Welcome to my life von Karma ================================================================================ Von Busfahrten und unerwarteten Enthüllungen -------------------------------------------- Jahaaaa, ich lebe noch. Oder vielmehr wieder. Krank werden vor Weihnachten ist extrem scheiße, wusstet ihr das? >.< Nyan, egal. Jetzt bin ich jedenfalls wieder gesund und fit, hab das zehnte Kapitel endlich überarbeitet und kann euch außerdem mitteilen, dass Kapitel Elf nur noch abgetippt und Kapitel Zwölf abgetippt und beendet werden muss. Ihr seht also, ich war trotz Krankheit fleißig. Nur graut's mir jetzt davor, dass ich über zwanzig handschriftlich verzapfte DIN A4-Seiten abtippen muss - kariert und beidseitig beschrieben. Hatte ich schon erwähnt, dass ich eine recht kleine, enge Handschrift habe? *ächz* So, jetzt aber genug gelabert. Heute auch nur ein kurzer Dank für die bisherigen lieben Kommentare und eine Widmung an , der ich den 50. Kommentar verdanke. Ich find das so toll, dass ihr so mitfiebert und dass die Story so gut ankommt. *______* *happy ist* Jetzt aber endgültig viel Spaß mit Kapitel Zehn und freut euch auf die Aufklärung eines gewissen Missverständnisses! ^.~ Karma ~*~ Der Mittwoch kommt schneller und gleichzeitig langsamer, als mir lieb ist. Am Dienstag habe ich Simon nicht gesehen und auch nicht mehr mit ihm gesprochen, aber dafür haben Ruben und ich uns in den Pausen lange und ausgiebig unterhalten. Ich habe ihm sicherheitshalber noch nichts von der Krankheit seiner Großtante erzählt – ich dachte mir, das will Simon vielleicht lieber selbst machen –, sondern eigentlich hauptsächlich nur zugehört und ihn abgelenkt, als er sich über seinen Vater, seine Mutter und die ganze Sache mit seinem Bruder aufgeregt hat. In der zweiten großen Pause, als es zu schlimm wurde, habe ich das Thema vermutlich nicht besonders geschickt von Simon weg und auf Halloween gelenkt, aber glücklicherweise ist Ruben nicht sauer geworden, sondern zu meiner Erleichterung tatsächlich auf den Themenwechsel eingegangen. So habe ich auch gleich ein bisschen mehr über Rubens Freunde erfahren. Ich weiß jetzt beispielsweise, dass Nils und Yannick, zwei seiner ehemaligen Klassenkameraden, zwar nicht miteinander verwandt sind, aber trotzdem zusammen wohnen, weil ihre Eltern ein Paar sind. Außerdem haben sie auch noch am gleichen Tag Geburtstag. "Und zwar am ersten April", hat Ruben mir kichernd erzählt. "Yannick findet das ganz toll, aber Nils nicht. Aber gut, Nils hat eh fast ständig schlechte Laune und motzt dauernd rum. Das hat ihm auch den Spitznamen "Grummelzwerg" eingebracht. So nennt ihn zwar meistens nur Yannick, aber der meint das nicht böse. Der hat nur Spaß daran, dass Nils sich immer darüber aufregt." Des weiteren habe ich noch erfahren, dass Maurice und Marie-Claire aus Rubens ehemaliger Parallelklasse zweieiige Zwillinge sind, die ihre Namen ihrer Großmutter mütterlicherseits verdanken, weil sie Französin ist. Deshalb sprechen die beiden auch fließend Französisch – etwas, was ich so gar nicht kann. Ich bin schon froh, dass ich mit Englisch einigermaßen zurande komme. Noch mehr Fremdsprachen würden mir wohl einen Knoten in die Zunge machen, von meinem armen Hirn ganz zu schweigen. "Maurice ist so der Typ großer Bruder für uns alle", hat Ruben gesagt. "Wenn irgendjemand Stress hat, dann regelt er das. Er ist irgendwie der Meinung, er müsste auf uns alle aufpassen. Und seine Schwester Marie-Claire ist so was wie die Seelsorgerin bei uns. Wenn irgendjemand Probleme hat, heult er sich meistens bei ihr aus. Sie weiß irgendwie immer, was sie sagen muss, damit man sich besser fühlt. Sie ist ein echt tolles Mädchen." Die auf die große Pause folgende Mathestunde – die fünfte Stunde am Dienstag – haben Ruben und ich geschwänzt. Ich habe einfach behauptet, mir wäre schlecht, und Frau Römer, die über meine Krankheit Bescheid weiß, hat zwar skeptisch gekuckt, uns aber trotzdem entschuldigt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gemerkt hat, dass weder Ruben noch ich wirklich krank waren, sondern dass wir beide einfach keine Konzentration für den Unterricht aufgebracht hätten. Trotzdem hat sie uns das Krankenzimmer aufgeschlossen und Ruben und ich haben fünfundvierzig Minuten lang einfach nur über alles und nichts gequatscht und uns lustige oder peinliche Anekdoten erzählt, die irgendwann mal passiert sind. So viel gelacht habe ich schon lange nicht mehr und ich glaube auch Ruben tat das ganz gut. Daran muss ich jetzt gerade unwillkürlich wieder denken, als mein Blick zur Küchenuhr huscht. Es ist Viertel nach fünf und ich sitze am Küchentisch, meine gepackte Tasche und meinen Rucksack neben mir und mit den Nerven vollkommen am Ende. Aus Franzis Zimmer kann ich gedämpft die Stimme meiner großen Schwester hören, die mal wieder mit ihrer besten Freundin Kirsten telefoniert. Ich kann nicht verstehen, worüber die beiden reden, aber eigentlich interessiert mich das auch nicht. Was auch immer Franzi tut oder nicht tut, geht mir im Augenblick sonst wo vorbei. Eigentlich sollte sie mich ja heute zur Schule fahren, aber nachdem sie seit gestern weiß, dass Simon das übernimmt – ich habe Mama gestern absichtlich in Franzis Beisein davon erzählt, damit sie beide nicht glauben, dass ich auf meine blöde große Schwester angewiesen bin –, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nur hier ist, um mich auslachen und mir eine Nase drehen zu können, falls Simon mich doch noch versetzt. Genau aus diesem Grund hoffe ich noch mehr als ohnehin schon, dass er mich nicht hängen lässt und Franzi so keine Gelegenheit zum Lästern gibt. Außerdem – und das ist mir, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, viel wichtiger als etwaiges Geläster von Franzi – will ich Simon auch unbedingt wenigstens noch ein Mal sehen, und sei es auch nur ganz kurz, bevor ich für zwei Tage wegfahre. Ich weiß, eigentlich sollte ich froh darüber sein, dass ich ein bisschen Abstand von ihm kriege, und ich sollte wohl auch hoffen, dass sich meine Gefühle in den zwei Tagen erledigen, aber ich bin mir einfach jetzt schon sicher, dass ich ihn doch ziemlich vermissen werde. Dass das total bescheuert ist, ist mir auch klar, aber ich kann einfach nichts dagegen machen. So in meine widerstreitenden Gedanken verstrickt zucke ich heftig zusammen und falle vor Schreck fast vom Stuhl, als es an der Wohnungstür klingelt. Ein schneller Blick zur Uhr zeigt mir, dass Simon – es darf einfach bittebittebitte niemand anders sein – fast zehn Minuten zu früh dran ist, aber das stört mich nicht. Etwas wackelig rappele ich mich auf und will zur Tür gehen, aber Franzi ist schneller als ich. Noch immer mit dem Telefon am Ohr öffnet sie die Tür und ich kann sehen, wie sie Simon einen abschätzigen Blick zuwirft, ehe sie sich halb zu mir umdreht. "Dein Fahrservice ist da, Jannilein", teilt sie mir schnippisch mit und ich möchte sie am liebsten dafür schlagen, dass sie diesen blöden, absolut ultrapeinlichen Spitznamen ausgerechnet vor Simon verwenden muss. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass Vicky mich bei jeder Gelegenheit Janni nennt! Aber nein, diese dumme Schnepfe von Franzi muss das ja gleich noch überbieten. Womit hab ich so eine ätzende große Schwester eigentlich verdient? "Blöde Zicke!", motze ich sie deshalb an, aber wie üblich ignoriert sie mich und quatscht stattdessen weiter auf Kirsten ein, als wären Simon und ich gar nicht da. "Bin ich froh, dass ich die für zwei Tage los bin. Das wird die pure Erholung", murre ich weiter und blinzele irritiert, als Simon leise zu lachen beginnt. Was ist denn jetzt los? Hab ich mich etwa schon wieder blamiert, ohne das zu merken? Bitte nicht! "Klingt, als hättet ihr euch immer noch nicht wieder vertragen", erklärt er mir den Grund für sein Amüsement und ich schüttele abfällig schnaubend den Kopf. "Sie hat sich immer noch nicht bei mir entschuldigt, also rede ich auch nicht mit ihr. Immerhin hab ich nichts falsch gemacht", brummele ich in meinen nicht vorhandenen Bart und Simon schmunzelt kurz, ehe er sich bückt, um Slim, der ihm schon die ganze Zeit schnurrend um die Beine streicht, hochzuheben und ihn zu kraulen. Ich bin zugegebenermaßen ein bisschen neidisch auf das dumme, glückliche Katzenvieh und trete mich innerlich selbst in den Arsch deswegen. Dabei beglückwünsche ich mich gleichzeitig selbst dazu, dass ich genau in dieser Sekunde einen neuen Tiefpunkt in meinem Leben erreicht hab. Ich meine, wie tief muss man bitteschön sinken, um eifersüchtig auf eine Katze zu sein? Das ist so unglaublich albern, peinlich und erniedrigend, dass ich garantiert auf der Stelle vor Scham sterben werde, wenn jemals irgendjemand was davon erfährt. "Können wir?", erkundigt Simon sich und ich nicke hektisch. Je eher ich hier weg bin, desto besser. "Ja. Ich muss nur noch eben mein Zeug holen", erwidere ich und mache mich auf den Weg in die Küche zu meinem Gepäck. Ich setze meinen Rucksack auf und will gerade nach der Reisetasche greifen, da wird diese schon hochgehoben. "Da-Danke", stammele ich und verfluche mich innerlich selbst dafür, dass ich schon wieder rot werde. Wie soll ich's denn schaffen, mich nicht zu verraten, wenn ich mich jedes Mal in Simons Gegenwart so unglaublich dämlich aufführe? Zu meiner Erleichterung geht er nicht darauf ein, dass ich schon wieder aussehe wie ein gekochter Hummer, sondern nimmt einfach nur meine Tasche, streichelt Slim noch einmal über den Kopf und sieht mich dann auffordernd an. Ich stapfe vor zur Wohnungstür, aber ehe ich sie aufhalten kann, holt Simon mich ein und erledigt das für mich. Ich komme mir ein bisschen vor wie ein Mädchen und meine Gesichtsfarbe wird noch dunkler, als ich bemerke, dass er mich kurz angrinst. Schweigend gehen wir nach unten zu seinem Wagen, verstauen mein Gepäck im Kofferraum und steigen ein. Und erst als ich mich schon angeschnallt habe und einen Blick in den Rückspiegel werfe, fällt mir etwas auf, das mich einerseits total irritiert und andererseits wahnsinnig freut: Simon trägt heute keine seiner üblichen farbigen Kontaktlinsen. Ich weiß nicht, warum er darauf verzichtet hat, aber ich kann nicht anders als beduselt zu grinsen. Ich mag seine Augen und allein die Möglichkeit, dass er das meinetwegen gemacht hat – eben weil ich ihm das am Samstag gesagt hab –, lässt mich bildlich gesprochen mindestens einen halben Meter über dem Boden schweben. Ich weiß, dass ich mich gerade vollkommen bescheuert aufführe, aber ich kann einfach nicht anders. Und ich will auch absolut nicht darüber nachdenken, wie oft seine Freundin ihn wohl schon ohne Kontaktlinsen gesehen hat. Genau genommen will ich eigentlich gar nicht an seine Freundin denken – was mir, zumindest größtenteils, auch recht gut gelingt. Verdrängung der Tatsachen nennt man so was, glaub ich. Aber egal, Verdrängung ist mein Freund. Genau. "Na, Du hast ja gute Laune", spricht Simon mich an, nachdem er den Wagen gestartet hat. Ich blinzele etwas irritiert – wie kommt er denn jetzt bitteschön darauf? –, nicke dann aber trotzdem. "Irgendwie schon, ja", gebe ich zu und beiße mir schnell auf die Unterlippe, um ihm nicht auch noch brühwarm zu erzählen, dass das eigentlich nur an ihm und daran, dass er jetzt tatsächlich da ist und mich zur Schule fährt, liegt. Das muss er nun wirklich nicht wissen. Das wär doch ein bisschen zu peinlich für mich. "Ich freu mich schon ein bisschen auf den Ausflug. Seit Ruben in meiner Klasse ist, ist es da nicht mehr ganz so ätzend", quassele ich einfach drauflos und mich trifft ein kurzer Seitenblick Simons, ehe der sich wieder auf den Verkehr konzentriert. "Es ist wirklich schwer, Ruben nicht zu mögen", wiederholt er, was er mir schon mal über seinen kleinen Bruder erzählt hat, und mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass er wirklich unglaublich an Ruben hängen muss. "Er war schon immer sehr offen und fröhlich. Schon als er noch klein war. Wenn er jemanden unbedingt kennen lernen wollte, ist er einfach hingegangen und hat denjenigen angesprochen", erzählt er weiter und ich muss kurz grinsen. "Weißt Du, was er an seinem ersten Schultag gemacht hat? Er hat Kevin, einen von den drei größten Idioten aus unserer Klasse, nach seiner Nummer gefragt und ihm erzählt, dass er ja genau sein Typ wär, weil Kevin der Meinung war, dass wir ja jetzt noch so ne "Emo-Tunte" in der Klasse haben. Ich hab gedacht, ich kipp vom Stuhl. So hat vorher noch nie jemand mit Kevin gesprochen. Gut, jetzt hasst er Ruben genauso wie mich, aber das macht ihm irgendwie gar nichts aus." "Das ist typisch für Ruben." Simon schüttelt den Kopf und schmunzelt kurz, ehe er mich wieder ansieht. "Hast Du eigentlich immer noch Stress mit diesen drei Vollidioten?", erkundigt er sich dann und nun schüttele ich den Kopf. "Nein. Jedenfalls nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Irgendwie weiß Ruben immer einen Konter auf die blöden Sprüche, die wir gedrückt kriegen, so dass die drei Trottel gegen ihn ziemlich alt aussehen. Und blöd genug, uns von denen alleine erwischen zu lassen, sind wir beide nicht", gebe ich zurück und im nächsten Moment dreht mein Herz total durch. Irre ich mich oder sieht Simon tatsächlich ein bisschen erleichtert aus? Okay, Jan, ganz ruhig. Das bildest Du Dir ein. Du hast Halluzinationen. Genau. Mensch, jetzt interpretier da bloß nichts rein, was da gar nicht ist! Er macht sich nur Sorgen um mich, weil er mich ganz gut leiden kann und weil ich nun mal ein Freund seines kleinen Bruders bin, nicht mehr und nicht weniger. Verdammt, das ist die Scheiße daran, wenn man verliebt ist. Man legt echt jedes Wort auf die Goldwaage und glaubt ständig, dass da mehr dahintersteckt. Ich bin doch echt nicht mehr zu retten. Kann mich mal bitte jemand erschießen? "Ähm ... Ich hab Ruben übrigens noch nichts erzählt wegen eurer Tante", stammele ich und trete mich selbst dafür in den Arsch, dass ich schon wieder rede, ohne vorher nachzudenken. Ich bin doch echt ein Trottel, der seinesgleichen sucht. "Wie ... wie geht's ihr eigentlich?", schiebe ich noch schnell hinterher und traue mich nicht, Simon direkt anzusehen. Seine Hände sind so fest um das Lenkrad gekrampft, dass seine Knöchel ganz weiß aussehen. Toll gemacht, Jan. Genau das falsche Thema. Ob's dafür irgendwie nen Preis gibt? So den Obertrottel-Orden oder so? Verdient hätte ich ihn auf jeden Fall. Wie kann man nur so unglaublich blöd sein? "Es geht ihr soweit gut. Sie musste gestern noch nicht im Krankenhaus bleiben, sondern soll erst am nächsten Montag wiederkommen. Dann wird sie so bald wie möglich operiert." Simons Stimme klingt vielleicht eine Spur zu ruhig und ich schlucke schwer. Ich glaube, ich kann mir nicht mal annähernd vorstellen, wie nahe ihm diese ganze Sache geht. Und wenn ich so genau darüber nachdenke, dann bin ich zugegebenermaßen auch froh darüber, dass ich das nicht nachempfinden kann. Ich wünschte nur, er müsste das nicht durchmachen. Und seine Tante auch nicht. "Das ... klingt doch ... ganz gut ... oder?", frage ich leise und kleinlaut und kann aus dem Augenwinkel sehen, wie Simon nickt. "Schon, ja", antwortet er und ich kann ihm das, was er nicht laut ausspricht – nämlich dass er sich trotzdem wahnsinnige Sorgen um seine Tante macht –, förmlich an der Nasenspitze ablesen. Ich möchte mich am liebsten selbst dafür schlagen, dass ich dieses Thema überhaupt zur Sprache gebracht und damit die eigentlich recht gute Stimmung so versaut hab, aber stattdessen mache ich mich in meinem Sitz nur so klein wie möglich und schäme mich in Grund und Boden. Wie kann man nur ungestraft so dämlich sein wie ich? Die restliche Fahrt vergeht schweigend und ich bin gleichermaßen erleichtert wie traurig, als irgendwann der Parkplatz der Schule in Sicht kommt. Trotz der Uhrzeit ist er nahezu gerammelt voll und ich kann beinahe meine halbe Klasse inklusive ihrer Eltern schon dort stehen sehen. Ich verrenke mir ein wenig den Hals und erblicke irgendwann tatsächlich auch Ruben, der augenscheinlich gerade mit seiner Mutter spricht. Von seinem Vater, den ich bisher noch nicht kenne, fehlt jede Spur, aber das muss nichts heißen. Vielleicht sehe ich ihn auch nur noch nicht. Sobald Simon seinen Wagen zum Stehen gebracht hat, schnalle ich mich ab und steige aus, um mein Gepäck aus dem Kofferraum zu nehmen. Wie schon vorhin kommt er mir auch jetzt bei meiner Reisetasche zuvor, aber ehe wir es auch nur zehn Schritte vom Auto weg schaffen, wird Ruben auf uns aufmerksam und kommt uns strahlend entgegengestürmt, um sich in Simons Arme zu werfen und sich wie schon am Montag an ihn zu klammern. "Was machst Du denn hier, Simon?", fragt er seinen Bruder dabei und der streicht ihm mit der freien Hand über die Haare. "Ich hab Jan hergefahren", erklärt er und als er lächelt, fängt mein Herz wieder mal an zu rasen. Etwas verlegen scharre ich mit den Füßen und kippe im nächsten Moment fast um, als Ruben von Simon ablässt und stattdessen mir stürmisch um den Hals fällt. "Danke, Jan!", flüstert er mir zu und ich laufe knallrot an, weil ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, dass wir gerade die Attraktion des Abends sind. Sämtliche schon anwesenden Klassenkameraden starren uns an und deren Eltern glotzen mindestens ebenso irritiert. Mir ist das Ganze schon ein bisschen peinlich, aber irgendwie freue ich mich auch darüber, dass Ruben sich so freut. Es war also doch eine gute Idee, Simon zu bitten, mich heute herzubringen. "Äh ... Kein Thema", nuschele ich beschämt zurück und werde im nächsten Moment fast geblendet, als Ruben mich loslässt und mich stattdessen angrinst wie ein Flutlichtscheinwerfer. "Irgendwie find ich's echt toll, dass wir uns kennen gelernt haben", sagt er und meine Gesichtsfarbe wird nur noch dunkler, als Simon erst seinem Bruder und dann mir leise lachend durch die Haare wuschelt. Sofort fängt mein ganzer Körper wieder an zu kribbeln und ich habe das Gefühl, hier auf der Stelle verglühen zu müssen. Heilige Scheiße, es wird immer schlimmer mit mir! Hilfe! "Du, Simon, der Schierling fährt übrigens auch mit auf den Ausflug. Das ist unser Relilehrer", informiert Ruben seinen Bruder und mir fällt erst jetzt ein, dass er tatsächlich Recht hat. Daran hab ich ja gar nicht mehr gedacht. Aber gut, eigentlich ist es mit dem Denken bei mir im Augenblick eh nicht weit her. Ich bin mit meinen Gedanken sowieso ständig woanders. Das ist schon so schlimm, dass Vicky mich heute morgen, als sie sich von mir verabschiedet hat, ausgelacht hat, weil ich tatsächlich so verpeilt war, dass ich nicht mehr wusste, dass wir ja heute schon losfahren. Wenn das nicht peinlich ist, was ist es dann? "Komm, ich stell ihn Dir eben vor." Damit schnappt Ruben sich die freie Hand seines Bruders und zieht ihn hinter sich her. Mir wirft er über die Schulter hinweg einen auffordernden Blick zu und ich schaffe es nach ein paar Sekunden tatsächlich, meine Füße doch noch in Bewegung zu setzen und den beiden zu folgen. Dabei huscht mein Blick unwillkürlich zu Rubens Mutter, die ihre beiden Söhne ebenso beobachtet wie ich. Ihr Mund ist nur ein schmaler Strich, aber sie sagt nichts, sondern bleibt da stehen, wo sie steht. Sie begrüßt Simon nicht und er scheint sie im Gegenzug nicht einmal wahrzunehmen. Irgendwie frage ich mich gerade, ob er sie wirklich nicht sieht oder ob er nur so tut. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ihm dieses Verhalten seiner eigenen Mutter nicht weh tut, aber ich will ihn nicht danach fragen. Das wäre nur wieder ein falsches Thema und ich will mich nicht schon wieder so in die Nesseln setzen wie vorhin. Einmal reicht wirklich voll und ganz. "Herr Schierling?" Ruben zupft an der Jacke unseres Relilehrers und als der sich zu uns umdreht, strahlt er ihn an. "Das ist mein Bruder", stellt er Simon stolz vor und Herr Schierling wirkt im ersten Moment etwas irritiert, lächelt dann aber und reicht Simon die Hand. "Dann werden Sie demnächst also unser Ehrengast sein, ja?", erkundigt er sich und Simon nickt. Dabei liegt auf seinen Lippen ebenfalls ein Lächeln und mein Herz dreht schon wieder durch. "Wenn Sie es so ausdrücken wollen", antwortet Simon und Herr Schierling nickt so heftig, dass ihm seine Brille um ein Haar von der Nase rutscht. Buchstäblich im letzten Moment hält er sie auf, schiebt sie wieder hoch und sein Lächeln wird noch etwas breiter. "In der Tat, ja. Ich muss gestehen, ich finde es unglaublich interessant, einen echten Satanisten kennen zu lernen. Wenn es Sie nicht stört, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Hätten Sie einen Augenblick Zeit?" Mit schiefgelegtem Kopf sieht er Simon an und als der nickt, entwindet Ruben ihm mit einem fetten Grinsen meine Reisetasche und schleppt sie in Richtung Bus, um sie da bei dem restlichen Gepäck zu verstauen. Weil ich nicht so recht weiß, was ich tun soll – ich will Simon und Herrn Schierling nicht stören –, schließe ich mich Ruben an und helfe ihm dabei, die Tasche in den schon ziemlich vollen Bus zu stopfen. Kaum dass das erledigt ist, dreht Ruben sich zu mir um und drückt mich noch mal so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekomme. "Das war echt super von Dir, Jan. Das mit Simon, meine ich", bedankt er sich, sobald er mich wieder losgelassen hat, und ich zupfe verlegen an meiner Jacke herum. Irgendwie ist es mir ja schon ein bisschen peinlich, dass er mich so durchschaut hat. "Ich dachte, so könnt ihr euch wenigstens noch mal kurz sehen, ohne dass Deine Eltern sich darüber beschweren können", erkläre ich nuschelnd und habe Ruben im nächsten Moment schon wieder an meinem Arm hängen. Irgendwie macht er das dauernd, aber es stört mich nicht. Und mittlerweile ist es mir auch nicht mehr ganz so peinlich wie zu Beginn, wenn er sich bei mir einhakt und mich irgendwohin mitschleift. Er ist eben einfach so. "Du bist echt nett, Jan", behauptet Ruben, aber ich komme nicht zum Widersprechen, weil seine Mutter just in diesem Moment zu uns tritt. "Möchtest Du mir Deinen Freund nicht vorstellen, Ruben?", erkundigt sie sich spitz und er nickt, während ich nur etwas ratlos zwischen den Beiden stehe. "Ja, klar. Also, Mama, das ist Jan. Jan, das ist meine Mutter", stellt Ruben uns beide vor und gut erzogen, wie ich nun einmal bin, reiche ich seiner Mutter die Hand und begrüße sie so, wie meine Mutter es mir beigebracht hat. Bei der Gelegenheit stelle ich fest, dass Rubens Mutter tatsächlich die gleichen braunen Augen hat wie ihr jüngerer Sohn. Auch sonst sieht er ihr ziemlich ähnlich – wenn man jetzt mal von den Haaren absieht; die Haare von Frau Schwarz sind dunkelbraun und nicht so schwarz wie die ihrer beiden Söhne – und ich frage mich unwillkürlich, ob die Ähnlichkeit zwischen Simon und seinem Vater wohl auch so groß ist. Besonders viel Ähnlichkeit mit seiner Mutter hat er jedenfalls nicht, soweit ich das beurteilen kann. Frau Schwarz mustert mich skeptisch und ich habe das Gefühl, dass sie eigentlich ziemlich gerne wissen würde, woher ich Simon kenne und warum er mich hergefahren hat. Allerdings fragt sie nicht und ich erzähle es ihr auch nicht von selbst. Immerhin soll ihr Mann ja nicht wissen, dass Ruben, wenn er mal zu mir kommt, auch gleich seinen Bruder besuchen kann. Ich will nicht, dass seine Eltern ihm verbieten, mich zu besuchen, deshalb behalte ich das für mich. Das zumindest mir etwas unangenehme Schweigen, das sich über Ruben, seine Mutter und mich gelegt hat, wird erst von Frau Römer unterbrochen, die mir irgendwann auf die Schulter tippt und Ruben und mich auffordert, doch schon mal einzusteigen. Die Anderen aus unserer Klasse sind schon dabei, sich in den Bus zu quetschen, weshalb wir beide nach einem kurzen Blickwechsel beschließen, dass wir warten wollen, bis diese Idioten drin sind. Wir werden dann schon noch irgendwo zwei freie Plätze finden. Ohne dass ich es wirklich will, schweift mein Blick von dem Gedränge an den beiden Bustüren zu Simon, der immer noch bei Herrn Schierling steht und sich scheinbar sehr angeregt mit ihm unterhält. Ich wüsste zu gerne, worüber die Zwei gerade reden, aber ich möchte jetzt auch nicht stören, indem ich mich dazustelle und lausche. Außerdem würde das ja wohl auch ziemlich blöd wirken. Trotzdem möchte ich mich schon noch gerne von Simon verabschieden, aber wie in aller Welt soll ich das machen, solange Herr Schierling noch dabei ist? Wie als Antwort auf meine unausgesprochene Frage umarmt Ruben schließlich, als der Rest unserer Klasse sich lärmend im Bus verteilt hat, seine Mutter und verabschiedet sich von ihr, ehe er sich meine Hand schnappt und mit mir im Schlepptau zielstrebig zu Simon und Herrn Schierling stratzt. Ohne darauf zu achten, dass die Zwei sich immer noch unterhalten, zupft er dann am Mantel seines Bruders und als der sich zu uns umdreht, klebt er auch schon an ihm und umarmt ihn ganz fest. "Bis bald", nuschelt er in Simons Pulli und seufzt zufrieden, als sein Bruder daraufhin die Arme um ihn legt und ihn kurz an sich drückt. "Pass gut auf Dich auf, okay?", bittet er und Ruben nickt, ehe er sich ziemlich widerwillig von Simon löst. Ich will mich gerade ebenfalls verabschieden, aber bevor ich dazu komme, auch nur den Mund aufzumachen, bleibt mir fast das Herz stehen, als ich mich urplötzlich ebenso in Simons Armen wiederfinde wie gestern in seiner Wohnung. Vor Schreck bleibe ich stocksteif stehen, aber als Simon mir leise "Und Du auch, Jan" zuflüstert, schaffe ich es doch noch irgendwie zu nicken – und das, obwohl mein Herz gerade erst wieder angesprungen ist und gleich ein paar Überstunden einlegt. Ich habe das peinliche Gefühl, dass Simon das eigentlich merken müsste, aber zu meiner grenzenlosen Erleichterung passiert das nicht. Trotzdem bin ich ein wenig enttäuscht, als er mich wieder loslässt. Ich komme aber nicht dazu, etwas zu sagen und mich so mal wieder zum Affen zu machen. Bevor das passiert, legt Herr Schierling mir eine Hand auf die Schulter und schiebt mich in Richtung der geöffneten Bustüren. Ruben ist bereits eingestiegen und als ich es zu meinem eigenen Erstaunen tatsächlich irgendwie geschafft habe, ohne Unfall in den Bus zu kommen – was, in Anbetracht meiner gummiartigen Beine, so was wie das achte Weltwunder ist –, winkt er mir hektisch von einem Zweierplatz in der zweiten Reihe zu. Genau vor uns ist noch ein freier Einzelplatz, auf den sich Herr Schierling setzt, nachdem Ruben mich gepackt und neben sich gezerrt hat. Er hat sich ans Fenster gesetzt und als ich einen Blick hinauswerfe, trifft mich fast der Schlag, weil Simon kaum zwei Meter vom Bus entfernt steht und uns beobachtet. Als er bemerkt, dass wir ihn beide anblicken, lächelt er und hebt die Hand, um uns zum Abschied noch mal zu winken. Die blöden Sprüche, die von irgendwo schräg hinter uns kommen und von Frau Römer gleich unterbunden werden, höre ich gar nicht richtig oder verstehe sie zumindest nicht. Dafür bin ich viel zu durcheinander – und, wenn ich ehrlich bin, auch viel zu glücklich. Ruben erwidert Simons Geste sofort mit gleicher Münze und auch ich schaffe es irgendwie, ihm kurz zuzuwinken. Dabei legt mein Herz einen Stepptanz hin und ich weiß nicht genau, wie ich mich fühlen soll. Einerseits könnte ich platzen vor Freude darüber, dass er mich gerade ebenso umarmt hat wie Ruben, aber andererseits darf ich gar nicht daran denken, dass ich ihn frühestens am Freitag wiedersehe, weil ich sonst einfach nur heulen möchte. Ehrlich, verliebt sein ist scheiße. Absolut. Dieses Gefühlschaos macht doch jeden halbwegs normalen Menschen früher oder später wahnsinnig. Als der Bus anfährt, kniet Ruben sich verkehrt herum auf den Sitz, um seinem Bruder so lange wie möglich noch winken zu können. Erst als der Parkplatz außer Sicht ist, rutscht er wieder richtig herum auf seinen Platz und ich stelle etwas überrascht fest, dass sein Gesicht ein fast perfektes Spiegelbild meiner eigenen chaotischen Gefühle ist. Scheinbar kann er sich auch nicht so ganz entscheiden, ob er Simon nun vermissen oder sich doch eher darüber freuen soll, dass er ihn heute noch gesehen hat. "Ich soll Dich übrigens von Christie grüßen", richtet er schließlich das Wort an mich und ich blinzele irritiert, nicke dann aber, weil ich einfach nicht weiß, was ich jetzt dazu sagen soll. "Er findet Dich echt nett und er freut sich schon auf Halloween. Hat er mir gestern noch gesagt", fährt er fort, aber ehe ich etwas darauf erwidern kann, dreht Herr Schierling sich halb zu uns beiden um und schenkt Ruben ein Lächeln. "Dein Bruder ist wirklich ein außerordentlich netter junger Mann", teilt er ihm mit. Ruben fängt daraufhin sofort an zu strahlen und ich muss ein wenig grinsen. Mit Nettigkeiten über Simon kann man bei Ruben irgendwie immer punkten. Er hängt wirklich unheimlich an seinem großen Bruder. Aber das beruht ja wohl auf Gegenseitigkeit. Hat man ja vorhin mehr als deutlich gesehen. "Ich weiß", antwortet Ruben Herrn Schierling und lehnt sich vor. "Worüber haben Sie denn eben mit Simon gesprochen?", will er neugierig wissen und ich merke, wie ich selbst in meinem Sitz auch etwas weiter nach vorne rutsche, um auch wirklich alles von dem Gespräch mitzukriegen. So peinlich das auch ist, ich will irgendwie nichts verpassen, was auch nur im Entferntesten mit Simon zu tun hat. Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass das total bescheuert ist, aber ich kann einfach nicht anders. "Nun, Dein Bruder und ich haben uns über einige der Vorurteile unterhalten, die es über Menschen seines Glaubens gibt." Diese wenig befriedigende Antwort quittiert Ruben mit einem Flunsch, der Herrn Schierling zum Schmunzeln bringt. "Was genau wir besprochen haben, werde ich euch beiden ganz sicher nicht auf die Nase binden. Immerhin erwarte ich schließlich noch ein Referat von euch. Aber ich habe für mich selbst schon ein paar Dinge erfahren, die ich vorher nicht wusste. Ich bin also sehr gespannt darauf, was ihr Zwei mir und der Klasse noch so vortragen werdet." Damit dreht Herr Schierling sich wieder nach vorne und Ruben schmollt kurz die Rückenlehne seines Sitzes an, ehe er sich wieder mir zuwendet. "Gemeinheit", befindet er noch immer schmollend und ich nicke zustimmend, muss aber trotzdem weiterhin grinsen. Irgendwie ist er lustig, wenn er so schmollt. Das ist fast so putzig wie bei Vicky – obwohl meine kleine Schwester ja immer behauptet, sie wäre nicht putzig. Ist sie wohl – genau wie Ruben –, aber das behalte ich lieber für mich. "Du bist echt putzig, wenn Du so schmollst." Okay, so viel dazu, dass ich das eigentlich für mich behalten wollte. Toll gemacht, Jan, wirklich. Ganz große Klasse. Warum kann ich nicht eigentlich mal mein Hirn einschalten, bevor ich anfange zu reden? Immerhin würde ich mich dann vielleicht nicht dauernd selbst so zum Hampelmann machen, wie ich das nun mal tue. Ich bin und bleibe eben einfach ein Trottel. Ruben scheint im ersten Moment etwas irritiert zu sein von meinen Worten, doch dann schüttelt energisch den Kopf. "Bin ich gar nicht!", behauptet er und ich muss wieder grinsen. "Doch, bist Du. Genau wie meine kleine Schwester. Du widersprichst sogar ganz genau so wie sie", ziehe ich ihn auf und er wirft mir einen bemüht bösen Blick zu, der mich allerdings nur zum Lachen reizt. "Wie Vicky!", kichere ich und kann auch nicht damit aufhören, als Ruben mir leicht gegen den Oberarm boxt. "Du vergleichst mich mit einer Zwölfjährigen!", entrüstet er sich, plustert empört die Wangen auf und mein Lachen wird noch lauter. Glücklicherweise nimmt er mir das nicht übel, sondern fängt nach einem prüfenden Blick in die Fensterscheibe des Busses selbst auch an zu kichern. "Oh Mann, ich glaub, Du hast Recht. Ich seh echt nicht aus wie fünfzehn, wenn ich nen Flunsch ziehe", gibt er zu und grinst mich an, als ich endlich mit dem Lachen aufhöre und stattdessen nach Luft japse. Ich sehe ihn an, sehe das schelmische Funkeln in seinen braunen Augen und beglückwünsche mich selbst dazu, dass Ruben jetzt in meiner Klasse ist und dass wir Freunde geworden sind. Ohne ihn hätte ich in den nächsten zwei Tagen sicher nichts zu lachen, aber mit ihm wird dieser blöde Ausflug bestimmt nur halb so ätzend. Den Rest der Fahrt, die laut Frau Römer ungefähr drei Stunden dauern soll, verbringen Ruben und ich quatschend – nicht nur miteinander, sondern hin und wieder auch mit Herrn Schierling – und irgendwelche schwachsinnigen Reisespielchen spielend, die eigentlich total albern und peinlich sind, uns aber trotzdem riesigen Spaß machen. Irgendwann so um kurz nach acht hab ich schon Bauchschmerzen vor lauter Lachen und bin daher froh, als Ruben verkündet, dass es langsam zu dunkel ist, um weiter verschiedenfarbige Autos zu zählen. Stattdessen kramt er in seinem Rucksack, den er vor Fahrtbeginn unter seinen Sitz gestopft hat, herum, fördert seinen MP3-Player zutage und hält ihn mir strahlend entgegen. "Zeit für etwas Musik!", beschließt er fröhlich, steckt mir einen der Kopfhörer ins Ohr und drückt auf Play, nachdem er sich selbst auch eingestöpselt hat. Ich lehne mich gemütlich in meinem Sitz zurück, schließe die Augen, lausche der Musik und höre mit einem halben Ohr Ruben zu, der mir bei jedem neuen Song Titel und Interpret nennt. Dabei verkneife ich es mir, ihn darauf hinzuweisen, dass ich einige der Lieder und Bands durchaus selbst kenne. Wenn es ihm so viel Spaß macht, sein Wissen mit mir zu teilen, dann will ich kein Spielverderber sein. Irgendwann muss ich wohl eingenickt sein, denn ich erwache davon, dass Ruben an meiner Schulter rüttelt. "Wach auf, Jan. Wir sind da", informiert er mich und ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, ehe ich mich umsehe. Der Bus steht auf einem Parkplatz, aber durch die draußen herrschende Dunkelheit kann ich nicht viel von der Umgebung erkennen. Ich sehe nur ein paar vereinzelte Silhouetten irgendwelcher Bäume und Büsche, mehr nicht. Noch ehe ich überhaupt richtig wach bin, schiebt Ruben mich auch schon nach draußen in die Kälte. Etwas orientierungslos tapere ich ihm hinterher zur Gepäckausgabe, lasse mir meine Tasche in die Hand drücken – meinen Rucksack hab ich, ebenso wie Ruben, schon im Bus aufgesetzt – und werde gleich danach von meinem persönlichen Weckdienst zurück zu Herrn Schierling geschleift. Sobald auch die Anderen alle ihr Gepäck haben, winkt Frau Römer uns alle zu sich heran und räuspert sich, ehe sie unsere im Halbkreis vor ihr stehende Klasse mustert. "Hier in dieser Herberge gibt es nur Zweier- und Dreierzimmer", erläutert sie uns dann und wartet, bis sich der erste Tumult wieder gelegt hat, bevor sie fortfährt. "Ich hoffe doch, dass ihr euch auch ohne Hilfe einigen könnt, wer in welchem Zimmer schläft. Und bevor ihr danach fragt: Nein, Jungen und Mädchen dürfen nicht gemeinsam auf ein Zimmer." Bei diesen Worten verdrehe ich die Augen. Hält sie uns für Idioten? Ruben neben mir grinst nur und stößt mich dann an. "Wollen wir schon mal reingehen und uns ein Zimmer aussuchen?", fragt er und ich werfe einen kurzen Blick zu unseren Klassenkameraden, die alle mehr oder weniger hitzig miteinander diskutieren. Da das die perfekte Gelegenheit ist, uns abzusetzen, nicke ich Ruben zu und stapfe ihm hinterher, als er vorausgeht. In der Herberge werden wir von einer etwas fülligen Frau Mitte Fünfzig – zumindest sieht sie durch ihre stark angegrauten Haare so aus – empfangen, die uns freundlich anlächelt, uns den Weg zu den für unsere Klasse vorgesehenen Zimmern erklärt und uns informiert, dass alle geraden Zimmernummern zu den Zweierzimmern und die ungeraden zu den Dreierzimmern gehören. Kaum in den richtigen Gang eingebogen, öffnet Ruben gleich ohne Umschweife die erste Tür mit der Nummer Zwei und hievt sein Gepäck hinein. Ich tue es ihm gleich, lasse meine Tasche neben seine fallen und sehe mich dann erst mal um. Das Zimmer ist nicht besonders groß und sieht aus wie ein typisches Jugendherbergszimmer. Es gibt einen zweigeteilten Kleiderschrank, einen sehr kleinen Tisch mit zwei wackelig aussehenden Stühlen und als Schlafgelegenheit ein hölzernes Doppelbett, das mich ein bisschen an das alte Ehebett erinnert, das meine Eltern vor ihrer Scheidung hatten. Gleich neben dem Schrank geht noch eine Tür ab und als Ruben sie neugierig öffnet, erkenne ich ein ziemlich winziges Badezimmer. "Wenigstens haben wir ein eigenes Bad und müssen uns nicht noch eins mit diesen Idioten teilen", murmelt Ruben und ich nicke zustimmend. Ein Gemeinschaftsbad mit Kevin und seinen Deppenfreunden wäre so ziemlich mein ultimativer Alptraum auf diesem Ausflug. Davor hatte ich ehrlich gesagt schon etwas Schiss. Gut, dass uns das erspart bleibt. Die würden Ruben und mich sicher umbringen, wenn sie uns in die Finger kriegen. "Aber das mit dem Bett könnte ein Problem werden", werde ich aus meinen Gedanken geholt und als ich Ruben fragen anblicke, zuppelt er etwas verlegen an seinen Haaren herum. "Na ja", setzt er zu einer Erklärung an, "wenn ich mit jemandem zusammen in einem Bett penne, dann werd ich immer anhänglich. Dagegen kann ich nichts machen. Das ist wie ein Reflex, weißt Du? Deshalb hab ich mir in meiner alten Klasse auch immer ein Zimmer mit Christie geteilt, wenn wir auf Klassenfahrt oder so waren. Der ist das ja von mir gewöhnt und das macht ihm auch nichts aus. Ich war ja schon immer so. Er kennt mich gar nicht anders. Als ich noch ganz klein war, hab ich nachts immer an meinem Bruder geklebt und irgendwie ... Na ja, ich kann das halt einfach nicht abstellen. Sorry", nuschelt er etwas beschämt und ich muss grinsen. "Noch was, was Du mit Vicky gemeinsam hast. Wenn sie beim Fernsehen oder so einschläft, dann klebt sie auch immer an mir. Aber das ist schon okay. Solange Du mich nicht im Schlaf erdrückst, wird das schon nicht so schlimm sein", beruhige ich ihn und nach kurzem Zögern – offenbar ist er sich nicht sicher, ob ich das ernst meine – grinst er zurück. "Okay, wenn Dir das nichts ausmacht, dann ist das ja auch geklärt", freut er sich und will gerade seine Tasche zum Schrank schleppen, als es an unsere Tür klopft. Nach einem fast synchronen "Herein", das Ruben und mich zum Kichern bringt, steckt Herr Schierling seinen Kopf in unser Zimmer, lässt kurz seinen Blick schweifen und lächelt uns dann an. "Ihr habt euch also schon arrangiert", stellt er fest und nickt zufrieden. "Gut. Mein Zimmer ist gleich rechts um die Ecke, das von Frau Römer liegt meinem genau gegenüber. Wenn es Fragen oder Probleme gibt, könnt ihr jederzeit zu einem von uns kommen. Frühstück gibt es hier von acht bis halb neun, also seht zu, dass ihr pünktlich wach seid. Das Programm für morgen und übermorgen besprechen wir beim Frühstück. Nachtruhe ist hier um zehn, also richtet euch noch eben ein und geht dann schlafen. Gute Nacht, ihr Zwei." Damit verabschiedet er sich und nach einer kurzen Verabschiedung unsererseits, die wieder fast gleichzeitig kommt, sind Ruben und ich wieder alleine. "Gut, dass ich nen Wecker dabeihab." Ruben kramt in seiner Tasche herum und wirft schließlich nach kurzem Suchen einen knallgelben SpongeBob-Wecker aufs Bett. "Ein Geschenk von Yannick", erklärt er mir grinsend, als er meinen irritierten Blick bemerkt. "Er meinte, das Ding würd zu mir passen, weil ich manchmal auch so nervig bin wie SpongeBob. Außerdem würd ich so nicht mehr dauernd zu spät kommen. Und damit hat er Recht behalten. Das Teil weckt zuverlässiger als mein Handy und meine Mutter zusammen." "Aha", ist das Einzige, was mir dazu einfällt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich von SpongeBob geweckt werden will, deshalb nehme ich mir vor, nachher auf jeden Fall noch meinen Handywecker zu stellen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf fange ich an, mein Zeug in eine Hälfte des Schrankes zu stopfen. Ruben tut es mir gleich und als wir zum Schluss fast zeitgleich das mitgebrachte Bettzeug aufs Bett werfen, müssen wir beide lachen. Wer auf welcher Seite des Bettes schläft ist schnell geklärt und danach machen wir uns gemeinschaftlich daran, das Bett zu beziehen. Da Ruben ja durch seinen Gipsarm etwas gehandicapt ist, übernimmt er die Kissen und ich kümmere mich um die Oberbetten. "Bin ich froh, wenn der blöde Gips endlich runterkommt", mault er, sobald wir fertig sind, und lässt sich dann seufzend rücklings auf seine Bettseite fallen. Ich zögere einen Moment, dann hocke ich mich im Schneidersitz auf meine Seite und sehe ihn fragend an. "Wie ist das eigentlich passiert?", stelle ich zaghaft die Frage, die mich eigentlich schon seit seinem ersten Schultag beschäftigt, und bekomme gleich darauf ein schlechtes Gewissen, als Ruben das Gesicht verzieht. Offenbar ist das keine angenehme Erinnerung. Aber was hab ich erwartet? Außerdem sollte ich doch mittlerweile dran gewöhnt sein, dass ich zielsicher jedes Fettnäpfchen treffe, das es zu treffen gibt. Ich bin und bleibe eben ein Idiot. "Das war kurz nach den Sommerferien", antwortet Ruben und seufzt. "Auf meiner alten Schule haben so ein paar Idioten – so Typen wie Kevin und seine Vollversagerfreunde – einen Jungen gehänselt, bloß weil der schwul war. Ich kann so was nicht ab, also bin ich dazwischengegangen und hab diesen Honks vor den Latz geknallt, dass ich auch nicht nur Mädchen mag. Na ja, das hätte ich mal besser lassen sollen. Dafür haben die Feiglinge mich nämlich zu dritt verprügelt. Aber das haben sie nicht umsonst gemacht. Meine Eltern haben sie angezeigt und sie sind von der Schule geflogen. Nur war Paps der Meinung, dass meine alte Schule nach der Aktion trotzdem nicht mehr sicher genug für mich ist, deshalb musste ich mitten im Schuljahr wechseln." Ruben seufzt erneut und ich kann fühlen, wie meine Augen groß werden. "Was für Arschlöcher!", entfährt es mir und er nickt kurz, rappelt sich auf und sieht mich dann mit schiefgelegtem Kopf an. "Und dass ich bi bin, stört Dich gar nicht?", erkundigt er sich und ich schüttele hastig den Kopf. Nachdem ich mich ausgerechnet in seinen großen Bruder verliebt hab, bin ich ja wohl der Letzte, der was dagegen haben darf. Aber das werd ich ihm ganz sicher nicht auf die Nase binden. Das ist und bleibt ganz alleine meine Angelegenheit. "Nö. Ist doch Deine Sache", nuschele ich und merke, wie ich mal wieder rot anlaufe. "Gut." Ruben strahlt mich an, setzt sich ebenfalls in den Schneidersitz und wedelt dann mit seinem Gipsarm vor meiner Nase herum, ohne auch nur mit einem einzigen Wort auf meine knallrote Birne einzugehen. Ich weiß nicht so ganz, was ich davon halten soll, aber ich bin froh, dass er mich nicht darauf anspricht. Ich will ihn nämlich nicht anlügen, aber die Wahrheit darüber, warum ich so leuchte, kann ich ihm ja wohl auch schlecht sagen. "Den Gips hat mir übrigens Flo verpasst. Du weißt schon, der, der am Montag bei meinem Bruder war, als wir wegen dem Referat da waren", erzählt er mir und zupft ein paar Flusen vom Gips, als ich einfach nur nicke. Dabei werde ich gleich noch einen Tacken röter, weil er mich mit seinen Worten an die Abschrift der elf Gebote erinnert hat, die Simon gemacht hat und die ich seit Montag permanent mit mir rumschleppe. Total peinlich und albern, ich weiß, aber so habe ich immer ein bisschen was von Simon bei mir. Oh Mann, das ist so unglaublich bescheuert, dass ich das echt niemandem erzählen kann. "Weißt Du, Flo arbeitet nämlich im Krankenhaus. Normalerweise ist er zwar nicht auf der Unfallstation, aber an dem Tag war gerade Hektik und er war zufällig da, als ich eingeliefert wurde", holt Rubens Stimme mich wieder aus meinen Gedanken und ich nicke erneut. "Ach, daher kennt ihr euch", murmele ich und blinzele irritiert, als Ruben den Kopf schüttelt. "Nein, wir kennen uns schon länger. Kennen gelernt haben wir uns durch meinen Bruder", widerspricht er, aber es sind seine nächsten Worte, die mich fast umhauen. "Flo ist nämlich Simons Ex und sein ... na ja, wenn man's ganz krass ausdrücken will, sein Fickfreund", erzählt er so leichthin, als würde er über das Wetter reden, und ich kann nur durch einen raschen Griff in die Bettdecke verhindern, dass ich tatsächlich hintenüber kippe. "Wa-Wa-Was? A-Aber Simon ha-hat d-doch ... eine F-Freundin", stammele ich und Ruben kuckt mich aus großen Augen an. "Meinst Du Morgaine?", hakt er nach und als ich nicke, winkt er ab und schüttelt den Kopf. "Sie ist nicht seine Freundin. Die Zwei sind Freunde, ja, aber sie sind nicht zusammen. Das geht doch auch gar nicht. Mein Bruder ist ja schließlich schwul", berichtigt er mich und ich habe das Gefühl, mein ganzer Körper ist taub. Das kann doch nicht sein, oder? Ich hab mich doch sicher nur verhört. Ganz bestimmt hab ich akustische Halluzinationen und bilde mir nur ein, dass Ruben mir gerade erzählt hat, dass sein Bruder ... dass Simon ... dass er ... schwul ist. Kann mich mal bitte jemand kneifen? Und kann mal jemand mein Herz wieder anwerfen? Ich glaub, das ist gerade stehen geblieben. Vielleicht ist es auch endgültig kaputt. Was weiß denn ich? Im Moment weiß ich gar nichts. "Hallo? Erde an Jan, hörst Du mich?" Rubens Finger, die vor meinem Gesicht rumschnipsen, reißen mich wieder aus meiner Trance. Dummerweise erschrecke ich mich darüber so sehr, dass ich die Bettdecke loslasse, nach hinten kippe und auf diese Weise äußerst schmerzhaft nähere Bekanntschaft mit dem harten Steinboden unseres Zimmers mache. Jammernd reibe ich mir meinen schmerzenden Hinterkopf und als ich blinzelnd aufblicke, schiebt sich Rubens besorgtes Gesicht in mein Blickfeld. "Lebst Du noch, Jan?", erkundigt er sich, reicht mir seine gesunde Hand und zieht mich wieder aufs Bett, nachdem ich genickt habe. "Hast Du Dir sehr weh getan?", will er wissen, sobald ich sicher an die Kopfstütze gelehnt sitze, und ich schüttele vorsichtig den Kopf, obwohl der doch ganz schön brummt. "Geht schon", antworte ich und schlucke erst einmal hart, bevor ich Ruben wieder ansehe. Ich muss einfach wissen, ob ich mich eben verhört hab oder ob ... ob es wahr ist. "Simon ist wirklich ... schwul?", frage ich krächzend und trete mich mental selbst in den Hintern, weil ich dieses blöde kleine Wort kaum über die Lippen bringe. Vor lauter Scham werde ich wieder rot, als Ruben mich erst verständnislos anblickt und dann schließlich nickt. "Ja, klar", bestätigt er und hockt sich vor mich, so dass er mich ansehen kann. "Hatte ich Dir das etwa nicht erzählt? Das ist doch einer der Gründe, warum er überhaupt von zu Hause ausgezogen ist. Paps war stinksauer, als Simon Mama und ihm damals seinen ersten Freund vorgestellt hat. Er hat furchtbar getobt, Oliver rausgeworfen und Simon angeschrieen, dass er "so was" unter seinem Dach nicht duldet. Die beiden haben sich tierisch gestritten und irgendwann ist Simon einfach abgehauen, obwohl Paps ihm Stubenarrest aufgebrummt hat, damit er "über seine Fehler nachdenken" könnte." Ruben zieht ein unglückliches Gesicht, atmet tief durch und blinzelt ein paar Mal, um die Tränen, die ihm bei der Erinnerung in die Augen getreten sind, zu vertreiben. "Ein paar Stunden später ist er wieder nach Hause gekommen und einfach wortlos in seinem Zimmer verschwunden. Ich hab gewartet, bis meine Eltern geschlafen haben, und bin dann erst zu ihm rübergeschlichen, um ihn zu trösten. Er saß auf seinem Bett, hat aus dem Fenster gestarrt und mir nach einer Weile leise erzählt, dass Oliver wegen Paps' Reaktion mit ihm Schluss gemacht hatte. Ich bin mir sicher, er hätte gerne geheult deswegen, aber das hat er nicht. Eigentlich hat er nie geheult. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, das jemals gesehen zu haben. Er hat mich nur in den Arm genommen, mich bei sich schlafen lassen und sich irgendwann, als ich kurz vorm Einschlafen war, bei mir entschuldigt. Ich wusste nicht, was er damit gemeint hat, aber am nächsten Morgen, als ich wach wurde, war er weg. Einfach so. Er hatte nicht viel mitgenommen." Rubens Stimme klingt brüchig und ich beiße mir auf die Unterlippe. Immerhin ist es meine Schuld, dass er sich jetzt wieder an diese ganze Sache erinnert. Das habe ich ja echt toll hingekriegt. "Ich hab mir totale Sorgen gemacht, aber ich war ja erst zwölf, also durfte ich nicht nach ihm suchen. Paps hat die Polizei angerufen, aber die haben Simon erst nach fast vier Wochen gefunden und wieder nach Hause gebracht. Paps war tierisch wütend auf ihn und wollte wissen, wo er gewesen ist und was er gemacht hat, aber Simon hat ihm nichts erzählt. Er hat mit Paps kein Wort mehr gesprochen und auch mit Mama nur das Nötigste. Nur mit mir hat er ganz normal geredet. Allerdings hat er auch mir nicht gesagt, wo er gewesen ist. Er hat mir nur erzählt, dass er wieder weggehen würde, weil er's bei uns zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten hat. Aber bevor er wieder einfach so abhauen konnte, ist Mamas Tante vorbeigekommen – dass Simon weg war und dass Paps und er schon längere Zeit so ihre Probleme miteinander hatten, wusste unsere ganze Familie zu dem Zeitpunkt schon – und hat angeboten, dass Simon zu ihr ziehen könnte, bis sich die Situation beruhigt hat. Paps war sofort damit einverstanden. Ich weiß noch, dass er zu Simon gesagt hat, er müsse sich entschuldigen und "diesen Unfug" ein für allemal sein lassen. "Sonst bist Du nicht mehr mein Sohn", hat er gesagt, aber Simon hat nur mit den Schultern gezuckt. "Dann hab ich ab heute eben keinen Vater mehr", hat er geantwortet, seine Sachen gepackt und ist zu Tante Gloria gezogen. Und seitdem hab ich ihn immer nur noch heimlich treffen können, weil Paps sonst total ausgerastet ist." Nachdem er geendet hat, kramt Ruben in seinen Hosentaschen und lächelt etwas verunglückt, als ich ihm wortlos ein Taschentuch anreiche. "Danke", nuschelt er, wischt sich über die Augen und putzt sich die Nase, ehe er mich wieder ansieht. "Das muss echt scheiße sein", vermute ich leise und er nickt. "Das kannst Du laut sagen. Selbst Simons Name ist bei uns zu Hause ein absolutes Tabuthema. Meine Eltern tun einfach so, als gäbe es ihn gar nicht. Mama jedenfalls. Paps tickt jedes Mal aus, wenn sein Name durch Zufall fällt. Mittlerweile fragt auch schon niemand mehr nach meinem Bruder. Es ist fast so, als wäre ich Einzelkind", erzählt er dann und seufzt abgrundtief. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und überlege hin und her, weil ich einfach nicht weiß, was ich jetzt sagen oder tun soll. Ich wünschte, Christie wäre jetzt hier, um Ruben zu trösten. Er kann das ganz sicher sehr viel besser als ich. Hat man ja am Montag gesehen. Dummerweise sind hier aber nur Ruben und ich, also rutsche ich nach kurzem Zögern etwas näher zu ihm, lege ihm einen Arm um die Schultern und ziehe ihn so zu mir. Ich hab zwar nicht viel Übung darin, Freunde zu trösten, aber wenn ich das bei meiner kleinen Schwester schaffe, dann kann das ja wohl nicht so schwer sein. Jedenfalls hoffe ich das ganz stark. Anscheinend stelle ich mich zumindest nicht allzu ungeschickt an, denn Ruben kuschelt sich genauso an mich wie Vicky es immer tut, wenn sie traurig ist und Trost braucht. Ich streichele ihm ein bisschen über den Rücken und die Haare, wie ich es bei ihr auch immer mache, und bin einerseits froh, dass er nicht wieder anfängt zu weinen – mit Tränen kann ich einfach nicht umgehen –, während ich mir andererseits wünsche, dass ich auch Simon trösten könnte. Das alles muss doch ganz furchtbar für ihn gewesen sein. Wie kann ein Vater nur so grausam zu seinem eigenen Sohn – oder vielmehr zu seinen beiden Söhnen; immerhin quält er Ruben damit ja auch – sein? Ich kenn den Mann zwar noch nicht persönlich, aber ich glaub, ich mag ihn trotzdem jetzt schon nicht. "Wissen ... wissen Deine Eltern, dass Du auch ... dass Du bi bist?", frage ich nach einer Weile leise und kann spüren, wie Ruben nickt. "Ja, das wissen sie. Ich hab's ihnen gleich gesagt, als ich's gemerkt hab", nuschelt er in meinen Pulli, seufzt und löst sich von mir, um mich ansehen zu können. "Aber bei mir haben sie nicht so reagiert wie bei meinem Bruder. Keine Ahnung wieso. Vielleicht glauben sie, dass das nur ne Phase ist oder dass ich das nur wegen Simon behaupte oder so. Gut, ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich einen Freund hätte – ich hatte ja bisher noch nie einen –, aber irgendwie ist das trotzdem komisch", murmelt er und ich kann ihm da nur zustimmen. Das ist wirklich mehr als merkwürdig. Rubens Eltern, allen voran sein Vater, scheinen ja ganz schöne Unterschiede zu machen bei ihren Söhnen. Sollten Eltern nicht alle ihre Kinder gleich lieben? Aber gut, gerade Väter scheinen das ja sowieso irgendwie nicht zu können. Meiner kriegt das ja auch nicht hin. Für seine kleine Prinzessin Vicky bescheißt er sich fast, aber Franzi und ich gehen ihm total am Arsch vorbei. Wenn das irgendwie genetisch vorprogrammiert ist, dann verzichte ich später lieber freiwillig auf Kinder, als dass ich ihnen so was antue. So eine Behandlung hat echt kein Kind verdient. "Wir sollten langsam schlafen gehen", holt Rubens Stimme mich wieder aus meinen Zukunftsplänen. Ich nicke nur, krabbele vom Bett und krame meinen Pyjama aus dem Schrank. Nachdem sowohl Ruben als auch ich umgezogen sind, quetschen wir uns beide gemeinsam in das winzige Bad, putzen uns die Zähne und ich ersticke vor Lachen fast an meiner Zahnpasta, als Ruben aus einer Laune heraus damit beginnt, mir im Spiegel Grimassen zu schneiden. Eine knappe halbe Stunde später, nachdem ich den heimtückischen Angriff auf meine Lachmuskeln doch irgendwie überlebt habe, liegen wir gemeinsam im Bett. Ruben hat sich wie erwartet an mich gekuschelt und ist nach ein paar Minuten auch schon eingeschlafen. Während er allerdings meine Schulter als Kopfkissen benutzt und friedlich in meinen Pyjama schnirchelt, bin ich immer noch hellwach. Jetzt, wo ich Ruhe habe, ist mir nämlich wieder eingefallen, wie das Thema Rubens Familie überhaupt zur Sprache gekommen ist. Und genau das ist es, was mich nicht einschlafen lässt. Meine Gedanken drehen sich die ganze Zeit im Kreis und mein Herz rast, weil ich erst jetzt wirklich begreife, was Ruben mir da vorhin über seinen Bruder erzählt hat. Ich kann es noch immer nicht richtig fassen, obwohl zumindest ein Teil von mir absolut überglücklich über das ist, was ich heute erfahren habe. Wenn Simon tatsächlich ... wenn er wirklich schwul ist, dann ist ja vielleicht doch nicht alles so aussichtslos, wie ich bisher dachte. Verdammt, warum kann ich jetzt nicht zu Hause sein? ~*~ Tja, das geht nicht, weil Du nun mal leider einen zweitägigen Ausflug vor Dir hast, Janni-Schatz. *Janni puschel* Ich hoffe, es hat euch gefallen. Freu mich immer über euren Senf, der beim nächsten Mal auch wieder ausführlicher beantwortet wird. *zum Abtippen husch* Bis hoffentlich bald! *wink* Karma Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)