dunkelblaue Uniformjacke war angesengt. „Jan“, hauchte er erleichtert und umarmte seinen Freund. Jener schien antworten zu wollen, doch der Husten hinderte ihn daran. „Mein Gott…ich hab gedacht…“, stieß Karo aus, die hinzugekommen war. „Rauchgasvergiftung und leichte Verbrennungen am linken Unterarm, außerdem hat er noch viel von den giftigen Dämpfen in der Fabrik eingeatmet.“, informierte der Sanitäter. „Schon gut, ich übernehme“, antwortete Dirk ihm. „Ich glaub, mein linker Arm mag mich nicht mehr“, krächzte Jan grinsend. Da begannen seine Beine zu zittern, kurz darauf gaben sie ganz nach. „Wir brauchen hier ’ne Trage“, rief Tom. Auch Rodrigo hatte den verletzten Rettungsarzt entdeckt. Er schnappte sich eine freie Trage und kam zu der kleinen Gruppe hinzu. Gemeinsam hoben sie den großen Blonden hinauf und brachten ihn in einen der Behandlungsräume. „Was machst du bloß für Sachen“, meinte Dirk kopfschüttelnd, als er ihm eine Sauerstoffmaske reichte. „Kann ja nichts dafür“, rechtfertigte sich Jan hustend. „Ja klar, wir haben dich dazu gezwungen, oder wie?“, fragte der Pilot und verdrehte grinsend die Augen. „Selbstverständlich. Dirk, du weißt gar nicht, was die mit mir machen, wenn ich das nicht mache“, erwiderte der Blonde, immer noch mit rauchiger Stimme, ironisch. „Uh, was machen sie denn?“, stieg jener auf das Spiel ein. „Die machen ganz ganz viele nicht jugendfreie Sachen mit mir“, erzählte der Größte der Truppe und setzte eine leidvolle Schnute auf, wodurch die anderen lachen mussten. „Wir sollten dich lieber hier behalten, nicht, dass sie dir noch wehtun“, meinte Rodrigo, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Zumindest für eine Nacht“, sprach Dirk. „Ach Mann!“ Jan, der wusste, dass er die letzte Aussage ernst zu nehmen hatte, stöhnte. „Ist doch nichts passiert“, erwiderte er dann und zog sich seine Jacke aus. „Nichts passiert? Nein, du hast dich nur ’ne volle Dröhnung Kohlenmonoxid und andere giftige Dämpfe geliefert, aber sonst ist ja wirklich nichts passiert“, meinte der Neurochirurg ironisch und begann, die kleine Brandwunde zu säubern und zu verbinden. „Ich geh mal und sieh zu, dass der Heli wieder voll getankt wird, sonst kommen wir hier nicht mehr weg“, verabschiedete sich Tom, umarmte den Verletzten und flüsterte ihm, für die anderen unhörbar ins Ohr: „Jag mir nie wieder so ’nen großen Schrecken ein, hast du verstanden?“ Karo schloss sich ihm an und verabschiedete sich auf dieselbe Weise. Nun blieben nur noch die drei Ärzte zurück im Zimmer. Jan beschloss, seine Tochter anzurufen. „Lass mich raten: Du liegst im Krankenhaus“, meldete sie sich. „Schuldig“, erwiderte ihr Vater. „Ist’s schlimm?“ „Nee, mach dir da mal keine Sorgen!“ „Das heißt, du würdest mir wieder davon abraten, jetzt zu dir zu fahren?“, fragte Karin dann. „Genau“, hustete der Ältere. „Okay, das es nicht schlimm ist, glaub ich dir jetzt nicht mehr“, meinte die junge Frau besorgt. „Es ist alles in Ordnung. Mit etwas Sauerstoff geht das schon!“ „Ich schätze, Rod und Bela sind bei dir?“ „Genau“ „Wie lange musst du diesmal da bleiben?“ „Nur eine Nacht“, beruhigte Jan seine Tochter. „Na dann…werd ich dich morgen wieder abholen“, meinte diese. Ihren Plan, den blonden Hünen doch zu besuchen, verriet sie nicht. „Ja bitte“, freute sich jener. „Geht klar…bis morgen dann!“ „Bis morgen dann, mein Sonnenschein. Hab dich lieb“ „Ich hab dich auch lieb, Paps“, erwiderte Karin und legte auf. „Ich komm gleich wieder“, meinte Dirk und verließ den Raum. Rod nahm den Lappen, den er zuvor in Wasser getränkt hatte und begann, den Ruß aus Jans Gesicht zu wischen. „Das ist eine gute Idee“, bedankte sich dieser. „Schon in Ordnung, ich hab ja sonst nichts zu tun. Immerhin ist mein regulärer Dienst seit vier Stunden vorbei“, winkte dieser ab. „Was tut man nicht alles als Arzt!“ „Du sagst es“, seufzte der Chilene und gab dem Blonden eine Nasensonde, damit dieser zwar weiterhin mit Sauerstoff versorgt wurde, aber die störende Maske abnehmen konnte. „Welch eine Wohltat“, seufzte dieser zufrieden. Da kam Dirk wieder zurück und warf Jan dunkelgrüne Scrubs zu. „Damit du nicht wieder andauernd über die beschissenen Nachthemden jammerst“, gab er grinsend zur Erklärung. „Dankeschön“, freute sich der blonde Hüne und richtete sich auf, um sich seine Uniform auszuziehen. Sein Körper aber schien dies gar nicht zu gefallen. Alles um ihn herum schien sich zu drehen und erneut packte ihn ein starker Hustanfall. Jan ließ sich zurück ins Bett fallen, aber es wollte nicht besser zu werden. „Alles in Ordnung?“, fragten die anderen beiden besorgt. „Ja klar…wollte nur zu schnell zu viel“, erwiderte er hustend. Er schloss lange die Augen, als er sie wieder öffnete, hatte das Drehen aufgehört. „Willst du das nicht immer?“, fragte Dirk scherzhaft, reichte seinem Freund die Hand und richtete ihn langsam wieder auf. „Besser?“ Der Blonde nickte und lehnte sich an den Chef Notaufnahme, der sich hinter ihn gesetzt hatte. Schon war Rod dabei, dessen Hemd zu öffnen, um es ihm anschließend auszuziehen und ihm das Shirt der Scrubs überzuziehen. Dann machte sich der Chilene daran, den Patienten von seinen Schuhen und Socken zu befreien. Jan ließ es mit sich geschehen, er fühlte sich sowieso zu schwach, als dass er sie selbst hätte ausziehen können. Als sich der Jüngere aber seiner Hose widmen wollte, protestierte der Blonde dann doch. „Hey, das lass mal schön sein! Das kann ich auch alleine“, erwiderte er und öffnete seinen Gürtel. „Haste etwa Angst, dass ich dir an die Wäsche geh?“, fragte Rod mit einem dreckigen Grinsen. „Mann, bist du pervers“, stieß der Größere lachend aus. Nachdem er auch die Hose gewechselt hatte, brachte ihm Dirk noch ein Paar Stoffschlapfen und einen Rollstuhl, mit dem Jan auf sein Zimmer gebracht werden sollte. „Ihr seid so gemein“, zischte dieser, als er sich in den Rollstuhl setzten musste. Rod, der dessen Klamotten nahm, beugte sich über ihn und erwiderte triumphierend: „Du wärst sowieso zu schwach, um auf dein Zimmer zu gehen!“ Dirk nahm die Griffe des Stuhles in die Hand und schob ihn aus dem Raum. Als sie so durch die Notaufnahme wanderten, entdeckte Jan das kleine Mädchen, das er aus den Flammen gerettet hatte. „Wie geht es ihr?“, fragte er Dirk. „Sie hat leichte Verbrennungen am Oberkörper und eine Rauchgasvergiftung“, klärte dieser ihn über ihren Zustand auf. Da wurden die drei von der Mutter des kleinen Mädchens entdeckt, die sofort auf sie zukam. „Herr Vetter, ich wollte mich bei Ihnen bedanken. Ohne Sie wäre meine Tochter –“, begann sie. „Ich hab nur meine Arbeit getan“, fiel ihr Jan verlegen ins Wort. Die Frau umarmte ihn überschwänglich. „Trotzdem, Sie haben meine Kleine gerettet, dafür bin ich Ihnen auf Ewig zu Dank verpflichtet“, ließ sie nicht locker. „Schon okay. Das hätte jeder gemacht“, winkte der Rettungsarzt ab und beließ es dabei. „Sagt mal, habt ihr nichts Besseres zu tun, als hier bei mir herumzulungern? Ich mein, nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber immerhin ist euer Tag doch schon ziemlich lange“, meinte Jan, als er sich in dem Bett lag, in dem er die kommende Nacht würde verbringen müssen und die anderen beiden Ärzte keine Anstalten machten, zu gehen. Er musste immer wieder husten und seine Stimme war noch immer nicht die alte. Anscheinend hatte er doch mehr abbekommen, als er gedacht hatte. „Weißt du, ich hab heut mal ein wenig nachgedacht. Immerhin kennen wir uns schon ein paar Monate, aber ich hab das Gefühl…das ich keine Ahnung habe, wer ihr überhaupt seid“, begann Rodrigo. „Ja find ich auch. Weißt du, als die jungen Assistenzärzte da heut in der Bar über dich geredet haben, da is mir das auch aufgefallen“, bestätigte Dirk. „Okay, was wollt ihr denn wissen?“, fragte Jan daraufhin krächzend, aber lächelnd. „Na zum Beispiel…wie heißt deine Frau?“, begann der Chilene und wies auf den Ring hin, den der große Blonde auf seinem rechten Ringfinger trug. Schlagartig verfinsterte sich die Miene des Angesprochenen. Traurig spielte er etwas mit dem silbernen Schmuckstück. „Lizzy. Sie hieß Elizabeth“, antwortete er nach einer Weile, wobei er den Namen englisch aussprach. Er sah auf und bemerkte die fragenden Blicke der anderen beiden. ‚Warum verwendet er die Vergangenheitsform?’, schien ihr einziger Gedanke zu sein. „Sie ist vor drei Jahren gestorben“, fuhr er leise fort. Betretenes Schweigen folgte. „Das…das tut mir Leid“, durchbrach Dirk schließlich die Stille und legte seine Hand auf die Schulter des Patienten. Dieser sah ihn dankbar an und wollte mit einem Lächeln demonstrieren, dass er darüber hinweg sei. „Wie ist sie gestorben?“, wollte Rodrigo dann vorsichtig wissen. „Autounfall“, antwortete Jan knapp. „Wie lange ward ihr verheiratet?“ „18 Jahre“ „Wie habt ihr euch kennen gelernt?“ „Auf der Uni. Sie hat Archäologie studiert und war auf Auslandssemester in Deutschland. Ursprünglich kam sie aus England, aus London, um genau zu sein. Jedenfalls war’s ihr erster Tag auf der Uni und sah ziemlich hilflos aus, also hab ich mir ein Herz genommen und sie ein wenig eingewiesen. Und wie’s halt so is, sind wir uns näher gekommen, haben uns ein paar Mal getroffen, sind zusammengezogen, sie ist schwanger geworden und wir haben geheiratet“, erzählte der Blonde mit rauchiger Stimme und leuchtenden Augen. „Wie aus dem Bilderbuch. Hast du ihr ganz romantisch mit Candle-light-Dinner, roten Rosen und Kniefall einen Antrag gemacht?“, hackte Dirk nach. Der Rettungsarzt lachte auf und erzählte dann: „Das war eigentlich eine ziemlich crazy Aktion. Das war mehr so ‚Sag mal, willst du eigentlich irgendwann mal heiraten – Auf einen Antrag von dir müsst ich doch ewig warten – Und wenn wir einfach so zum Standesamt gehen – Das würdest dich sowieso nie trauen – Wetten?’ und irgendwie sind wir dann aufm Amt gelandet und haben die Papiere unterschrieben. Aber im Prinzip wären wir beide gegen’s Heiraten gewesen. Wozu auch?“ Die beiden anderen lachten ebenfalls. „Die Aktion passt zu dir“, meinte Rodrigo dann schmunzelnd. „Und wie sieht’s bei euch beiden aus?“, hustete Jan dann. „Keine Zeit“, antworteten die beiden wie aus einem Mund. „Ach, kommt schon“ „Nein, da geht nichts“ „Nicht mal mit einer Stationsschwester oder so?“ Die beiden Schwarzhaarigen sahen ihren Freund tadelnd an. „Richtig Seifenoper-mäßig, oder wie?“, meinte Dirk. „Klar, warum nicht? Seid ihr nie hinter den wahren Verwendungszweck von Bereitschaftsräumen gekommen?“ Die anderen sahen Jan genervt an, bis dieser zu lachen begann. „Okay, ich seh schon: ein Themawechsel wär jetzt angebracht!“, meinte er, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Dirk, warum gerade Notaufnahme?“, wendete er sich an den Älteren. „Hm…gute Frage…es ist irgendwie der Nervenkitzel… die ganzen Verletzten, die zuerst zu dir kommen und du versucht als erster, sie zu retten. Du tust alles, findest neue Behandlungswege und bestimmst dann, wo sie hinkommen sollen.“ Jan schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, denn er fragte Rodrigo, warum er Neurochirurgie genommen hatte „Weil ich’s ziemlich aufregend finde. Wenn ich daran denke, ich operier da jetzt jemanden am Gehirn und wenn ich nur einen Millimeter daneben schneide – was ich natürlich sowieso nicht tu – dann verliert der wichtige Funktionen“, antwortete dieser. „Und jetzt die ultimative Frage: Warum Rettungsarzt?“, wollte Dirk dann wissen. „Ursprünglich wollte ich ja Pädiater werden. Aber dann dacht ich mir, dass so Kinder, besonders dann, wenn sie krank oder verletzt sind, ziemlich nervig sein können. Angefangen hab ich dann in einer Notaufnahme in Berlin, aber irgendwie war das nichts für mich. Ich mein, es war schon nervenaufreibend, aber so der richtige Adrenalinschub kam irgendwie nicht. Deshalb hab ich da auch nach ’nem Jahr auch schon wieder gekündigt. Dann bin ich erstmal ein paar Wochen nach Afrika gegangen und hab dort für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet und das war dann richtig anstrengend. Weil, wir hatten da nichts und musste trotzdem irgendwie den Menschen helfen. Zurück in Deutschland hab ich dann den Pilotenschein für’n Hubschrauber und die Ausbildung zum Rettungsarzt gemacht…und das war dann richtig cool. Dieser Adrenalinschub, wenn du dich auf eine Gletscherspalte oder in ein brennendes Gebäude abseilen lässt, der ist einfach gigantisch“, erklärte der große Blonde. „Sag mal, kannst du mal damit aufhören?“, meinte Rodrigo gespielt genervt. „Was denn?“, schmunzelte Jan. „Egal bei was, immer hast du die interessantesten Geschichten und Erklärungen auf Lager!“, fuhr der Chilene fort. „Ja, kann ich was dafür?“, meinte der große Blonde lachend. Er wollte noch etwas erwidern, da öffnete sich die Tür und Karin betrat das Zimmer. „Karin! Was machst du denn hier?“, wurde sie von ihrem Vater erstaunt begrüßt. Er richtete sich auf, um sie umarmen zu können, aber auch diesmal war er viel zu schnell. Wieder drehte sich alles, der Husten trat erneut auf. Mit einem leisen „Verdammt“ ließ er sich zurück ins Bett fallen und schloss die Augen. „Paps, alles in Ordnung?“, hörte er die besorgte Stimme seiner Tochter. Selbst, nachdem Jan die Augen kurz öffnete, hörte das Drehen nicht auf, auch der Husten wurde wieder schlimmer. „Luft“, krächzte er bloß. Sofort nahm Dirk eine Sauerstoffmaske und drückte sie ihm über Nase und Mund. Langsam beruhigte sich der Blonde wieder. Als er ein weiteres Mal die Augen öffnete, hatte der Schwindelanfall endlich aufgehört. „Geht’s wieder?“, fragte Karin besorgt. Der Angesprochene nickte bloß, zu mehr war er jetzt nicht fähig. Vorsichtig nahm der Chef der Notaufnahme die Maske wieder ab. „Geht’s so, oder sollen wir sie oben lassen?“, fragte er. „Geht schon“, hauchte der Patient. „Ich glaub, wir lassen euch beide jetzt alleine“, meinte Rodrigo und verließ, gemeinsam mit Dirk, das Zimmer. „Ach Papa, was machst du bloß für Sachen“, seufzte Karin, als sie alleine waren. „Sorry“, flüsterte der große Blonde und strich ihr durchs Haar. Die junge Frau zog sich ihre Schuhe aus und schlüpfte dann unter Jans Decke, um sich an ihn zu kuscheln. „Ich glaub, du solltest jetzt besser schlafen“, meinte sie dann. „Ja Mama!“, erwiderte ihr Vater schmunzelnd. Kurz darauf waren sie wirklich eingeschlafen. Kapitel 3: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort ---------------------------------------------- Eigentlich sollte es ein Tag wie immer werden. Jans Rettungscrew übernahm wie jeden Tag den Dienst von der anderen Schicht, Dirk stürzte sich wie jeden Tag in eine erneute, hoffentlich erfolgreiche „Mission“, wie er seine Tätigkeit oft scherzhaft betitelte und Rod begann seine Arbeit wie jeden Tag mit einem kurzen Studium des Chirurgie-Boards. Ein Tag wie immer, sollte man denken. Dass sie mindestens einen der drei in eine brenzlige Situation bringen würde und einen anderen dazu, Gefühle zu offenbaren, die er noch nie jemanden so offen dargelegt hatte, wussten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Jans Team war zu einem Verkehrsunfall gerufen worden. Beinahe schon Routine für die Crew, die schon heftigere Situationen gemeistert hatte. Es gab mehrere Schwerverletzte. Die Feuerwehr war gerade dabei, die Personen, die in den Autowracks eingeklemmt waren, herauszuschneiden, während sich die Ärzte um die Verletzten kümmerten, die bereits befreit worden waren. Ein paar hatten nur leichte bis mittelschwere Verletzungen, sie wurden mit dem Krankenwagen weggebracht. Zwei mussten sie mit den Hubschrauber in das nächste Krankenhaus bringen, welches das Hamburger UKH war. Während Karo und Jan im Hinterteil die zwei Patienten versorgten, versuchte Tom das Krankenhaus anzufunken, doch etwas schien nicht zu stimmen, denn niemand meldete sich. „Hier spricht Alpha 10-67, wir haben zwei Schwerverletzte an Board. Wir bitten um Landeerlaubnis“, sprach der Pilot nun schon zum wiederholten Mal über sein Mikro. „Was ist denn los?“, fragte nun der Rettungsarzt. „Es meldet sich niemand“, berichtete Tom verwirrt, aber auch genervt. „Probier’s mal in der Chirurgie“, meinte Jan und gab ihm die Frequenz durch. Tatsächlich, dort meldete sich endlich jemand. „Wir können zur Zeit keine Verletzten aufnehmen“, erwiderte die Stimme am anderen Ende, nachdem sie über die Lage aufgeklärt wurde. „Hören Sie, wir haben keine Zeit mehr, um ein anderes Krankenhaus anzufliegen“, gab der Pilot den Sachverhalt wider. „Alles klar, wir können landen“, erwiderte der Mann im Cockpit, nachdem das Gespräch nach längerem Hin und Her beendet wurde. „Was ist da unten los?“, fragte Rodrigo einen seiner Kollegen. Die ganzen Mitarbeiter der Chirurgie liefen aufgescheucht umher. Der Chilene konnte sich dieses Verhalten nicht erklären, immerhin hatte er bis gerade eben operiert, also hatte er von all dem Aufruhr, der im Krankenhaus herrschte, nichts mitbekommen. „Ein Mann hat eine Waffe bei sich und die Notaufnahme als Geiseln genommen, die Polizei ist bereits unterwegs, aber das wird noch etwas dauern, bis die hier sind“, erklärte der Kollege. „Scheiße“, fluchte der Neurochirurg. „Weiß man schon irgendwas über den Mann? Gründe oder so?“, wollte er dann wissen. „Angeblich ist seine Frau hier vor kurzem gestorben, nach einem Autounfall und er macht die Ärzte dafür verantwortlich“, offenbarte der andere die Gerüchte, die bereits kursierten. Die beiden mussten einer kleinen Gruppe Assistenzärzte ausweichen, die mit einer Trage zum Lift hasteten. „Was ist denn los?“, wollten die zwei wissen. „Ein Hubschrauber bringt zwei Schwerverletzte, aber die Notaufnahme kann sie ja nicht aufnehmen, deswegen müssen wir sie übernehmen“, erklärte eine aus der Gruppe. Rodrigo war sichtlich erstaunt über diese Entscheidung, besaß die Chirurgie doch keinen Raum, wo sie die Patienten behandeln konnten. Niemand wusste, wo sie diese hinbringen sollten, da hatte der Schwarzhaarige eine Idee: „Okay, bereitet die zwei Räume auf der chirurgischen Intensiv vor. Wir brauchen alles was es in einem Trauma-Raum auch gibt…Und bringt noch eine zweite Trage aufs Dach!“ „Herr Schumick, beruhigen Sie sich doch“, versuchte Dirk währenddessen, den Wahnsinnigen zur Aufgabe zu überreden, doch er hatte keinen Erfolg. „Ha, ich soll mich beruhigen? Wissen Sie eigentlich, wie schwer es ist, jemanden zu verlieren, den man wirklich liebt? Sie haben doch keine Ahnung, für Sie ist das nur eine weitere Leiche, aber sie war meine Frau. Ich hab Ihnen vertraut, hab gedacht, Sie tun das Richtige, hab gedacht, Sie wollen sie retten, aber nichts ist passiert! Sie standen einfach nur daneben und haben nichts getan!“, fuhr der Mann den Chef der Notaufnahme an. „Herr Schumick, wir haben wirklich getan was wir konnten, aber –“ „Sie haben gar nichts getan! Sie haben sie sterben lassen! Sie sind schuld an ihrem Tod, Sie allein“, schrie der Angesprochene und bedrohte Dirk nun mit seiner Waffe, die er zuvor zu Boden gerichtet hatte. Der Hubschrauber landete am Krankenhausdach, die Verletzten wurden auf die bereitstehenden Tragen gelegt und die Ärzte über deren Zustand informiert. Jan folgte ihnen ins Innere des Gebäudes, er wollte nun endlich wissen, was da vor sich ging. „Hey Rod, was ist denn los?“, fragte er den Chirurgen, nachdem er ihn gefunden hatte. „Irgendein Wahnsinniger nimmt die ganze Notaufnahme als Geiseln“, erwiderte dieser, so ruhig er konnte. Innerlich aber schien er nervlich am Ende zu sein, immerhin war einer seiner besten Freunde da unten. „Was ist mit Polizei und so?“, wollte der Rettungsarzt wissen, dem es ähnlich erging. „Sind schon unterwegs!“ Sie überlegten fieberhaft, was sie unternehmen konnten, doch ihnen fiel nichts Brauchbares ein. Da hatte Jan eine Idee. Vorsichtig, stets darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, ging der Rettungsarzt die Treppe hinunter. Es war ziemlich waghalsig, was er vorhatte, aber jemand, der sich in brennende Gebäude oder auf sinkende Schiffe begibt, würde das hier auch schaffen können. Schon hörte er Dirks Stimme: „Bitte, legen Sie die Waffe weg!“ Sie zitterte, der Schwarzhaarige hatte, verständlicherweise, Angst. Jan schlich geduckt weiter voran, bis er das Geschehen erblickte. Der Geiselnehmer stand mit dem Rücken zu ihm, er konnte ihn also nicht sehen. „Warum sollte ich das tun?“, erwiderte nun der Wahnsinnige. Jan stutzte. Diese Stimme kannte er doch! „Herr Schumick, bitte“, flehte der Chef der Notaufnahme. Da wusste der Rettungsarzt, wer dieser Wahnsinnige war: Mario Schumick. Sein ältester Sohn war mit Karin zur Schule gegangen. Er war weniger ein Freund von Jan, vielmehr ein flüchtiger Bekannter. „Haben Sie eine Ahnung, wie ich mich fühle?“, zischte der Bewaffnete dem Schwarzhaarigen zu. Dieser wollte gerade zu einem „Es tut mir Leid“ ansetzen, da wurde er von einer vertrauten Stimme aus dem Hintergrund unterbrochen: „Ich schon!“ Fuchsteufelswild fuhr der Geiselnehmer herum, auch Dirk konnte nun seine Aufmerksamkeit, zumindest zum Teil, dem Mann schenken, der ihm vielleicht das Leben retten könnte. Auch die anderen Geiseln, die sich auf dieser Station befanden, waren sich dessen bewusst und lauschten nun angestrengt dem Gespräch. „Mario…glaub mir, ich weiß sehr wohl, was du durchmachen musst“, meinte Jan besänftigend, während er seine Hände abwehrend hochhielt. „Ich weiß, wie es ist, wenn du jede Nacht von diesem einen Augenblick träumst, in dem dir der Mensch genommen wird, den du nie verlieren wolltest! Ich weiß, wie es ist, wenn du aufwachst und dir nichts mehr wünscht, als dass sie neben dir liegt, wenn du die Augen aufmachst! Ich weiß, wie es ist, wenn du auch mal von den schönen Momenten träumst, wenn du lächelnd aufwachst, weil du dir nicht bewusst bist, dass es nie wieder zu so etwas kommen kann und es schmerzt, wenn du erkennen musst, dass dieser Mensch nie wieder neben dir liegen wird, wenn du aufwachst!“ Während der große Blonde sprach ging er vorsichtig, stets darauf bedacht, den Anderen nicht aus den Augen zu lassen, vorwärts. „Ich weiß, wie es ist, wenn du alles dafür geben würdest, um sie nur noch einmal umarmen zu können und ihr sagen zu können, wie sehr du sie liebst!“ Jan stand nun vor Mario, der ihn bloß verzweifelt ansah, nicht mehr fähig zum Handeln war. Nun flüsterte der Rettungsarzt, sodass nur noch er, Dirk und der Bewaffnete die folgenden Worte verstanden: „Ich weiß, dass du alles aufgeben würdest, nur um wieder bei deiner Frau zu sein. Du fühlst dich so schuldig, weil du dafür sogar deine Kinder verlassen würdest. Auf einmal vermisst du Sachen, die du vorher an ihr gehasst hast, willst nicht mehr an Orte fahren, an denen ihr schon gemeinsam ward, nur um dich nicht erinnern zu müssen, wie schön es damals war. Du hasst die Welt, weil sie glücklich ist und du mit diesem Schmerz alleine auskommen musst. Glaub mir, ich weiß, wie das ist!“ „Ich liebe sie doch so sehr“, weinte Mario. „Ich weiß…und jetzt gib mir die Waffe“, erwiderte Jan verständnisvoll, aber auch bestimmend. Ohne Widerworte überreichte ihm der Geiselnehmer seine Pistole, ehe er sich auf den Boden fallen ließ. „Warum…warum hat sie mir das angetan?“, schrie er verzweifelt und trommelte auf den Untergrund ein. Bald darauf stürmten Polizisten in das Gebäude und nahmen ihn fest. Nachdem der Rettungsarzt die Waffe abgegeben hatte, verließ er unbemerkt das Krankenhaus. All die Trauer, die sich in ihm befand, schien nun aus ihm herausbrechen zu wollen. Seufzend ließ er sich an der Hauswand entlang zu Boden gleiten, zog seine Beine an sich und schlang seine Arme um sie. Warum? Warum hatte sie ihm das angetan? Er bemerkte nicht, wie sich jemand näherte und sich neben ihn setzte. Erst eine Hand, die sich auf sein Knie legte, riss ihn aus seinen Gedanken. „Danke“, flüsterte Dirk, als sie sich ansahen. Der blonde Hüne lächelte bloß mild zurück. „Denkst du noch oft an sie?“, fragte der Chef der Notaufnahme. Sein Gegenüber nickte traurig und sah wieder geradeaus. „Komm…lass uns rein gehen“, meinte der Schwarzhaarige nach einer Weile, stieß sich ab und stand auf. Er streckte dem anderen seine Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Sein Retter ergriff sie und ließ sich auf die Beine ziehen. Schweigend gingen sie ins Gebäude zurück. „Was haltet ihr davon, wenn wir etwas trinken gehen?“, fragte Rodrigo, als er seinen beiden Freunden gegenüber stand. Die beiden befürworteten den Vorschlag ohne Widerrede und so kamen sie kaum eine Viertelstunde später in die Bar gegenüber dem Krankenhaus. „Hey Jan, wieder mal der Held des Tages?“, begrüßte Joe, der Barkeeper die drei. „Ich kann nichts dafür, bin halt ne Rampensau“, erwiderte dieser grinsend und setzte sich auf einen der Barhocker. Die traurige Stimmung schien er verbannt zu haben. „Was darf’s denn für euch sein?“, wandte sich Joe nun an die anderen beiden Ärzte, die sich jeweils links und rechts von ihrem Freund niederließen. Die zwei gaben ihre Bestellung auf und wenig später standen zwei Halbe Bier und ein großer Apfelsaft vor ihnen. „Sag mal, bist du öfters hier?“, fragte Rodrigo nun den Rettungsarzt, nachdem er bemerkt hatte, dass Jan gar nicht hatte bestellen müssen. „Hin und wieder. Joe und ich sind gute Freunde“, erklärte der blonde Hüne. „Was heißt hier Freunde? Ich bin sein größter Fan“, mischte sich der Barkeeper in das Gespräch ein. „Übertreib mal nicht“, wurde er von einem belustigten Jan gebremst. „Hi, ich bin Joe“, stellte der große dunkelhaarige Mann sich den anderen beiden vor. „Ich bin Rodrigo und das hier ist Dirk“, erwiderte der Chilene und schlug in die ihm entgegengehaltene Hand ein. „Was ist da vorhin abgelaufen? Woher kanntest du den Typen?“, fragte nun der Chef der Notaufnahme die Fragen, die sowohl ihm, als auch dem Chirurgen schon lange auf der Zunge lagen. „Der Typ war Mario Schumick, sein Sohn ging mit Karin zur Schule. Nun ja, warum er das getan hat, brauch ich euch nicht mehr erklären, oder?“, erwiderte Jan. „Hast du das alles ernst gemeint, was du da gesagt hast?“, hakte Dirk vorsichtig nach. Der Rettungsarzt sah ihn lange an, wandte sich dann aber ab und trank von seinem Apfelsaft. „Es heißt ja immer ‚Die Zeit heilt alle Wunden’, aber das ist der größte Scheiß, den ich je gehört hab. Der Schmerz wird zwar kleiner mit der Zeit, aber er bleibt immer da, da kann man nichts dagegen tun“, antwortete er dann. „Ach Jan“, begann Rodrigo und klopfte dem Angesprochenen freundschaftlich auf die Schulter. „Es wird echt mal Zeit, dass du eine Freundin findest“, fuhr er grinsend fort, woraufhin die anderen beiden in Gelächter ausbrachen. Sein Vorhaben, die Stimmung etwas aufzulockern, war hiermit gelungen. Er hatte gemerkt, dass der blonde Hüne nicht weiter darüber reden wollte. „Zahlen, bitte“, winkte Dirk den Barkeeper her. „Ach, das geht aufs Haus“, meinte dieser. „Hey, ihr seid Freunde von Jan und die trinken immer aufs Haus“, erklärte Joe dann, als er die fragenden Blicke der beiden Schwarzhaarigen gesehen hatte. „Na wenn das so ist, danke schön“, erwiderte Rodrigo erfreut. Die drei tranken aus und machten sich zurück auf den Weg ins Krankenhaus, da Jans Crew noch immer auf ihren Chef wartete. Dort angekommen fragten die beiden Spitalsärzte unaufdringlich, ob sie nicht mitfliegen könnten, da sie nun frei, aber keine Lust, nach Hause zu gehen, hatten und außerdem waren sie gerade von Jan eingeladen worden, bei ihm zu übernachten. „Klar, warum nicht“, antwortete die Crew bloß. „Und was ist das?“, fragte Dirk nun schon zum gefühlten hundertsten Mal, als die Gruppe zum Stützpunkt flog. „Ist der immer so nervig?“, meldete sich Karo, die diesmal neben Tom im Cockpit saß. „Anscheinend schon“, antwortete Jan stöhnend. „Das ist die Fernbedienung für die Seilwinde“, ging er nun auf die Frage des Notaufnahmechefs ein. „Und das war jetzt definitiv die letzte Frage, verstanden?“, fügte er dann noch hinzu, als der Schwarzhaarige zu einer weiteren Frage ansetzen wollte. „’Tschuldigung“, nuschelten die beiden Fluggäste. „Ach komm schon Jan, jetzt sei doch nicht so. Ist immerhin ihr erstes Mal in unserem Heli“, meinte Karo beschwichtigend. „Wer hat den vorher noch gefragt ‚Ist der immer so nervig’, hä?“, erwiderte der Rettungsarzt. „Sorry Leute, ich hab’s echt probiert, aber er lässt sich nicht umstimmen“, wandte sich die Sanitäterin an die beiden Schwarzhaarigen, wobei diese doch auch bemerkten, dass sie schon zu viele Fragen gestellt hatten. „So, wir sind da“, meldete nun Tom die Ankunft. „Na endlich, ich dachte, der Flug hört nie auf. Wie soll ich bloß die Nacht überstehen?“, erwiderte Jan theatralisch. „Na komm, so schlimm waren wir jetzt aber auch nicht“, meinte Rodrigo. „Wartet hier, ich geh mich nur schnell umziehen“, wies Jan seine beiden Freunde in den Aufenthaltsraum und verschwand. „Und ihr wollt also wirklich noch zu Jan nach Hause?“, fragte Tom ironisch. „Vielleicht findet ihr endlich die ganzen Leichen, die er im Keller hat“, erwiderte Karoline grinsend. „Habt ihr sie also noch nicht entdeckt?“, ging Dirk auf das Spiel ein. „Nun ja, weißt du, es gibt da einen Raum, in den er uns nicht hineinlässt…“, erklärte der Pilot. „Und wo ist der? Nur damit wir ihn nicht auch noch suchen müssen“, hakte Rodrigo nach. „Wenn du von der Treppe kommst, die dritte Tür links“, meldete sich die belustigte Stimme Jans aus dem Hintergrund. Seine dunkelblaue Uniform hatte er gegen Jeans und ein hellblaues Hemd, dessen Ärmeln er bis über die Ellbogen hochgekrempelt hatte, eingetauscht. Er schlich an ihnen vorbei zum Sofa, wo seine Umhängetasche lag. „Können wir?“, wandte er sich an seine beiden Gäste, nachdem er seine Sachen geschnappt hatte. Die drei verabschiedeten sich und gingen hinaus zu Jans schwarzen Kombi. „Na, ist euch schon langweilig?“, meldete sich Karos Stimme über das Funkgerät im Auto. „Kannst du uns jetzt bitte mal in Ruhe lassen?“, funkte der Rettungsarzt schon sichtlich genervt zurück. „Man wird doch wohl noch fragen dürfen!“, meinte Karo entrüstet. „Weißt du Karo, ich hab dich wirklich gern, aber wenn du uns noch einmal störst, dann komm ich zurück und reiß dir persönlich den Schädel ab“, erwiderte Jan. „Okay, okay, bin ja schon ruhig“, beschwichtigte die Sanitäterin und beendete das Gespräch, nur um sich ein paar Minuten darauf wieder zu melden. Doch während der große Blonde tief ein- und ausatmete, um sich zu beruhigen, nahm Dirk, der auf dem Beifahrersitz saß, das Funkgerät und bat sie in seiner tiefsten Stimmlage, die jede Frau zum Erzittern bringen würde, inständig, sie doch bitte in Ruhe zu lassen, damit sie sich ungestört an die Wäsche gehen können. Da diese das Funkgerät daraufhin verstört ausgeschaltet hatte, konnte sie das Gelächter der drei Männer im Auto nicht mehr hören. Kapitel 4: Eine lange Nacht --------------------------- Im Prinzip könnte man's als Teil 2 von Kapitel 3 sehen ;) ----- „So haltet euch fest, denn was ihr gleich sehen werdet ist das fabelhafte, einzigartige, wirklich wahre…Haus von Jan Vetter“, meinte der Rettungsarzt belustigt, als sie bei ihm zu Hause angekommen waren. Sie blieben vor einem eher gewöhnlichen, weißen Haus stehen, das in etwa fünfzehn Jahre alt war. „Also irgendwie…hab ich mir bei dir schon etwas Spektakuläres vorgestellt“, schmunzelte Rod. „Echt jetzt?“, fragte der Größere stirnrunzelnd nach, während er gleichzeitig die Haustüre aufsperrte. „Na ja…irgendwie…so in einer Farbe, die nicht jeder hat, wie knallrot zum Beispiel“, meinte nun auch Dirk. Als sie jedoch das sahen, wie es innen aussah, änderten sie schlagartig ihre Meinung. „Okay, das schaut nun eher nach dir aus“, erwiderte Rod und betrachtete die drei afrikanischen Masken, die in der Diele hingen, genauer. „Sind das Mitbringsel von deinen Ärzte-ohne-Grenzen-Trips?“, fragte der Notaufnahmechef, als er sich neben den Chilenen stellte und die mittlere, die auch die größte war, näher betrachtete. „Ganz genau…aber alles legal erworben, wenn du das wissen wolltest“, antwortete Jan verschmitzt. „So hab ich das jetzt auch nicht gemeint“, meinte Dirk gespielt beleidigt und ging weiter ins Wohnzimmer, das mit einer Schiebetür im Japan-Stil von der Diele abgetrennt wurde. Er ließ seinen Blick von den bodenlangen Fenstern zum Garten hinaus über die weißen Wände, die beigen Möbel, dem Couchtisch aus, wie er tippte, Ebenholz, der silbernen HiFi-Anlage, den Acryl-Malereien, die meistens eine Landschaft zeigten und den verschiedenen fremdländischen Figuren schweifen, um dann, als Beurteilung, begeistert einen Pfiff auszustoßen. „Nicht schlecht, Herr Vetter. Muss ich schon sagen“, gab er seine Meinung kund, ehe ihm etwas auffiel, dass seine Meinung über die Einrichtung doch negativ beeinflussen würde: „Sag mal…hast du keinen Fernseher?“ Der Hausherr lachte kurz auf, deutete auf die leere weiße Wand auf der rechten Seite und dann auf den Beamer, der auf einem, an der Decke montierten, metallenen Gestell platziert worden war, und antwortete dann: „Wozu brauch ich einen Fernseher…wenn ich mal zum Schauen komm, dann läuft sowieso nur Dreck, also hab ich’s gleich bleiben lassen.“ „Auch nicht blöd“, meinte Rod anerkennend, der sich zu ihnen gesellt hatte. „Ihr habt doch bestimmt Hunger, oder?“, fragte der blonde Hüne seine Gäste dann und ging, auf deren einstimmiges „JA“ hin, in die Küche. Er wies die beiden Schwarzhaarigen zum Esstisch aus hellem Holz und wollte dann wissen, ob sie noch etwas länger warten konnte, oder ob er etwas Schnelles kochen sollte. Die beiden setzten sich auf zwei der vier weiß gepolsterten Stühle und meinten, er brauche sich nicht beeilen, ihre Mägen könnten ruhig noch etwas warten. Während der Rettungsarzt also begann, ein vegetarisches Risotto zu kochen, besprachen die drei, was sie an diesem Abend noch machen wollten. Da fiel Dirk etwas ein: „Jaaan. Hast du vielleicht noch eine Zahnbürste für mich?“, fragte er dann ganz unschuldig. Zwar hatte er sich frische Sachen und auch etwas, worin er schlafen konnte, aus seinem Spind geholt, aber die Zahnbürste hatte er, wie immer, liegen gelassen. Wozu hatte er das Ding eigentlich in seinem Schränklein, wenn er es eh sowieso immer vergaß? Der Angesprochene überlegte kurz. „Ich müsst nachsehen, aber ich glaub, ich hab noch eine!“ Aber auch Rod hatte nicht alle Sachen bei sich: „Und hast du zufällig auch noch etwas, was ich zum Schlafen anziehen könnt?“ „Müsst ich schon haben…wenn du es aushältst, dass die Sachen etwas zu groß sind?“, gab der Größere zur Antwort. Kurz darauf war auch schon das Essen fertig und sie deckten gemeinsam den Tisch, ehe sie es sich schmecken ließen. Nachdem sie das benutzte Geschirr in die Spüle räumten, ließ der Gastgeber seine beiden Freunde mit einem „Ihr entschuldigt mich kurz“ alleine. Er hatte gehofft, die beiden würden von sich aus wieder zurück ins Wohnzimmer finden, doch diese hatten nicht einmal vor, dorthin zurück zu gehen. Die beiden Schwarzhaarigen wollten nämlich den Rest des Hauses erkunden. Ihre Tour begannen sie im Keller, sie wollten wissen, ob es diesen ominösen Raum wirklich gab. „Was hat Jan da noch mal gesagt?“, fragte Dirk, der nicht genau aufgepasst hatte. „Nach der Treppe links, hat er, glaub ich, gesagt“, versuchte sich Rod zu erinnern. Als sie am Fuß der Stiege ankamen, sahen sie also nach links und beratschlagten sich, welche der vier Türen sie nun nehmen sollten. „Am besten, wir beginnen mit der ganz links, oder?“, schlug Ältere vor und ging den Flur entlang, während der Chilene weiter grübelte. Der Andere öffnete neugierig die Tür und fand eine Abstellkammer vor. „Also, wenn er hier Leichen versteckt hat, dann müssen die ganz schön klein sein“, kommentierte er trocken. Da hatte Rod einen Geistesblitz. „Die dritte Tür links“, stieß er freudig aus. „Sicher?“, hakte der Chef der Notaufnahme nach. „Ganz sicher!“ Vorsichtig öffneten die beiden besagte Tür und konnten ihren Augen nicht trauen, als sie sahen, was sich dahinter verbarg. Die bodenlangen Fenster, die sich über die ganze gegenüber erstreckten, boten einen Blick hinaus auf eine Terrasse, die mit Holzfliesen ausgelegt war und auf der drei weißen Liegen standen. Die Wiese erstreckte sich dahinter über einen Hang, der hinauf zum restlichen Garten führte. Aber viel spektakulärer war das, was sich innerhalb des, ihres Erachtens, riesigen Raumes befand: ein, in den weiß gefliesten Boden eingelassener, ovaler Pool von nicht unbedingt kleiner Größe! Entgegen ihrer Erwartungen roch es aber nicht so stark nach Chlor, wie sonst immer in Schwimmbädern. Sie hatten aber auch noch nicht entdeckt, dass man die Fenster aufschieben konnte, wenn man hinausgehen oder einfach lüften möchte. Durch die Glasfront war auch der Raum stets gut beleuchtet, wodurch ein künstliches Licht nur in den Abendstunden nötig war. Aber auch das kam nicht, wie sonst üblich, von der Decke, sondern von den verschiedenen kleinen Spots, die am Beckenrand im Boden oder an der Poolwand unter Wasser angebracht waren, wodurch eine heimelige und durchaus auch romantische Stimmung verbreitet wurde. Die beiden Ärzte kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, sodass sie den blonden Hünen, der sie bereits gesucht hatte, gar nicht hatten kommen hören. „Hier steckt ihr also“, begrüßte er sie freudig. Endlich hatte er sie gefunden! „Jan, das ist…“, begann Dirk, doch er wusste nicht, wie er etwas derart Schönes beschreiben konnte. „Unglaublich“, kam ihm Rod zu Hilfe. „Dankeschön“, erwiderte der Gastgeber geschmeichelt und konnte nicht verhindern, dass er sogar ein klein bisschen rot wurde. „Warum hast du uns das nicht früher gesagt?“, fragte nun der Älteste etwas beleidigt. Wie gerne würde er jetzt ins Wasser springen! „Ja genau, dann hätten wir noch Badesachen mitnehmen können“, meinte auch der Chilene. „Weil ich nicht glaube, dass ihr auch DAS in euren Spinds deponiert habt, oder?“, beantwortete Jan simpel. „Aber, ich war so frei und hab was für euch besorgt!“ Mit diesen geheimnisvollen Worten schob er sie zurück in den Kellergang, schloss die Tür wieder und scheuchte sie mit einem „Na los, rauf mit euch“, die Treppe rauf. Wieder zurück in der Diele, ließ er seine verwirrten Gäste kurz alleine und verschwand ins Obergeschoss. Zurück kam er mit drei Badehosen – davon zwei neu gekauft – und ebenso vielen Handtüchern. „Ich hoffe, sie passen“, grinste der Rettungsarzt verschmitzt und reichte den beiden Schwarzhaarigen die neu gekauften Shorts. Mindestens eine Stunde später lagen die drei entspannt auf den Liegen draußen und ließen sich von den letzten Sonnenstrahlen dieses Tages trocknen. „Jan?“, begann Rod, der in der Mitte lag, vorsichtig. Er wusste, dass der Anstand es einen eigentlich verbot, über die Geldangelegenheiten zu reden, aber er wollte das nun einfach wissen. „Hm?“, gab der Links von ihm Liegende seine Aufmerksamkeit zu verstehen und drehte seinen Kopf zu seinem Freund, wobei er die Augen zusammenkneifen musste, um ihn bei der entgegenstrahlenden Sonnen überhaupt sehen zu können. „Sag mal…wie kannst du dir das alles…überhaupt leisten?“, fragte der Chirurg. „Ich mein…du bist doch nur – unter Anführungszeichen – Rettungsarzt!“ Auch Dirk, dem diese Frage auch schon auf der Zunge lag, wandte seinen Kopf den anderen zu, um das Gespräch besser verfolgen zu können. „Ach Rod…willst du das wirklich wissen?“, wich Jan seufzend der Frage aus. „Ich mein…das war doch bestimmt teuer, das alles, oder? Wie hast du das gemacht? Hast du einen Kredit aufgenommen, oder was?“, argumentierte der Chilene. „Wisst ihr…“, begann der blonde Hüne. Außer seiner Tochter kannte niemand die Wahrheit. Bis jetzt hatte auch selten wer gefragt und wenn, dann hatte er immer geantwortet, dass er, wie der Jüngere schon sagte, einen Kredit aufgenommen hatte. Es waren ja sowieso meist nur Bekannte, die seine finanzielle Lage hinterfragten. Aber die beiden waren zu eng mit ihm befreundet, um sie mit einer Lüge abzuspeisen. „Okay, ihr dürft nicht lachen, versprochen?“, bat er sie dann und setzte sich auf, um seine beiden Gästen besser ansehen zu können. Die anderen hielten ihre Bemerkungen à la „Verkaufst du etwa noch Drogen?“ oder „Hast du etwa ein Puff?“ zurück und versprachen, worum sie gebeten wurden. „Wisst ihr, ich…schreib nebenbei noch Songs und…verkauf sie dann an Musiker, die textlich weniger begabt sind…die müssen dann halt auch ein kleines Bisschen von dem, was sie vom Verkauf der Veröffentlichungen verdienen an mich abtreten…da kommt schon was zusammen“, erklärte er lächelnd und mit einem leicht verträumten Blick, wie man ihn nur haben kann, wenn man von einer seiner größten Leidenschaften spricht. „Und…warum sollten wir darüber lachen?“, fragte Dirk jetzt nun ehrlich. Er selbst hatte früher immer davon geträumt, einmal reich und berühmt zu werden, aber sein Beruf in der Notaufnahme ließ das nicht zu – und um ihn aufzugeben, mochte er ihn viel zu sehr. „Ja genau…das ist doch super“, meldete sich nun auch der Chirurg zu Wort. „Kennen wir denn was von dir?“ „Keine Ahnung…ich scher mich nicht wirklich darum, ob das jetzt ein Hit wird, oder nicht!“, antwortete Jan ehrlich. „Und wenn es so wäre, dann würde ich es euch sicher nicht sagen“, fügte er noch verschmitzt hinzu. „Und…warum hast du dir nicht selbst ein paar Musiker gesucht und die Lieder selbst aufgenommen und veröffentlicht?“, hakte der Ältere nach. „Mein musikalisches Talent beschränkt sich mehr aufs Texten als aufs Interpretieren“, meinte der Rettungsarzt. „Kannst du denn ein Instrument spielen?“, wollte nun Rod wissen. Er selbst war als Kind von seinen Eltern zum Klavierunterricht geschickt worden, aber so richtig gelernt hatte er es nicht. „Ich kann etwas Gitarre, aber das auch nicht wirklich gut“, gab sich der blonde Hüne, wie immer, bescheiden. „Jan…ich sag’s nur ungern, aber ich beneid dich, echt!“, seufzte Dirk. Im Gegensatz zu dem, was der Größere alles schon erlebt und erreicht hatte, sah sein Leben doch eher mickrig aus. „Das musst du nicht…ehrlich“, erwiderte Angesprochene traurig. Auch wenn es niemand, der all seinen Besitz sah, glauben konnte, es war schon ewig lange her, als er sich das letzte Mal so richtig glücklich gefühlt hatte. Die bereits untergegangene Sonne und der aufkommende kühle Wind boten einen idealen Themenwechsel, denn Jan wollte nicht, dass die Stimmung weiterhin so bedrückt blieb, wie sie ihm gerade vorkam. „Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt reingehen und uns einen Film anschauen. Wird ja schön langsam kalt hier!“ Die beiden anderen, die natürlich merkten, dass ihr Gastgeber nicht weiter darüber reden wollte, stimmten dem Vorschlag zu und so standen die drei wenig später vor dem DVD-Regal des Blonden und berieten, was sie sich nun ansehen wollten. Nach einer längeren Diskussion, in der Dirk eindeutig die besten Argumente brachte, entschieden sie sich für einen Horrorfilm. Nachdem dieser geendet hatte und sie auch keinen weiteren sehen wollten, stand Jan auch und ging zur Tür. „Wollt ihr dann vielleicht…schon schlafen gehen?“, fragte er seine beiden Gäste, die sich kurz ansahen und sich dann mit einem liebevollen Grinsen und einem nahezu einstimmigen „Jaan“ an ihn wandten. Dieser konnte sich eigentlich schon denken, was die beiden wollten, ließ sie aber noch etwas zappeln und fragte gespielt unwissend: „Was denn?“ Die Schwarzhaarigen antworteten nicht, sondern sahen ihn bloß weiter an. Irgendwann gab der Größere dann jedoch nach: „Na gut, wenn ihr wollt!“ Jubelnd stürmten die anderen, die ihre Badehosen noch anhatten an ihm vorbei und zogen sich während ihres Weges in den Keller ihre Shirts aus. „Wie zwei kleine Kinder“, seufzte der Rettungsarzt und folgte ihnen zu seinem Indoor-Pool. Die drei drehten einige Runden im Wasser, alberten etwas herum, ehe sie Luft schnappend auf der Stelle schwammen. Dirk und Jan standen sich nun direkt gegenüber. Dem Kleineren reichte das Wasser bis knapp unter die Schultern, so tief war das Becken. Sie sahen sich an und alles um sie herum verschwamm. Keiner von beiden wusste so genau, was sie taten, aber es gefiel ihnen. Die Stimmung schien zu knistern. Langsam näherten sie sich, Zentimeter für Zentimeter wurde der Abstand zwischen ihnen geringer. Als Jan seine Hände hob und mit ihnen den Kopf des Schwarzhaarigen festhielt, bemerkte er, wie stark sie zitterten, so sehr bemühte er sich, sein Verlangen zu unterdrücken und einen klaren Verstand zu bewahren. Vorsichtig zog er den Älteren zu sich und versiegelte mit seinen Lippen die des anderen. Von ihnen unbemerkt hatte sich Rod hinter Dirk geschlichen und begann nun, dessen Nacken mit Küssen zu übersähen. Als sich Jan und Dirk lösten, sahen sie sich tief in die Augen. „Was machen wir hier“, fragte der Schwarzhaarige atemlos. „Keine Ahnung“, gab der Größere zurück und betrachtete Rod, wie er den Hals des Kleinsten im Bunde verwöhnte. „Aber es fühlt sich gut an“, lächelte er und verwickelte den Chirurgen in einen langen Kuss. Kapitel 5: Nicht bloß ein Routineeinsatz ---------------------------------------- „Schwerer Verkehrsunfall auf der B 25“, wurde die Rettungscrew informiert. Sofort lief das Team zu ihrem Hubschrauber, nahmen ihre Plätze in und hoben in die Lüfte. „Wird wahrscheinlich wieder so ein Führerscheinneuling sein, der glaubt, er sei der Gott der Straße“, meinte Tom belustigt, nachdem Jan die Stelle ins Navigationssystem eingegeben hatte. „Wahrscheinlich“, stimmte der Arzt diesem schmunzelnd zu und betrachtete die Landschaft, die unter ihnen vorbeizog. „Jetzt Jan erzähl doch mal“, bat Karo, die wie immer im hinteren Teil des Helikopters saß, nun schon zum gefühlten tausendsten Mal. „Wie war’s denn so mit Dirk und Rod?“ Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, warum der Arzt so ein Geheimnis daraus machte. „Was soll schon großartig passiert sein?“, wich der Angesprochene wieder einmal aus. Vielleicht lag es auch einfach nur in der Natur eines Mannes, dass er über solche Dinge nicht reden wollte. Die Rettungssanitäterin hatte aber auch keine Vorstellungen, was bei den dreien vorgefallen war. „Sie haben sich mein Haus angeschaut, ich hab was gekocht, wir haben gegessen, wir waren baden, wir haben uns einen Film angeschaut, wir waren schlafen, wir haben gefrühstückt und dann sind sie gefahren…Ende der ganzen Geschichte, bist du jetzt zufrieden?“, erzählte Jan genervt. Natürlich hatte er das eigentliche Highlight des Tages ausgelassen. Nie würde er jemanden erzählen, dass er MIT den beiden geschlafen hat. Er wusste ja selbst nicht einmal, was er davon halten sollte. Nie hatte er auch nur daran gedacht, mit einem Mann zu schlafen oder gar mit zwei! Bis zu dem Zeitpunkt, als er Dirk geküsst hatte, hätte er nie gedacht, dass er etwas Derartiges tun würde. Es war einfach über ihn gekommen und es hatte ihm gefallen – sehr sogar. So sehr, dass er sich nichts weiter wünschte, als eine Wiederholung. Länger konnte er seinen Gedanken nicht nachhängen, denn schon bald erreichten sie die Unfallstelle. Als der Rettungsarzt die beiden schwer beschädigten Autos sah, fühlte er, als würde sein Herz stehen bleiben, sich in seinem Magen alles zusammenziehen. „Nein“, hauchte er immer wieder tonlos und schüttelte den Kopf, so als wollte er die Szene, die sich ihnen bot, nicht wahrhaben. „Jan, ist…alles in Ordnung?“, hakte Tom vorsichtig nach und blickte immer wieder kurz zu seinem Freund hinüber. Er wusste nicht, was los war. Schon oft waren sie zu Unfällen dieser Art gerufen worden, die meisten sahen sogar noch viel Schlimmer aus. Er wusste nicht, warum sein Sitznachbar diesmal so fassungslos reagierte. „Geh einfach runter“, befahl der Rettungsarzt dem Piloten und zeigte ihm eine große Wiesenfläche in der Nähe des Unglücksortes, die als Landeplatz geeignet zu sein schien. Man konnte ihm ansehen, dass er so schnell wie möglich bei den Verletzten sein wollte. Noch ehe der Hubschrauber richtig am Boden aufgesetzt hatte, hatte sich Jan schon abgeschnallt und war mit einem Satz durch die Tür hinaus gesprungen. Er überhörte das überraschte „Jan“, das Karoline ihm noch nach schrie, die aus dem Heli stieg, als er schon fast bei den Autos war. Doch das alles nahm der Rettungsarzt gar nicht mehr richtig wahr. Während er lief, setzte er seinen Helm ab und schnallte ihn an seinem Gürtel fest. Für ihn zählte jetzt nur noch der rote Mini, oder besser gesagt, dessen Fahrerin. Bei ihr angekommen, ignorierte er den Arzt, der mit dem Rettungswagen schon vor Ort war und ihn aufklären wollte, dass sie erst auf die Feuerwehr warten mussten, um die Verletzte aus dem Auto schneiden zu können, da sie eingeklemmt war. Er ging bei der Fahrertür des Wagens in die Hocke und strich der Person durch das kaputte Fenster hindurch behutsam durch die Haare. Er sah, dass sie eine Platzwunde an der Stirn hatte, woraus ihr das Blut über die Schläfen, die Wangen bis hin zum Hals lief. Als sie die Berührung wahrnahm, öffnete sie schwach die Augen und sah den Rettungsarzt an. „Hey, mein Sonnenschein“, begrüßte er sie lächelnd und bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Rodrigo und Dirk hatten sich wie immer, wenn sie gleiche Schichten hatten, zur Mittagspause verabredet. Erst vor kurzem hatten sie dafür ein ruhiges Plätzchen entdeckt, wo sie ungestört miteinander reden oder, wie in diesem Moment, sich küssen konnten. Auch bei ihnen beiden hatte die gemeinsame Nacht bei Jan Spuren hinterlassen, nur hatten sie das Glück, dass sie im selben Gebäude arbeiteten, was bedeutete, dass sie sich nicht, wie der blonde Hüne, mit Sehnsucht auf Wiederholung herum plagen mussten, sondern, dass sie es einfach tun konnten, sobald sie ungestört waren. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einen Mann küssen würde…oder mit ihm schlafen würde…und dann hab ich’s sogar mit gleich zwei getan“, keuchte Rodrigo grinsend, als sie sich voneinander lösten. „Ja glaubst du, ich etwa?“, erwiderte Dirk, nicht minder atemlos als der Chirurg. „Ach komm Dirk, jetzt kannst du’s doch zugeben“, meinte dieser herausfordernd. „Als hättest du dir das noch nie vorgestellt“, sagte der Ältere, gespielt eingeschnappt, woraufhin er einen sanften Kuss bekam. Leider mussten sie ihn bald wieder unterbrechen, denn Dirks Pieper gab ihm bekannt, dass er ihn der Notaufnahme gebraucht wurde. „1, 2, 3, 4, 5 – beatmen“, wiederholte Jan nun schon zum zehnten Mal. Seine Tochter lag auf der Trage vor ihm im Helikopter und hatte, kurz nachdem dieser abgehoben war, einen Herzstillstand erlitten. Seither versuchte das Team, sie wieder zu beleben, bisher allerdings erfolglos. Karo deutete ihm gerade, dass sie noch fünf Minuten brauchen würden, bis sie beim Krankenhaus wären. Seinen Helm hatte der Arzt nicht wieder aufgesetzt, dazu hatte er einfach keine Zeit. Deshalb bekam er nicht mit, wenn einer der anderen etwas funkte. „Komm schon Karin, tu mir das nicht an“, wisperte er verzweifelt, während er die Herzmassage durchführte. „Soll ich dich ablösen?“, fragte Karo schreiend. Der blonde Hüne schüttelte, ohne aufzusehen, stumm den Kopf und machte einfach weiter. Es schienen Stunden zu sein, bis der Helikopter endlich zum Landeanflug ansetzte, aber was Jan nun viel mehr interessierte, war eine kleine Regung, die er im Körper der vor ihm Liegenden wahrnahm. Er führte seine Finger zum Hals seiner Tochter und suchte nach dem Puls. Er brauchte nicht lange, bis er ihn gefunden hatte. Er war zwar schwach aber da. Erleichtert lehnte sich der Größere kurz zurück und schloss die Augen. Er öffnete sie erst wieder, als ihm die Sanitäterin siegessicher auf die Schultern klopfte. Da wurde auch schon die hintere Tür aufgeklappt und Jan blickte in ein Ärzteteam, das bereits auf sie gewartet hatte. Er überließ es Karo, die anderen über den Zustand der Patientin aufzuklären und folgte ihnen stumm. „Was haben wir hier?“, fragte Dirk, als er die Tür zum Trauma-Raum öffnete, in den das Unfallopfer gebracht worden war. Während er sich einen Kittel und sterile Handschuhe überzog, klärte ihn einer seiner Assistenzärzte auf: „Stumpfes Schädeltrauma, Frakturen an Armen und Beinen und Verdacht auf innere Blutungen.“ Der Schwarzhaarige hatte die Patientin noch nicht erreicht, als er Jan erblickte, der leichenblass war, nervös an seinen Fingernägeln kaute und seinen Blick stumm auf das Opfer gerichtet hatte. Als Dirk Karin erkannte, stieß er ein „Fuck“ aus und begann, nun aktiv bei der Behandlung mitzuhelfen. Ein „Bauchhöhle ohne Befund“ und ein dazu gezeigtes Bild auf dem tragbaren Ultraschallgerät ließ ihn kurz aufatmen: wenigstens keine inneren Verletzungen! „Die Lunge kollabiert“, benachrichtigte Schwester Sabine. Fluchend ließ er sich einen Tubus in passender Größe und ein Laryngoskop geben, um die Patientin zu intubieren. Währenddessen legte sein Kollege Andreas eine Thoraxdrainage. Nachdem sie Karin wieder etwas stabilisieren konnten, schickte sie Dirk zum CT, um nach eventuellen Kopfverletzungen suchen zu können. Schnell streifte er sich den Kittel und die Handschuhe ab, um seinen Freund, dem man den Schock direkt ansehen konnte, hinauf begleiten zu können. Rodrigo, der mittlerweile mitbekommen hatte, wer das Unfallopfer war, begab sich sofort zum CT, um gleich bei den Aufnahmen dabei sein und sofort weitere Behandlungsschritte veranlassen zu können. Das erste Mal fand er, dass der Computer ewig brauchte, bis man sich die Bilder ansehen konnte. Schnell entdeckte er ein Aneurysma, das er operieren musste. Der Chirurg wies zwei seiner Assistenzärzte an, einen OP zu buchen und die Patientin vorzubereiten, während er selbst zu Jan ging, um ihn von den neuesten Erkenntnissen zu berichten. Er brauchte nicht allzu lange, bis er ihn in Begleitung mit Dirk, Karo und Tom, entdeckte. „Hey“, begann Rodrigo behutsam. „Wie geht es ihr?“, fragte der Notaufnahmechef, nachdem er sah, dass der Blonde dazu nicht in der Lage war. „Wir haben ein Aneurysma entdeckt und werden gleich operieren“, erklärte der Chilene und strich dem Größeren beruhigend über den Oberarm. Es tat ihm weh, seinen Freund so verzweifelt zu sehen und hoffte, dass bei der OP keine Komplikationen auftreten würden. Er war zwar ein hervorragender Neurochirurg, aber trotzdem konnte immer etwas passieren, selbst bei einem Routineeingriff wie diesem. Als er sah, wie Jan verbissen darum kämpfte, die Tränen zurückzuhalten, schloss er ihn kurz ihn die Arme und flüsterte: „Ich werd alles tun, was ich kann, hörst du?“ Er spürte, wie der andere leicht nickte. Kurz darauf musste er sich von der Gruppe verabschieden, um sich für die OP steril zu waschen. Jetzt konnten sie nur noch warten. Leider mussten Karo und Tom den Landeplatz frei machen, aber sie versprachen ihrem Chef, sofort mit dem Auto vom Stützpunkt zurück zu kommen. „Hey, sie wird das schon schaffen“, ermunterte die Sanitäterin den Älteren sanft, als sie sich zum Abschied kurz umarmten. „Karin ist zäh. Sie weiß, dass du ihr die Hölle heiß machen würdest, wenn sie jetzt aufgibt“, schaffte Tom es, ein Lächeln auf Jans Lippen zu zaubern. „Danke“, nuschelte dieser und setzte sich, nachdem die beiden gegangen waren, auf einen der Wartesessel. Dirk, der sich neben ihm niederließ, nahm dessen Hand in seine und begann, sie sanft mit seinem Daumen zu streicheln. „Ich hab Angst“, flüsterte Jan nach einer Weile, in der sie stumm nebeneinander gesessen hatten. „Ich weiß“, erwiderte Dirk und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen, da man als Arzt einfach wusste, dass jede Hirnoperation risikoreich war. Er wusste nicht, wie er seinen Freund hätte beruhigen können, ohne ihn anzulügen. „Kammerflimmern“, benachrichtige eine Schwester Rodrigo. „Scheiße“, fluchte dieser und verlangte die Paddels des Defibrillators. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles gut verlaufen. Er hatte das Gehirn freilegen können und wollte gerade das Aneurysma entfernen, als sich der Zustand seiner Patientin rapide verschlechterte. „Laden auf 300“, wies er die Person am Gerät an und legte die Paddels auf den freigelegten Oberkörper der Verletzten. „Und weg!“ Schon zuckte der Körper unter den Stromstößen, doch der Monitor zeigte keine Veränderung. „Laden auf 360 – und weg“, wiederholte Rodrigo die Prozedur. Noch immer nichts. „Noch mal auf 360 – und weg!“ Da änderte sich das Bild am Monitor, der Herzschlag hatte sich wieder normalisiert. Der erleichterte Chilene atmete einmal tief durch, eher er die Paddels der Schwester gab, sich zurück an seinem Platz beim Kopf der Patientin stellte und damit begann, das Aneurysma zu entfernen. Angespannt saß Jan in seinem Sessel und sah zu Boden. Karoline und Tom waren mittlerweile wieder zurück und hatten sich neben ihn gesetzt. Dirk tigerte die ganze Zeit, wenn er nicht gerade unten in der Notaufnahme gebraucht wurde, vor ihnen hin und her. Immer, wenn sich die Tür zu den OPs öffnete, sahen sie auf Neuigkeiten hoffend auf, doch nie wandte sich die Person, die herauskam, an sie. Endlich kam Rodrigo auf sie zu, woraufhin der blonde Hüne sofort von seinem Sitz aufsprang und auch die anderen sich an ihn wandten. „Wie geht es ihr?“, fragte Jan rastlos. „Die OP ist einigermaßen gut verlaufen. Karins Herz hat einmal kurz geflimmert, aber wir konnten sie sofort wieder stabilisieren“, klärte ihn Rod mit einem erschöpften, aber sichtlich erleichterten Lächeln auf. Nicht die schwierigste und längste OP hatte ihn bisher so geschafft, als die der Tochter seines Freundes. Auch die anderen atmeten freudig auf. „Wo –“, begann der Rettungsarzt. „Sie liegt jetzt noch eine Stunde im Aufwachraum, bevor man sie auf die normale bringen wird“, antwortete der Chilene und deutete ihm, mitzukommen. „Hey Jan…ich glaub, wir packen’s dann, okay? Richte Karin bitte einen schönen Gruß von uns aus“, meinten Tom und Karo, wehrten den Dank des Blonden mit einem „Ist doch selbstverständlich“ ab und verabschiedeten sich von den Ärzten. „Na siehst du, ist ja noch alles gut gegangen“, erwiderte Dirk und strich dem Größeren über den Rücken. Dieser lächelte ihn glücklich an und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Gott sei Dank waren sie alleine auf dem Gang, wer weiß, was sich andere über diese Geste gedacht hätten! Vorsichtig öffnete Rodrigo die Tür zu Karins Zimmer und ließ Jan den Vortritt. Langsam schritt dieser ans Bett, beugte sich hinunter, gab seiner Tochter einen Kuss auf die Wange, setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand und nahm vorsichtig ihre Hand in seine. Erst jetzt, als all die Anspannung von ihm abfiel, nahm er die ganzen Verbände, Infusionen und den Gips an ihrem anderen Arm wahr. „Was hat sie?“, wandte er sich dann an seine beiden Freunde, als ihm auffiel, dass er noch gar nicht genau wusste, welche Verletzungen sie genau erlitten hatte. Dirk nahm den zweiten Sessel, stellte ihn neben Jans und ließ sich nieder, ehe er zu erklären begann: „Auf ihrem Kopf hat sie, neben dem Aneurysma noch eine Platzwunde, die wir mit acht Stichen genäht haben. Ihr rechter Arm ist, wie du siehst, gebrochen – es ist aber ein einfacher Bruch, der in ein paar Wochen wieder verheilt sein wird. Ein zwei Rippen sind gebrochen, drei weitere angeknackst. Außerdem hat sie ein paar Prellungen und Quetschungen an den Beinen abbekommen, aber alles in allem hat sie eigentlich Glück gehabt.“ „Wie du dir sicher denken kannst, wird sie noch ein paar Wochen hier im Krankenhaus bleiben müssen, aber sie wird – und das ist das Wichtigste – keine bleibenden Schäden davontragen“, fuhr der Rodrigo fort und klopfte dem blonden Hünen aufmunternd auf die Schulter. „Ich glaub, wir lassen euch dann mal alleine“, meinte der Chirurg nach einer Weile, gab Jan noch einen sanften Kuss, sah zu, wie Dirk es ihm gleichtat und schlich gemeinsam mit dem Älteren so leise es ging aus dem Zimmer. Sie drehten sich noch einmal um, als sie ein „Danke“ vernahmen, lächelten den Größeren an und erwiderten sanft „Nicht dafür“, ehe sie die Türe schlossen. Nach einer Weile wurde Karin wach. Erschöpft öffnete sie ihre Augen und blickte in die erleichterten ihres Vaters. „Hey mein Sonnenschein“, begrüßte er sie leise, woraufhin sie mit einem müden Lächeln antwortete. „Was…?“, fragte sie dann verwirrt, da sie sich scheinbar nicht erinnern konnte, wie sie hier hergekommen war. „Du hattest einen Unfall“, berichtete der Blonde und strich ihr unaufhörlich über die Wange. „Aber jetzt wird alles wieder gut!“ Sie lächelten sich an, ehe Karin, von der Narkose noch ganz entkräftet, wieder einschlief. Kapitel 6: Dem Abgrund so nah ----------------------------- Die nächsten Wochen vergingen für die meisten viel zu schnell. Da Dirk und Rodrigo genug Zeit hatten, um ihre Beziehung zu intensivieren, beschlich Jan nun schon die Panik, außen vor zu bleiben, da er meistens am Stützpunkt arbeiten musste. Zwar telefonierten die drei Männer fast täglich und beteuerten ihre Sehnsüchte, aber trotzdem blieb bei dem blonden Hünen die Angst vor einem erneuten, schmerzhaften Beziehungs-Aus. Seit seine Lizzy vor mittlerweile vier Jahren gestorben war, hatte er sich mehr auf die Arbeit konzentriert, als auf das gesellschaftliche Leben. Er hatte das getan, um sich vor der Einsamkeit zu schützen, die ihn meist überkam, wenn er nachts alleine im Bett lag und versuchte, einzuschlafen. Durch diese, zugegebenermaßen auch etwas eigenartige, Beziehung mit Dirk und Rodrigo hatte er gehofft, dieses Gefühl des Alleinseins nicht mehr zu verspüren. Aber irgendwie war es nun stärker denn je. Zu wissen, dass es jemanden gibt, der für einen da sein würde, es aber nicht ist – wenn man jetzt von den Telefonaten und den flüchtigen Küssen, wenn sie sich im Krankenhaus begegneten, mal absieht – machte ihn einfach…traurig. Jan beschloss, diese Tatsache zu ändern. „Hi, ist Doktor Felsenheimer da?“, fragte der Rettungsarzt den bärtigen und stämmigen Mann am Empfangsschalter, nachdem er mit einem Unfallopfer ins Krankenhaus gekommen war. „Tut mir Leid, der ist für die nächsten paar Tage im Urlaub. Soll ich ihm etwas ausrichten?“, antwortete der Typ, der, passend zu seinem Erscheinungsbild, eine sehr tiefe Stimme hatte. „Nee, schon okay! Aber danke“, meinte Jan und versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Warum hatte Dirk ihm nicht gesagt, dass er sich frei genommen hatte? Er wollte es noch in der Chirurgie versuchen. Rodrigo würde bestimmt da sein! Ob er von Dirks Urlaub wusste? „Entschuldigung? Ist Doktor González da?“, fragte der Blonde auf der Station des Chilenen. „Nein, tut mir Leid. Soweit ich weiß, hat er sich die nächsten paar Tage frei genommen“, wurde er auch hier enttäuscht. Der Rettungsarzt bedankte sich und ging traurig wieder zurück aufs Dach, wo sein Team schon auf ihn wartete. War er den beiden echt schon so egal, dass sie ihm nicht einmal mehr sagten, dass sie frei hatten? „Hey Jan, alles in Ordnung?“, fragte Karoline, die natürlich merkte, dass ihren Chef etwas bedrückte. „Ja klar, was soll schon sein?“ Der blonde Hüne schenkte ihr noch ein mehr oder weniger gekünsteltes Lächeln, bevor er die Tür des Helikopters öffnete und einstieg. Die Sanitäterin und der Pilot warfen sich noch fragende Blicke zu, ehe auch sie in den Hubschrauber kletterten und bald darauf auch schon abhoben. „Meinst du, wir hätten Jan zumindest sagen sollen, dass wir frei haben?“, bemerkte Dirk, als er sich auf die Liege setzte. Die beiden hatten spontan beschlossen, sich ein paar Tage frei zu nehmen und an die Nordsee zu fahren, wo sie sich in ein Ferienhäuschen einquartiert hatten. Immerhin konnten sie hier ungestört ihren Trieben nachgehen und mussten nicht auf Nachbarn oder Kollegen, die etwas erahnen könnten, Rücksicht nehmen. „Du weißt doch, wie schwer es für ihn ist, Vertretung zu finden. Das ist nicht so wie im Krankenhaus, wo’s zehn Neurochirurgen gibt, die für einen die OPs durchführen können. Er kann sich nicht einfach mal so mir nichts dir nichts ein paar Tage frei nehmen. Er hätte sich nur Leid gesehen, weil er nicht mitkönnte“, versuchte der Chilene seinen Freund zu beruhigen. Er wollte es nicht zugeben, aber auch ihn plagte das schlechte Gewissen. Er wollte sich nicht vorstellen, wie sich der Rettungsarzt fühlen musste, wenn er von ihrem gemeinsamen Urlaub erfahren würde. „Aber, was ist, wenn er nach uns fragt und man ihm sagt, dass wir Urlaub haben?“, hakte der Ältere verunsichert nach. „Sie fliegen ja nicht immer das UKH an! Und außerdem muss er sich doch auch noch um Karin kümmern, der hat doch sicher nicht den Kopf dafür, nach uns zu fragen“, entgegnete Rodrigo, dem schon auch bewusst war, wie leer eigentlich seine Worten waren. Ihnen blieb nur die Hoffnung, dass ihr Freund nicht allzu sauer sein würde. „Hallo?“, rief Jan gedehnt, als er sein Haus betrat. Er brauchte eigentlich gar nicht lange suchen, da die leisen Geräusche, die aus dem Wohnzimmer kamen, darauf hin deuteten, dass seine Tochter sich gerade einen Film ansah. Ein zurück gerufenes „Bin im Wohnzimmer“ bestätigte seinen Verdacht. Schnell schlüpfte er aus seinen Sneakers und ging dann zu Karin. „Was schaust du dir denn da an?“, fragte er, nachdem er sich neben ihr aufs Sofa gesetzt und die Projektion des Beamers eine Weile betrachtet hatte. „Doktor House. Sabine hat sie mir geliehen und gesagt, dass ich etwas Ablenkung gebrauchen könnte. Außerdem würd ich so nicht viel vom Stoff verpassen“, berichtete die Studentin, die, ganz der Vater, Ärztin werden möchte. „Soso…und, was haben sie schon alles falsch gemacht?“, erkundigte sich Jan belustigt, der sich nicht vorstellen konnte, dass die Serienmacher auch darauf achteten, dass die Fakten stimmten. „Im Prinzip machen sie eigentlich, so weit ich das beurteilen kann, gar nicht so viel falsch. Ich mein, wenn man mal davon absieht, dass sie Krankheiten hernehmen, die diese Patienten mit DEM Umfeld sich sicher nie eingefangen hätten…Aber so ist sie eigentlich ganz cool, die Serie…wie die so wie Detektive nach der richtigen Diagnose suchen und die ganzen sarkastischen Kommentare, die House abgibt…ich find sie super! Die haben angeblich sogar einen Arzt als Berater, damit das Medizinische auch stimmt“, meinte Karin. „Na dann“, kommentierte der Hüne und sah sich gemeinsam mit seiner Tochter die Folge an. „Du hast nicht zufällig Hunger, oder?“, wollte der Rettungsarzt belustigt wissen, als Karins Magen bedenklich knurrte. „Nö, wie kommst du denn darauf?“, gab sich diese unwissend. „Och, ich hab da so ’ne Vermutung“, bemerkte Jan zwinkernd, stand auf und ging in die Küche. „Auf was hast du denn Lust?“, fragte er im Gehen. „Irgendwas Süßes, bitte“, rief die junge Frau ihm nach. Da die Dr. House Folge nun aus war, schaltete sie die technischen Geräte aus und gesellte sich dann zu ihrem Vater. Sie humpelte dabei noch etwas, weil ihr rechtes Knie noch nicht ganz verheilt war, aber im Großen und Ganzen waren ihre Verletzungen genesen. „Wie wär’s mit…Marillenknödel? Da müssten wir noch was eingefroren haben“, grübelte der blonde Hüne, woraufhin Karin begeistert zustimmte. Im Kochen war ihr Vater wirklich einsame Spitze. Vor allem die österreichische Küche schien ihm zu liegen, was vielleicht auch daran lag, dass seine Großmutter aus diesem Nachbarland stammte und ihn früher mit so einigen landeseigenen Spezialitäten beköstigt hatte. Während der Arzt den Topf mit Wasser füllte und ihn dann auf die warme Herdplatte stellte, humpelte Karin in den Keller, um die Knödel aus dem Gefrierfach zu holen, wobei sie das „Wie war das mit ‚sich schonen’ noch mal?“ lachend überging. Da sie, aufgrund der Verletzungen, etwas länger brauchte, bis sie wieder in der Küche war, war das Wasser schon am Kochen, als sie wiederkam. „Wow, ich dachte schon, ich müsste eine Vermisstenanzeige aufgeben“, bemerkte Jan trocken, nahm die gefrorenen Bällchen und warf sie ins Wasser. „Sag mal…was ist da zwischen dir, Dirk und Rod los?“, wollte Karin nach einer Weile wissen. „Was soll schon sein?“, gab sich ihr Vater unwissend, während er sich anschickte, die Brösel in einer Pfanne zu rösten. „Na, als du das letzte Mal mit ihnen telefoniert hast, da warst du so…so hast du sonst nur mit Mama geredet“, offenbarte die junge Frau. „Klar, jetzt kommt nur noch, dass ich mit denen zusammen bin, oder wie?“, meinte Jan sarkastisch und hoffte, dass seine Tochter nicht weiter nachbohrte. „Warum nicht? Ich mein, mit deinen Freunden redest du irgendwie anders…frag mich nicht, was ich meine, weil ich es selbst nicht genau weiß, ich sag nur, dass du so früher immer mit Mama geredet hast“, behauptete die Schwarzhaarige. „Und…ich find’s nicht schlimm! Es wär zwar unerwartet und anders, aber…wenn du glücklich bist…“, fügte sie noch hinzu, um ihren Vater zu beruhigen. „Deck lieber mal den Tisch“, gab dieser zu verstehen, dass er nicht darüber reden wollte. In der Nacht lag Jan noch lange wach. Es freute ihn, dass seine Tochter so gut gestimmt seiner Homosexualität gegenüber war, auch wenn sie bis jetzt kaum etwas über das wirkliche Ausmaß wusste. Wobei er selber nicht mehr wusste, ob da überhaupt noch etwas existierte. Er hatte an diesem Tag mehrmals versucht, bei Dirk oder Rodrigo anzurufen, sei es am Festnetz oder am Handy, aber nie hatte er jemanden erreicht. Er konnte sich schon denken, dass die beiden ihren Urlaub gemeinsam verbrachten – so einen großen Zufall gab es nicht. Er wusste nicht, wie er die Gefühle beschreiben sollte. Einerseits fühlte er sich richtig hintergangen, war wütend, dass sie ihn nicht einmal benachrichtig hatten. Andererseits war er einfach nur traurig, dass er wieder einmal auf der Strecke blieb und hasste sich selbst, dass er nicht mehr Initiative in ihrer Beziehung ergriffen hatte. Er hätte sie vielleicht öfter besuchen sollen. Aber er konnte doch auch nichts dafür, dass sein Team andauernd ausrücken musste und er am Abend einfach nur noch fertig war und die beiden Schwarzhaarigen an seinen freien Tagen immer arbeiten mussten. Mussten sie das überhaupt? Oder war das nicht auch nur eine lahme Ausrede, damit sie ungestört waren? Bis Jan seine Gedanken abschalten und einschlafen konnte, dauerte es noch einige Zeit, aber schließlich und endlich hatte er es geschafft und war froh, dass er am kommenden Tag Nachtschicht hatte, wodurch er sich am Tag noch richtig ausschlafen konnte, um nicht völlig übermüdet zum Dienst zu erscheinen. „Ich hasse den Nachtdienst“, schimpfte Tom, als er gemeinsam mit Jan den Stützpunkt betrat. „Nicht nur du, mein Lieber“, erwiderte der Arzt, der die Verabscheuung nur zu gut verstehen konnte. Die beiden gingen, wie immer, zuerst in den Umkleideraum, um sich ihre Uniform anzuziehen. „Hast du auch gut geschlafen? Nicht, dass ich dann das Steuer übernehmen muss“, witzelte Jan, der genau wusste, dass der Pilot sicher den ganzen Tag über im Bett geschlummert hatte. Dieser kommentierte es mit einem verächtlichen Schnauben, während er sich sein Shirt auszog. Auch der Arzt hatte sich mittlerweile von seinem Oberteil befreit und warf es in den kleinen Holzschrank, auf dessen Tür ein Schild mit seinem Namen darauf hinwies, dass das auch wirklich der Schrank von Dr. Jan Vetter war. „Also, wie du es schaffst, dass du so trainiert bist, ist mir immer noch ein Rätsel“, stieß Tom bewundernd aus, als er den durchtrainierten Oberkörper seines Freundes erblickte, der gerade seine Jeans gegen die Uniformhose tauschte. „Tja weißt du…wenn du nicht erst am letzten Drücker aufstehen würdest, sondern einfach eine Stunde dafür nützen würdest, ’ne Runde ums Haus – oder wohin auch immer – zu laufen, dann würdest du auch so aussehen“, erwiderte der Angesprochene und setzte sich auf die Bank vor den Schränken, um sich die Schuhe zu schnüren. „Ich hab nicht das Durchhaltevermögen dazu“, meinte Tom bloß, während er sein Hemd zuknöpfte. „Tja, was glaubst du, wie ich mich am Anfang durchbeißen musste…aber jetzt ist das schon irgendwie so drin, dass ich das schon automatisch mach“, sagte Jan, schnappte sich seine Jacke und ging gemeinsam mit seinem Kollegen in den Aufenthaltsraum, wo sie feststellten, das Karo, wie meistens, als Letzte kommen würde. „Und, war viel los?“, fragten sie Jörg, den Arzt von Team B, bei der Schichtübernahme. „Nicht wirklich, sind nur zwei Mal für einen Verkehrsunfall ausgerückt, aber sonst war’s ziemlich ruhig. Aber ihr habt Glück, für heute Nacht sind schwere Unwetter angesagt, da wird sicher viel los sein“, erklärte dieser und verabschiedete sich dann. „Was wohl Jan gerade macht“, fragte Rodrigo. Er lag gemeinsam mit Dirk im Bett und ließ den Tag, den sie größtenteils am Strand verbracht hatten, gemütlich ausklingen. „Hat er beim letzten Mal telefonieren nicht etwas von Nachtdienst gesagt?“, überlegte der Ältere. „Der Arme…wenn bei uns schon so wenig los ist in der Nacht, wie wird das erst am Stützpunkt sein?“, bemitleidete der Chirurg seinen Freund. Er selbst verband mit dem Nachtdienst eine Art Hassliebe. Einerseits war weniger los, aber andererseits waren die Operationen, die er dann durchführen musste, wirkliche Notfälle, welche eine Extraportion Adrenalin versprachen. Dem Chef der Notaufnahme erging es ebenso. Meistens musste er in solchen Schichten nur Betrunkene am Rande einer Alkoholvergiftung behandeln, was einen auf Dauer langweilen konnte, wodurch die Notfälle, die dann eingeliefert wurden, eine richtige Entschädigung sein konnten. „Sollen wir ihn mal anrufen?“, schlug er vor. „Wenn er wirklich Nachtschicht hat, dann wird er wohl kaum ans Telefon gehen“, gab Rodrigo zu Bedenken. „Auch wieder wahr…was machen wir dann? Mir ist langweilig!“, beklagt sich Dirk. „Ich wüsste da schon was“, erwiderte der Jüngere, beugte sich über ihn und zog ihm lüstern das Shirt aus. Währenddessen war Jans Team zu einem Verkehrsunfall gerufen worden. Ein Nightliner war im Regen von der Straße abgekommen und drohte, den sehr steilen Hang hinunter zu stürzen, wodurch für die eingeklemmten Insassen keine Chance mehr auf Rettung bestünde. Zwar war ein Rettungswagen und auch die Feuerwehr schon vor Ort, aber dadurch, dass der vordere Teil des Busses, wo auch der Einstieg war, gefährlich über dem Abhang schwankte, wagte es keiner, das Fahrzeug zu besteigen. Tom fand glücklicherweise genug Platz zum Landen, bei dem starken Wind war es schwer, den Hubschrauber ruhig in der Luft zu halten. Ausgeleuchtet wurde die Szenerie nun von den Scheinwerfern der einzelnen Fahrzeuge. „Wie sieht’s aus?“, fragte Jan den Feuerwehrmann, der auf ihn zukam, nachdem er ausgestiegen war. Er versuchte nicht einmal, sich irgendwie vor dem sintflutartigen Regen zu schützen, nass werden würde er trotzdem. „Wir haben zwei bergen können, aber dann hat sich der Bus immer stärker nach unten geneigt, wodurch wir abbrechen mussten. Jetzt versuchen meine Leute gerade, den Bus zu sichern“, erklärte dieser. „Wie viele sind noch drin?“, wollte der Rettungsarzt dann wissen. „Fünf. Zwei im oberen Abteil und drei unten. Sie sind alle eingeklemmt und, soweit wir das beurteilen konnten, auch zum Teil schwer verletzt“, erwiderte sein Gegenüber. „Wie lange wird es noch dauern, bis der Bus gesichert ist“, hakte Jan nach. „Mindestens eine halbe Stunde“, meinte dieser bedauernd. Er schien sich zu denken, dass das zu lange dauern würde, um die Verletzten zu retten. Der Blonde betrachtete eingehend die Szene. Der Wind würde es Tom schwer machen, den Helikopter über dem Bus zu halten, der Regen würde dafür sorgen, dass er selber sich auf dem Dach des Unfallfahrzeugs nur sehr schwer bewegen konnte. Trotzdem mussten sie es versuchen. „Ich werd mich abseilen lassen“, benachrichtigte er den Feuerwehrmann noch und wandte sich zum Gehen, um dem „Sind sie irre?“ zu entgehen. „Und, was machen wir?“, wollte Tom dann wissen, wobei er sich die Antwort eigentlich schon denken konnte, nachdem Jan bereits im hinteren Teil des Hubschraubers eingestiegen war. „Ich versuch, aus der Luft in den Bus rein zu kommen“, bestätigte der Arzt dann seinen Verdacht. „Warum frag ich eigentlich noch“, seufzte der Pilot, als er den Motor startete und Jan sich den Gurt anlegte. „Okay, ich werd versuchen, den Heli so gut es geht zu halten, aber ich kann für nichts garantieren“, meinte Tom, als sie über dem Bus schwebten. Der Arzt schulterte den Rettungsrucksack, öffnete die Schiebetür, hakte sich und zwei Rettungsgurte bei der Seilwinde ein und schwang sich hinaus, sodass er mit den Füßen auf den Kufen stand und zu Karo sah, die sich in Öffnung gesetzt hatte und die Fernbedienung des Seils betätigte. Sie zeigten sich, dass sie bereit waren und im nächsten Moment wurde Jan auch schon hinab gelassen. Da der Wind sehr stark war, wurde der blonde Hüne mehrmals herumgewirbelt, aber irgendwie schaffte er es, zur Dachluke des Busses zu gelangen, wodurch er in das Innere klettern konnte. Kaum war er dort am Boden, spürte er schon, wie sich das Fahrzeug etwas weiter dem Abgrund entgegen neigte. Jan hakte sich vom Seil, schaltete die Lampe, die er zuvor auf seinem Helm befestigt hatte, an und verschaffte sich so einen kurzen Überblick. Der Rettungsarzt befand sich im oberen Stock, weiter hinten waren zwei Männer von mehreren ineinander verkeilten Sesseln und Tischen eingeklemmt. Um weiterhin alles beleuchten zu können, nahm der Hüne den Helm nicht, wie sonst immer, ab, sondern drehte lediglich das Funkmikrofon zur Seite, um seinen beiden Kollegen nicht ins Ohr zu brüllen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er die beiden Verletzten, als er bei ihnen angekommen war. Sie schienen beide mit dem Oberkörper eingeklemmt zu sein, waren aber bei Bewusstsein. „Wir können die Arme nicht bewegen“, berichtete derjenige, der näher bei ihm war. „Wie viele sind noch hier drin?“, fragte Jan, nachdem er erkannt hatte, dass die beiden nicht lebensgefährlich verletzt waren. „Thomas, Sebastian und Peter waren unten, als es passiert ist“, erwiderte der zweite keuchend. „Und wie heißen Sie?“, wollte der blonde Hüne wissen. „Aaron“ – „Timo“ stellten sich die beiden vor. „Gut, ich bin Jan. Hören Sie, ich werde jetzt versuchen, die Sachen hier irgendwie wegzuschaffen, haben Sie verstanden? Das kann mitunter vielleicht etwas wehtun“, erklärte der Arzt, ehe er begann, die Trümmer wegzuziehen. Er brauchte zwar etwas Zeit dafür, aber dann hatte er es soweit geschafft, dass der erste frei war. Er schien einen Arm gebrochen zu haben, aber sonst ging es ihm relativ gut. „Okay Aaron, Sie müssen mir jetzt helfen, Ihren Freund da frei zu bekommen“, wandte er sich an den Mann, der nun neben ihm stand. „Und Timo, Sie müssen versuchen, irgendwie mit ihren Beinen mitzuhelfen, geht das?“, fragte er den noch Eingeklemmten, woraufhin dieser nickte. Ein weiteres Mal zerrten sie an den Sesseln, bis auch Timo sich ächzend herauswinden konnte. Auch er schien eher wenige Verletzungen davon zu tragen. Jan ging mit ihnen zur Dachluke zurück, wo noch immer das Seil herunter baumelte. Der blonde Hüne schlang jeweils einen Gurt um die beiden und wies sie an, sich enger zusammenzustellen, damit sie beide auch durch die Öffnung passten. Dann wies er Karo an, das Seil hochzuziehen, achtete darauf, dass die beiden Männer auch aus dem Bus hinauskamen und verschwand dann vorsichtig die Treppe hinunter in den unteren Teil des Fahrzeugs. „Alles okay bei Ihnen?“, fragte Karo, als die beiden Verletzten im Helikopter saßen und ihnen Kopfhörer zur Verständigung aufgesetzt wurden. „Hey Jan, ich werd die beiden schnell absetzen, dann kommen wir wieder, hast du verstanden?“, funkte der Pilot indes seinem Freund zu. Er hatte schwer zu kämpfen mit dem Wind, aber bis jetzt hatte er den Hubschrauber noch relativ ruhig halten können. Er hoffte, dass die Böen nicht noch stärker wurden, sonst würde er es nicht mehr schaffen. „Alles klar“, drang Jans Stimme durch die Kopfhörer zu ihnen. Tom drehte ab und flog das kurze Stück zurück zum provisorischen Landeplatz, wo er auch schon wieder zum Landeanflug ansetzte. „Mir ist nicht viel passiert…mein Arm ist, glaub ich, gebrochen, aber sonst geht’s“, antwortete der eine auf Karos Frage. „Ja, mir geht’s ungefähr genauso“, fügte der andere hinzu. „Wir werden Sie jetzt, nachdem wir gelandet sind, dem Rettungswagen übergeben, damit wir Ihre Freunde bergen können, okay?“, klärte die Sanitäterin die beiden Verletzten auf. Da war der Helikopter auch schon gelandet. Karo schob die Tür auf, hüpfte hinaus und half den beiden Passagieren hinaus. Dann brachte sie sie zu den Wägen und klärte einen der Ärzte über ihre Zustände auf. Währenddessen wartete Tom im Hubschrauber auf sie. Er hatte den Motor nicht abgestellt, sodass sie gleich wieder starten konnten, wenn Karo zurückkam. „Jan, alles klar bei dir?“, fragte der Pilot seinen Kollegen über das Funkmikrofon. „Mehr oder weniger“, drang dessen atemlose Stimme durch die Kopfhörer. „Sprich Klartext, mein Lieber“, forderte Tom ihn auf. „Ich hab gerade probiert, die Scheibe einzuschlagen, aber es geht nicht…und die drei sind so kompliziert eingeklemmt, dass ich sie nicht losbekomme“, erklärte der Arzt. „Brauchst du irgendein Werkzeug?“, wollte der Pilot wissen und überlegte, welche Sachen sie im Helikopter hatten, die sein Freund brauchen könnte. „Nicht wirklich“, keuchte Jan, der anscheinend gerade wieder versuchte, die Trümmer zu entfernen. Tatsächlich hatte der Rettungsarzt gerade ein Stück entfernen können, wodurch er näher an die Verletzten kommen konnte. Einen von ihnen, von den anderen als Thomas vorgestellt, war bewusstlos. Eine Stange schien sich in seinen Bauch gebohrt zu haben. Während Jan seinen Puls fühlte, funkte er zum Hubschrauber: „Ich brauch eine Trage und eine Säge!“ „Geht klar, Chef“, sendete Karo zurück, die wahrscheinlich sofort damit begann, die verlangten Sachen in den Bus zu befördern. „Und wenn irgendjemand mit runterkommt, wär ich auch nicht böse“, fügte der Arzt noch hinzu, als er erkannte, dass er alleine nicht weiter kommen würde. „Gut, ich komm mit runter“, erklärte sich die Sanitäterin bereit. Natürlich hatte sie, wie die anderen auch, Angst, in den Bus zu steigen, aber sie vertraute darauf, dass Jan sie nicht zu so etwas bitten würde, wenn er sie damit in Gefahr bringen würde. Karoline hängte die Trage vertikal ans Seil, damit sie durch die kleine Luke passte. Dann hakte sie sich selbst ein, schnappte noch die kleine Motorsäge, die sie von einem Feuerwehrmann bekommen hatte und wies Tom, der an seinem Steuerknüppel eine Vorrichtung zum Bedienen der Winde hatte, an, sie hinunter zu lassen. Die Sanitäterin brauchte eine Weile, bis sie zur Luke kam, da sie immer wieder vom Wind verweht wurde, aber schließlich konnte sie sich mit dem Fuß festhalten und in den Bus gelangen. „Jan, wo bist du?“, funkte sie, nachdem sie sich und die Trage abgehakt hatte. „Unten…im hinteren Teil ist eine Treppe“, klärte der Arzt sie auf. Der blonde Hüne hatte mittlerweile feststellen können, dass die Stange zwar nicht in den Verletzten eingedrungen war, sondern nur gegen den Körper drückte, sich aber auch nicht entfernen ließ. Während er die anderen beiden beruhigende und aufbauende Worte zusprach, hoffte er, dass seine Kollegin eine Säge hatte auftreiben können, ansonsten würden sie Thomas hier nicht frei bekommen. „Wie sieht’s aus?“, hörte er Karos Stimme hinter sich. Er drehte sich um und erkannte die Motorsäge in ihrer Hand. „Halt schon mal jede Menge Tücher und Verbände bereit“, meinte er, als er das Gerät entgegen nahm und bei der Stange ansetzte. „Kannst mir das mal ausleuchten?“, bat er dann, als er zu wenig sehen konnte. Schnell packte die Sanitäterin ihre Taschenlampe aus und kam ihm zu Hilfe. Vorsichtig begann Jan, den Pfosten zu zerschneiden. Kaum war er durch, stellte er den Motor auch schon wieder ab, schnappte sich ein Tuch und drückte es auf die Wunde des Bewusstlosen, aus der nun massig Blut floss. Schnell legte der Arzt einen Druckverband an. Gemeinsam mit Karo schob er die Trümmer beiseite und barg die Verletzten. Flink aber dennoch vorsichtig legten sie Thomas auf die Trage, schnallten ihn fest und trugen ihn die Treppe hinauf, nachdem sie die anderen beiden, die sich als Sebastian und Peter vorgestellt hatten und noch in der Lage waren, zu laufen, angewiesen hatten, ihnen zu folgen. „Okay! Karo, du wirst dich mit der Trage hinaufziehen lassen, dann kommen wir drei“, beschloss Jan, als sie alle bei der Luke, wo das Seil auf sie wartete standen. Er half der Sanitäterin, sich und die Trage einzuhaken, legte ihr noch seinen Rucksack um, den er von Anfang an auf seinem Rücken getragen hatte und funkte dem Piloten, dass er das Seil hochziehen konnte. Nachdem Karo durch die Öffnung verschwunden war, meinte der blonde Hüne zu den Anderen: „Am besten, wir setzen uns schon mal aufs Dach, dann geht’s schneller!“ Da das Dach aber etwas höher war und die beiden Verletzten nicht in der Lage waren, zu springen, ging der Arzt etwas in die Knie, wodurch sie sich auf seine Oberschenkel stellen konnten und sich so auf das Dach ziehen konnten. Zuletzt kam Jan durch die Luke. Der Regen sorgte innerhalb von Sekunden dafür, dass sie komplett durchnässt waren. Sie mussten sich setzen, da sie auf der nassglatten Oberfläche kaum Halt zum Stehen fanden. Das Seil wurde mit zwei Rettungsgurten zu ihnen hinuntergelassen. Durch den starken Wind baumelte es immer wieder hin und her. Der Arzt brauchte etwas, bis er es zu fassen bekam, aber schließlich hatte er es erwischen können. Er legte Sebastian und Peter die Gurte um und befestigte sie am Haken. „Bei dem Wind ist es wohl besser, wenn ich die beiden alleine hochschicke, oder?“, fragte Jan. „Wird wohl besser sein, sonst dreht der Heli noch durch“, befand der Pilot, woraufhin nur die beiden Verletzten hochgezogen wurden. Mit routinierten Handgriffen zog Karo die beiden zu sich in den Hubschrauber, hakte sie vom Seil und wollte es gerade wieder hinab lassen, als sie sah, wie Jan so stark vom Wind erwischt wurde, dass er das Dach hinabrutschte und über die Kante verschwand. „JAN“, rief sie verzweifelt, als sie ihn nicht mehr sehen konnte. Mehr als ein Ächzen, das durch die Kopfhörer drang, bekam sie nicht zur Antwort. „Jan, alles in Ordnung?“, fragte nun auch Tom panisch. „Seitenspiegel“, drang die keuchende Stimme des Arztes zu ihnen durch, woraufhin der Pilot den Hubschrauber herumriss und etwas zurückflog, sodass sie den Bus von vorne sehen konnten. Da erblickten sie ihren Freund, der verzweifelt versuchte, den Seitenspiegel nicht loszulassen, was aber wegen des Unwetters und der glatten Oberfläche kaum möglich war. Auch mit den Beinen konnte er keinen Halt finden. Unter ihm ging es gut zwanzig Meter in die Tiefe. Da es für Jan unmöglich gewesen wäre, das Seil zu fangen, versuchte Tom, den Helikopter soweit hinunter zu schaukeln, dass der Arzt sich an den Kufen festhalten konnte. Für den blonden Hünen schien dies schier unmöglich zu sein, denn immer, wenn er mit der einen Hand losließ, um nach den Kufen zu greifen, drohte er, mit der anderen abzurutschen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, neigte sich der Unfallwagen immer mehr dem Abgrund entgegen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er abstürzte. Da hatte er eine Idee, die ihm, wenn sie schief ging, sein Leben kosten würde. Er schwang sich ein paar Mal hin und her, ehe er sich vom Bus so gut es eben ging wegstieß und so zum Hubschrauber sprang. Im letzten Moment konnte er sich noch an den Kufen festhalten, sonst wäre er abgestürzt. Mit Karos Hilfe, die sich zur Sicherheit noch ans Seil gemacht hatte, konnte er sich in das Innere des Helikopters ziehen, wo er spürte, wie nicht nur er einmal tief durchatmen musste, ehe sie abdrehten und das nächste Krankenhaus anflogen, in das auch die anderen Unfallopfer gebracht wurden. „Und Sie kennen uns wirklich nicht?“, fragte Aaron seinen Retter später im Krankenhaus zum gefühlten tausendsten Mal. Er hatte sich den Arm gebrochen, einige offene Wunden und eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen. Nun wartete er darauf, dass er entlassen wurde und ging währenddessen dem blonden Hünen, der sich eigentlich nur einen Tee holen wollte, auf die Nerven. „‚Hidalgo’, sagt Ihnen das nichts?“, hakte der Patient nach. „Sollte es das?“, wollte Jan wissen. „Wenn Sie der Songwriter Jan Vetter sind, eigentlich schon“, gab Aaron beinahe schon beleidigt zurück. „Der bin ich, aber ich kenne euch trotzdem nicht“, seufzte der Arzt und hoffte, dass dieses Gespräch bald beendet sein würde. „Aber Sie schreiben unsere Songs! Durch die wir berühmt geworden sind! ‚Hidalgo’, das ist unser Bandname“, erklärte der Musiker enthusiastisch. „Schön für Sie“, erwiderte Jan knapp und entdeckte hocherfreut den Kaffeeautomaten. Er kramte etwas Kleingeld aus seiner Tasche, warf es ein und drückte auf die Taste für den Tee. Während er wartete, dass das Getränk in den Becher tropfte, musste er Aarons Gelaber weiter über sich ergehen lassen. „Wir wollten Sie schon immer mal kennen lernen, aber Sie hatten ja nie Zeit, hat unser Manager gesagt. Wir haben uns immer vorgestellt, dass Sie ganz entspannt in einer supertollen Villa wohnen und einfach keinen an sich heranlassen. Aber so als Rettungsarzt, da hat man sicher viel zu tun, oder? Machen Sie das eigentlich, weil Sie mit den Songs alleine so schlecht verdienen?“, plapperte Aaron, dessen überdrehte Stimmung wahrscheinlich auch an den Schmerzmitteln lag, die er verabreicht bekommen hatte. Seufzend nahm Jan einen Schluck seines extrem heißen Getränks, verfluchte den Erfinder des Automaten, der nicht einmal einen guten und angenehm warmen Tee zubereiten konnte und meinte dann zu seinem Gegenüber: „Ich hab mal eine Frage: Wenn du extrem viel Geld haben würdest, würdest du dann trotzdem noch weiter mit der Musik machen, oder würdest du dich auf die faule Haut legen?“ „Ich würd natürlich weiter Musik machen“, erwiderte Aaron verwirrt. „Und warum?“, hakte der Arzt nach. „Weil ich’s gerne mach!“, antwortete der Musiker ehrlich. „Und warum glaubst du dann, ich würde Arzt sein, nur weil ich so schlecht verdiene?“, fragte der blonde Hüne und machte sich auf den Weg zurück zu seinen Kollegen. „Das heißt, Sie machen das auch, weil Sie es gerne machen“, wollte der Patient dann wissen. „Du hast’s erfasst“, entgegnete Jan und begrüßte Tom und Karo überschwänglich, in der Hoffnung, endlich von Aaron in Ruhe gelassen zu werden, was der dann auch tat. Leider war der Nachtdienst für das Rettungsteam noch lange nicht zu Ende. Die restliche Zeit versuchten sie mit Fernsehen, Zeitung lesen oder Karten spielen tot zu schlagen. Nur noch einmal wurden sie zu einem Verkehrsunfall gerufen, den sie auch ohne besondere Vorkommnisse hinter sich bringen konnten. Als sie diesmal wieder zurück aufs Dach des Krankenhauses kamen, hatten sie Ausblick auf einen wunderschönen Sonnenaufgang. „Wisst ihr, was das bedeutet?“, fragte Jan seine Kollegen gähnend. Die beiden blickten ihn erwartungsvoll an. „Das die Schicht bald zu Ende ist“, erwiderte der Arzt grinsend und brachte damit auch Karo und Tom zum Lachen. „Ich freu mich auf mein Bett“, seufzte die Sanitäterin. „Was ist mit deiner Hand?“, fragte Tom, als er bemerkte, dass sein Freund sich seine rechte Hand massierte. „Hab sie mir wahrscheinlich verstaucht, als ich gesprungen bin“, erwiderte der Arzt bloß, womit er sich eine Portion Mitleid von Karo einheimste. „Lasst uns zurück fliegen, sonst kommen wir nie ins Bett“, erwiderte Tom und öffnete die Tür zum Cockpit. „Da sind aber viele Autos“, wunderte sich Jan, als sie zum Stützpunkt kamen. Er bekam den viel sagenden Blick, den sich seine beiden Kollegen zuwarfen nicht mit, sondern überlegte, ob irgendetwas Besonderes geplant war, aber ihm fiel nichts ein. Träge schnallte er sich den Sicherheitsgurt ab, nahm den Helm ab, hängte ihn an den dafür vorgesehenen Haken und stieg aus, als der Hubschrauber gelandet war. Er schnappte sich den Rettungsrucksack, um ihn wieder aufzufüllen und ging gemeinsam mit Karo und Tom in das Gebäude. Mit einem großen „Hallo“ wurden sie von Karin, dem gesamten Team B, ihrer Chefin und dem allseits beliebten Hausmeister begrüßt. Fragend drehte Jan sich zu seinen beiden Teamkollegen um, die ihm aber bloß ein unschuldiges Lächeln schenkten. Während der Arzt den Rucksack abstellte, fragte er verwirrt: „Darf ich fragen, was los ist?“ „Weißt du, welcher Tag heute ist?“, entgegnete Sophia, die Sanitäterin aus Team B. „Ähm…Donnerstag?“, schätzte Jan, der überhaupt nichts verstand. „Heute, mein Lieber“, begann Tom und umarmte ihn freundschaftlich von hinten, „feierst du dein zehnjähriges Dienstjubiläum!“ Während der Pilot das sagte, traten die anderen ein Stück zur Seite, sodass die Sicht frei wurde auf eine Torte, die mit zehn Kerzen besteckt und mit einem „10 Jahre im Dienst“ beschriftet war. „Ihr seid so bescheuert“, lachte der Arzt, nachdem er die Kerzen auspusten musste, freute sich aber sehr. Die anderen kamen auf ihn zu und einer nach dem anderen umarmte ihn freundschaftlich und gratulierte ihm. „Und zur Feier des Tages haben wir natürlich auch ein Geschenk für dich“, erwiderte Sonja, die Chefin des Stützpunktes, woraufhin Jörg besagtes Paket hervorholte. Grinsend öffnete Jan die Schleife und überlegte, was da wohl drin sein könnte. Als er das Papier abgemacht hatte und die Schachtel öffnete, offenbarte ihm eine Uniformjacke mit seinem Namen, die auf dem ersten Blick nichts Besonderes zu sein schien. „Ähm…“, begann er, als er sie hochhielt. „Du musst sie umdrehen“, forderte Karin ihn begeistert auf. Als er dem Vorschlag folgte, musste er erneut lachen. Auf der Rückseite der Jacke war das Zeichen ihres Stützpunktes und darum herum im Kreis „Dr. Jan Vetter – Lebensretter“ geschrieben. „Dankeschön“, bedankte er sich herzlich bei seinen Freunden. „Schon klar, Opa“, grinste Tom, der darauf anspielte, dass Jan mit seinen zehn Jahren der Dienstälteste auf dem Stützpunkt war. „Also so lässt sich ein Nachtdienst gerne beenden“, meinte der Arzt zwinkernd, als sie sich mit einer Tasse Tee oder Kaffee und einem Stück Torte an den großen Tisch setzten und Karo den anderen von Jans neuester Heldentat erzählte. Kapitel 7: Jede Menge gut zu machen ----------------------------------- Wenige Tage später war für Dirk und Rodrigo der Urlaub auch schon wieder zu Ende. Sie hatten beschlossen, Jan nichts von ihren Tagen an der Nordsee zu erzählen, es wäre wohl besser, wenn er nichts davon erfahren würde. Als sie in ihren Wohnungen ankamen, konnten sie sehen, dass ihr Freund mehrmals versucht hatte, sie anzurufen. Ihr schlechtes Gewissen schien mit jedem Moment größer zu werden. Hätten sie ihm wenigstens etwas sagen sollen? Hätten sie ihren Urlaub so planen sollen, dass er auch mit konnte? Für Dirk begann der folgende Tag wie immer. Nachdem sein Wecker ihn aus dem viel zu schönen Schlaf gerissen hatte und er sich noch ein paar Minuten im Bett gegönnt hatte, konnte der Schwarzhaarige sich dann doch noch aufraffen, um sich im Bad zu duschen und zu richten. In der Küche genehmigte er sich eine Tasse Kaffee, ein Marmeladenbrötchen und einen Blick in die Zeitung, ehe er zurück ins Bad schlenderte, sich die Zähne putzte und dann die Wohnung mit einem kurzen Check, ob die Geräte auch alle abgestellt waren und er nichts vergessen hatte, verließ. „Guten Morgen, Chef! Wie war der Urlaub?“, wurde Dirk im Krankenhaus von Jerry, dem Mann am Empfangsschalter, begrüßt. „Hey Jerry, alles klar? Der Urlaub war schön, danke“, erwiderte der Schwarzhaarige, quatschte noch ein paar Minuten mit ihm, ehe er ins Ärztezimmer der Notaufnahme ging und sich für den Dienst umzog. Als Rodrigos Wecker an diesem Morgen erbarmungslos klingelte, wünschte sich der Chilene nichts sehnlicher, als wieder zurück an die Nordsee zu fahren. Sein Pflichtbewusstsein schälte ihn dann trotzdem aus dem Bett und brachte ihn ins Bad, um sich zu richten. Anschließend schlurfte er in die Küche, aß schnell sein Frühstück und plante während dem Zähneputzen schon, wie er das nächste Treffen mit Jan gestalten könnte. Er zog sich seine Schuhe und seine Jacke an, trat aus der Wohnung und lief die Treppe hinunter zu seinem Wagen, der ihn ins Krankenhaus bringen würde. „Rodrigo, wie war der Urlaub?“, fragte Daniel, der plastische Chirurg, den der Schwarzhaarige im Ärztezimmer auf seiner Station antraf. „Viel zu kurz“, erwiderte der Angesprochene grinsend. „Glaub ich dir schnell“, seufzte Daniel, der sich gerade das Oberteil seiner dunkelblauen Scrubs anzog. Wie immer stand Jan eine Stunde früher auf, als er müsste, denn er wollte seine tägliche Runde durch den Wald laufen. Gut gelaunt schlüpfte er in seine Sportsachen, setzte sich die Kopfhörer seines MP3-Players auf und lief durch die Terrassentür hinaus. Wie immer wählte er Rockmusik fürs Laufen und merkte, dass es nun bald zu kühl werden würde für kurze Hose und T-Shirt. Während er den altbekannten Waldweg entlang lief, fragte er sich, wann Dirk und Rodrigo wohl aus dem Urlaub zurückkamen, wie sie ihm das erklären wollten und, vor allem, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Auf jeden Fall würde er zuerst schauen, was die anderen beiden zu sagen hatten und dann wollte er ihnen seine Meinung sagen. Nach der üblichen Stunde, die er für den Morgensport brauchte, stellte Jan sich unter eine angenehm kühle Dusche, putzte sich seine Zähne und schlüpfte in seine Kleidung, die er sich mit ins Bad genommen hatte. Während er zur Haustür ging, beschloss er, diesmal mit dem Motorrad zur Arbeit zu fahren, immerhin war das Wetter schön gemeldet. „Guten Morgen Jan! Na, ausgeschlafen?“, wurde er von Tom begrüßt, der gerade den Tisch im Aufenthaltsraum für das Frühstück deckte, dass das Team wie immer gemeinsam zu sich nahm. „Putzmunter wie immer“, kommentierte der blonde Hüne fröhlich und ging in den Umkleideraum, um sich seine Uniform anzuziehen. Zwei Stunden, nachdem für das Team A der Helikopterstaffel der Dienst begonnen hatte, wurden sie auch schon zum ersten Einsatz gerufen. Diesmal handelte es sich nicht um einen Notfall, sondern um einen Sekundäreinsatz. Sie mussten einen Patienten vom einen ins andere Krankenhaus bringen, wo er von einem Spezialisten operiert werden würde. „Alles bereit?“, fragte Tom, nachdem Karo und Jan noch einmal die Ausrüstung gecheckt hatten, sich auf ihre Plätze gesetzt und den Sicherheitsgurt angelegt hatten. „Es kann los gehen“, informierte der blonde Hüne seinen Sitznachbarn, der daraufhin den Motor startete und der Hubschuber hob ab. Rodrigo studierte noch einmal das Chirurgie-Board. Er hatte an diesem Tag eine schwere OP vor sich, ein Patient mit einem Tumor in der Größe eines Golfballes würde von einem anderen Krankenhaus hierher gebracht werden, um von ihm operiert zu werden. „Nicht viel los“, kommentierte er das Gesehene. „Sag das nicht“, erwiderte Nina, die Herz-Thorax-Chirurgin – oder auch die „Cardiogöttin“, wie die Assistenzärzte sie gerne nannten. „Warum? Passiert dann was?“, hakte der Chilene belustigt nach. „Wenn man an so was glaubt, dann ja“, meinte Nina. „Gut, dass ich für so was nichts übrig hab“, grinste Rodrigo und machte sich auf den Weg zur Visite. „In welches Krankenhaus müssen wir ihn überhaupt bringen?“, fragte Jan, nachdem sie gelandet und ausgestiegen waren. „Ins Hamburger UKH“, informierte Karo ihren Chef. Unbemerkt von ihr seufzte der Hüne. Ob er auf Rodrigo und Dirk treffen würde? Wollte er überhaupt auf sie treffen? Sie gingen der Ärztin entgegen, die bei der Treppe schon auf sie wartete. „Hallo, ich bin Doktor Katharina Seifer“, begrüßte sie die beiden und streckte ihnen die Hand entgegen. „Hi, Doktor Jan Vetter“, stellte sich der Blonde vor und erwiderte die Geste, ebenso wie die Sanitäterin, die sich mit „Hi, Karoline Wagner“ vorstellte. Während Tom beim Hubschrauber auf sie wartete, gingen die drei ins Gebäude. Wie Dr. Seifer sie informierte, war der Patient schon ausreichend auf den Transport vorbereitet worden, sie mussten ihn nur noch an die tragbaren Geräte anschließen und auf die Trage legen, dann konnten sie ihn auch schon mitnehmen. „Wie heißt er?“, erkundigte sich Jan, bevor er das Zimmer betrat. „Heinrich Welsch“, erklärte die Ärztin und öffnete die Tür, nachdem sie kurz daran geklopft hatte. Der Patient war von mehreren Schwestern und Ärzten umgeben, eine Angehörige von ihm stand beim Kopfteil des Bettes und hielt seine Hand. „Guten Tag, das hier sind Doktor Jan Vetter und Karoline Wagner vom Helikopter-Team, das Sie ins UKH bringen wird“, verkündete Dr. Seifer, woraufhin die beiden dem Patienten und der Frau an seiner Seite die Hand schüttelten. Während das Team den Kranken auf die Trage legten, wollte die Frau, die sich als Maria Welsch, Ehefrau von Herrn Welsch, vorstellte, vorsichtig wissen, ob sie denn mitkommen könnte. „Klar“, erwiderte Jan und lächelte sie ermunternd an. „Herr Welsch? Sie brauchen keine Angst zu haben, wir wissen, was wir tun“, beruhigte der Arzt den Patienten, der immer wieder verunsichert umher sah. „Kann’s losgehen?“, fragte der blonde Hüne zum Abschluss und schob dann, gemeinsam mit Karo, die Trage aus dem Zimmer zum Lift. „Wer wird Sie operieren?“, wollte die Sanitäterin wissen, während sie auf den Lift warten mussten. „Doktor González“, antwortete Frau Welsch. Jan konnte nicht verhindern, dass sich etwas in ihm verkrampfte. Sie waren also wieder aus dem Urlaub zurück. „Mir ist langweilig“, stöhnte Andreas, der es sich auf einem Sessel beim Empfangsschalter in der Notaufnahme bequem gemacht hatte. An diesem Tag war unnatürlich wenig los, wodurch es für die Ärzte kaum bis gar nichts zu tun gab. „Hör auf, sonst passiert noch irgendwas“, versuchte Dirk ihn zu beruhigen. Es schien wie ein Fluch über dem Krankenhaus zu liegen, dass, wenn einmal so wenig los war, sicher noch etwas Schlimmes, wie eine Massenkarambolage, passierte. Es schien wie die Ruhe vor dem Sturm zu sein. „Gut, ich nehm alles zurück“, erwiderte der Oberarzt abwehrend und stand auf, um sich Kaffee aus dem Ärztezimmer zu holen. „So soll’s sein…und nimm mir auch einen mit“, rief sein Chef ihm noch grinsend nach. Als das Rettungsteam beim Krankenhaus ankam, wartete bereits eine Truppe von chirurgischen Assistenzärzten auf dem Dach auf sie. Vorsichtig setzte Tom den Hubschrauber auf dem Boden auf und schaltete anschließend den Motor aus. Während Karo Frau Welsch beim Ausstieg half, öffnete Jan die hinteren Türen, um den Patienten in das Innere des Gebäudes zu bringen. Der blonde Hüne wollte die ganze Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen, nur um nicht auf Rodrigo oder Dirk treffen zu müssen. Doch anscheinend war das Glück nicht auf seiner Seite, denn kaum hatte er die Chirurgie betreten, kam ihm auch schon der Chilene entgegen. „Hey Jan! Ich wusste gar nicht, dass ihr den Transport übernommen habt“, wurde der Rettungsarzt von ihm freundlich begrüßt. „Tja, wie du siehst…“, entgegnete dieser kühl. Er wollte es ihnen auf jeden Fall zeigen, wie sehr sie ihn mit ihrer Aktion verletzt hatten. Rodrigo schloss kurz die Augen und öffnete sie langsam und seufzend wieder. „Du weißt es also?“, fragte er schuldbewusst. „Was? Dass ihr im Urlaub ward? Gemeinsam? Ja, das weiß ich! Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“, zischte Jan. Er musste sich zusammenreißen, um keine Szene zu machen, immerhin standen sie mitten am Gang, jeder konnte sie sehen. „Jan, es…es tut mir so Leid! Wir wollten es dir sagen, aber –“, erklärte der Neurochirurg. „Spar dir dein Gesülze und komm wieder, wenn du’s ehrlich meinst“, unterbrach ihn der Größere wütend, wandte sich ab und ging, wodurch Rodrigos Blick auf dessen neue „Dr. Jan Vetter – Lebensretter“-Jacke fiel. Sich selbst verfluchend ging der Chilene zu seinem neuen Patienten, den das Team gebracht hatte. „Herr Welsch, wie geht es Ihnen heute?“, begrüßte er ihn und reichte ihm freundlich lächelnd die Hand. „Ich hasse solche Tage“, fluchte Karo, als das Rettungsteam wieder zurück zum Stützpunkt kam. „Nicht nur du“, stimmte Tom ihr zu, als er sich ächzend aufs Sofa fallen ließ. Jan ging in die kleine Kochnische und setzte für sich Teewasser und für die anderen beiden Kaffee auf. „Wenn ich mir denke, dass ich den Tag so viel sinnvoller verbringen könnt, als einfach nur hier rum zu sitzen und nichts zu tun“, setzte die Sanitäterin hinzu, was den blonden Hünen auflachen ließ. „Was glaubst du, wie viel Leute sich wünschen würden, so einen Job zu haben, wo man nichts zu tun hat“, erklärte er, als er ihren fragenden Blick bemerkte. „Aber ich hab die Stelle genommen, weil ich was erleben wollte und nicht, weil ich stundenlang hier rumlungern will“, ereiferte sich Karo. „Oh Mann, du tust ja schon so, als wäre das hier Gang und Gebe! Frag mal Jan, der würd dir niemals sagen, dass er nichts erlebt, oder?“, schaltete sich Tom in das Gespräch, womit er einen gespielt eingeschnappten Blick vom Arzt erntete. „Trotzdem: Ich hasse solche Tage“, wiederholte sich die Sanitäterin und beendete damit die Diskussion. „Und, wo geht euer nächster Urlaub hin?“, fragte Dirk seine paar Kollegen, als sie es sich auf dem Boden gemütlich gemacht und mit einem Kartenspiel begonnen hatten. An diesem Tag schien einfach jeder, der nicht unbedingt raus musste, daheim bleiben zu wollen. Warum das so war, konnte sich jedoch niemand erklären. Das Wetter war zwar nicht das Beste, aber auch nicht wirklich so schlimm, wie das Schneechaos vor einem Jahr, das das letzte Mal dafür gesorgt hatte, dass die Notaufnahmeärzte einen entspannten Arbeitstag hatten. „Spanien“, ächzte Michael, während er sich streckte und sich dachte, dass er zu alt für solche Aktionen sei. „Ja, da ist’s schön“, pflichtete Andreas ihm bei, bevor er ein „Ich weiß noch nicht, wo’s hingeht…meine Frau kann sich noch immer nicht entscheiden“ hinzufügte. „Wo würdest du denn gerne hinwollen?“, hakte Dirk belustigt nach. Die Frau seines Kollegen brauchte bei jedem Urlaub extra lang zum Entscheiden, weil sie auf jeden Fall in das richtige Land fahren möchte. „Ach, ich weiß nicht…Australien wär doch mal was“, überlegte der Braunhaarige, der sieben Jahre jünger war, als sein Chef. „Oh, da war ich schon mal! Sie müssen dann aber unbedingt mal im Great Barrier Reef tauchen. Das ist einfach wunderschön“, brachte sich nun Simone, die junge Assistenzärztin ein. „Okay, ich werd’s mir merken“, bedankte sich Andreas lächelnd. „Und, was habt ihr heute so vor?“, fragte Jan in die Runde, als ihm die Zeitschrift, die er bis gerade eben gelesen hatte, zu langweilig wurde. „Meine Cousine hat Geburtstag, da werd ich vorbeischauen“, antwortete Karo, die froh über etwas Konversation zu sein schien. „Ich werd mit Melanie essen gehen“, erwiderte Tom und lächelte verträumt. Melanie und er waren nun schon drei Jahre zusammen und bis auf ein paar klitzekleine Streitereien waren sie das Traumpaar schlechthin. „Wisst ihr schon, wohin?“, wollte die Sanitäterin wissen. „Zu Melanies Lieblingsitaliener. Frag mich nicht, wie der heißt, ich kann mir den Namen einfach nicht merken“, gab der Braunhaarige schmunzelnd wider. „Solange du weißt, wie ihr hinkommt, passt doch alles“, erklärte Jan grinsend. Er hoffte, dass keiner von den anderen auf die Idee kam, ihn nach seinen geplanten Aktivitäten zu fragen, denn er wusste selbst nicht einmal, was er noch machen wollte. „Und, was hast du noch so vor?“, fragte Tom dennoch. „Ich werd einfach zu Hause bleiben und hoffen, dass ich wenigstens diesmal etwas mehr Schlaf abbekomme“, meinte der Arzt seufzend. Wie oft hatte er die letzten Nächte wach gelegen und sich gefragt, ob diese Beziehung mit Dirk und Rodrigo überhaupt noch Sinn machte? Er wusste es nicht, oder besser gesagt, er wollte es gar nicht wissen. „Kannst du nicht schlafen? Was beschäftigt dich denn so?“, hakte Karoline vorsichtig nach. Jan lächelte mild und signalisierte mit einem Kopfschütteln, dass er nicht darüber reden wollte. Zwar würde er sich gerne bei jemandem ausheulen, aber sicher nicht bei seinen Kollegen. Wie sie wohl reagieren würden, wenn Dr. Jan Vetter, der Held und Lebensretter schlechthin, erklären würde, dass er schwul war. Der Blonde wollte es sich gar nicht erst ausmalen. Inzwischen hatte Rodrigo die Operation erfolgreich durchgeführt. Schließlich war er ein Spezialist auf seinem Gebiet. Menschen aus ganz Deutschland kamen zu ihm, um sich von ihm behandeln zu lassen. Trotzdem empfand er diesmal nicht das gewohnte Glücksgefühl, das ihn sonst immer befiel, als er den OP verließ. Vielmehr beschäftigte ihn diesmal die Reue. Als er sich mit Dirk an ihrem kleinen geheimen Plätzchen im Keller traf, entzog er sich dem begrüßenden Kuss des Älteren. „Was’n los?“, fragte dieser besorgt. „Er weiß es“, erwiderte Rodrigo bloß und ließ sich seufzend auf die herumstehende Trage fallen. „Hast du’s ihm etwa gesagt?“, hakte Dirk entsetzt nach. „Nein, natürlich nicht“, wehrte der Chilene betrübt ab. Sie mussten nun einiges wieder gut machen, hatten sie ihren Freund doch so übel hintergangen. „Was machen wir denn jetzt?“, stieß der Kleinere aus. Auch er wusste, dass sie sich falsch verhalten hatten. Sie hätten ihm zumindest etwas sagen sollen. „Wir müssen auf jeden Fall mit Jan reden, uns entschuldigen! Vielleicht versteht er uns sogar?“, erklärte Rodrigo optimistisch. „Sei mal ehrlich, hast du dir eigentlich gedacht, dass wir ihn fragen sollten, ob er mit will?“, wollte Dirk traurig wissen. „Nein“, seufzte der Neurochirurg betrübt. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie sich Jan fühlen musste. „Ich auch nicht“, stieß der Ältere aus. Er war von sich selbst angewidert. Was haben sie sich dabei eigentlich gedacht? Als es am Abend klingelte, saß Jan gerade mit einer Tasse Tee und einem Buch auf seinem Sofa. Träge stand er auf und schlurfte zur Tür. Er wollte jetzt eigentlich keinen Besuch, vor allem, weil er sich schon denken konnte, wer da draußen um Einlass bat. Tief durchatmend öffnete er die Tür. „Was wollt ihr hier?“, fragte er ausdruckslos. „Jan, wir…dürfen wir rein?“, begann Dirk vorsichtig. Der Rettungsarzt überlegte lange, ehe er sie dann doch ins Haus ließ. Er wollte zumindest anhören, was sie zu sagen hatten. „Jan…hör mal…was wir getan haben, ist echt…unentschuldbar“, fing Rod an, als die drei in der Diele standen. Der blonde Hüne verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte verärgert. Was sie nicht sagten! „Wir wissen doch selber nicht, warum wir dir nichts gesagt haben! Wir…haben einfach nicht nachgedacht“, fuhr Dirk ehrlich fort. Der Größere blickte zwischen den beiden hin und her. Sie schienen nichts mehr sagen zu wollen und warteten nun auf sein Urteil. „Ist das alles?“, stieß er ungläubig aus. „Jan…“, wollte der Chirurg ihn beruhigen. „Ihr ward im Urlaub! Gemeinsam! Und alles, was ihr mir zu sagen habt, ist, dass ihr nicht nachgedacht habt?“, fuhr der Blonde sie an. „Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie ich mich gefühlt hab? Ich hab echt gedacht, dass das was werden könnte zwischen uns, aber…“ „Jan, bitte! Sag das nicht“, erwiderte Dirk verzweifelt. „Bitte, gib uns noch eine Chance“, hauchte Rod ängstlich. Was immer Jan verlangen würde, er würde es tun. „Sagt mir einen Grund, warum ich das tun soll“, forderte der blonde Hüne. „Weil“, begann der Chirurg, trat auf seinen Freund zu und nahm dessen Kopf sanft in seine Hände. „Ich dich liebe dich und Dirk tut das auch…und ich weiß, dass du uns auch liebst…Jan, bitte…wenn du’s schon nicht für uns machst, dann mach’s für dich“, fuhr er sanft fort und küsste ihn. Der blonde Hüne wusste, dass Rodrigo Recht hatte. Und er wusste, dass er dem Kuss nicht widerstehen konnte, viel zu groß war seine Sehnsucht. „Aber denkt nicht, dass ihr so einfach wegkommt“, erwiderte er trotzig, als sie sich lösten. In stiller Übereinkunft hatten sie beschlossen, nicht über den kurzen Trip an die Nordsee zu reden. Stattdessen planten sie das kommende Wochenende, an dem sie, solange nichts dazwischen käme, alle drei frei hatten. „‚Hidalgo’ spielen da in der Stadt…die haben eigentlich ziemlich gute Songs…was haltet ihr davon, wenn wir sie uns ansehen?“, fragte Dirk gerade, als Jan vom Sofa aufstand und in die Küche ging, um ihnen noch etwas zu trinken zu holen. Der blonde Hüne musste unwillkürlich lächeln, als er hörte, dass dem Schwarzhaarigen die Lieder gefielen. ‚Wie er wohl reagiert, wenn er erfährt, dass die Songs von mir sind?’, fragte der Rettungsarzt sich im Gedanken. Auf keinen Fall würde er die anderen beiden über dieses kleine Detail am Rande aufklären. Viel zu gespannt war er auf ihre Reaktion, um sich selbst die Freude zu verderben. „Klar, warum nicht?“, stimmte er dem Vorschlag zu. Er konnte ja mal schauen, wie die Band überhaupt so war. Auch Rodrigo war dem Ganzen nicht ganz abgeneigt und so war es bald beschlossene Sache, dass die drei das Konzert besuchten. „Sag mal, seit wann hast du eine neue Jacke?“, wollte der Chirurg dann wissen, als Jan mit den Getränken zurückkam. „Hab ich geschenkt bekommen“, erklärte der Rettungsarzt grinsend. „Welche Jacke?“, fragte Dirk verwirrt. „Jan hat eine neue Uniformjacke“, klärte der Chilene seinen Freund auf. „Und rate mal, was hinten oben steht. ‚Dr. Jan Vetter – Lebensretter’.“ „Ist das nicht ein bisschen narzisstisch, mein Freund? Ein klitzekleines Bisschen vielleicht?“, lachte der Älteste. „Ich kann nichts dafür. Hab’s, wie gesagt, geschenkt bekommen“, rechtfertigte Jan sich. „Gab’s einen besonderen Anlass?“, hakte Rodrigo nach. „Zehnjähriges Dienstjubiläum“, erklärte der Rettungsarzt. „Zehn Jahre machst du das schon?“, stieß Dirk aus. „Ist das etwa ein Verbrechen?“, fragte der Blonde verwundert. Die anderen beiden waren doch auch bestimmt genauso lang in ihren Berufen tätig. „Nein, aber…kam da nie der Punkt, wo du dir gedacht hast, dass dir das zu anstrengend wird?“, argumentierte der Notaufnahmechef. „Bis jetzt noch nicht, nein“, erwiderte Jan. „Bei euch etwa?“ „Nein, aber unser Job ist auch lang nicht so gefährlich, wie deiner“, antwortete Dirk. „Das sagt gerade der, der mal in eine Geiselnahme geraten ist“, kommentierte der Rettungsarzt sarkastisch. Wenig später, draußen war es mittlerweile dunkel geworden, saßen sie einfach nur schweigend im Wohnzimmer. Jeder hing seinen Gedanken nach, ungeahnt der Tatsache, dass sie bei allen um dasselbe Thema kreisten. Als Jan aufstand und in sein Schlafzimmer ging, um etwas zu holen, wurde er von seinen beiden Freunden an der Tür überrascht und zurück in das Zimmer geschoben. Sie nahmen sich nicht die Zeit, das Licht aufzudrehen, wodurch ihre Sinne noch mehr gereizt wurden. Langsam glitten Dirks Hände unter das Shirt des Größeren und streichelten dessen Oberkörper. Während der Schwarzhaarige sanfte Küsse in Jans Nacken verteilte, schob er das Kleidungsstück sachte höher, um es ihm anschließend über den Kopf zu ziehen. Inzwischen machte sich Rodrigo, der den Blonden in einen aufregenden Zungenkuss verwickelt hatte, an dessen Hose zu schaffen, indem er sie ihm langsam auszog. Er ließ seine Hände über die langen Beine des Hünen gleiten. Immer wieder streiften sie wie zufällig über die empfindliche Innenseite der Oberschenkel und entlockten Jan ein wohliges Stöhnen. Dieser stand unter großer Anspannung, jede einzelne Berührung schickte einen angenehmen Schauer durch seinen erregten Körper. Dirk blieb währenddessen auch nicht untätig, sondern küsste jeden Zentimeter des vor ihm stehenden Körpers seines Freundes. Vorsichtig, aber dennoch bestimmt, drängten die beiden Schwarzhaarigen den Rettungsarzt zum nahe stehenden Bett. Ohne sich voneinander zu lösen ließen sie sich auf die Matratze nieder. Da Rodrigo nun einen Pfad über die Brust, den Bauch bis hin zu den Hüften des Blonden küsste, konnte Dirks Zunge dessen Mundhöhle erforschen. Jan stöhnte tief in den Kuss hinein, als der Chilene begann, ihm seine Boxershorts Stück für Stück auszuziehen. Der Größere, der auf dem Bett kniete, bettete seinen Kopf auf Dirks Schulter, der hinter ihm saß und sich weigerte, ihren Kuss auch nur für eine Sekunde zu lösen. Als der Chilene sein erregtes Glied in den Mund nahm und begann, daran zu saugen und es mit der Zunge zu umspielen, glaubte Jan zu ersticken, so sehr raubte ihm das Tun seiner Freunde den Atem. Er krallte sich in die Bettlaken, als der Ältere ihm vorsichtig einen Finger einführte und begann, ihn zu bewegen. Bald darauf kamen auch noch ein zweiter und ein dritter Finger hinzu, die den Rettungsarzt genauso quälend langsam wie Rodrigo verwöhnten. Es brachte den blonden Hünen um den Verstand, aber er wusste bereits, dass er diesem Tempo hilflos ausgeliefert war und die anderen zwei sich zu nichts drängen lassen würden. Als er schon dachte, er würde diesen Druck nicht mehr aushalten können, spürte Jan seinen Höhepunkt heranrauschen und als er endlich kam, wurde ihm tatsächlich kurz schwarz vor Augen. Behutsam legten die beiden Schwarzhaarigen ihren erschöpften Freund nieder und wickelten ihn in die weiche Bettdecke ein. Sie zogen sich bis auf die Unterwäsche aus und kuschelten sich jeweils links und rechts an Jan, der, unfähig, auch nur eine Minute länger wach zu bleiben, kraftlos, aber glücklich einschlief. Sie selbst hatten beschlossen, sich nur auf ihren Freund zu konzentrieren und ihre Bedürfnisse zu ignorieren, sozusagen als Strafe für die vielen Tage, die sie ihren Freund sehnsüchtig hatten warten lassen. Lächelnd entflohen auch sie bald darauf ins Land der Träume. Kapitel 8: Arbeit ohne Ende --------------------------- Schneller als gedacht kam auch schon das Wochenende, wo sich die drei das Konzert von ‚Hidalgo’ ansehen wollten. Noch immer hatten weder Dirk noch Rod eine Ahnung, wer für die wunderbaren Texte der Band verantwortlich war. Und noch immer gab Jan zu verstehen, dass er ihnen ihre Aktion noch nicht ganz verziehen hatte. Die beiden Schwarzhaarigen sollten sich ruhig noch etwas anstrengen! „Hey, ich hab gelesen, dass die ihre Songs gar nicht selber schreiben“, sagte Dirk, als die drei den großen Club betraten, wo ‚Hidalgo’ an diesem Abend auftreten würde. Die drei gingen erst einmal an die Bar und holten sich etwas zu trinken. „Stimmt, das hab ich auch schon mal gehört…aber wer macht das heutzutage nicht“, erwiderte Rod. Die beiden bemerkten gar nicht, dass sich Jan voll und ganz aus dem Gespräch raus hielt. „Oh, und wisst ihr, was ich noch raus gefunden habe?“, fragte der Älteste mit leuchtenden Augen. Man konnte ihm ansehen, dass er eine interessante Information preisgeben wollte. „Nein, was denn?“, tat Jan ihm den Gefallen. „Der Songtexter nennt sich…Farin Urlaub“, erklärte Dirk lachend. „Wie?“, hakte Rod ungläubig nach. Was war denn das für ein bescheuerter Name? In diesem Moment war der blonde Hüne froh, dass er unter einem Künstlernamen im Musikbusiness tätig war, wenn man so etwas so leicht herausfinden konnte. Wo bliebe ihm denn da der Spaß, wenn seine beiden Freunde schon wussten, wer diese Texte geschrieben hatte. „Farin Urlaub…wie Fahr in Urlaub, schätz ich mal“, erwiderte der Kleinere. „Wie kommt man denn auf so ’nen Namen?“, überlegte Rod grinsend. „Ich schätze mal, der Typ fährt gern in Urlaub?“, mischte sich nun Jan ein. Zwar wusste er, dass sein Synonym nicht gerade geschaffen für einen Rockstar war, aber erstens war er ja keiner und zweitens fand er ihn damals toll. „Da könnte was dran sein“, pflichtete Dirk ihm Schulter klopfend bei. „Ah, ich glaube, es geht los“, meinte Rod, als die fünf Mitglieder die Bühne betraten, wodurch großer Jubel im Publikum aufkam. Kaum hatten die drei Freunde ihre volle Aufmerksamkeit auf die Band gerichtet, begann diese auch schon, das erste Lied zu spielen. Jan bemerkte erstaunt, dass sich die Musiker auch an seine musikalischen Vorgaben hielten, die er eigentlich nur eingespielt hatte, damit die Jungs sich vorstellen konnten, was er meinte. Er hatte stets gedacht, dass sie nur den Text übernehmen und eine andere Musik dazu spielen würden. Schweigend betrachtete er das Publikum, das bei den Songs auszuflippen schien. Nie hatte Jan es für möglich gehalten, dass es Menschen gäbe, die seine Kompositionen gut fanden und so abfeierten, wie es die Besucher dieses Konzerts gerade taten. Lachend beobachtete der Rettungsarzt seine beiden Freunde, die sich ausgelassen zu der Rockmusik bewegten. „Guten Abend! Wir sind ‚Hidalgo’, geht’s euch gut?“, begrüßte Frontmann Aaron das Publikum fröhlich, woraufhin dieses mit einem lauten, einstimmigen „Ja“ antwortete. „Das ist super, denn uns geht’s auch gut“, fuhr der Sänger fort und stimmte das nächste Stück an. Als die Band das erste Mal von der Bühne ging – jeder, der schon einmal ein Konzert besucht hatte, wusste, dass eine Band niemals nur einmal von der Bühne ging – genehmigten sich Dirk und Rod erschöpft, aber sichtlich gut gelaunt, ein weiteres Bier. „Mann, die sind klasse“, rief der Älteste seinen beiden Freunden begeistert zu, worauf diese ihm nur beipflichten konnten. „Die Jungs gefallen mir richtig gut“, meldete sich nun auch der Chilene zu Wort. „Habt ihr gesehen, wie das Publikum ausflippt?“, steuerte Jan bei, dem es noch immer eine Gänsehaut bescherte, wenn er daran dachte, dass die Konzertbesucher unter anderem – oder sogar nur? – wegen seiner Songs so mitgingen. Durch die vielen „Zugabe“-Rufe zurückgelockt, kamen die Musiker ein weiteres Mal auf die Bretter, die die Welt bedeuteten. „Na, wollt ihr mehr?“, fragte der Gitarrist Timo belustigt. „Hey, wisst ihr, wen ich vorhin hier im Publikum entdeckt habe?“, meldete sich nun Aaron zu Wort. „Nein, wen denn?“, fragte der Gitarrist. „Ich habe doch vorhin tatsächlich den Mann gesehen, der für diese wunderbaren Songs verantwortlich ist – Farin Urlaub“, erklärte der Frontmann begeistert und suchte von seiner Position auf der Bühne die Konzertbesucher nach besagtem Mann ab. Erschrocken bückte sich Jan und tat so, als müsse er sich die Schnürsenkel binden, während er hoffte, dass er nicht entdeckt wurde. „Tja, leider kann ich ihn grad nicht finden, sonst hätte ich ihn gerne auf die Bühne gebeten“, meinte Aaron enttäuscht und widmete ihm dafür den nächsten Song. Erleichtert richtete sich der Rettungsarzt wieder auf und wähnte sich in Sicherheit. Niemals würde er sich freiwillig auf eine Bühne begeben! Nach der zweiten Zugabe war das Konzert endgültig zu Ende und während Jan sich anschickte, sich noch etwas zu Trinken zu genehmigen, gingen Dirk und Rod zum Merchandise-Stand, um ein Album der Band zu erwerben. Nachdem die drei hatten, was sie wollten, verließen sie den Club und gingen zu Jans Auto, um nach Hause zu fahren. Sie mussten dabei um das Gebäude herum gehen, da sie nur noch etwas abgelegen einen Parkplatz hatten finden können. „Herr Vetter“, hörten sie auf einmal die leicht heisere Stimme Aarons hinter sich. Jan kniff die Augen zusammen, zog scharf die Luft ein und hoffte innig, dass das alles nur eine Einbildung war, doch zu spät. Der Frontmann hatte sie schon eingeholt und begrüßte den blonden Hünen und seine Freunde fröhlich. „So eine Ehre, dass Sie sich mal ein Konzert von uns ansehen. Warum haben Sie denn nicht gesagt, dass Sie kommen, Sie hätten einen Backstage-Pass haben können?“, fragte der Sänger dann. „Ähm…woher kennt ihr euch denn?“, meldete sich nun ein verwirrter Dirk zu Wort. „Ich hab die Jungs mal aus ihrem Tourbus bergen müssen, weil sie einen Unfall hatten“, antwortete Jan schnell und hoffte, dass Aaron nichts hinzufügen würde, doch vergebens. „Und darüber hinaus ist er noch unser Texter“, sagte der Musiker auch schon grinsend, woraufhin die beiden Schwarzhaarigen ungläubig zu ihrem Freund blickten, der einen Seufzer ausstieß. „Aaron, kommst du?“, hörten sie eine weibliche Stimme hinter sich. „Tja, ich würd mich echt gerne noch weiter mit Ihnen unterhalten, aber ich muss los“, verabschiedete sich der Sänger fröhlich und lief zu der Blondine, die schon ungeduldig auf ihn wartete. Während die drei sich auf den Weg zu ihrem Auto machten, wussten die beiden Schwarzhaarigen zuerst nicht, wie sie diese Information, die sie gerade erhalten hatten, verarbeiten sollten. Klar hatten sie gewusst, dass ihr Freund Songtexte schrieb, aber sie hatten sich gedacht, dass die für irgendeine kleine Band waren und nicht für solche, von Kritikern hoch gelobten, Rockmusiker, die auf dem besten Weg waren, reich und berühmt zu werden. „Farin Urlaub also?“, begann Dirk nach einer Weile, in der er immer wieder ungläubig zu dem Rettungsarzt geblickt hatte. „Jip“, antwortete dieser knapp. „Eins musst du mir aber verraten“, bat Rod, woraufhin die anderen beiden ihn erwartungsvoll ansahen. „Wie kommt man bloß auf so einen bescheuerten Namen“, grinste er und auch die zwei Älteren konnten sich ein Lachen nicht verkneifen. Bei Jan zu Hause angekommen beschlossen sie, den Abend gemütlich ausklingen zu lassen. Der Gastgeber holte für sich ein Glas Wasser und für seine beiden Freunde jeweils ein Bier, welches er extra für sie gekauft hatte, aus der Küche und ging dann zurück ins Wohnzimmer, wo sich die anderen schon auf das beige Sofa gesetzt hatten. „Hier, bitteschön“, überreichte Jan ihnen ihre Getränke und ließ sich dann neben Dirk auf die Couch nieder. „Danke“, erwiderten beide und nahm erleichtert einen tiefen Schluck aus den bereits geöffneten Bierflaschen. „Sagt mal…gibt es sonst noch etwas, was wir voneinander wissen sollten? Irgendwelche Hobbys, von denen der andere nichts weiß?“, versuchte der Ältere nach einer Weile seine Gedanken in Worte zu formulieren. Er schien es nicht ganz geschafft zu haben, denn er erntete bloß verwirrte Blicke. „Na ja…also, da jetz die Sache mit dir, Jan, rausgekommen ist, frag ich mich, ob es sonst noch etwas gibt, was wir nicht voneinander wissen? Also, ich hab zum Beispiel früher neben dem Studium geschauspielert…“, erklärte Dirk. „Echt?“, stießen Jan und Rodrigo gleichzeitig aus und drehten sich noch etwas mehr ihrem Freund, der in der Mitte saß, zu. „Was denn zum Beispiel?“, forderte der Rettungsarzt den Schwarzhaarigen auf, mehr zu erzählen. „Ach, nur so ein paar Independent-Produktionen von Studienkollegen…“, winkte der Ältere ab. „Und was waren das für Filme?“, fragte nun der Chilene. „Meistens Horrorfilme…so mit Zombies oder Vampiren oder so…“, antwortete Dirk. „Kann man sich die irgendwo ansehen?“, hakte der Chirurg interessiert nach. „Glaub ich nicht…“, winkte der Angesprochene bedauernd ab. Seine beiden Freunde dachten sich aber, dass dieser einfach nur nicht wollte, dass sie seine schauspielerischen Fähigkeiten begutachten konnten, weshalb sie in stiller Übereinkunft beschlossen, die ganze Sache einfach mal zu googeln. „Und Rod, gibt’s bei dir noch irgendein verborgenes Geheimnis, dass du uns anvertrauen willst?“, lenkte der Chef der Notaufnahme dann die Aufmerksamkeit von sich. Jener schüttelte aber bloß den Kopf. Während seines Studiums hatte er sich kaum Zeit für Anderwärtiges außer Lernen genommen und als Chirurg hatte er viel zu viel zu tun, um sich noch auf andere Hobbys zu konzentrieren. Er wunderte sich sowieso, woher Jan zum Beispiel die Zeit nahm, um Songs zu schreiben, wo er doch ständig auf Achse zu sein schien. „Jan, hast du noch etwas zu sagen?“, wandten sich die beiden dann an den blonden Hünen. Dieser überlegte etwas. Ja, eigentlich gab es da noch etwas, von dem er meinte, dass seine beiden Freunde es wissen sollten, aber er konnte einfach nicht darüber reden. Zu sehr schmerzten die Erinnerungen. Er schüttelte leicht den Kopf und trank von seinem Wasser. „Nicht, dass ich wüsste“, setzte er noch hinzu. Bald darauf merkten die drei, dass sie langsam müde wurden und beschlossen, ins Bett zu gehen. Während sich die zwei Schwarzhaarigen etwas für die Nacht zum Anziehen aus Jans Kleiderkasten suchten, verschwand jener schon im Bad und stellte sich unter die Dusche. Während das angenehm warme Wasser auf seinen Körper prasselte, schloss er die Augen und dachte an jenen Abend zurück, der vieles an seiner Einstellung gegenüber der Welt verändert hatte. Leicht benommen schüttelte er den Kopf, um diese Bilder wieder in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses zu verbannen, drehte den Wasserhahn ab und stieg aus der Dusche. Die Kälte, die nun auf seine nasse Haut traf, bescherte ihm eine Gänsehaut, weshalb er sich sein Handtuch schnappte und sich schnell abtrocknete. Immer noch im Gedanken mehr woanders, als im Hier und Jetzt, zog er sich seine Schlafsachen an, putzte sich die Zähne und trat anschließend aus dem Badezimmer. Erst als Dirk mit einem frechen „Ich bin trotzdem dran“ an ihm vorbei wuselte, war der blonde Hüne sich sicher, wieder voll und ganz in der Gegenwart zu sein. Verwirrt betrat Jan sein Schlafzimmer und entdeckte Rodrigo leicht beleidigt und mit verschränkten Armen auf dem Bett sitzend. „Was ist denn hier los?“, bat der Rettungsarzt um Aufklärung. „Eigentlich haben Dirk und ich abgemacht, dass ich jetz dran bin mit Duschen“, erklärte der Chilene. „Och, mein armer Rodrigo“, bemitleidete Jan seinen Freund, setzte sich neben ihn und schmiegte sich versöhnlich an ihn. „Ja, das ist echt nicht fair“, erwiderte der Jüngere trotzig, ließ sich aber sofort mit einem liebevollen Kuss besänftigen. „Der liebe Dirk weiß doch gar nicht, was er sich damit eingebrockt hat“, sprach Jan leise und verwickelte den Chirurgen in einen lang anhaltenden Zungenkuss, der erst unterbrochen wurde, als sie hörten, dass Dirk fertig war. „So und jetz hopp unter die Dusche, du müffelst“, forderte der blonde Hüne auf und wich dem zu erwartenden Klaps lachend aus. Leider vergingen die freien Tage für ihren Geschmack viel zu schnell und ehe sie sich’s versahen, war es Montag und sie mussten wieder zur Arbeit. „Ich hab absolut keinen Bock“, seufzte Jan, schloss seinen Spind ab und warf Tom, der auf der schmalen Bank saß und sich seine Schuhe band, einen Blick zu, der sein totales Desinteresse widerspiegelte. „Wow, dass ich so was auch noch einmal erleben darf. Der große Lebensretter Jan Vetter hat keine Lust“, erwiderte der Pilot grinsend, womit er einen sanften Boxer gegen die Schulter kassierte. Noch einmal seufzend schnappte sich der Arzt seine Uniformjacke und ging schon einmal vor in den Gemeinschaftsraum, wo er sich aufs Sofa schmiss und begann, die Zeitung zu lesen. Kurz später kam auch Tom ins Zimmer und setzte sich neben den blonden Hünen. „Und…was hast du so gemacht, am Wochenende“, wollte der Pilot nach einer Weile wissen. „Kannst du dich noch an die nervigen Musiker erinnern, die wir mal geborgen haben?“, begann Jan. Sein Kollege überlegte angestrengt und nickte dann. „Hab mir ein Konzert von denen angeschaut. Sind gar nicht mal so schlecht“, erklärte der Arzt dann. „Und was hast du gemacht?“, fragte er dann Tom. „Melanies Mutter hatte ihren Siebzigsten und da gab’s natürlich eine große Familienfeier“, erzählte dieser. Bevor Jan noch etwas erwidern konnte, hörten sie den Rotor des Hubschraubers. Team B war im Begriff, vom letzten Einsatz ihrer Schicht zurückzukehren. Nachdem Rodrigo sich die dunkelblauen Scrubs angezogen hatte, studierte er, wie zu jedem Schichtbeginn das Chirurgie-Board. Bis auf drei Zeilen war es voll beschrieben, was bedeutete, dass es ein arbeitsreicher Tag für die Chirurgen werden würde. Gut gelaunt ging er zum Kaffeestand und kaufte sich einen Kaffee, der ihm hoffentlich helfen würde, den Schlaf aus seinen Gliedern zu verbannen. „Doktor González?“, machte die junge Röntgentechnikerin den Chilenen auf sich aufmerksam. „Frau Martin, was kann ich für Sie tun?“, erwiderte dieser freundlich. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich vielleicht mal diese Bilder ansehen könnten?“, bat die Frau schüchtern und reichte dem Chirurgen das große Kuvert, in dem sich Röntgenbilder befanden. „Klar, ähm…klar kann ich das“, antwortete der Schwarzhaarige etwas überfordert und nahm das Kuvert an sich. Er wollte gerade in den Raum gehen, in dem sie sich die Röntgenbilder ansahen, als er von Frau Martin mit einer weiteren Frage aufgehalten wurde: „Ähm…kann ich vielleicht mitkommen?“ Rodrigo hatte dagegen nichts einzuwenden und so folgte die Röntgentechnikerin schüchtern dem Arzt. Dirk, der an diesem Tag Nachtschicht hatte, lag einstweilen noch im Bett und holte den Schlaf nach, den er an diesem Wochenende versäumt hatte. Er träumte von Rodrigo-Zombies und Jan-Vampiren, die es scheinbar auf ihn abgesehen hatten. Bevor sie ihn aber schnappen konnten, verwandelten sie sich zurück in ihre menschlichen Gestalten und verführten ihn nach allen Regeln der Kunst. Mittlerweile hatte der Chirurg die Röntgenbilder vor der speziell dafür konstruierten Lampe angebracht und betrachtete sie nun eingehend. Sie zeigten einen Tumor, der sich an der Wirbelsäule befand. „Hm…der Tumor hat eine sehr heikle Lage und ist außerdem noch ziemlich groß. Ihn zu operieren würde sehr schwierig sein, wenn nicht gar unmöglich“, gab er dann seine Überlegungen kund. „Darf ich wissen, warum Sie so interessiert an dem Fall sind?“, fragte er dann die Braunhaarige. Diese atmete noch einmal tief durch und sah ihn kurz in die Augen, ehe sie zu sprechen begann: „Um ehrlich zu sein…das sind meine Bilder. Ich war schon bei sechs verschiedenen Chirurgen, aber alle haben gesagt, sie können nicht operieren. Ich hab schon so viel von Ihnen gehört, Doktor González, und wenn einer es schafft, den Tumor zu entfernen, dann sind Sie das.“ Der Chilene sah die höchstens dreißig Jahre alte Frau geschockt an. Wenn er das Gewebe nicht entfernen konnte, dann würde es sie innerhalb weniger Wochen bewegungsunfähig machen! „Ich…es tut mir Leid, Frau Martin, aber ich werde Sie nicht operieren können. Der Tumor ist zu groß und die Lage zu schwierig, als dass ich Ihnen noch würde helfen können“, entschuldigte sich Rodrigo. „Herr Doktor, ich bitte Sie“, flehte die Röntgentechnikerin ihn an. Sie brachte den Chirurgen zumindest dazu, es sich noch einmal zu überlegen. Team A der Helikopterstaffel wurde zu einem Einsatz gerufen. Jemand war in einem Naturschutzgebiet in einem Wald über eine Böschung abgestürzt und seitdem unauffindbar. „Wer geht denn bei dieser Kälte wandern?“, schimpfte Karo, die den kühlen Temperaturen, die der November mit sich brachte, nichts abgewinnen konnte. „Solche Leute soll’s geben“, erwiderte Tom belustigt und warf Jan, der, wie immer, neben ihm im Cockpit saß, einen langen Blick zu. Er wusste, dass der Arzt lange Spaziergänge durch den Wald liebte, da konnten ihn weder Wind, noch Kälte, noch Regen, noch Schnee davon abhalten. „Die spinnen doch“, schnaubte die Sanitäterin noch einmal. „Nanana, jetz werd mal nicht so zickig“, versuchte Jan sie zu besänftigen. „Ist doch wahr. Es hat die letzten Tage nur geregnet, da ist es doch mehr als wahrscheinlich, auf dem feuchten Laub auszurutschen“, verteidigte sich die zierliche Frau und betrachtete durchs Fenster die Landschaft, die rasch unter ihnen vorüber zog. „Sei froh, dann haben wir wenigstens etwas zu tun“, meinte Tom. „Ich glaub, da vorn ist es“, brachte sie der Rettungsarzt wieder zurück zum eigentlichen Thema und deutete auf eine freie Wiesenfläche, auf der schon mehrere Einsatzwägen von Rettung, Feuerwehr und Polizei standen. Währenddessen saß Rodrigo noch immer in dem Raum vor den Röntgenbildern und grübelte, wie er der jungen Frau denn helfen könnte. Da kam Nina, die Herz-Thorax-Chirurgin durch die Tür. „Hab gehört, es gibt einen interessanten Fall?“, begrüßte sie ihren Kollegen. Ihr Blick fiel auf die Röntgenbilder, die ihr einen anerkennenden Pfiff entlockten. „Wow, das ist hart! Die arme Frau“, beurteilte sie dann das Gesehene. Wenig später befanden sich nun alle chirurgischen Oberärzte bei Rodrigo und überlegten, wie sie den Tumor denn behandeln könnten. Auch ein paar Assistenzärzte hatten sich eingefunden und versuchten nun, durch brauchbare Vorschläge zu brillieren. Erst das Erscheinen des chirurgischen Chefarztes Dr. Ron Wieser ließ die aufgeregte Truppe verstummen. Er machte den anderen klar, dass es für sie bei diesem Fall nichts mehr zu tun gab. Enttäuscht zogen sich die meisten wieder zurück und verließen den Raum. „Damit das klar ist, Rodrigo. Sie werden die Patientin nicht operieren“, schärfte Dr. Wieser dem Neurochirurgen ein, bevor auch er durch die Tür verschwand. „Also, eins ist klar! Wenn Sie es schaffen würden, den Tumor zu entfernen, dann wäre das der Höhepunkt Ihrer Karriere“, erklärte Dr. Marina Stein, eine Assistenzärztin. Geistesabwesend nickte der Chilene, ehe er entschlossen aufstand, die Bilder an sich nahm und den Raum verließ. Er wusste, was er zu tun hatte. „Okay, was gibt’s?“, wandte sich Jan an den Einsatzleiter, der, nachdem sie gelandet waren, auf sie zugekommen war. „Der Vermisste heißt Maximilian Süßer und ist siebenunddreißig Jahre alt. Vor circa zwanzig Minuten hat uns seine Frau angerufen und gesagt, er sei beim Spazieren im Wald verunglückt“, erklärte der stämmige Mann mit unerwartet heller Stimme. „Und wo ist sie?“, fragte der blonde Hüne und sah sich suchend um. „Sie ist zu Hause“, erwiderte der Polizist. Auf Jans verwirrten Blick hin fügte er noch hinzu: „Sie hat mit ihm übers Handy telefoniert, als sie ihn aufschreien und einen dumpfen Schlag folgend hörte. Wir gehen davon aus, dass er auf dem feuchten Laub ausgerutscht und eine Böschung hinuntergefallen ist.“ „Okay…haben wir irgendeinen Anhaltspunkt, wo er sein könnte?“, wollte der Rettungsarzt wissen. „Leider nein“, bedauerte der Mann. „Gut…am besten, wir teilen uns in Zweiergruppen auf. Jeder hat ein Walkie Talkie, sodass wir miteinander verbunden sind. Tom kann versuchen, ihn aus der Luft aus aufzuspüren, aber so dicht, wie der Wald ist, wird er wahrscheinlich kaum Erfolg haben“, schlug Jan vor, womit der Einsatzleiter sofort einverstanden war. Gemeinsam gingen die beiden Männer zu der Gruppe an Einsatzkräften, die darauf warteten, eingeteilt zu werden. „Okay Leute“, begann der Polizist und breitete einen Plan des Waldes auf der Motorhaube seines Autos auf. „Wir gehen jeweils zu zweit vor. Jeder Gruppe wird ein Abschnitt zugeteilt, den sie bitte genau durchsuchen soll. Wir gehen davon aus, dass der Verletzte bewusstlos ist, daher wird jede Gruppe mit einem Walkie Talkie und einem Erste Hilfe Koffer ausgestattet. Wenn jemand den Vermissten gefunden hat, meldet dieser es bitte sofort und mit Angabe des Aufenthaltsortes, verstanden?“, klärte er die Truppe auf, die daraufhin eifrig nickte. Schnell waren die Gruppen gebildet, ausgestattet und eingeteilt und die Suchaktion konnte losgehen. Langsam, aber doch wachte Dirk auf. Müde schlüpfte er aus der wohlig warmen Bettdecke und schlurfte ins Bad, wo er sich mit einer kalten Dusche aufzuwecken versuchte. Es schien zu funktionieren, denn als er aus der Duschkabine stieg, fühlte er sich schon sehr viel frischer und gut gelaunter. Er schnappte sich die Kleidung, die er auf dem Badewannenrand abgelegt hatte und schlüpfte hinein, ehe er aus dem Badezimmer trat. Gemütlich ging er in die Küche und bereitete sich sein Frühstück vor. Während der Kaffee zubereitet wurde, lief er zur Wohnungstür, öffnete sie und nahm sich die Zeitung, die wie jeden Tag auf der Matte auf ihn wartete. Zurück in der Küche nahm er die Kaffeekanne mit dem mittlerweile fertig gebrauten Heißgetränk und ging mit ihr zum Tisch, wo er sich mit dem ausgiebigen Frühstück stärkte und nebenbei die neuesten Nachrichten las. Mittlerweile hatte Rodrigo genug Ärzte und Schwestern für seine Top Secret Aktion zusammengetrommelt, denn er wollte Frau Martin hinter dem Rücken seines Chefs trotzdem operieren. So wurde die Patientin bald unbemerkt in einen OP-Saal gebracht, auf dessen Tür darauf hingewiesen wurde, dass er zurzeit gereinigt wurde und deshalb nicht betreten werden durfte. „Okay, sind wir soweit?“, fragte der Neurochirurg in die Runde, als er an den OP-Tisch trat, auf dem die Frau bäuchlings lag und bereits unter Narkose schlief. Er blickte in die Runde und sah in die Gesichter seiner Kollegen. Ihre Augen drückten Zuversicht aus, aber auch Angst und der Chilene wusste, woher diese kam. Schon der klitzekleinste Fehler – und sei es nur ein Schnitt, der einen Millimeter zu weit rechts oder links angesetzt wurde – konnte bedeuten, dass die junge, ehrgeizige Frau vom Hals abwärts gelähmt war. Er atmete noch einmal tief durch, ehe er das Skalpell verlangte und den ersten Schnitt ansetzte. Jan und Karo irrten währenddessen durch den Wald und versuchten, Herrn Süßer zu finden. Über sich hörten sie den Rotor des Hubschraubers, aber sie konnten sich kaum vorstellen, dass Tom zwischen den vielen Nadelbäumen etwas entdecken konnte. Es wurde langsam dunkel, wodurch die zwei ihre Taschenlampen benutzen mussten, um noch etwas erkennen zu können. Auch fing es mittlerweile wieder zu regnen an, aber durch die Bäume drangen wenigstens nur vereinzelt ein paar Tropfen zu ihnen vor. „Ah, verdammt“, hörte Jan seine Kollegin hinter sich fluchen. Schnell drehte er sich um und leuchtete zu ihr, wodurch er sehen konnte, dass Karoline über eine Wurzel gestolpert und im Matsch gelandet war. Er eilte zu ihr und half ihr wieder auf die Beine. „Alles okay?“, fragte er besorgt und reichte ihr ein paar Taschentücher, damit sie sich den Dreck notdürftig abwischen konnte. „Ja klar, danke“, erwiderte sie und lächelte beschämt. „Kann ja mal passieren“, versuchte Jan sie zu beruhigen. „Jan, ich glaub, ich hab da was“, funkte Tom den beiden zu. „Wo bist du?“, fragte Jan nach. „Etwa hundert Meter südöstlich von euch“, erklärte der Pilot. „Gut, wir kommen“, sendete der blonde Hüne zurück und ging gemeinsam mit Karo in die Richtung, in der sie ihr Kollege gelotst hatte. Leider schien ihr Weg kurz darauf zu enden, denn sie kamen zu einem kleinen Fluss, der aufgrund des immer stärker werdenden Regens beachtlich viel Wasser führte und bestimmt auch eine starke Strömung hatte. „Fuck, was machen wir jetzt?“, fragte Karoline verzweifelt. Sie konnten den Hubschrauber bereits etwa sechzig Meter vor ihnen in der Luft schweben sehen. „Wir gehen weiter“, erwiderte Jan schlicht. „Aber wo, da ist doch nur der Fluss“, verstand die Sanitäterin nicht, worauf der Blonde hinaus wollte. „Eben! Dann müssen wir durch den Fluss. Was anderes bleibt uns nicht übrig“, meinte der Ältere und setzte schon den ersten Fuß ins Wasser. „Du spinnst doch“, rief Karoline entsetzt und beobachtete ihren Kollegen, wie er Schritt für Schritt durchs Wasser watete, ehe sie ihm widerwillig folgte. „Scheiße ist das kalt“, rief sie, nachdem sie vorsichtig in das kalte Nass gestiegen war. Schnell hatte sie Jan eingeholt, der nach ungefähr einem Drittel des Weges auf sie wartete. „Gib mir die Hand, so ist’s sicherer bei der Strömung“, erklärte er und reichte ihr seine Hand, die sie sofort ergriff, da sie eben noch beinahe ausgerutscht wäre. Immer wieder mussten sie ihre Schritte mehrere Male setzen, bis sie genug Halt gefunden hatten, aber dann hatten sie es geschafft und waren am anderen Ufer angekommen. „Wann genau hab ich Ihnen erlaubt, den Eingriff durchzuführen“, schnaubte Dr. Wieser wütend, als er den OP-Saal betrat. Die verschiedenen Ärzte und Krankenschwestern sahen sich verstohlen an und hofften, keine oder nur geringe Konsequenzen tragen zu müssen. „Ich hab alles unter Kontrolle, Ron“, versuchte Rodrigo seinen Chef zu beruhigen. Er fragte sich, wie dieser von seiner Aktion Wind bekommen hatte. „Brechen Sie die Operation ab. Sofort“, verlangte der Grauhaarige. Der Neurochirurg weigerte sich und nach einer hitzigen Diskussion hatte er den chirurgischen Chefarzt dazu überreden können, weiteroperieren zu dürfen. Dr. Wieser verließ den Saal wieder, verlangte aber von dem Chilenen, nach Beenden der Operation unverzüglich in seinem Büro zu erscheinen. „Puh, das war knapp“, seufzte Rodrigo, ließ sich von der Krankenschwester die Instrumente wiedergeben und fuhr damit fort, den Tumor Stück für Stück zu entfernen. Inzwischen waren die zwei Kollegen der Helikopterstaffel bei dem Ort angekommen, zu dem Tom sie gelotst hatte und tatsächlich lag da ein Mann, der allem Anschein nach der vermisste Maximilian Süßer war. „Okay, wir haben ihn“, funkte Jan dem Rest des Suchtrupps zu und begann anschließend, den Verletzten mit Karos Hilfe zu untersuchen. „Und, wie sieht’s aus?“, drang nach einer Weile Tom’s Stimme durch ihre Kopfhörer. „Er hat eine Verletzung am Kopf, wodurch er wahrscheinlich das Bewusstsein verloren hat, ansonsten scheint er etwas unterkühlt zu sein. Am besten, du ziehst uns rauf und wir übergeben ihn dann auf der Lichtung den Rettungswägen. So dringend ist er nicht“, erklärte der Chef des Rettungsteams. „Ey, ey, Sir“, funkte der Pilot belustigt zurück und ließ das Seil herab, auf dem sie schon, in weiser Voraussicht, einen Rettungsgurt gehängt hatten. Karo legte dem Bewusstlosen den Gurt um und hakte ihn mit Jans Hilfe ans Seil und nachdem sich die zwei auch noch festgemacht hatten, wurden sie aus dem Wald gezogen und zur Lichtung zurückgebracht, wo sie den Verletzten den anderen Rettungsärzten übergaben. Zufrieden flogen die drei durch die Dunkelheit wieder zurück zu ihrem Stützpunkt. Sie mussten wenig später noch einmal ausrücken, da ein Fahrer auf der nassen Fahrbahn die Kontrolle über sein Auto verloren hatte, durch die Leitplanke und in einen Baum gerast war. Aber das brachten sie, im Gegensatz zu diesem Einsatz, schnell hinter sich. Als Dirk seine Schicht begann, stand er, wie immer, in seiner Dienstkleidung vor dem Notaufnahme-Board und ließ sich von Andreas, der an diesem Tag die Tagesschicht geleitet hatte, die einzelnen Fälle erklären, die derzeit noch behandelt wurden. „War viel los?“, fragte er, nachdem der „Vortrag“ zu Ende war. „Naja, zwei Autounfälle, eine Schlägerei, ein Sportunfall, eine Lebensmittelvergiftung…das Übliche eben“, erwiderte der Braunhaarige und gähnte. „Ich geh dann mal, ciao“, verabschiedete er sich dann von Dirk und verschwand in Richtung Ärztezimmer. „Na, was gibt’s?“, wandte sich der Schwarzhaarige dann an Simone, einer jungen Assistenzärztin, die gerade damit beschäftigt war, eine Patientin zu untersuchen. „Frau Pfanner, fünfunddreißig. Hat sich bei einer Yogaübung die Schulter ausgerenkt“, erklärte ihm die Brillenträgerin. „Guten Abend, Frau Pfanner“, begrüßte Dirk die Verletzte, ehe er sich an die Assistenzärztin wandte: „Am besten, du hältst sie von hinten fest, dann kann ich die Schulter wieder einrenken.“ „Ja, Doktor Felsenheimer“, erwiderte die junge Frau eifrig und tat, wie ihr befohlen. „Sooo, Frau Pfanner! Das wird jetzt etwas wehtun“, erklärte der Schwarzhaarige der Patientin, nahm ihren Arm mit beiden Händen und brachte mit einem kräftigen Ruck das Gelenk wieder in die richtige Position, was die Verletzte vor Schmerzen aufschreien ließ. „Gib ihr was gegen die Schmerzen, fixier den Arm und dann kannst du sie wieder entlassen“, erklärte Dirk Simone den weiteren Behandlungslauf und ging, nachdem er sich von der Patientin verabschiedet hatte. Rodrigo stand mittlerweile schon fünfzehn Stunden im OP und hatte in etwa die Hälfte des Tumors entfernen können. Seine Beine schmerzten und sein Magen knurrte, doch das alles nahm er gar nicht wahr. Das einzige, worauf er sich konzentrierte, war die Operation. „Doktor González, Sie sollten wirklich einmal etwas trinken“, bat Franziska, eine der Assistenzärzte, zum wiederholten Male. Sie war von ihm im Vorfeld damit beauftragt worden, auf sein Wohlergehen zu achten, damit er sich voll und ganz auf den Eingriff konzentrieren konnte. „Brauch ich nicht“, knurrte der Neurochirurg und versuchte, eine kleine Blutung zu stoppen. Nachdem er das geschafft hatte, merkte Rodrigo, wie ihm schlecht wurde. Er stürzte sofort aus dem Saal, riss sich den Mundschutz ab und übergab sich auch schon in das nächste Waschbecken. Er wollte gerade wieder zurück in den OP gehen, als Franziska mit einem Becher auf ihn zu kam und ihm diesen mit den Worten „Sie sollten wirklich etwas trinken“ in die Hand drückte. Gehorsam tat er, was sie verlangte, und warf den leeren Plastikbecher anschließend in den Mistkübel. Im Saal ließ er sich von einer Krankenschwester einen frischen Kittel, Mundschutz und Handschuhe geben, ehe er die Operation fortführen konnte. Die Sonne kam bereits wieder hinter dem Horizont hervor und kündigte einen neuen Tag an, als Rodrigo nach zweiundzwanzig Stunden Operationszeit endlich damit beginnen konnte, die Wunde zu vernähen. Er beendete den Eingriff wie jede erfolgreiche Operation mit den Worten „Tja, sieht so aus, als hätten wir’s geschafft“ und ging in den Waschraum, wo er sich den Kittel und die Handschuhe, die Stirnlampe, seine Haube und den Mundschutz abnahm und sich die Hände schrubbte. Erst jetzt, wo alle Konzentration von ihm abfiel, merkte er, wie müde er eigentlich war. Er schnappte sich ein Handtuch, rubbelte seine Arme trocken und ging dann zum Büro seines Chefs, da er nicht vergessen hatte, dass dieser ihn sehen wollte. Er klopfte kurz an die Tür, ehe er eintrat und auf den Mann zuging, der hinter dem Schreibtisch auf dem Sessel saß. „Sie wollten mich sprechen, Chef?“, fragte Rodrigo, sichtlich erschöpft. „Sie sind gefeuert. Sie haben mit dieser Operation, die Sie ohne meines Wissens und ohne meiner Erlaubnis durchgeführt haben, eindeutig meine Autorität untergraben und das werde ich nicht dulden“, erwiderte Dr. Wieser kühl. „Gehen Sie nach Hause, Ron, und legen Sie sich schlafen! So wie Sie aussehen, haben Sie in den letzten Tagen kaum noch Schlaf abbekommen, also lassen Sie es nicht an mir aus, indem Sie mich unüberlegt feuern“, erwiderte der Chilene bloß und verließ das Büro. Ob da nun die Übermüdung oder sein Selbstvertrauen aus ihm heraus gesprochen hatte, wusste der Neurochirurg nicht, aber er wunderte sich doch sehr über seine Reaktion. Als Jan an diesem Morgen wie immer während des Frühstücks die Post vom vorigen Tag durchsah – wenn er Tagesschicht hatte, kam er nie dazu, sie noch am selben Tag zu lesen – entdeckte er einen Brief von der Kanzlei seines Anwaltes. Verwirrt, da er keinen Grund erahnen konnte, warum sein Rechtsbeistand mit ihm Kontakt aufnehmen wollte, nahm er sich ein Messer und öffnete das Kuvert. Er nahm einen Schluck von seinem Tee und faltete erwartungsvoll das Papier auseinander. Der Briefkopf zeigte nichts Ungewöhnliches. Wie immer befand sich oben in der Mitte das Logo der Kanzlei, links standen sein Name und seine Adresse, damit man die Anschrift durch das Kuvertfenster sehen konnte. Nur der, mit Computer geschriebene, Text ließ ihn entsetzt die Luft anhalten und das Schlimmste befürchten: Ich hoffe, du genießt dein Frühstück, du perverse Schwuchtel! Du hast mein Leben zerstört, jetzt werde ich dasselbe mit deinem machen. Versuch erst gar nicht, die Polizei oder deine beiden Schwuchtel-Freunde zu benachrichtigen! Ich beobachte dich, ich seh jeden Schritt, den du machst und du würdest es noch bereuen, wenn du etwas machst, was nicht meinen Forderungen entspricht. Ich warte nur noch auf den geeigneten Augenblick, an dem ich dir alles nehmen kann, was dir lieb ist. Dein schlimmster Albtraum Kapitel 9: Gedanken kreisen lassen ---------------------------------- Bis die nächste Drohung Jan erreichte, dauerte es gerade einmal drei Tage. Wie beim ersten Mal enddeckte er den Brief, scheinbar von seinem Anwalt, beim Frühstück. Mit zittrigen Händen, hoffend, dass Rodrigo und Dirk noch so tief schliefen, wie er sie vor einer guten Viertelstunde im Bett zurückgelassen hatte, stellte er seine Tasse Tee auf den Tisch und beäugte den Umschlag, der zwischen den Reklamen hervor lugte. Vorsichtig, überlegend, ob er erkennen würde, wenn es eine Briefbombe beinhalten würde, nahm er das Kuvert an sich, inspizierte es noch einmal von allen Seiten und riss es anschließend förmlich auf. Hastig faltete er den Brief auseinander und wieder verkündete das Gedruckte Schreckliches: Na du Schwuchtel? Ich gehe davon aus, dass du, wie immer, einen Tee und ein Marmeladenbrötchen zum Frühstück hast. Wahrscheinlich wartest du gerade darauf, dass deine beiden Toyboys Dirk und Rodrigo aufwachen und dir Gesellschaft leisten. Nicht mehr lange und das alles wird Vergangenheit sein! Dein schlimmster Albtraum Schnell versteckte Jan den Brief, da er hören konnte, dass mindestens einer seiner beiden Freunde gerade aufgestanden war. Wenig später stand auch schon ein verschlafener Rodrigo in der Tür zur Küche, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und begrüßte den Blonden mit einem „Morgen“. Er schlurfte an den Tisch, gab dem Älteren einen liebevollen Kuss und ließ sich dann auf den freien Sessel neben ihm nieder. „Ist was? Du guckst so, als hättest du einen Geist gesehen“, fragte der Chilene dann besorgt, als ihm Jans entsetzter Gesichtsausdruck aufgefallen war. Dieser bemühte sich daraufhin, seine Fassung wiederzuerlangen, was ihm aber nicht wirklich gelingen wollte. Er musste sich räuspern, bevor er wieder Herr seiner Stimme war. „Nein, alles in Ordnung“, erwiderte er, doch Rod merkte, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. „Jan, was ist los?“, hakte er noch einmal nach, nahm die Hand des Blonden in seine und zwang ihn, ihn anzusehen. „Es ist nichts, mach dir keine Sorgen“, antwortete der Rettungsarzt, während er dem Anderen lächelnd durch die Haare fuhr. Er zog ihn zu sich und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. „Hast du gut geschlafen?“, fragte Jan dann. Er selbst konnte nicht wirklich schlafen, seit er die erste Drohung erhalten hatte. Rodrigo nickte und meinte schmunzelnd: „Also entweder, ich besorg mir auch so ein Bett wie deins, oder ich zieh bei dir ein…wobei ich stark zu Zweiteres tendier!“ „Ich hätte nichts dagegen“, flüsterte der Blonde lächelnd und küsste seinen Freund erneut. Wenig später vernahmen sie ein leises Stöhnen und bald darauffolgende Schritte, die sich der Küche näherten. „Na auch wieder unter den Lebenden?“, begrüßte Rodrigo Dirk kichernd, als dieser bei ihnen war. „Euch auch einen guten Morgen“, erwiderte dieser sarkastisch, gab jedem einen Kuss und setzte sich dann auf den Sessel auf der ihnen gegenüberliegenden Seite. Während sie ihr Frühstück einnahmen, bekamen die zwei Schwarzhaarigen zwar mit, dass Jan mit den Gedanken ganz wo anders war, aber sie waren sich sicher, dass er schon zu ihnen kommen würde, wenn er ihre Hilfe brauchte. Der Rettungsarzt überlegte die ganze Zeit, wer zu so etwas fähig sein könnte. Dass es sein Anwalt nicht sein konnte, wusste er, denn die Kanzlei hatte seit Kurzem einen neuen Partner, wodurch der Briefkopf geändert worden war. Der Stalker verwendete aber noch den alten, was bedeutete, dass derjenige zwar seine Post kannte, aber nicht bei der Kanzlei angestellt war. Nachdem die drei das Frühstück beendet hatten, räumte Jan den Tisch ab, während die anderen beiden sich fertig machten, um zur Arbeit zu gehen. Rodrigos Chef hatte ihn am Tag davor angerufen und ihm gesagt, dass er weiterhin im Krankenhaus arbeiten könne, solange er sich nicht noch einmal eine Aktion wie diese lieferte. Grund dafür war neben den Fähigkeiten des Chilenen natürlich auch die gute Publicity gewesen, die der Neurochirurg durch sein kleines Wunder dem Krankenhaus beschert hatte. Bald darauf verabschiedeten sich die zwei Schwarzhaarigen von ihrem Freund, der nach vielen Tagen des Nachtdienstes frei hatte. Um sich abzulenken beschloss Jan, einkaufen zu gehen. Schnell schlüpfte er in seine dunkelblaue Jeans und das schwarze langärmelige Shirt, ehe er sich noch seine schwarzen sportlichen Schuhe und die dunkelblauen Jacke anzog, aus dem Haus trat und, nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, zu seinem Auto ging. Während der paar Schritte, die er zurücklegen musste, versuchte er, so unauffällig wie möglich, die Umgebung abzusuchen, aber er entdeckte nichts Ungewöhnliches. Etwas beruhigter stieg er in seinen Wagen ein, startete den Motor und fuhr dann in die Stadt. Auf dem Weg zum Supermarkt lag auch die Polizeistation und als Jan daran vorbeikam, lenkte er das Auto spontan auf einen Parkplatz auf der gegenüberliegenden Seite und stellte den Motor ab. Lange starrte er das Gebäude an, während er nervös auf das Lenkrad eintrommelte. Er wusste, dass der Stalker es ihm verboten hatte, zur Polizei zu gehen, aber er wollte, dass der Irre geschnappt wurde, bevor noch etwas passieren konnte. „Du würdest es noch bereuen, wenn du etwas machst, was nicht meinen Forderungen entspricht.“ Dieser Satz aus der ersten Drohung drängte sich immer mehr in den Vordergrund und brachte den Hünen schließlich dazu, das Auto wieder zu starten und weiter zu fahren. Er erledigte seine Einkäufe und war froh, als er wieder zu Hause, in vermeintlicher Sicherheit, war. Als er die zwei Stufen zum Hauseingang ging, entdeckte er einen Zettel, der vor der Tür auf dem Boden lag und mit einem Stein beschwert wurde. Sofort stellte Jan die Kiste mit dem Einkauf ab und ergriff die Botschaft. Das Blatt Papier, das in etwa so groß wie eine Postkarte war, hatte schiefe und ungerade Kanten – wahrscheinlich war es in Eile ausgeschnitten worden. Nur ein, mit Computer geschriebener, Satz stand darauf: So ist’s brav! Der Rettungsarzt musste nicht lange überlegten, um zu wissen, dass der Verrückte die Sache mit der Polizei meinte. Er wurde also ständig, auf Schritt und Tritt, überwacht. Noch einmal sah er sich um, doch wieder konnte Jan nichts zwischen den Bäumen und Büschen finden. Beunruhigt nahm er die Kiste und beeilte sich, ins Hausinnere zu kommen. „Johann Anders, 35. Verdacht auf Schlaganfall“, rief die Notärztin, die gerade gemeinsam mit ihrem Kollegen die Trage durch den Eingang in die Notaufnahme schob. „Ich übernehme“, meldete Dirk, rief noch zwei Assistenzärzte zu sich und begann dann, den Patienten zu behandeln. „Ruf den Neurologen“, befahl er Schwester Katharina, während er versuchte, denn Mann zu stabilisieren. Wenig später kam Rodrigo in den Behandlungsraum und ließ sich mit einem „Was gibt’s?“ einen Überblick geben. Auch er untersuchte den bewusstlosen Herrn Anders kurz und forderte dann: „Bringt ihn rauf ins Katheterlabor!“ Die Schwestern und Assistenzärzte schoben daraufhin den Patienten auf der Trage zum Lift und während sie darauf warteten, dass sich die Tür öffnete, hatten Rodrigo und Dirk noch kurz Zeit zum Reden. „Treffen wir uns in der Mittagspause wieder?“, fragte der Jüngere. „Klar! Um zwei in der Cafeteria?“, erwiderte der Chef der Notaufnahme. „Gut, bis nachher“, verabschiedete sich der Chilene und stieg in den Lift ein, der sich kurz drauf schloss. Im Katheterlabor versuchte der Neurochirurg, eine schwere Bleischürze tragend, das Blutgerinnsel im Gehirn zu lösen, das den Schlaganfall verursacht hatte. „Kaum zu fassen. Der ist so alt wie ich und hat einen Schlaganfall“, seufzte Rodrigo, den Blick nicht von den Bildschirmen lösend, die ihm zeigten, wo genau in der Blutbahn er gerade die Nadel hatte. „Aber wenn ich mir den Patienten so ansehe, dann haben Sie einen eindeutig gesünderen Lebensstil, Herr Doktor“, erwiderte Sofia, eine Assistenzärztin, die sich auf Neurochirurgie spezialisieren wollte. „Nur weil ich über Ihnen stehe, brauchen Sie sich noch lange nicht so einzuschleimen, Doktor Hirsch“, wehrte Rodrigo schmunzelnd ab. Währenddessen ging Jan in den Keller, um das zu tun, was ihm meistens half, sich abzulenken: musizieren. Er schnappte sich seine schwarze Akustikgitarre und stimmte ein Lied der Beatles an. Doch dieses Mal konnte er noch so viele Lieder seiner Lieblingsband spielen, nichts konnte ihn von seinen Gedanken wegbringen. Immer wieder drängten sich Bilder in den Vordergrund, von denen er gehofft hatte, sie längst vergessen zu haben. Etwa fünf Skinheads, die auf einen am Boden liegenden Punk eintraten. Er selbst, von zwei weiteren Glatzköpfen festgehalten. „Hört auf, ihr bringt ihn noch um!“ Er wurde ignoriert. Immer wieder schlugen die Kerle auf den Rothaarigen ein, der sich bald nicht mehr bewegte. „Aufhören“, hallte sein Schrei in seinem Kopf nach. Der blonde Hüne schüttelte heftig den Kopf, versuchte so, den inneren Film wieder in die Ecke zu verbannen, aus der er hervorgekommen war. Seufzend strich er sich durch die Haare, stand auf, stellte die Gitarre zurück und ging hinauf ins Wohnzimmer. Mit einem Buch bewaffnet setzte er sich auf sein Sofa und begann zu lesen. „Und, wie geht’s dem Schlaganfall-Patienten?“, fragte Dirk, als er in der Cafeteria auf Rodrigo traf. „Wird keine bleibenden Schäden davontragen“, informierte ihn der Chirurg. Gemeinsam gingen die zwei nun auf das Buffet zu, um sich ihr Mittagsessen zu kaufen. „Hast du eine Ahnung, was mit Jan los ist?“, wollte der Ältere wissen, als sie sich an einen Tisch setzten. „Nö…ich weiß nicht, aber er hat heut in der Früh die Post durchgeschaut und vielleicht war da irgendein Brief dabei, der ihn beunruhigt hat?“, vermutete der Chilene. „Vielleicht…aber was könnte das für ein Brief sein?“, überlegte Dirk. „Vielleicht hat er heut einfach mal einen schlechten Tag“, meinte der Jüngere und schob sich eine Gabel mit Nudeln in den Mund. „Irgendwas ist da…ich weiß nicht, was, aber ich hab da so ein ungutes Gefühl“, vermutete der Chef der Notaufnahme und biss von seinem Sandwich ab. Auch das Lesen konnte Jans Sorgen nicht in den Hintergrund stellen. Genervt seufzend legte er sein Buch weg, nachdem er mehr als eine halbe Stunde gebraucht hatte, um eine Seite zu lesen. Während er sich über das Gesicht fuhr, stand er auf und ging in sein Schlafzimmer. Schnell schlüpfte er in seine Laufkleidung, schnappte sich seinen MP3-Player, zog sich seine Sportschuhe an und trat zum zweiten Mal an diesem Tag aus dem Haus. Er setzte sich die Kopfhörer auf, wählte ein Album der Foo Fighters aus und schlug den Weg in den Wald ein. Die kalte Novemberluft brannte in seiner Lunge und schon bald verfluchte er sich, dass er sich keine Haube aufgesetzt hatte, denn seine Ohren begannen, wie immer bei solchen Temperaturen, zu schmerzen. Gemeinsam mit ein paar Assistenzärzten betrat Rodrigo das Zimmer. „So Valerie, es ist soweit“, begrüßte er die Zwanzigjährige, bei der an diesem Tag ein Tumor im Gehirn entfernt werden musste. „Werde ich jetzt schon operiert? Ich dachte, mein Termin ist in zwei Stunden“, entgegnete die Patientin. „Tja, der OP-Saal ist schon früher frei geworden und da ich ja sonst nichts zu tun habe…“, erklärte der Arzt lächelnd und wies seine Kollegen an, die junge Frau fertig für die Operation zu machen. Bevor er den Raum wieder verließ, zwinkerte er ihr noch einmal zuversichtlich zu und verabschiedete sich mit den Worten „Wir sehen uns im OP“. „Die Apokalypse wird kommen! Nehmt euch in Acht, denn schon bald kommt das Ende der Welt“, schrie ein Patient in der Notaufnahme, der auf seinem Bett stand und das umher stehende Personal mit dem Infusionsständer davon abhielt, ihn wieder auf den Boden zu holen. Dirk betrachtete die Szene belustigt am Empfangsschalter lehnend. „Wir sollten ihnen ein Sedativum geben, vielleicht bekommen sie ihn dann runter“, schlug Andreas grinsend vor, der neben seinem Chef lehnte. „Nö, so ist viel unterhaltsamer“, schmunzelte dieser. Während der Verrückte noch weiter von der Apokalypse predigte, schaffte es Marcel, ein Krankenpfleger, ihn von hinten zu überwältigen und mit Hilfe anderer ans Bett zu schnallen. „Schade“, bedauerten die beiden Oberärzte das Ende des Spektakels und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, was für Dirk eine Menge an Papierkram bedeutete, denn nach der Kündigung oder Entlassung dreier Kollegen mussten die Stellen neu besetzt werden. Nach zwei Stunden kam Jan erschöpft aber glücklich wieder bei seinem Haus an. Trotz der Kälte war seine Kleidung durchgeschwitzt, sodass er schnurstracks ins Bad ging. Dort zog er sich die Sachen aus und stellte sich unter das kalte Wasser der Dusche, um seinen erhitzten Körper wieder abzukühlen. Während seiner Laufrunde hatte der Rettungsarzt das geschafft, was er schon versucht hatte, seit er die erste Botschaft bekommen hatte: er hatte seine Gedanken frei bekommen. Er hatte sich ablenken können von der ganzen Geschichte. Lächelnd strich er sich die Haare nach hinten, drehte den Wasserstrahl ab und stieg aus der Dusche. Der Hüne schnappte sich ein Handtuch, trocknete sich ab und wickelte es um die Hüfte. Er trat an den Spiegel, richtete sich notdürftig seine, nach allen Richtungen abstehenden, Haare und schlüpfte anschließend in frische Kleidung. Gerade rechtzeitig zog er sich sein T-Shirt an, denn da klingelte es auch schon an der Tür. Gut gelaunt ging er hin, öffnete sie – und wich entsetzt zurück. Kapitel 10: Bis zum letzten Atemzug ----------------------------------- Es war nicht die Person, die Jan entsetzte. Nein, die Anwesenheit eben jener verwirrte ihn nur, hatte er sie doch hinter Gittern vermutet. Auch nicht der Rucksack, den diese auf ihrer linken Schulter trug, konnte ihn so aus der Fassung bringen. Es war eher der Gegenstand, den die Person in der Hand hielt, der den Rettungsarzt geschockt einen Schritt zurücktaumeln ließ. „Mario?“, stieß er aus, ohne den Blick von dem großen Küchenmesser zu lösen. „Ich hab nicht gedacht, dass ihr es mir so einfach macht“, erwiderte der verurteilte Geiselnehmer und trat, während er seine Lippen zu einem widerlichen Grinsen verzog, an den blonden Hünen heran. Jan wich mit jedem Schritt, den Herr Schumick machte, einen Schritt zurück und konnte nicht verhindern, dass der Mann in sein Haus kam. „Ich hab das eigentlich noch nicht so früh eingeplant, aber die Situation ist einfach so perfekt, dass ich sie ausnützen MUSSTE“, fuhr dieser fort. „Dann steckst du hinter der ganzen Sache?“, fragte der Rettungsarzt etwas gefasster. Er ging noch einen Schritt und schon spürte er die kalte Wand in seinem Rücken. Kurz sah er sich nach etwas um, was ihm in dieser Situation helfen könnte, doch er fand nichts. Mario kam immer näher. Der Hüne konnte dessen starken Mundgeruch riechen. Nun stand der Braunhaarige direkt vor ihm und stützte sein Hände links und rechts von Jans Kopf ab. Der Rettungsarzt saß in der Falle. „Ja, Tunten wie ihr sollten ausgerottet werden. Ihr Perverslinge habt kein Recht zu leben“, zischte Mario und legte seine kalte Hand um den Hals des Blonden. „Was hast du vor?“, fragte Jan gepresst, da der Verbrecher seinen Griff verstärkte. „Feierabend“, stieß Dirk erfreut aus, während er seinen Spind verschloss. „Und, hast du noch was vor heute?“, wollte Andreas wissen, der auf einem der schwarz-weißen Hocker saß und sich seine braunen Schuhe zuband. „Ich werd mal wieder bei mir zu Hause schlafen“, antwortete der Schwarzhaarige und könnte sich sogleich ohrfeigen. Bisher hatte er es geschafft, sein Sexleben vor seinen Kollegen geheim zu halten. „Wieder bei dir zu Hause? Wo hast du denn sonst geschlafen? Hast du etwa wen kennengelernt?“, hakte sein Kollege sofort nach. „Ja, hab ich“, antwortete Stationschef schlicht. Was sollte er denn jetzt machen? Sollte er von seiner Beziehung zu Jan und Rod erzählen? Was würden seine Kollegen wohl sagen, wenn er ihnen offenbaren würde, dass er homosexuell war? „Soso, der Herr Felsenheimer ist wieder vergeben. Wie heißt denn die Glückliche?“, fragte Andreas unbeirrt. „Das verrat ich dir nicht“, erwiderte Dirk grinsend, schnappte sich seine Tasche und ging, nachdem er sich mit einem „Ciao“ von seinem Kollegen verabschiedet hatte. „Deine beiden Toyboys kommen heute nicht mehr, oder?“, fragte Mario sein Opfer belustigt. Er kannte die Antwort, er wollte sie nur von seinem Gegenüber persönlich hören. Jan wurde bewusst, wie schwierig seine Lage war. Seine beiden Freunde würden an diesem Tag nämlich, nicht wie in letzter Zeit, den Abend bei ihm verbringen, sondern in ihren jeweiligen Wohnungen. Resignierend schüttelte er den Kopf. „Tja…das ist jetzt ziemlich blöd für dich, oder?“, erwiderte der Braunhaarige und lachte ein gehässiges Lachen, das seinen Körper erzittern ließ. „So, jetz komm mal schön mit“, fuhr er dann fort und zog Jan gewaltsam mit sich in die Küche. „Setz dich“, zischte er und schubste ihn zu den Stühlen. Der Rettungsarzt tat, wie ihm befohlen. Er hoffte, dass alles noch ein gutes Ende nehmen würde. Mario warf seinem Opfer den Rucksack zu. Ihm das Messer an die Kehle drückend, wies er den Blonden an, die Tasche zu öffnen und das Klebeband herauszuholen. „Na, war doch wieder ein guter Tag heute, oder?“, meinte Rodrigo, als er im Umkleideraum der chirurgischen Oberärzte stand und sich sein Oberteil auszog. „Jap, find ich auch“, erwiderte Hanno, der plastische Chirurg, der seine Spindtür öffnete und sein Stethoskop in das obere Fach legte. „Gehn wir noch zu Joe auf ein Bier?“, schlug der Chilene vor und wechselte die Hosen der Krankenhauskleidung gegen seine Jeans. „Dagegen hab ich nichts einzuwenden“, grinste der aus Finnland stammende Arzt, verstaute seine Dienstkleidung in seinem Schrank und schlüpfte in seine schwarze Hose. Die beiden beeilten sich, ihre Sachen anzuziehen und das Krankenhaus zu verlassen. Mittlerweile hatte Mario die Hände des Rettungsarztes hinter der Sessellehne mit dem breiten grauen Klebeband zusammengebunden und ihm mit einem Streifen den Mund zugeklebt. Ein weiterer Streifen fixierte die Arme an das Holz des Möbelstückes. Der Verbrecher schickte sich an, die Vorhänge vorzuziehen. Die Nacht war inzwischen eingebrochen und man konnte nicht sehen, ob jemand draußen vorm Fenster stand und sie beobachtete. Der stämmige Braunhaarige stellte sich einen Stuhl vor Jans und drehte ihn so, dass er die Lehne vor dem Bauch hatte, als er sich hinsetzte. Er stützte die Arme ab und betrachtete sein Opfer eingehend. „Du widerst mich an, weißt du das?“, erwiderte er nach einer Weile verachtend und verpasste dem Hünen eine schallende Ohrfeige. Kampflustig sprang der Mann auf, schob den Sessel beiseite und baute sich vor Jan auf. Das Messer, das er bis eben noch in der Hand hatte, legte er auf dem Tisch ab. Grob packte er den Blonden am Shirtkragen. „Schämst du dich den überhaupt nicht, du Schwuchtel?“, schrie er ihn an und schlug ihn mehrmals mit der Faust ins Gesicht oder in den Bauch. Keuchend ließ Mario ab und bedachte den Rettungsarzt, der schwer atmend auf seinem Sessel hing, mit einem abschätzigen Blick, ehe er sich abwandte und zum Kühlschrank ging. Seufzend schloss Dirk die Tür hinter sich, fasste nach links, um das Licht anzudrehen, während er gleichzeitig den Schlüssel auf die Anrichte warf. Sofort wurde das Vorzimmer in ein warmes Gelb getaucht. Der Schwarzhaarige schlüpfte aus seinen Schuhen, legte seine Tasche ab und zog sich die Jacke aus. Unachtsam warf er sie auf den Kleiderständer, der daraufhin etwas wackelte, aber stehen blieb. Durch die Küche, wo er sich ein Glas Wasser einschenkte, gelangte er in sein Wohnzimmer. Er legte seine Tasche auf dem Couchtisch ab und ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen. Er nahm einen tiefen Schluck seines Getränks, lehnte sich entspannt zurück und schloss für einige Minuten die Augen, um sich von seinem harten Arbeitstag zu erholen. Als er merkte, dass er endgültig bei sich zu Hause angekommen war, stand er auf, ging zurück in die Küche und suchte seinen Kühlschrank nach etwas Essbarem ab. „Wie geht’s eigentlich Jan? Ich hab ihn schon länger nicht mehr gesehen“, fragte Joe, der Barkeeper, Rodrigo, der mit Hanno an der Bar saß. „Ganz gut. Hatte in letzter Zeit oft Nachtschicht und konnte wahrscheinlich deshalb nicht“, erwiderte der Chilene fröhlich und beobachtete der Barkeeper, wie er sich der chirurgischen Assistenzärztin Dr. Mon zuwandte und ihr zwei Tequilas zubereitete. Die Japanerin nahm die zwei Gläser und bahnte sich den Weg zu einem Tisch, an dem ein paar ihrer Kolleginnen und Kollegen saßen. Rodrigo nahm einen Schluck von seinem Bier und wandte sich dann wieder dem Finnen zu. „Ich sag dir, Häkkinen schafft heuer den Titel! Und das sag ich nicht, weil er Finne ist. Der Typ ist gut“, trug Hanno zu ihrem Gesprächsthema, den Autorennen, bei. „Träum weiter Hanno“, schnaubte Rodrigo belustigt. „Hey, er ist stark, Mercedes ist stark – die gewinnen heuer“, erklärte der Blonde. „Also, eins muss ich dir lassen: Dein Haus ist echt das geilste, dass ich je gesehen hab“, lobte Mario und biss von seinem Käsebrot ab, dass er sich zubereitet hatte. Mittlerweile saß er wieder auf dem Stuhl vor Jan. „Ich mein, ich hab noch nicht alles gesehen – leider sieht man den Keller nicht von außen – aber das, was ich gesehen hab, ist erste Sahne!“ Der Rettungsarzt beobachtete jede Bewegung seines Geiselnehmers genau. Er konnte die Arbeit des Unterkiefers sehen, als der Braunhaarige an einem weiteren Bissen kaute. Sein rechtes Auge schmerzte und er spürte ein kleines Rinnsal Blut, das sich von einer Platzwunde an seiner rechten Schläfe den Weg nach unten bahnte. „Sag mal, weiß deine Tochter eigentlich, was für einen perversen Vater sie hat?“, wollte er kauend wissen. Ein Aufbegehren Jans konnte er mit einem Tritt in dessen empfindliche Körpermitte unterbinden. Der Hüne stöhnte schmerzvoll auf und versuchte sich vergeblich aus seinen Fesseln zu befreien. Mario sah genüsslich zu, aß sein Brot zu Ende und stand auf. „Du solltest brav sein, dann muss ich dir nicht weh tun“, grinste er und nahm das Messer wieder an sich. Er zog den Kopf seines Opfers ruckartig an den Haaren zurück, was den Blonden erneut kurz aufstöhnen ließ. Beinahe zärtlich fuhr er mit dem Messer die kleine Blutspur nach. Die Klinge war so scharf geschliffen, dass sie sofort in die zarte Haut des Gesichts eindrang und eine weitere Blutspur erzeugte. Nicht tief, aber immerhin. „Ich glaub, wir sollten uns ein Taxi nehmen“, schlug Rodrigo vor, der die Nebenwirkungen seines doch sehr beträchtlichen Alkoholkonsums spürte. Er ahnte, dass es dem Finnen nicht besser ging, der mit ihm zum Ausgang des Lokals wankte. „Jap, das glaub ich auch“, erwiderte dieser lallend. „Joe, kannst du uns ein Taxi rufen?“, bat der Neurochirurg den Barkeeper, der angesichts der wenigen Menschen, die die Bar zurzeit besuchten, wenig zu tun hatte. „Kann ich, ja“, erwiderte dieser grinsend und wandte sich dem Telefon zu. Etwa zehn Minuten später verabschiedeten sich die beiden Ärzte von Joe und traten hinaus in die kalte Novemberluft. Schnell stiegen sie in das Taxi ein, gaben dem Fahrer ihre Adressen und warteten darauf, nach Hause zu kommen. Müde trat Dirk aus der Dusche, trocknete sich mit einem Handtuch ab, dass er sich anschließend um die Hüfte wickelte und trat dann an den Spiegel, der vom Dampf, den das heiße Wasser erzeugt hatte, angelaufen war. Mit der Hand schuf er sich eine freie Fläche und betrachtete kurz sein Spiegelbild. Er nahm die Zahnbürste und die Zahnpasta aus dem Becher, drückte etwas aus der Tube auf den Bürstenkopf und begann dann, sich die Zähne zu putzen. Als der Schwarzhaarige sein Schlafzimmer betrat, war er so müde, dass er nicht einmal mehr die Augen richtig offen halten konnte. Erschöpft schlüpfte er in Boxershorts und in sein Schlafshirt und ließ sich auf sein Bett fallen. Kaum hatte er sich zugedeckt, war er auch schon eingeschlafen. Geräuschvoll machte Rodrigo die Wohnungstür hinter sich zu und war in diesem Moment froh, dass er alleine wohnte. Er schlüpfte so schnell es sein Zustand zuließ aus seinem Mantel und seinen Schuhen und ging dann ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Duschen würde er am nächsten Morgen, dazu konnte er sich zu nun nicht mehr aufraffen. Nach seiner abendlichen Körperpflege ging er in sein Schlafzimmer und machte sich bettfertig. Die nach Zigarettenrauch stickende Kleidung warf er noch schnell in den Wäschekorb, ehe er unter die Bettdecke schlüpfte, das Licht abdrehte und die Augen schloss. Bald darauf fiel auch er in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Mario hatte inzwischen mit dem Messer das Klebeband, das den blonden Hünen an den Stuhl gefesselt hatte, durchgeschnitten und zog ihn mit sich in den oberen Stock ins Gästezimmer. So viel Anstand hatte selbst er, dass er nicht die Privatgemächer seines Opfers bezog. Oder widerstrebte es ihm deshalb, weil er wusste, was Jan mit seinen beiden Freunden in seinem Schlafzimmer getrieben hatte? Der Rettungsarzt versuchte, sich aus dem eisernen Griff, der sich um seinen Oberarm legte, zu befreien, doch je mehr er sich herauswand, desto fester wurde der Griff. Recht unsanft wurde der Hüne ins Zimmer gestoßen, wodurch er ins Stolpern kam und schließlich hinfiel. Er hörte das verächtliche Lachen hinter sich und wünschte sich ein Wunder. Grob wurde er gegen den kleinen, quadratischen Tisch aus Buchenholz gedrückt und mit einer Menge Klebeband am Flüchten gehindert. Mario drehte das Licht ab und ging zum Bett, wobei er „unabsichtlich“ gegen Jan stieß, was diesen aufkeuchen ließ. Er wünschte ihm grinsend eine angenehme Nacht und legte sich ins Bett, wo er kurz darauf einschlief. Der blonde Hüne brachte die ganze Nacht kein Auge zu. Immer wieder überlegte er, warum ihm das angetan wurde und, vor allem, was ihm noch angetan werden würde. Als sein Wecker klingelte, seufzte Dirk und wünschte, er wäre bereits im Ruhestand oder im Urlaub. Lustlos glitten seine nackten Beine unter der warmen Bettdecke hervor und fanden Halt auf dem kühlen Laminatboden. Genauso unmotiviert setzte sich der Schwarzhaarige auf und stieß sich von der Matratze ab, um in die Küche zu gehen. Dort ging er schnurstracks zur Kaffeemaschine, füllte mit einem Glas Wasser in den dafür vorgesehenen Behälter, steckte den Filter in das dafür konstruierte Fach, gab noch den geriebenen Kaffee hinein und schaltete die Maschine an. Während das Wasser durchlief stellte der Arzt einen Teller und eine Tasse auf den Tisch, schnitt sich mit der Brotschneidemaschine eine Scheibe vom Laib ab und brachte es, gemeinsam mit der Butter, der Marmelade und einem Messer an den Tisch. Abschließend holte er noch die Kanne mit dem frisch gebrühten Kaffee und begann mit dem Frühstück. Rodrigos erste Bewegung an diesem Morgen war das Abstellen des nervenden Weckers. Gähnend schob er die Decke beiseite, streckte sich noch einmal und schwang sich dann aus dem Bett. Seine Beine gingen wie von selbst ins Bad, wo er das Wasser in der Dusche anstellte. Während das Wasser warm wurde, streifte er sich seine Sachen ab. Als er sich den Gestank, der noch von seinem Barbesuch am vorigen Abend an ihm haftete, abwusch, überlegte der Chilene, welchen Dienst Jan heute hatte und ob er ihm einen Überraschungsbesuch abstatten könnte. Es sich fest vornehmend, drehte er das Wasser ab und stieg voller Vorfreude auf das Treffen mit dem blonden Hünen aus der Duschkabine. Er griff nach dem weißen Handtuch, das auf dem Hacken direkt neben der Kabine hing und trocknete sich ab. Das Frottee um seine Hüften gewickelt, ging der Arzt zurück in sein Schlafzimmer, wo er sich aus seinem Kleiderschrank schwarze Unterwäsche, dunkelblaue Jeans, ein weißes T-Shirt und einen grauen Sweater holte und sich anzog. Völlig erschöpft vernahm Jan Marios Erwachen. Seinen Blick hatte der Gefesselte aus dem Fenster gerichtet, wo gerade die Sonne aufging. ‚Vielleicht der letzte Sonnenaufgang, den ich erlebe‘, schoss es ihm durch den Kopf und ließ ihn erzittern. Daran hatte er bis eben noch nicht gedacht. Was, wenn er diese Sache nicht überleben würde? Energisch schüttelte er den Kopf. Nein, er durfte nicht sterben! Er musste doch noch Rod und Dirk fragen, ob sie bei ihm einziehen wollten! Er musste doch noch mit ihnen auf Urlaub fahren! Er musste doch noch… Dem Rettungsarzt fielen noch tausende Dinge ein, die er noch tun wollte. Ihm überkam die Panik. Sein Atem beschleunigte sich, die Augen waren weit aufgerissen. Er hörte nicht, wie sein Geiselnehmer aufstand und an ihn herantrat. Jan zuckte erschrocken zusammen, als er das Gesicht des Anderen dicht vor ihm sah. „Na, ist dir endlich klar geworden, dass du das Ganze nicht überleben wirst?“, fragte der Braunhaarige mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen. Der Rettungsarzt sah ihn an. Sollte dieser Mann die letzte Person sein, die er vor seinem Tod sah? Er zwinkerte und rief sich zur Raison. ‚Ruhig bleiben, Jan! Irgendwie schaffen wir das schon‘, versuchte er sich im Gedanken zu beruhigen. Der Verbrecher nahm sein Messer und schnitt den Hünen mit einem Ruck vom Tisch los. Er packte ihn grob am Oberarm, zog ihn auf die Beine und ging mit ihm hinunter in die Küche, wo er ihn zurück auf seinen Sessel schubste und ihn wieder mit Klebeband fixierte. Dirk kontrollierte noch einmal, ob er alle wichtigen Sachen in seiner Tasche hatte, ehe er sich seine dicke, schwarze Winterjacke überzog, in seine schwarzen Schuhe schlüpfte und dann aus der Wohnung trat. Er schloss die Tür ab und ging hinunter zu seinem silbernen BMW. Mit einem genervten Seufzen stellte er fest, dass er die Windschutzscheibe erst einmal von einer dünnen Schicht Eis befreien musste. Fluchend setzte er sich auf den Fahrersitz, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn etwas, damit die Heizung aufgedreht wurde. Er stellte sie auf eine hohe Stufe und drückte einen Knopf, damit die Scheibe gewärmt wurde. Dann holte er sich den Schaber aus dem Seitenfach der Autotür und begann mit der Arbeit. Nachdem er gefrühstückt und das Geschirr sorgsam in der Spüle abgestellt hatte, ging Rodrigo ins Bad, um sich fertig für die Arbeit zu machen. Während er sich die Zähne putzte, überlegte er, ob er seinem blonden Freund mal etwas schenken sollte, schließlich waren sie die meiste Zeit bei ihm zu Hause. Der Chilene erinnerte sich an nur einen Abend, an dem seine beiden Freunde bei ihm in seiner Wohnung waren und auch nur an zwei, an denen sie bei Dirk waren. Ansonsten schliefen sie immer in Jans Haus. Außerdem hatte er das Gefühl, dass die Sache mit Dirks und seinem kleinen Ausflug vor ein paar Monaten noch immer nicht ganz gegessen war. Rodrigo beschloss, an diesem Tag einmal pünktlich die Arbeit zu beenden und noch in einen Plattenladen zu schauen. Musik kam bei Jan immer gut an. Der Chilene warf einen kurzen Blick auf die Uhr und erkannte, dass er noch genügend Zeit hatte, um zum Bus zu gelangen. Da er am vorigen Tag mit dem Taxi nach Hause gekommen war, stand sein Auto immer noch beim Krankenhaus, weshalb er auf die öffentlichen Verkehrsmittel zurückgreifen musste, um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen. Gut gelaunt trat der Arzt aus dem Bad und ging ins Vorzimmer, wo er sich seine Schuhe und seinen Mantel überzog. Ein kurzer Blick durch die Wohnung, ob das Licht auch überall abgedreht war und schon ging er durch die Tür, schloss sein Zuhause ab und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus. Inzwischen hatte Dirk sein Auto vom Eis befreit. Zufrieden setzte er sich hinters Lenkrad, machte die Tür zu und schnallte sich an. Die Kupplung durchtretend drehte er den Zündschlüssel um und wartete darauf, dass der Motor ansprang, doch mehr als ein Ächzen gab dieser nicht von sich. Auch eine weitere Drehung erbrachte kein anderes Ergebnis. „Jetzt komm schon“, zischte Dirk genervt und versuchte es ein drittes Mal. „Yes“, jubelte er, als er das beruhigende Brummen des Motors vernahm. Vorsichtig manövrierte er den Wagen aus der kleinen Parklücke und fuhr weiter in Richtung Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin dachte er an seine beiden Freunde und überlegte, was den Blonden so aus der Fassung bringen konnte, doch ihm fiel nichts ein. Jan sah auf die Uhr. Er hätte seit dreizehn Minuten auf der Helikopterbasis sein müssen. Er wandte seinen Blick zurück auf Mario, der, ein Marmeladenbrötchen kauend, vor ihm saß. Das Telefon klingelte. Wahrscheinlich waren es Tom oder Karo, die wissen wollten, wo ihr Kollege blieb. Der Verbrecher ignorierte es und aß weiter genüsslich sein Frühstück. Der Rettungsarzt sah aus dem Fenster hinaus. Wäre es ein normaler Tag gewesen, wäre er wahrscheinlich schon Laufen gewesen und hätte sich an der selten zu sehenden Sonne erfreut. Doch es war kein normaler Tag und so zuckte er erschrocken zusammen, als er spürte, wie Mario ihn vom Sessel löste. „Aufstehen“, befahl er barsch. Wieder legte sich dieser eiserne Griff um Jans Oberarm und er wurde zum Telefon gezogen. „So, jetzt werden wir ein paar Anrufe machen“, meinte der Geiselnehmer grinsend. Mit Hilfe des Messers löste er das Klebeband von den Handgelenken des Blonden. Dieser dachte nicht einmal daran, seinen Gegner irgendwie auszuschalten. Er hatte seit etwas weniger als einem Tag nichts mehr gegessen und nicht geschlafen. Er war zu schwach, um siegreich aus einem Kampf mit diesem Kerl hervorzugehen. Jan seufzte leicht, als das Klebeband von seinem Mund gerissen wurde. „Du wirst jetzt deinen Dirk anrufen und schön mit ihm Schluss machen“, kommandierte Mario, drückte seinem Opfer den Hörer in die Hand, stellte sich hinter den Hünen und hielt ihm das Messer an die Kehle. Mit zitternden Fingern wählte Jan die Nummer des Älteren, hielt den Hörer an sein Ohr und wartete darauf, dass der Andere abnahm. „Hey Jan, was gibt’s?“, meldete sich der Schwarzhaarige fröhlich. „Dirk, wir…müssen reden“, erwiderte der Rettungsarzt mit zittriger Stimme. „Was ist los?“, fragte Dirk besorgt. „Ich…wir sollten aufhören, uns zu treffen“, sagte der Jüngere geradeaus. „Heißt das, du machst Schluss?“, hakte der Andere ängstlich nach. „Es tut mir Leid“, hauchte Jan. Er hoffte inständig, dass er noch solange leben würde, dass er die Sache noch berichtigen konnte. Bevor sein Freund noch etwas erwidern konnte, drückte Mario auch schon auf die Gabel und das Gespräch war beendet. „Super, dann zu Rod“, grinste er. Wieder tippte der Blonde die Nummer ein und lauschte. „Jan, hey, was gibt’s?“, wollte der Jüngere wissen, nachdem er abgehoben hatte. „Ich…will nicht mehr mit dir zusammen sein“, hielt sich der Rettungsarzt kurz. „Was? Wieso?“, wollte Rodrigo aufgebracht wissen. „Lo siento pero tiene un arma“, erwiderte Jan leise und hoffte, dass sein Freund ihn verstanden hatte. Wütend riss Mario dem Größeren den Hörer aus der Hand, knallte ihn auf die Gabel und schrie: „Was hast du ihm gesagt?“ „Fuck“, stieß der Neurochirurg entsetzt aus. Sofort stürmte er aus dem Umkleideraum und lief hinunter in die Notaufnahme. „Wo ist Dirk?“, fragte er den Mann am Empfangsschalter atemlos. „Im Ärztezimmer, warum?“, erwiderte Jerry verwirrt. Ohne zu antworten lief Rodrigo auf besagten Raum zu, stieß die Tür auf und fand seinen Freund vor, der am Boden zerstört beim Tisch saß. „Dirk, wir müssen auf der Stelle zu Jan“, verkündete er und blieb vor dem Älteren stehen. „Dann hat er mit dir also auch Schluss gemacht?“, fragte dieser ihn betrübt. „Ja hat er, aber ich weiß warum“, erwiderte der Chilene und nahm Dirks Gesicht in seine Hände. „Er hat gesagt ‚lo siento pero tiene un arma‘. Das heißt ‚Es tut mir Leid, aber er hat eine Waffe‘. Dirk, er wird bedroht! Er musste das wahrscheinlich sagen“, fuhr er atemlos fort. Der Ältere sah ihn entsetzt an. Wenn Rodrigo Recht hatte, dann mussten sie so schnell wie möglich zu ihrem Freund! „Worauf warten wir noch“, rief er, sprang auf und lief gemeinsam mit dem Neurochirurgen zu seinem Auto. „Was hast du gesagt“, schrie Mario und schlug den Blonden so fest, dass dieser zu Boden sackte. „Ich hab ihm nur gesagt, dass ich einen anderen habe“, log dieser verzweifelt und rutschte etwas von dem Verbrecher weg. „Als würde euch das etwas ausmachen“, knurrte dieser und schlug weiter auf sein Opfer ein. „Warum tust du das?“, fragte Jan verzweifelt, als der Andere von ihm abgelassen hatte. Ob Rodrigo die Botschaft verstanden hatte? Ob er ihn retten konnte? Wütend drückte Mario den Rettungsarzt gegen die Wand. Seine Hand legte er fest um den Hals des Anderen, was diesen nach Luft schnappen ließ. Jan versuchte, sich zu befreien, aber der Geiselnehmer war stärker. „Ich habe meine Frau verloren und als ich mich rächen wollte, bist du mir in die Quere gekommen. Deinetwegen hat mich die Polizei geschnappt, deinetwegen haben sie mich verurteilt und deinetwegen will mein Sohn nichts mehr von mir wissen“, erklärte Mario sein Tun. „Aber…dadurch machst du noch alles schlimmer“, erwiderte der Blonde keuchend. Er bekam kaum noch Luft. „Du wirst das Ganze sowieso nicht überleben und ich werd mich in die Karibik absetzen“, verriet der Kleinere. „Hör mal –“, begann Jan, wurde aber mit einem gebrüllten „Halt die Klappe“ unterbrochen. „Ich ruf Karo an, die sollen mit’m Heli zu Jan. Sicher ist sicher“, meinte Rod und griff nach seinem Handy. Dirk nickte und sah weiterhin konzentriert auf den Straßenverkehr. Sich selbst verfluchend dirigierte er den silbernen BMW an den anderen Wägen vorbei. Seine Gedanken überschlugen sich. War dieser Mann der Grund, warum Jan so beunruhigt gewesen war? Was, wenn Jan bereits tot war? Wie hatte er vorhin nichts merken können? „Der Hubschrauber ist unterwegs“, meldete der Chilene. Der Ältere wunderte sich. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sein Freund telefoniert hatte, so sehr war er in seine Gedanken vertieft gewesen. „Wir sind bald da“, erwiderte Dirk und konzentrierte nun voll und ganz auf die Fahrbahn. Wenig später konnten sie schon von weitem das Dach von Jans Haus sehen. Ein weiter Schlag in seine Magengrube ließ Jan kurz schwarz vor Augen werden. Er vernahm das Geräusch eines heranfahrenden Autos, doch war es so leise, dass er dachte, er würde es sich einbilden. Mittlerweile hatte Mario die Schläge wieder eingestellt und zog sein Opfer zurück auf die Beine. Er drückte den Rettungsarzt fest gegen die Wand, da klingelte jemand ohne aufhören zu wollen an Jans Haustür. „Jan?“, hörten sie Dirks Rufe. Das Klingeln hörte auf und gleich darauf hörten sie, wie jemand einen Schlüssel in das Schloss steckte und aufsperrte. Rasch zog Mario den Verletzten vor sich und drückte ihm das Messer an die Kehle. Die Tür ging auf und gleich darauf standen die beiden Schwarzhaarigen vor ihnen. „Jan“, hauchte Dirk entsetzt. Er erkannte den Bluterguss, der sich um das rechte Auge des Blonden gebildet hatte und die mittlerweile getrocknete Blutspur knapp daneben. „Keinen Schritt näher“, brüllte Mario. Die beiden blieben stehen, wo sie waren und hielten die Arme abwehrend vor ihrem Oberkörper. Leise drang das Rotieren des Hubschraubers zu ihnen vor und verlieh den beiden Ärzten Sicherheit. Bald würden Karo und Tom hier sein und hoffentlich würde auch bald die Polizei kommen, die sie gerufen hatten. „Herr Schumick, beruhigen Sie sich doch“, versuchte der Chef der Notaufnahme den Mann zur Aufgabe zu bringen, doch vergebens. Mario drückte das Messer nur noch fester gegen Jans Hals, verursachte so eine Wunde, aus der sofort das Blut herausrann. Erschrocken keuchte der Blonde auf. Der Hubschrauber kam immer näher und verursachte einen ohrenbetäubenden Lärm. „Jan?“, hörten sie bald darauf Karos Stimme und dann ging alles ganz schnell. Der Geiselnehmer drückte das Messer noch fester gegen Jans Hals und zog durch. Sofort floss das Blut aus der tiefen Wunde. Erschrocken schrien Dirk und Rodrigo auf. Als Mario sein Opfer losließ und zurücktrat, sank der Blonde sofort zu Boden und hielt sich die Wunde. Die beiden Schwarzhaarigen stürzen auf ihren Freund. Der Verbrecher wurde von Tom und Karo aufgehalten, die ihn mit einer Beruhigungsspritze außer Gefecht setzen konnten. Dann lief auch das Rettungsteam mit einer Trage zu ihrem schwer verletzten Kollegen. Gemeinsam hoben sie Jan auf die Trage, schnallten ihn fest und trugen ihn so schnell wie möglich zum Helikopter, der im riesigen Garten des Hünen gelandet war. „Halt durch Jan“, hauchte Rodrigo seinem Freund zu, drückte dessen freie Hand und sah zu, wie Dirk die blutige Hand des Blonden von der Wunde wegnahm und stattdessen mit einem Verbandstuch darauf drückte. Die gerade eintreffende Polizei wurde vom Piloten ins Haus gewiesen. Flink schoben sie die Trage ins Innere des Hubschraubers und stiegen ein, damit Tom abheben konnte. Sie setzten sich alle die Funkkopfhörer auf. Vorsichtig setzte die Sanitäterin auch Jan welche auf, damit sie sich verständigen konnten. Schon drang die gepresste Stimme des Blonden durch die Hörer. „Luft“, verlangte er leise. Rodrigo schnappte sich die Sauerstoffmaske und hielt sie über Mund und Nase seines Freundes. „Besser?“, wollte er wissen. Verzweifelt schüttelte Jan den Kopf. „Der Scheißkerl hat vielleicht die Luftröhre getroffen“, schimpfte Rodrigo mit Tränen in den Augen. Auch Karo konnte nicht fassen, was da geschah. Entsetzt starrte sie auf Dirks Hände, die immer wieder die blutgetränkten Tücher wechseln mussten. Zwar hatte sich der Rettungsarzt hin und wieder bei ihren Einsätzen verletzt, aber noch nie war er der Grund gewesen, warum sie in solch hohem Tempo durch die Lüfte rasen mussten. „Wir sind gleich da“, verkündete Tom endlich. Nur noch unscharf nahm Jan wahr, wie er aus dem Hubschrauber geschoben wurde. Ganz dumpf, als würde Watte auf seinen Ohren liegen, drangen die Geräusche an ihn heran. Karo sah ihn fragend an und ihr Mund bewegte sich, doch was sie von ihm wissen wollte, verstand er nicht. Hilfesuchend blickte er zu Rodrigo, doch der schien nichts vom veränderten Zustand seines Freundes zu merken. Es ruckelte etwas, als die Trage in den Lift geschoben wurde. Der Rettungsarzt spürte, wie seine Kräfte schwanden. Er verlor immer mehr Blut. Da wurde die Trage wieder in Bewegung gesetzt. Er kam in einen hellen Raum, wahrscheinlich das Behandlungszimmer. Mehrere Köpfe drängten sich in sein Blickfeld, schienen ihm Fragen zu stellen. Er vernahm ein Piepen, wahrscheinlich das Gerät, das seinen Herzschlag signalisierte – wie hieß es noch? Er schaute zur Decke, sah die Lampe, die den Raum in ein unnatürlich helles Weiß tauchte. Das Weiß wurde immer intensiver und ließ die Szenerie verschwinden. Der Blonde hörte, wie sein Herzschlag stetig langsamer wurde und schließlich aussetzte. Er bemerkte noch den schrillen durchgehenden Ton der Maschine. Jan dachte daran, dass er seine Mutter noch einmal hätte besuchen sollen, ehe seine Augen sich schlossen, sein Bild sich schwärzte und sein Kopf schlaff zur Seite fiel. Kapitel 11: Elendiges Warten ---------------------------- Das Piepen brach ab, um kurz darauf in regelmäßigen Abständen immer wiederzukehren. Die im Behandlungsraum anwesenden Mediziner atmeten erleichtert auf. „Wir haben ihn wieder“, beruhigte Andreas seinen Chef und gab die Paddels des Defibrillators einer Schwester zurück. „Gott sei Dank“, stieß Dirk aus und drückte den stark mitgenommenen Rodrigo an sich. Aber der Ältere wusste, dass der Rettungsarzt noch lange nicht übern Berg war. „Er muss sofort in den OP“, befahl der Notaufnahmearzt den Assistenzärzten, die daraufhin sofort die Bremsen der Trage lösten und den Verletzten zum Lift schoben. Das unvollständige Team der Helikopterstaffel ging gemeinsam mit den beiden Schwarzhaarigen zum nächsten Lift und wartete. Jetzt konnten sie nur noch hoffen, dass die Operation gut verlief und die Blutungen gestoppt werden konnten. Dr. Ron Wieser machte sich währenddessen fertig für eine Operation. Er selbst kannte den Patienten, der eben in den Saal gebracht wurde, nur flüchtig, wusste aber, dass dieser für viele ein Held war. Des Weiteren wusste er, dass der Verletzte auch ein guter Freund seines Kollegen Dr. González war. Die Haube auf dem Kopf, den Mundschutz über Mund und Nase und die feuchten Hände von sich gestreckt ging der Chefarzt mit dem Rücken voran durch die Tür in den Saal. Zwei OP-Schwestern zogen ihm den sterilen Kittel und die Handschuhe an. Der Grauhaarige warf einen Blick auf die Galerie, die gesteckt voll mit Assistenzärzten war. Den Chilenen fand er nicht unter ihnen. Wäre es eine normale Notoperation bei einem normalen Patienten, würden sich wohl nur eine Handvoll Menschen hinter der Glasscheibe befinden. Doch ein Dr. Jan Vetter war kein normaler Patient. Er war vielmehr ein Held, ein Arzt, der durch riskante Rettungsaktionen so manches Leben gerettet hatte, das andere wahrscheinlich schon für verloren abgeschrieben hätten. „Er ist soweit“, berichtete der Anästhesist. Entschlossen, dieses Leben zu retten, koste es, was es wolle, begann Dr. Wieser an der Seite der Kardiologin Nina mit der Operation. Unruhig ging Karo auf dem Gang vor den OP-Sälen auf und ab. Die drei Männer saßen, nicht minder angespannt, auf den grauen Metallstühlen an der Wand. „Was machen die da drin gerade“, fragte die Sanitäterin nach dem Ablauf. „Sie werden versuchen, die Aorta zusammenzuflicken. Wir können von Glück reden, dass sie nicht gänzlich durchtrennt wurde, sonst könnten wir nichts mehr…“, der Neurochirurg brach ab. Daran, was alles hätte passieren können, wollte er nicht denken. Jan lebte und er würde es auch überleben. Er war ein Kämpfer, wenn er es nicht schaffte, wer dann? „Außerdem müssen sie auch noch den Schnitt in der Luftröhre nähen“, beendete Rodrigo seine Erklärung. „Ist so was leicht? Ich meine, machen die das öfters? Wie stehen seine Chancen?“, hakte die Frau verzweifelt nach und kaute nervös an ihren Fingernägeln. Der Chilene warf einen Blick auf den neben ihm sitzenden Dirk. Leichenblass und apathisch saß dieser auf dem Stuhl. Vorsichtig ergriff der Jüngere dessen Hand und drückte sie leicht. Er wollte ihm zeigen, dass er nicht alleine war, dass sie alle Angst hatten. „Es ist eine sehr schwierige Operation, immerhin wurden Aorta und Luftröhre getroffen. Jan hat schon viel Blut verloren und wenn sie es nicht schaffen, die Blutung zu stillen, dann…“, erklärte der Chirurg mit zittriger Stimme. „Verdammt“, fluchte der chirurgische Chefarzt, als die technischen Geräte und die Schwestern ein Kammerflimmern signalisierten. „Paddels, laden auf zweihundert“, verlangte er. Schnell hatte man das Tuch vom Oberkörper des Patienten genommen. Dem Grauhaarigen wurden die Geräte zum Schocken in die Hand gedrückt, während eine Schwester den Defibrillator auflud. „Geladen“, verkündete sie kaum eine Sekunde später. Dr. Wieser legte die Paddels auf den Oberkörper des Patienten, in einer Diagonale, in deren ungefähren Mitte das Herz lag. „Und weg“, rief er und schon zuckte der auf dem OP-Tisch liegende Körper unter dem Stromstoß. Kurz sah die Mannschaft auf den Monitor des EKGs, doch zeigte er nur einen unveränderten Zustand. „Laden auf dreihundert“, verlangte der Chefarzt und die Prozedur wiederholte sich. Noch immer keine Veränderungen. „Komm schon“, stieß einer der Assistenzärzte durch zusammengebissene Zähne aus. „Laden auf dreihundertsechzig“, kommandierte Dr. Wieser. Der narkotisierte Körper bebte wieder unter dem Stromstoß. Ein regelmäßiges Piepen ertönte, die Wellen auf dem Monitor kamen in größeren Abständen. „Sinusrhythmus“, bestätigte eine Krankenschwester. Tief durchatmend gab der mittelgroße Mann die Dinger aus seiner Hand und sah ins Gesicht des schlafenden Patienten. Aufgrund der geringen Menge Blut, die zurzeit in seinem Körper zirkulierte, war der Blonde extrem blass, sodass die Wunde neben seinem rechten Auge geradezu hervorstach. „Wir sind noch nicht bereit, Sie gehen zu lassen, Herr Vetter“, flüsterte der Chefarzt seinem Patienten zu, ehe er sich wieder auf die Operation konzentrierte. Nach etlichen Stunden des bangen Wartens erhielten die vier, zu denen inzwischen auch Karin gestoßen war, von einer Krankenschwester die Nachricht, dass der Eingriff erfolgreich beendet werden konnten und Dr. Wieser bald kommen würde, um ihnen nähere Informationen zu geben. Erleichtert grinsten sich die Angehörigen an. Sie trauten sich nicht, sich zu freuen, aus Angst vor noch auftretenden Komplikationen, immerhin bedeutete eine gut verlaufende Operation nicht, dass ihr Freund über dem Berg war. Sie brauchten nicht lange zu warten, bis der Chefarzt an sie herantrat. „Die OP ist gut verlaufen, wir konnten die Blutungen stoppen und die Gefäße vernähen. Leider ist der Zustand von Herrn Vetter noch äußerst instabil, weshalb wir ihn auf die Intensivstation verlegen werden. Während der Operation traten zweimal Herzrhythmusstörungen auf. Er ist noch bewusstlos und wir können nicht sagen, ob und wann er wieder aufwacht“, gab der Grauhaarige die ernüchternden Informationen wider. „In welches Zimmer wird er gebracht?“, meldete sich nun Karin zu Wort. „Drei-i“, erwiderte der Chirurg und verabschiedete sich dann. Die fünf gingen langsam in den Stock, auf dem die Intensivstation untergebracht war. Sie gingen auf die breite Tür zu, neben der ein kleines Schild angebracht war, auf dem „Zimmer 3.i“ stand. Gerade, als sie die Tür öffnen wollten, kam eine Schwester aus dem Zimmer. „Sie können jetzt zu ihm“, erklärte sie lächelnd und brachte die Krankenakte, die sie in der Hand hielt, in das Stationsbüro. Dirk betrat gemeinsam mit Karin als Erster das Krankenzimmer, gefolgt von Karoline, Tom und Rodrigo. Jan schlief auf einem Krankenbett an der Mitte der rechten Wand des fensterlosen, großen Raumes, der durch fünf Leuchtstoffröhren an der Decke erhellt wurde. Über Kabel oder Schläuche war der Blonde mit Geräten oder Infusionen verbunden. Das dünne Schläuchlein, das ihn mit Sauerstoff versorgte, verlief von der Nase hinter die Ohren und kam vor dem Hals wieder zusammen, um dann im scheinbaren Wirrwarr der Kabel zu verschwinden. Der Hals wurde von der linken Seite aus bis knapp zur Mitte von einem großen weißen Pflaster bedeckt. Auch die Wunde neben dem rechten Auge war versorgt und mit einem weißen Pflaster verbunden worden, dessen Farbe sich kaum von der blassen Hautfarbe des Patienten unterschied. Vorsichtig traten die vier an das Bett heran. „Was machst du bloß für Sachen“, hauchte Karin leise, als sie sich an die linke Seite ihres Vaters setzte und dessen kühle Hand, auf der eine Infusionsnadel haftete, vorsichtig in ihre nahm. „Ich glaube, wir gehen dann wieder“, meinte Tom nach einer Weile, in der er seinen bewusstlosen Freund betrachtet und überlegt hatte, was die Beweggründe des Verbrechers gewesen waren. Er spürte, dass Karin gerne mit ihrem Vater alleine sein wollte. Karo nickte zustimmend, während sich die beiden Schwarzhaarigen einen kurzen Blick zu warfen. Sie würden gerne noch etwas bei dem Hünen bleiben, aber sie mussten auch das Bild einer reinen Freundschaft aufrechterhalten. Nach kurzem Zögern stimmten auch sie zu. Nacheinander verabschiedeten sich die vier von Karin und ihrem Vater. „Dirk, Rodrigo? Könnt ihr noch kurz hier bleiben?“, fragte die junge Frau, als sie gerade gehen wollten. Überrascht drehten sich die beiden Schwarzhaarigen um. „Klar“, antworteten sie verwirrt und verabschiedeten sich noch rasch von dem Rettungsteam. „Was gibt’s denn?“, wollte der Chilene wissen, als sie nur noch zu dritt bei Jan im Zimmer waren. „Naja, ich dachte, ihr würdet gern noch etwas hier bleiben“, erwiderte sie schmunzelnd. Sie wusste mittlerweile Bescheid über die sonderbare Beziehung der drei Männer. „Danke“, nuschelten die zwei und setzten sich auf ihre Plätze auf der rechten Seite des Bettes. „Wann…wird er denn wieder aufwachen“, wollte Karin wissen. „Das kann man nie so genau sagen, aber…ein paar Tage wird er schon noch brauchen“, erklärte Dirk. „Oh Gott…warum…hat der Typ ihm das angetan?“, stieß die junge Frau aus und konnte nicht verhindern, dass sie zu weinen begann. Rodrigo stand auf, ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Sschhh, dein Vater ist ein Kämpfer, der schafft das schon“, flüsterte er, während er ihr beruhigend über den Rücken strich. „Warum hat er das getan?“, fragte Karin erneut, als sie wieder etwas gefasster war. „Die Polizei hat gesagt, es war ein Racheakt, weil Jan den Kerl damals bei der Geiselnahme zur Aufgabe gebracht hatte…und die Tatsache, dass dein Vater…nun ja…homosexuell ist, hat ihn seiner Aussage nach noch gestärkt“, gab Dirk die Informationen wider, die ihnen die Polizei vor ein paar Stunden gegeben hatten. „Dieses Schwein“, zischte die Studentin kopfschüttelnd. Die drei blieben so lange, bis sie von einer Krankenschwester höflich darauf hingewiesen wurden, dass die Besuchszeit zu Ende wäre. „Hey, wir fahren jetzt, okay? Sollen wir dich mitnehmen?“, begann Dirk, als sie aus dem Zimmer kamen. „Nein, danke! Ich…ich werd noch hier bleiben, denk ich“, erwiderte Karin leise. „Bist du dir sicher?“, wollte Rodrigo besorgt wissen. „Ja, ich…ich würd’s zu Hause nicht aushalten, ich…hab Angst“, schluchzte die junge Frau. Während Dirk sie an sich drückte, strich ihr Rodrigo beruhigend über den Arm. „Er wird nicht sterben, hörst du?“, flüsterte der Chilene. Langsam verebbten die Tränen der Studentin wieder. „Sorry, ich –“, wollte sie sich entschuldigen, doch die beiden Schwarzhaarigen ließen es nicht zu. „Ist doch verständlich“, wehrte der Ältere und strich die Tränen aus ihrem Gesicht. „Komm…lass uns in die Cafeteria gehen und was essen, oder?“, schlug Rodrigo vor. Froh, über diese Ablenkung stimmten die anderen beiden zu und schon bald waren sie vor dem Buffet und suchten sich etwas Essbares. Die Tage vergingen und nichts änderte sich an Jans instabilem Gesundheitszustand. Während Karin ihre sämtlichen Vorlesungen schmiss und beinahe die gesamte Besuchszeit bei ihrem Vater verbrachte, versuchten Rodrigo und Dirk ihren Dienst so gut wie möglich hinter sich zu bringen. Die Pausen, sowie die Zeit zwischen Arbeit und Ende der Besuchszeit waren auch sie bei ihrem Freund. Ihren Beruf als Ärzte nahmen sie sich auch zu Nutze und schlichen sich auch so in Jans Zimmer. Es musste doch bestimmt der Zustand kontrolliert werden, oder so. Rodrigo saß wieder einmal bei seinem Lebensgefährten am Krankenbett. Wie immer auf einem Sessel auf der, vom Patienten aus gesehenen, rechten Seite. Es war einer der wenigen Momente, an dem er alleine war. Dirk hatte am Vortag die Drohbotschaften gefunden, die Jan bekommen hatte. „Und das alles nur, weil wir zusammen sind“, warf Rodrigo in den Raum. „Naja, könnte man zumindest sagen“, fügte er noch hinzu, als ihm einfiel, dass der Grundgedanke des Verbrechers ja eigentlich die Rache für die verpatzte Geiselnahme gewesen war. „So viel zum Thema ‚Heutzutage ist man tolerant demgegenüber’“, fluchte der Chilene und strich dem Bewusstlosen vorsichtig durch die Haare. Mit gleicher Behutsamkeit nahm er die rechte Hand des Hünen in seine und drückte sie, darauf bedacht, die Infusionsnadel nicht zu berühren. Er stützte seine Arme mit den Ellbogen auf dem Bett ab und küsste die kühle Hand, die kraftlos in seinen lag. Während er den Oberkörper seines Freundes beobachtete, der sich mit jedem Atemzug langsam hob und wieder senkte, streichelte er gedankenverloren den Handrücken auf und ab. Auf einmal spürte er etwas. Nur der Windhauch einer Berührung, aber dennoch real. --------- Kochlöffixikon (oder auch: kochlöffel’s gefährliches Halbwissen, basierend auf Wikipedia und diverse Ärzteserien): Defibrillator (oder auch Defi): ein Elektroschocker; wenn das Herz abnormal schnell schlägt, sollen die Elektroschocks das Herz wieder in normalen Rhythmus bringen („laden auf 100 usw.“ bedeutet, dass das Gerät auf 100 Joule (oder was auch immer verlangt wird) geladen wird, die dann durch den Körper gejagt werden) Paddels: [sprich: Pädels] die Enden des Defibrillators, die man auf den Oberkörper legt und durch die geschockt wird Anästhesist/-in: Narkosefacharzt Kardiologe/-in: Facharzt für Herzkrankheiten Kammerflimmern: eine lebensbedrohliche, pulslose Herzrhythmusstörung Sinusrhythmus: normaler, regelmäßiger Herzschlag EKG: Elektrokardiogramm; misst den Herzschlag Kapitel 12: Morgen ist heute gestern ------------------------------------ Schmerz war das Erste, was er spürte. Schmerz, der sich von seinem Kopf über seinen Hals über die Brust bis in den Bauch zog. Doch war er nicht allzu groß. Und trotzdem hatte er das Gefühl, als würden die Schmerzen sofort ins Unerträgliche steigen, würde er sich auch nur ein ganz klein wenig bewegen. Deshalb lag er völlig still, wo auch immer er gerade war, und ließ sich von einer weiteren Welle Schlaf übermannen. Wieder kam er zu sich, wagte es aber weiterhin nicht, sich zu rühren. Licht drängte sich durch seine geschlossenen Augenlider und das dadurch hervorgerufene dumpfe Stechen hielt ihn davon ab, die Augen zu öffnen. Vorsichtig horchte er in seinen Körper hinein. Irgendetwas war komisch. Nur was? Auf seiner rechten Seite fühlte er etwas Warmes, aber auf seiner linken Seite war es kalt. Bevor er sich noch weitere Gedanken darüber machen konnte, fiel er auch schon wieder zurück in seinen bewusstlosen Schlaf. Wieder fühlte er den Temperaturunterschied. Er erkannte, dass etwas auf oder um seiner rechten Hand war. Deshalb war sie warm und die andere kalt. Mit enormem Kraftaufwand konnte er etwas Weiches ertasten, das sich sofort noch intensiver um seine Hand schloss. Er hörte etwas, verstand jedoch nichts. War es Musik? War es eine Stimme, die mit ihm sprach? Vergeblich versuchte er, etwas zu erkennen, ehe er wieder in das tiefe Schwarz zurückfiel. Das Gefühl, als schwämme er in einer zähflüssigen schwarzen Masse, verdrängend, startete er einen erneuten Versuch und endlich fand er heraus, dass seine Hand von einer anderen Hand gehalten wurde, die unverkennbar zu Rodrigo gehörte. Er schluckte und spürte ein schmerzendes Ziehen im linken Bereich seines Halses. „Jan? Hörst du mich?“, drang es dumpf zu ihm vor. Er versuchte zu antworten, aber sein Mund fühlte sich wie taub an. Vorsichtig drehte er seinen Kopf auf die Seite, auf der er den Chilenen vermutete und stöhnte leise ob des verstärkten Pochens in seinem Hals. „Jan“, hörte er die erleichterte Stimme nun etwas klarer. Gleich darauf strich ihm jemand behutsam durch die Haare. Langsam öffnete er die Augen, sah jedoch alles nur verschwommen und unscharf. Mehrmaliges Blinzeln verschaffte ihm eine deutlichere Sicht und bald konnte er auch den stark übernächtigten Rodrigo, der an seiner Rechten saß, erkennen. „Oh Gott, Jan“, stieß dieser euphorisch aus und umarmte ihn stürmisch. Erst mehrere Augenblicke später löste sich der Chirurg wieder von seinem Freund und bettete ihn vorsichtig zurück auf den Polster. Der Patient schluckte erneut und wollte zum Sprechen ansetzen, doch der Schwarzhaarige legte ihm einen Finger auf den Mund. „Schhh, heb dir deine Kräfte auf“, flüsterte er und küsste den Älteren vorsichtig auf den Mund. Jener sah ihn benommen aus halb offenen Augen an. „Du bist noch müde, oder? Versuch zu schlafen“, vernahm Jan die beruhigende Stimme seines Freundes, ehe er schon wieder weggedöst war. Erleichtert kam Rodrigo aus dem Krankenzimmer und ließ sich auf einen der grauen Metallstühle, die auf dem Gang standen, nieder. Kraftlos fuhr er sich über sein Gesicht und spürte die Müdigkeit, die ihm in den Knochen saß. Seit Jan vor vier Tagen beinahe gestorben wäre, hatte er kaum Schlaf gefunden. Zu tief saß die Angst, dass er etwas Wichtiges verpassen könnte, auch wenn er natürlich weiterarbeiten musste. Seine innerliche Anspannung schien nun größtenteils von ihm abzufallen. Das beklemmende Gefühl, dass sich tief und fest in seiner Brust verankert hatte und ihm in manch verzweifelten Momenten die Luft zum Atmen fernhielt, wurde nun mehr zu einem stillen Gast in seinem Körper. Zwar immer noch da, aber bei Weitem nicht mehr so präsent, wie in diesen letzten vier Tagen. Erleichtert stieß sich der Chilene von seinem Sitz ab, nahm sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte Karins Nummer, während er hinunter in die Notaufnahme ging. „Vetter?“, meldete sie sich verschlafen. „Ich habe gute Neuigkeiten“, erwiderte Rodrigo bloß lächelnd. „Ehrlich?“, drang Karins hoffnungsvolle Stimme durch das Telefon. „Dein Vater ist aufgewacht. Er schläft mittlerweile wieder, weil er noch ziemlich entkräftet ist, aber er wird spätestens heute Nachmittag wieder zu sich kommen, schätze ich“, verkündete er gut gelaunt. „Das ist…wunderbar“, hauchte die junge Frau und der Chirurg konnte sich gut vorstellen, dass in diesem Moment vereinzelte Tränen des Glücks über ihr Gesicht liefen. „Leg dich noch etwas schlafen, frühstücke ausgiebig und komm dann her. Du wirst schon nichts verpassen, wenn du erst in zwei, drei Stunden kommst“, schlug er vor, aber er wusste, dass die Tochter seines Freundes in spätestens einer halben Stunde hier im Krankenhaus sein würde. Die beiden verabschiedeten sich fröhlich und wenige Augenblicke später hatte der Schwarzhaarige auch schon Dirk entdeckt. Er zog den sichtlich Verwirrten ins Stiegenhaus, vergewisserte sich, dass sie alleine waren und verwickelte ihn in einen leidenschaftlichen Kuss. „Was…?“, stieß der Ältere ratlos aus, nachdem sie sich gelöst hatten. „Jan war vorhin kurz wach“, erklärte Rodrigo leise und wurde daraufhin stürmisch umarmt. „Endlich“, jubelte der Notaufnahmechef und wollte sofort seinen Freund besuchen, als ihn sein Pager zurück auf den Boden der Realität brachte und ihn zu einem Notfall rief. „Verdammt“, zischte er enttäuscht. „Hey, er schläft jetzt und wird frühestens in ein paar Stunden wieder aufwachen! Du verpasst schon nichts“, versuchte der Chilene, ihn aufzumuntern, doch konnte er sich gut vorstellen, wie sich der Andere fühlte. Er konnte gar nicht daran denken, was wäre, wenn er nicht beschlossen hätte, vor seiner Schicht noch schnell bei Jan vorbei zu sehen. Er würde nicht wissen, dass der Blonde kurz wach war und würde jetzt noch immer hoffen und bangen. „Was haben wir?“, fragte Dirk, als er den Traumaraum betrat, in den der Verletzte soeben gebracht wurde. „Mann, fünfundfünfzig, Identität unbekannt. Wurde in der U-Bahn überfallen und niedergeschlagen. Mehrere Verletzungen in Gesicht und Oberkörper. Verdacht auf schwere Gehirnerschütterung“, informierte der Notarzt, während sich Dirk einen Kittel und sterile Handschuhe überzog. „Gut, dann heben wir ihn von der Trage. Auf mein Kommando“, befahl er, während er sich eine Ecke des Lackens, das unter dem Patienten lag, schnappte und die anderen es ihm gleich taten. „Eins, zwei, drei!“ Und schon wurde der Verletzte von der Trage des Notfallteams auf die des Krankenhauses gehievt. „Die Wunden sind nur oberflächlich, nichts Ernstes. Macht aber ein Röntgen vom Oberkörper, ich glaube, eine Rippe ist gebrochen“, resultierte Dirk, nachdem er die Brust des Mannes abgetastet hatte. „Ich werd dann wohl nicht mehr gebraucht“, wandte er sich an Andreas, den Oberarzt, der neben ihm stand und alles unter Kontrolle zu haben schien. Ohne eine Antwort abzuwarten, streifte sich der Schwarzhaarige Kittel und Handschuhe ab und verließ durch die Schwenktür den Raum. „Doktor Felsenheimer? Ich habe hier einen Verdacht auf Blinddarmentzündung“, wurde er auf dem Gang von der rothaarigen Assistenzärztin, die aufgrund ihres doch etwas schwer auszusprechenden Namens immer nur Sara genannt wurde, aufgehalten. Gemeinsam gingen sie zu dem kranken Jungen. „Das ist nicht nur ein Verdacht, das IST eine Blinddarmentzündung“, urteilte der Chefarzt nach einer kurzen Untersuchung und fügte noch ein „Bring ihn rauf in die Chirurgie“ hinzu. Voller guter Laune schnappte sich Rodrigo die Krankenakte einer seiner Patientinnen und ging mit den Assistenzärzten in ihr Zimmer zur Visite. Freundlich grüßte er die junge Frau und wartete darauf, dass sich seine Kollegen alle eingefunden hatten. „Doktor Mon, klären Sie uns bitte auf“, bat er dann die Japanerin, die eifrig nickte. „Laura Hag, einundzwanzig. Bei ihr wurde vor fünf Monaten ein Bandscheibenvorfall im Bereich der Lendenwirbelsäule diagnostiziert. Nachdem die konservative Behandlungsmethode nicht geholfen hat, hat man sich für eine Operation entschieden“, erklärte sie. „Was wäre die konservative Behandlungsmethode?“, fragte der Südamerikaner in die Runde und wählte Dr. Neumann aus. „Schonung, schmerzstillende Medikamente und Physiotherapie“, erklärte die Berlinerin und strich sich eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht. Dieses Frage-Antwort-Spiel führte Rodrigo weiter, bis er merkte, dass die Assistenzärzte genug über Bandscheibenvorfälle wussten. „Gut. Doktor Neumann, Doktor Mon – Sie beide werden mir heute assistieren. Klären Sie bitte die Patientin über die Risiken auf und bereiten Sie sie auf die Operation vor“, teilte er den Umstehenden noch mit, ehe er den Raum verließ. Als Jan das nächste Mal zu sich kam, erkannte er seine Tochter an seiner Seite. „Hey“, hauchte er mit rauer Stimme, der man die Strapazen der letzten Tage deutlich anmerkte. „Hey“, grüßte ihn Karin freudig, doch der blonde Hüne konnte erkennen, dass sie verzweifelt versuchte, ihre Tränen in Schach zu halten. „Na komm her“, forderte er sie zu einer Umarmung auf. Vorsichtig legte sich die Braunhaarige an seine Seite und bettete ihren Kopf auf seine Schulter. „Ich hatte solche Angst. Ich –“, schluchzte sie. „Schhh, ist schon gut. Du siehst doch, dass es mir wieder gut geht, oder?“, sprach Jan mit sanfter Stimme. „Du darfst mich nicht verlassen, hörst du? Du nicht auch noch“, verlangte die junge Frau und blickte ihren Vater flehend an. „Ich versprech’s“, erwiderte dieser und küsste sie auf die Stirn. „Und jetzt versuch zu schlafen“, schlug er ihr vor, da er ihr schon angemerkt hatte, wie wenig sie in den letzten Tagen geschlafen hatte. Dankbar kuschelte sich die Braunhaarige an den Patienten und wenig später konnte Jan nur noch Karins gleichmäßiges Atmen hören, der auch ihn sanft in den Schlaf wiegelte. Erst am Nachmittag hatte Dirk endlich die Gelegenheit, seinen verletzten Lebensgefährten zu besuchen. In dessen Zimmer angekommen musste er über die, ihm dargebotene, Szenerie schmunzeln. Um Vater und Tochter nicht unnötig aufzuwecken, ging er auf leisen Sohlen zu dem Sessel, der an der rechten Seite des Bettes stand und ließ sich vorsichtig nieder. Er wusste nicht, wie lange er die beiden Schlafenden betrachtete, als ihn ein leises Husten aus den Gedanken schreckte. Kaum einen Augenblick später trafen die müden Augen des Patienten den Blick des Notaufnahmechefs. „Na, du Schlafmütze“, grüßte jener der Schwarzhaarige seinen Freund grinsend, beugte sich vor und küsste ihn auf die Lippen. Der Jüngere schluckte und verzog dann das Gesicht. „Tut es sehr weh?“, fragte Dirk besorgt. „’S gibt Schlimmeres“, winkte der Andere ab. „Wie lange war ich weg?“, fragte er stattdessen, während er seiner schlafenden Tochter vorsichtig den Oberarm streichelte. „Vier Tage“, antwortete der Ältere schlicht und beobachtete die grazile Hand, die durch eine Infusionsnadel am Rücken verunstaltet wurde. „Am Anfang war es nicht einmal sicher, ob du das Ganze überlebst. Du hast ziemlich viel Blut verloren.“ „Was passiert mit…“ „Er ist in Untersuchungshaft und hat bereits ein Geständnis abgelegt. Die Polizei wird in den nächsten Tagen noch bei dir vorbei schauen und von dir eine Aussage haben wollen“, erklärte Dirk. Als Karin das nächste Mal aufwachte, spürte sie zuerst den regelmäßigen Herzschlag in dem Körper unter ihr. Auch das ständige Heben und Senken, das dieser beim Atmen verursachte, entging ihr nicht. Genauso wenig, wie die sanfte Bewegung, die eine Hand auf ihrem Oberarm ausführte. Sie hob ihren Kopf etwas und betrachtete das Profil ihres Vaters, der gedankenverloren den grauen Himmel betrachtete, der durch das Fenster zu sehen war. „Woran denkst du?“, fragte sie ihn leise, woraufhin der Blonde seine Aufmerksamkeit auf die junge Frau richtete. „An so manches“, gestand er seufzend. „An Ecky?“, hakte sie vorsichtig nach. Sie wusste, was damals passiert war. Ihr Vater hat es ihr erzählt, als er ihr zu erklären versuchte, warum manche Menschen Dinge, die sie für normal und selbstverständlich hielt, als abartig und bestrafenswert empfanden. „Auch.“ „Woran denn noch?“ „Jetzt sei nicht immer so neugierig, Karin“, tadelte Jan seine Tochter spielerisch. Dann wandte er seinen Blick wieder auf die kahle Natur. „Ich dachte, ich müsste sterben“, begann er nach einer Weile. „Ich hab an so viele Dinge gedacht, die ich nicht mehr erleben würde. Ich würde nicht mehr erleben, wie du deinen Doktor machst, wie du jemanden kennen lernst, den du wirklich liebst und der dich wirklich liebt, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen möchtest. Ich würde nicht mehr erleben, wie du mich zum Großvater machst. Ich hätte keine Chance mehr, mit euch in Urlaub zu fahren…ich hatte solche Angst, euch, aber insbesondere dich zu verlassen.“ „Es ist vorbei, Papa. Du lebst und du hast die Möglichkeit, das alles zu erleben. Und du wirst das alles erleben, hörst du? Du hast es mir doch mal versprochen, oder nicht?“, flüsterte die Braunhaarige. Ihr Vater sah sie mit einem liebevollen Lächeln an. „Ich liebe dich, vergiss das bitte nicht“, erwiderte er dann leise und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Am nächsten Tag verabschiedete sich die junge Frau schon früh von Jan. Sie hatte eine Lehrveranstaltung, bei der sie auf keinen Fall mehr fehlen durfte und erst, nachdem ihr der blonde Hüne mehrmals versichert hatte, dass es ihm gut gehe, war sie sich sicher, dass sie gehen konnte. Kaum hatte sie das Krankenzimmer verlassen, kamen Dirk und Rodrigo herein. Die beiden hatten sich den Tag frei genommen, um ihn mit ihrem Lebensgefährten zu verbringen, den sie mit intensiven Umarmungen und Küssen begrüßten. „Wie geht’s dir?“, wollte der Älteste unter ihnen wissen, als er sich zu Jan auf das Bett setzte und dessen Bauch mit sanften Streicheleinheiten verwöhnte. Der Chilene hatte sich auf den Sessel neben dem Bett niedergelassen und hielt die Hand des Blonden fest umschlossen. „Es zieht und sticht, aber im Großen und Ganzen geht es mir gut“, erklärte der Patient. Er genoss die zärtlichen Berührungen, aber als der Chirurg dann noch begann, seine schlanken Finger zu küssen, wurde ihm es ihm dann zu viel. „Hey, könnt ihr bitte aufhören? Ich lieg hier auf der Intensivstation, werde permanent überwacht und ihr könnt euch sicher sein, dass bald eine Schwester hier sein wird, weil mein Puls steigt. Und das wird er sicher, wenn ihr nicht bald aufhört. Außerdem hab ich einen Katheter in meinem Ihr-wisst-schon-was und das ist absolut unerotisch“, beschwerte er sich, woraufhin die beiden lachend zwar ihre Bewegungen stoppten, aber nicht von ihm ließen. „Und, weißt du schon, was du machen willst, wenn du nach Hause darfst?“, lenkte Rodrigo ein. „Euch nicht davon abhalten, weiter zu machen“, seufzte der Hüne und schloss genießerisch die Augen, als er spürte, wie sich Dirks Hand ihren Weg unter das Nachthemd bahnte und über seinen Oberkörper strich. Bis sie über seine geprellten Rippen glitt. Zischend sog er Luft ein, was den Älteren dazu veranlasste, in seiner Bewegung inne zu halten. „Scheiße, hab ich was erwischt?“, fragte er schuldbewusst. „Kann man wohl so sagen.“ „Verdammt, das…das tut mir Leid. Ich hab nicht dran gedacht.“ „Schon okay, geht schon wieder“, versicherte der Rettungsarzt. „Sag mal Jan, Karin ist da neulich so was rausgerutscht. Wir haben da so geredet, von wegen Toleranz gegenüber Homosexuellen und sie hat da gesagt, dass du schon mal ein schlimmes Erlebnis in dieser Hinsicht hattest. Was…was hat sie damit gemeint?“, fragte Rodrigo nach einer Weile, als er sich an dieses Gespräch erinnerte. Sofort veränderte sich der Blick des Hünen und wurde von einem dunklen Schleier bedeckt. Jan starrte an ihnen vorbei auf die Wand. „Sie hat von Ecky geredet“, erklärte er schließlich. „Er war mein bester Freund. Damals waren wir noch Jugendliche und Punks. Wir waren nach einem Konzert auf dem Weg nach Hause. Wir mussten durch einen Park gehen. Er war ein bisschen betrunken und hat mich auf einmal geküsst. Es war aus Scheiß und wir fanden es lustig. Da hatten wir auch noch nicht bemerkt, dass ein paar Skinheads in der Nähe waren. Sie kamen auf uns zu und…haben ihn geschlagen. Ich hab versucht, sie aufzuhalten, aber sie haben mich festgehalten und nicht mehr losgelassen. Ich hab geschrieen und versucht mich zu befreien, aber ich konnte nichts tun. Sie haben gesagt, dass wir Schwuchteln so was verdienen würden. Als sie gegangen sind, war Ecky schon lange bewusstlos und voller Blut. Ich hab versucht, Hilfe zu holen, aber es war niemand da. Ich hab ihn gehalten, und nach Hilfe gerufen, aber…ich hab gespürt, wie sein Herz aufgehört hat, zu schlagen. Ich hab gespürt, wie er gestorben ist und…ich konnte nichts tun.“ Er betrachtete seine rechte Hand, die noch immer in Rodrigos lag und vor langer langer Zeit auf dem Brustkorb seines besten Freundes gelegen hatte, als dieser aufgehört hatte, zu leben. Nun wurde sie gedrückt und die rauen Lippen des Südamerikaners platzierten einen Kuss auf dem Handrücken. Ihre Blicke trafen sich und Jan konnte das Mitgefühl in den Augen seines Lebensgefährten sehen. Derselbe Ausdruck, der auch Dirks Gesicht zierte, wie er gleich darauf feststellte. Aber das gehörte der Vergangenheit an, genauso, wie die Sache mit Mario. Die Gegenwart war besser, als er sie sich je vorgestellt hatte. Er lebte, hatte eine wunderbare Tochter und sogar zwei Lebensgefährten, die ihn genauso liebten, wie er sie. Daher konnte er nicht anders, als zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, die sicherlich wundervoll werden würde. Kapitel 13: Zuhause ist es doch am schönsten -------------------------------------------- Nachdenklich betrachtete Jan das silberne Schmuckstück, das noch immer an seinem rechten Ringfinger steckte. Weder Dirk noch Rod hatten je von ihm verlangt, den Ring abzulegen. Und um ehrlich zu sein, hatte er auch nie daran gedacht, das zu tun. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er war es schon so gewohnt, diesen Ring zu tragen, dass er ihn gar nicht mehr bemerkte. Seine beiden Freunde wussten, wie viel ihm Elizabeth bedeutet hatte. Sie wussten aber auch, dass der Rettungsarzt es nie zulassen würde, dass sie das Gefühl hatten, in ihrem Schatten zu leben. Sie war einfach nur über zwanzig Jahre lang an seiner Seite, achtzehn Jahre lang seine Ehefrau gewesen. Vorsichtig schob der Blonde das Schmuckstück von seinem Finger. Fast hätte er erwartet, dass er irgendetwas Besonderes dabei fühlen würde. Etwas, wie Verrat oder Verlust oder… ach, er wusste nicht einmal, was er hätte spüren können. Aber nichts geschah. Warum sollte es auch? Elizabeth war schon lange tot, er hatte genug um sie getrauert. Es war nun an der Zeit, einen Neuanfang zu wagen. Vorsichtig, um seinen Kreislauf zu schonen, stand Jan von seinem Krankenbett auf, nahm den Infusionsständer als Stütze und ging zu dem schmalen Wandschrank, in dem seine Sachen untergebracht waren. Behutsam und mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen legte er den Ring in das Münzfach seiner Geldbörse. Gerade als der Rettungsarzt wieder zurück unter die Bettdecke geschlüpft war, kamen auch schon Rodrigo und Dirk durch die Tür. „Na du?“, begrüßten ihn die beiden und setzten sich zu ihm auf’s Bett. „Wie geht’s dir? Hat Tobias schon gesagt, wann du entlassen wirst?“, hakte der Chilene nach, nachdem er seinem Freund einen sanften Kuss aufgedrückt hatte. Wie groß dieses Krankenhaus auch sein mochte, unter dem Personal kannte hier jeder jeden. So war auch Doktor Tobias Grüne, Jans behandelnder Arzt, kein Unbekannter für die beiden Schwarzhaarigen. „Wenn keine Komplikationen mehr auftreten, dann in drei Tagen.“ Dem Größeren war die Freude über diese Nachricht wirklich anzusehen. Kein Wunder, er war ja nun schon acht Tage im Krankenhaus, wo er das doch überhaupt nicht mochte. „Und, hast du schon irgendwas geplant, wenn du wieder zu Hause bist?“, wollte dann Dirk wissen und nahm Jans rechte Hand in seine. „Ich werd mich auf alle Fälle mal entspannen.“ Während der Größere geantwortet hatte, war dem Schwarzhaarigen etwas aufgefallen. Wie üblich hatte er über den Handrücken seines Freundes gestreichelt, doch seine Finger konnten den kühlen Ring nicht mehr ertasten. „Sach mal…“ Der Ältere ließ die Frage unausgesprochen. Der Rettungsarzt wusste auch so, wovon er sprach. Nur Rodrigo musste sich mit einem Blick erkundigen, was denn nun so besonders an Jans rechter Hand war. „Hey, wo ist denn…?“, stieß er dann verwundert aus. Die beiden Schwarzhaarigen wussten, dass der Dritte in ihrem Bunde dieses Schmuckstück noch nie abgelegt hatte. „Nun, ich dachte…es war an der Zeit, ihn abzulegen“, erwiderte Jan verlegen und zog seine Beine an sich, sodass er nun im Schneidersitz auf dem Bett saß. Er konnte nicht verhindern, dass seine Wangen einen rötlichen Schimmer bekamen. „Du weißt aber schon, dass er uns nie gestört hat, oder? Also zumindest mich nicht“, meinte Dirk und drückte seinen Freund einen überschwänglichen Kuss auf die Schläfe. „Mich selbstverständlich auch nicht“, fügte Rodrigo hinzu und umarmte den blonden Patienten. „Danke, aber wie gesagt, ich dachte einfach, es wär an der Zeit. Ich hab lange genug getrauert, hatte genügend Zeit, Lizzys Tod zu verarbeiten und nun habe ich sogar zwei Menschen gefunden, die mich hoffentlich bis ans Ende meiner Tage lieben“, erwiderte dieser grinsend. „Wo wir grad bei Veränderungen sind, ähm…also…“ So euphorisch wie er auch begonnen hatte, so verunsichert brach Jan seinen Satz ab. Waren sie überhaupt schon soweit? Durch die Worte neugierig gemacht, ließen ihn die jedoch nicht so einfach davon kommen. „Was ist los? Spuck’s aus!“ – „Was wolltest du denn sagen?“ fragten sie auch schon nach. „Nun ja, also…ich hab mir letztens gedacht…also…um ehrlich zu sein, in der Nacht, in der Mario mich gefesselt und geknebelt hat und mir gesagt hat, dass ich das Ganze nicht überleben werde, da hab ich mir gedacht, was ich, nein, was wir alles noch nicht gemacht haben und was ich alles nicht mehr erleben könnte, wenn ich da jetzt wirklich sterben würde. Jedenfalls denke ich, das Leben ist zu kurz, um es unnötig zu verschwenden und da mein Haus ja sowieso groß genug ist…lange Rede, kurzer Sinn: wollt ihr bei mir einziehen?“ Schüchtern blickte der Hüne seine beiden Freunde an, die dieser Vorschlag sprachlos gemacht hatte. Und sie schienen ihre Sprache auch nicht so schnell wiederzufinden. „Okay, ich geb’s zu, es war eine dumme Idee, schließlich kennen wir uns ja dann doch nicht so lange und wer weiß, ob wir uns überhaupt –“, doch weiter kam der Blondhaarige nicht, denn er wurde in eine stürmische Umarmung verwickelt, die ihn vor sämtlichen Schmerzen aufkeuchen ließ. „Aber natürlich wollen wir bei dir einziehen!“ – „Das ist die beste Idee, die ich je gehört habe!“ – „Aber nur, wenn wir ein größeres Bett besorgen.“ – „Was sagt denn Karin dazu?“ – „Oh, scheiße, haben wir dir weh getan?“ – „Tut’s sehr weh?“ sprachen die beiden in einem wilden Durcheinander. „Geht schon, geht schon“, keuchte Jan, als er sich vorsichtig in die Kissen zurücksinken ließ. „Also…das Bett dürfte wohl das geringste Problem sein und Karin hat gesagt, dass es ihr erstens nichts ausmacht, da ich ja auch das Recht dazu hab, glücklich zu sein und ich ja sowieso machen kann, was ich will und sie zweitens ja ihre Wohnung in Hamburg hat und sowieso nur noch zu allen heiligen Zeiten mal vorbeischaut. Was bei ihr soviel heißt wie: jedes zweite bis dritte Wochenende.“ „Dann haben wir das ja mal geklärt, oder?“, fragte der Älteste euphorisch. „Also…seid ihr ehrlich damit einverstanden?“ „Ja selbstverständlich“, erwiderte der Chirurg lachend. „Hast du dir denn sonst noch was überlegt?“ „Oooch, da wär eine Fußmassage, ein Frühstück im Bett, diverse andere Sachen, die man im Bett so anstellen kann, …“ „Na, das könnte man noch einrichten“, meinte Dirk mit seiner tiefen Stimme, die dem Rettungsarzt eine angenehme Gänsehaut bescherte. „Wie lange dauern noch mal drei Tage?“, wollte Jan dann grinsend wissen. Sie dauerten nicht mehr allzu lange und ehe er sich’s versah, wurde der große Blonde auch schon aus dem Krankenhaus entlassen. Auf seinen älteren Freund, der ihn wie ein rohes Ei behandelte, gestützt, betrat der Hüne sein Haus. Da Karin auf der Uni war und die beiden Schwarzhaarigen sich zur Feier des Tages frei genommen hatten, stand den dreien ein gemütlicher Tag in ihrem Heim zur Verfügung. „Willst du was zu Trinken? Wir haben extra für Nachschub gesorgt. Orangensaft – sogar frisch gepresst – Apfelsaft, Johannisbeersaft, Mineralwasser, Leitungswasser, Tee, Milch. Oder was zu essen? Wir haben Kekse, Brötchen und –“ „Ein Tee und ein paar Kekse bitte“, unterbrach Jan Rodrigos Aufzählungen lachend. Die zwei schienen es sich scheinbar zu ihrer neuen Lebensaufgabe gemacht zu haben, ihn von hinten und vorne zu bedienen. Ihm sollte es nur Recht sein! „Wie machen wir das eigentlich? Hat jeder dann ein eigenes Zimmer als Rückzugsort?“, fragte Dirk, als die drei es sich bei Kaffee oder Tee und Keksen im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten. „Mir ist das ganz egal, ich richte mich da nach euch. Und da ich sowieso noch ein paar Zimmer ohne konkreten Verwendungszweck habe, könnt ihr euch ganz nach Belieben austoben“, erwiderte der Hausherr. „Sag mal…hast du eigentlich auch einen fensterlosen Raum? Eventuell auch etwas größer?“, wollte der Chilene wissen. „Du meinst ne Dunkelkammer? Hatten wir im Keller mal eine eingerichtet, aber das Zeug hab ich mittlerweile schon weggeschmissen. Aber ja, wenn wir abstauben und den ganzen Dreck wegputzen, kannst dich sicher dort einrichten. Ich wusste gar nicht, dass du das so professionell machst.“ Dass der Neurochirurg einen kleinen Hang zur analogen Fotografie hatte, hatten die anderen zwei bereits herausgefunden. „Naja, ich hab mir vor ner Zeit mal gedacht, dass ne Dunkelkammer eigentlich auch nicht schlecht wär. In den Filmen sieht das immer so toll aus, wenn die die Fotos selber entwickeln und da hab ich mir gedacht, dass ich das auch mal ausprobieren könnte, da ich mich ja vom Studium her noch etwas mit der Chemie auskennen sollte. Aber in der Wohnung hatte ich nie die Möglichkeit dazu, deshalb…hatte ich gehofft, du könntest mir da weiter helfen.“ „Zu schade, dass ich das Zeug weggeschmissen hab, aber das war Lizzy’s Hobby, von daher…hab ich es irgendwann nicht mehr sehn können“, warf Jan entschuldigend ein. „Ach was, is doch nicht schlimm. So eine Ausrüstung kostet nicht die Welt. Das kann ich mir sogar mit meinem äußerst bescheidenen Arztgehalt leisten“, beschwichtigte Rodrigo lachend. „Ich hab gestern übrigens mit meinem Vermieter geredet und der hat gemeint, ich kann mit Ende nächsten Monats ausziehen“, erklärte Dirk und begann, die Füße des Blonden, die auf seinem Schoß lagen, zu massieren. „Sehr gut.“ Wohlig seufzte der Größere. „Is bei mir genauso. Auch wenn meine Vermieterin etwas angepisst war, weil ich’s ihr ja sooo kurzfristig gesagt hab, aber es geht in Ordnung“, meinte nun auch Rodrigo. „Dann können wir ja schön langsam mal anfangen zu überlegen, was ihr mitnehmen wollt, was wir nicht brauchen. Wie ihr euch einrichten wollt und vor allem, was wir noch besorgen müssen.“ „Also ich hab eine sehr gute Espressomaschine, auf die kann ich nicht mehr verzichten“, warf der Ältere ein. „Gut, gegen die sieht meine schon etwas in die Jahre gekommene Filterkaffemaschine aus wie ein Mazda neben einem Ferrari. Schon allein, um ihr die Minderwertigkeitskomplexe zu ersparen, werd ich sie weggeben“, erwiderte der Chilene, was allgemeines Gelächter auslöste. Noch lange diskutierten sie, wer was mitnehmen sollte und nachdem sie sich auch noch einen Film angesehen hatten, waren sie so müde, dass sie beschlossen, ins Bett zu gehen. „Aber Jan? Bitte lass uns einen Fernseher mit Anschluss besorgen, weil ich möchte mir schon das ein oder andere Fußballspiel ansehen. Oder die Simpsons“, bat der Chef der Notaufnahme, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Ich glaub, das wird sich einrichten lassen.“ Während die beiden Schwarzhaarigen schon vorliefen, um sich wie immer zu streiten, wer als Erster unter die Dusche durfte, kam der Rettungsarzt nicht umhin, vor diesem einen bestimmten Gästezimmer, dessen Tür speerangelweit offen stand, stehen zu bleiben. Hier hatte er vor etwas mehr als einer Woche gesessen und gedacht, er würde nicht mehr lange zu leben haben. Doch am Ende hatte sich das Blatt dann doch noch zu seinen Gunsten gewendet. Er konnte ohne Furcht in die Zukunft sehen und der Verbrecher würde seine gerechte Strafe verbüßen müssen. Und doch… Vorsichtig ging er in das Zimmer hinein. Hier und da konnte er sogar noch kleine Blutstropfen auf dem Boden erkennen. Vor seinem inneren Auge spiegelten sich die Szenen wider, die sich vor elf Tagen hier abgespielt hatten. Er sah sich selbst am Boden kauern und auch wenn er es nie zugeben würde, er spürte noch immer die Scheißangst, die er in diesen verdammten Stunden gehabt hatte. Er sah Mario friedlich auf dem Bett schlummern. Man würde ihm nicht ankennen, dass er in dem Moment ein skrupelloser Geiselnehmer und verhinderter Mörder war. Was wäre wenn…? Was wäre, wenn er das Ganze nicht überlebt hätte? Was wäre aus Karin geworden? Wie hätte sie den Tod ihres Vaters verkraftet, nur vier Jahre nachdem sie schon ihre Mutter verloren hatte? Wie hätten Dirk und Rod es verkraftet? Hätten die drei sich gegenseitig unterstützt? Oder hätte sich Karin von ihnen abgewendet, weil die Beiden sie nur an ihn erinnert hätten? Wie hätten seine Arbeitskollegen wohl reagiert? Wer hätte ihn wohl ersetzt? „Es ist vorbei, hörst du?“ Unbemerkt hatte sich Rodrigo zu seinem Freund geschlichen und umarmte ihn nun von hinten. Scheinbar hatte Dirk den diesmaligen Duschkampf für sich entscheiden können. „Ich weiß“, hauchte Jan. „Es ist nur…“ Der Jüngere verstand sofort, worauf der Andere hinaus wollte. „Wir könnten das Zimmer ja umgestalten. Oder gar die Wand einreißen und somit den Raum vergrößern. Nebenan ist doch eh deine persönliche Bibliothek, der würde es sicher nicht schaden, ausgebaut zu werden“, schlug er daher vor. „Das klingt nach ‘nem guten Plan.“ Der Größere drehte sich zu ihm und drückte ihm einen sanften Kuss auf den Mund. Nachdem die anderen beiden schon geduscht hatten, war nun auch Jan an der Reihe. Lange brauchte er nicht, er wollte seine beiden Freunde schließlich nicht allzu lange warten lassen. Während er sich beim Zähneputzen in den Spiegel sah, glitt sein Blick auf den dünnen rötlichen Strich auf seinem Hals. Rodrigo hatte ihm auch erklärt, dass der plastische Chirurg, der ein guter Freund des Chilenen war, das Vernähen der Wunde übernommen hatte, damit keine hässliche und vor allem keine allzu offensichtliche Narbe bleiben würde. Man hatte ihm noch vor der Entlassung die Fäden gezogen. Jetzt klebte nur noch ein kleines Pflaster darüber. Kaum zu glauben, dass eine so harmlos aussehende Verletzung ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Ob die ganze Sache wohl anders verlaufen wäre, wenn er Dirk und Rod von Anfang an davon erzählt hätte? Bestimmt. Und trotzdem hatte er es nicht gewagt, es zu tun. Er wollte sich nicht ausmalen, was Mario sonst getan hätte. „Mensch Jan, wo bleibst du denn so lange?“, drang die ungeduldige Stimme des Älteren an sein Ohr. Er spuckte den Schaum der Zahnpasta aus, bevor er mit einem leicht genervten „Ich komm ja schon“ antwortete. Schnell klatschte er sich noch etwas Wasser ins Gesicht, trocknete sich ab und ging dann ins Schlafzimmer, wo die beiden Schwarzhaarigen schon im Bett auf ihn warteten. Lächelnd schmiegte er sich an Dirk und nachdem sie sich einvernehmlich eine gute Nacht gewünscht hatten, schalteten sie das Licht aus und schliefen auch schon bald ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)