Welcome to my life von Karma ================================================================================ Von Küssen, Gesprächen und Vorsätzen ------------------------------------ So, heute nur kurz das Kapitel, ohne Antworten auf die Kommentare. Sorry wegen der Verspätung, aber gestern war ein Scheißtag und heute hab ich Besuch, also keine Zeit. Trotzdem danke für die Kommentare und viel Spaß beim Lesen! Karma ~*~ "Geht schon, glaub ich", nuschele ich noch etwas fertig durch die Erkenntnis, die mir da gerade mit der Holzhammermethode ins Hirn geprügelt wurde, und als ich wieder aufblicke, lächelt Christie mich halb schuldbewusst, halb erleichtert an. "Dann sollten wir jetzt vielleicht erst mal Dein Make-up wieder in Ordnung bringen, ehe wir zu den Anderen zurückgehen. Die haben sicher schon ne Suchanzeige aufgegeben, weil wir so lange weg sind", schlägt er vor und ich nicke kurz, ehe ich mir erst mal die restlichen Kajalspuren aus dem Gesicht entferne. Danach lasse ich mich von Christie neu schminken. Er ist dabei mindestens genauso nervös wie ich. Darauf deutet jedenfalls sein zaghaftes Lächeln hin – das und die Tatsache, dass er jedes Mal rot wird, wenn er mir versehentlich in die Augen sieht. Ich würde es ihm und mir gerne leichter machen, aber da ich nicht weiß, wie ich das hinkriegen soll, unternehme ich nichts, sondern warte einfach stumm ab, bis er fertig ist. Dann werfe ich einen kurzen Blick in den Spiegel und lächele meinem Spiegelbild probeweise zu. Besonders überzeugend fällt dieses Lächeln nicht gerade aus, aber da es das beste ist, was ich gerade zustande krieg, wird es wohl oder übel reichen müssen. Ich hoffe nur, die Anderen merken mir nicht direkt an, dass irgendwas passiert ist. Das möchte ich wirklich nicht erklären müssen – weder Jassi noch Ruben und schon gar nicht dem Rest der Clique. "Wollen wir?", fragt Christie, sobald wir fertig sind, und ich atme noch einmal betont tief durch, ehe ich nicke. Gemeinsam verlassen wir das Klo wieder und werden, kaum dass wir draußen sind, auch schon von Yannick und Nils in Empfang genommen. "Da steckt ihr! Da hätten wir euch ja lange suchen können! Wir haben schon gedacht, ihr wärt von irgendeinem Perversen verschleppt worden oder so", wendet Yannick sich an Christie. Nils grummelt nur irgendwas und ich werfe einen kurzen Blick zu Christie, aber er sieht mich nicht an. "Jan und ich hatten was Dringendes zu besprechen", erklärt er unsere lange Abwesenheit und ich bin froh, dass er die Sache mit diesem komischen Typen nicht erwähnt. Der passt zwar in die Definition "Perverser" ziemlich gut rein, aber ich will trotzdem nicht, dass irgendjemand was von diesem Zwischenfall erfährt. Und von dem Kuss schon gleich dreimal nicht. "Na, dann kommt mal schnell mit. Ruben dreht irgendwie gerade im Roten. Der hat vielleicht ne Laune! Ich glaub, der hat sich sonst was ausgemalt, was mit euch passiert ist", schürt Yannick Christies und auch mein schlechtes Gewissen und ich schließe mich den Dreien an, als sie sich in Richtung der Tische, an denen der Rest der Clique auf uns wartet, in Bewegung setzen. Dabei versuche ich schon fast krampfhaft, das Geschehen von vorhin zu verdrängen, aber leider ist das wesentlich leichter gesagt als getan. Ich hab Christie zwar gerade zugestimmt, es einfach zu vergessen, aber das gelingt mir irgendwie nicht. Bei der Erinnerung daran, dass das vorhin wirklich so was wie mein allererster Kuss war – und das auch noch von einem anderen Jungen –, wird mir ganz anders. Mein Herz schlägt unregelmäßig und viel zu schnell und meine Kehle ist wie ausgetrocknet, während meine Handflächen gleichzeitig feucht werden und mein Gesicht mal wieder zu glühen anfängt. Aus diesem Grund bin ich unglaublich froh, als ich endlich Jassi und die Anderen vor mir sehe – so froh, dass ich das besorgte Gesicht meines besten Freundes ignoriere und mich einfach nur seufzend auf den freien Stuhl neben ihm fallen lasse. "Mensch, Jan, wo hast Du denn so lange gesteckt?", werde ich prompt gefragt, aber ich antworte nur mit einem diffusen Winken in Richtung des Hallenausgangs. "Drüben in der anderen Halle. Tanzen. Mit Christie", erkläre ich dann noch knapp, weil Jassis Blick mir eindeutig klar macht, dass ihm eine nonverbale Antwort nicht ausreicht. Mir fällt erst auf, dass ich völlig unbeabsichtigt Rubens privaten Spitznamen für seinen besten Freund benutzt hab, als sowohl Jassi als auch Ruben mich total entgeistert anblicken. "Äh ...", mache ich nicht sehr intelligent, aber ehe ich meinen dummen Fehler irgendwie erklären oder mich dafür entschuldigen kann, mischt Christie sich in das Gespräch ein. "Ist schon in Ordnung. Du kannst mich ruhig Christie nennen, wenn Du willst. Das stört mich nicht", bietet er mir an und ich bin so baff, dass ich Rubens vollkommen fassungsloses Gesicht nur am Rande mitbekomme. "Ähm ... Danke", nuschele ich verlegen und lächele etwas zaghaft zurück, als Christie mich anlächelt. Ich glaube, auf seinen Wangen einen leichten Rotschimmer zu sehen, aber bei der schwachen Beleuchtung hier bin ich mir dessen nicht ganz sicher. Vielleicht sehe ich auch nur Gespenster. Ist ja immerhin Halloween, also ist das wohl zumindest nicht allzu abwegig. "Kann ich Dich mal ganz kurz sprechen, Jan? Unter vier Augen?", reißt Rubens Stimme mich aus meinen Gedanken und kaum dass ich genickt hab, packt er auch schon meine Hand, zerrt mich wieder vom Stuhl hoch und schleift mich nicht gerade sanft oder langsam hinter sich her. Erst an einem der runden Tische vorne im Eingangsbereich der Halle kommt er zum Stehen und sobald ich mich zu ihm gesellt habe, sieht er mich ernst und auch irgendwie ein bisschen angesäuert an. "Hast Du mir nicht erzählt, Du bist in meinen Bruder verliebt?", will er wissen und der seltsame Unterton in seiner Stimme lässt mich hellhörig werden. Was ist denn jetzt kaputt? "J-Ja, schon.", nuschele ich verlegen – das Thema ist mir einfach wahnsinnig peinlich – und daraufhin trifft mich ein schräger Blick über den Tisch hinweg. "Und warum hast Du dann gerade einfach so mit Christie rumgeknutscht?", fragt er dann knallhart und ich laufe schlagartig wieder flammend rot an. "W-Was ... Ich ... Wir ... Er ... Ich ...", stottere ich und Rubens Augen werden schmal. "Wir ... Wir haben nicht rumgeknutscht. Jedenfalls nicht ernsthaft", stelle ich deshalb eilig klar, weil ich irgendwie den Eindruck hab, dass er wegen dieser Sache wirklich verdammt sauer auf mich ist. Meinen anderen Gedanken – Scheiße, er hat uns gesehen! – schiebe ich ganz weit in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. Darüber will ich mir jetzt wirklich nicht den Kopf zerbrechen. "Da war ... Da war so ein seltsamer Typ, der ... der ... Ich hab Simon gesehen. Mit Flo. Und dann ... ich wollte wieder rübergehen, aber dann war da plötzlich dieser Typ. Der hat lauter komisches Zeug geredet, von wegen ich wär ja so niedlich und so, und dann ... Der sah aus, als würde er mich küssen wollen und ich ... Christie hat einfach behauptet, ich wär sein Freund, damit dieser Typ mich in Ruhe lässt, aber der hat das nicht geglaubt und wollte einen Beweis und ... Er hat einfach nicht locker gelassen und dann ... dann ... dann hat Christie ... Aber das hatte gar nichts zu bedeuten! Das war nur wegen diesem Kerl und überhaupt und ich ..." Vollkommen außer Atem breche ich ab. Mein Herz rast, mein ganzes Gesicht glüht und ich würde mich am liebsten unter dem Tisch verkriechen oder mich gleich auf der Stelle unsichtbar machen. Ich bin mir nicht sicher, ob Ruben überhaupt verstanden hat, was ich ihm eigentlich zu erzählen versucht hab, aber ich hoffe es zumindest. Ich will nicht, dass er sauer auf mich ist – oder auf Christie. Der wollte mir ja schließlich nur helfen, weil ich einfach zu blöd bin, um alleine mit solchen beschissenen Situationen fertig zu werden. "Ach so." Ruben klingt erleichtert und als ich ihn zögerlich ansehe, grinst er mich wieder so unbekümmert an, wie ich es von ihm gewöhnt bin. "Ich hab schon gedacht, Du gehst meinem Bruder fremd", schiebt er noch hinterher und sofort wird mein Gesicht noch etwas röter. "Simon und ich sind doch gar nicht ...", widerspreche ich lahm, aber Ruben lässt mich nicht ausreden. "Noch nicht, Jan. Noch nicht. Und die Betonung liegt da eindeutig auf noch. Aber ich krieg euch schon zusammen, darauf kannst Du Dich verlassen", sagt er und seine Stimme klingt so ernst und voller Tatendrang, dass ich schwer schlucke. Will ich wirklich wissen, was genau er sich jetzt schon wieder ausgedacht hat? Nein, beschließe ich nach einem weiteren Blick in sein Gesicht, ich will es nicht wissen. Definitiv nicht. Aber irgendwie habe ich die dumpfe Befürchtung, dass ich das sehr viel früher erfahren werde, als mir lieb ist. "Ich werd's ihm nicht sagen", beharre ich trotzdem und Ruben zieht einen Flunsch. "Jedenfalls nicht heute", schränke ich daraufhin schnell ein und verfluche mein schlechtes Gewissen für diese Worte. "Ich ... Das kann ich einfach nicht. Nicht nach dem, was da vorhin ... Ich brauch jetzt einfach ein bisschen Ruhe", schiebe ich nuschelnd hinterher und seufze abgrundtief. Ruben nickt einfach nur und ich lege meine Arme auf den Tisch, um meinen Kopf darauf betten zu können. Ich will jetzt einfach nur ein bisschen abschalten. "Kommst Du wieder mit rein zu den Anderen?", dringt Rubens Stimme in meine Gedanken, aber ich schüttele nur matt den Kopf. "Ich komm gleich nach. Ich brauch nur fünf Minuten für mich", nuschele ich in meine Kapuzenjacke, hebe meinen Kopf ein wenig und werfe Ruben ein ziemlich schiefes Grinsen zu, das wohl mehr Grimasse ist als irgendwas anderes. Glücklicherweise scheint ihm das trotzdem zu reichen, denn er klopft mir noch mal kurz auf die Schulter und verschwindet dann nach einem "Okay, dann sag ich den Anderen eben Bescheid" wieder in der Halle. Ich sehe ihm kurz nach, ehe ich meine Stirn auf meine Arme lehne und abgrundtief seufze. Irgendwie bin ich gerade total durcheinander und weiß absolut nicht, wie ich jetzt mit der ganzen Situation umgehen soll. Das überfordert mich alles total. Am liebsten würde ich mich jetzt zu Hause in mein Bett verkriechen, um erst mal gründlich über alles nachzudenken, aber das kann ich ja wohl knicken. Und ich glaube, das wär auch keine gute Idee. Mal ganz abgesehen davon, dass Jassi und Ruben sich sicher tierische Sorgen machen würden, wenn ich jetzt sage, dass ich schon abhauen will, würde das auch vor Christie nicht unbedingt gut kommen. Immerhin würde er bestimmt glauben, dass das was mit ihm zu tun hat, und ich will nicht, dass er wegen diesem Quatsch von vorhin noch mal ein schlechtes Gewissen kriegt. Das hat er ja wohl eh schon und ich muss es ja nicht unbedingt noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist. Die ganze Sache ist auch so schon ätzend genug. Das eindeutig Schlimmste ist aber, dass ich trotz allem, was gerade passiert ist, den Gedanken an Simon einfach nicht aus meinem Kopf kriege. Immer wieder huscht mein Blick zum Eingang der Gothic-Halle und ich kann mir nur mit Mühe das Seufzen verkneifen. Ein Teil von mir will ihm am liebsten für den Rest meines Lebens aus dem Weg gehen und ihn nie wiedersehen, aber ein anderer Teil von mir – der, der wesentlich lauter, penetranter und nerviger ist – bringt mich schließlich dazu, den sicheren Tisch zu verlassen und auf noch immer etwas unsicheren Beinen zum Halleneingang rüberzuwanken. Was ich mir davon eigentlich verspreche, weiß ich auch nicht so genau, aber darüber denke ich auch gar nicht weiter nach. Ich will Simon einfach nur sehen, das ist alles. Ich brauche das jetzt einfach. Und ich muss mich ihm ja nicht zu erkennen geben. Er muss ja gar nicht unbedingt wissen, dass ich heute Abend auch hier bin. Hauptsache, ich kann ihn jetzt sehen. Auch wenn es nur ganz kurz ist. Mehr will ich im Augenblick eigentlich gar nicht. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf quetsche ich mich an den Leuten am Eingang vorbei und verkrieche mich in die gleiche Ecke, in der ich vorhin auch schon gestanden hab, als ich gemeinsam mit Christie hier war. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und spähe in die Richtung, in der Simon, Flo und die beiden Mädchen vorhin verschwunden sind. Bis auf eins der beiden Mädchen, das gerade mit ihrem Handy beschäftigt ist und ganz offensichtlich ein Faible für Schwarz und Blau hat – diese Farben haben jedenfalls ihre Klamotten und auch ihre Haare –, ist der Tisch allerdings vollkommen leer. Halb enttäuscht, halb beunruhigt huscht mein Blick zur Tanzfläche, aber auch da ist Simon nicht. Flo schon, aber er tanzt gerade mit dem anderen Mädchen und bei diesem Anblick atme ich unwillkürlich erleichtert auf. Klar, das ist Blödsinn – er hat ja schließlich kein Interesse an Mädchen –, aber allein die Tatsache, dass er jetzt gerade eben nicht mit Simon tanzt, lässt trotzdem eine ganze Gebirgskette vom Ausmaß der Rocky Mountains von meinem Herzen purzeln. Die beiden jetzt tanzen oder flirten zu sehen, hätte mir nach allem, was heute schon passiert ist, wahrscheinlich endgültig den Rest gegeben. Da Flo und diese Tussi allerdings definitiv nicht der Grund sind, aus dem ich eigentlich noch mal hierher gekommen bin, suche ich weiter nach Simon, werde zu meinem Leidwesen aber nicht fündig. Er scheint nicht da zu sein und ich frage mich unwillkürlich, ob er vielleicht schon nach Hause gefahren ist. Irgendwie kann ich mir das zwar nicht vorstellen – und ich will das auch eigentlich nicht glauben –, aber es wäre immerhin eine Möglichkeit. "Jan?", dringt irgendwann eine Stimme, die ich überall wiedererkennen würde, in meine Gedanken und mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Ach Du heilige Scheiße, Simon! Wo kommt der denn jetzt her? "Was machst Du denn hier?", fragt er mich verwundert und als ich mich etwas schwerfällig zu ihm umdrehe – warum in aller Welt kommt er denn von draußen? –, nimmt mein gerade kurzzeitig ausgefallenes Herz mit einem lauten Poltern seinen eben noch schmählich vernachlässigten Dienst wieder auf. "Äh ... ich ...", stottere ich peinlich vor mich hin und werde gleich wieder tomatenrot, als ich Simon so nah vor mir sehe. Dadurch, dass die Musik hier drin ziemlich laut ist, steht er keine zehn Zentimeter von mir entfernt und beugt sich sogar etwas zu mir nach unten, um meine Antwort überhaupt verstehen zu können. Ich fühle mich unwillkürlich an gestern Abend erinnert, als er sich in meinem Zimmer so über mein Bett gebeugt hat, um Slim zu streicheln. Sofort werde ich noch ein paar Nuancen röter, aber das scheint ihm zum Glück nicht aufzufallen. "Das ist vielleicht eine Überraschung", sagt er und ich nicke einfach nur. Mehr als ein Krächzen oder Quietschen würde ich jetzt sowieso nicht über meine Lippen bringen. Dafür ist er mir einfach viel, viel zu nah. Am liebsten würde ich mich jetzt an ihn klammern, aber mein Körper bewegt sich keinen Millimeter und ich bin irgendwie froh darüber. Was würde Simon auch von mir denken, wenn ich ihm ohne Vorwarnung einfach so um den Hals falle? "Bist Du alleine hier oder ist Ruben auch da?", holt seine Stimme mich wieder aus meinen wirren Gedankengängen und die Enttäuschung, die ich aufgrund der Frage nach Ruben empfinde, bringt mein Hirn und damit auch mein Sprachzentrum endlich wieder in Gang. "Ruben ist auch da. Drüben, in der anderen Halle. Zusammen mit den Anderen", nuschele ich leise und finde mich im nächsten Moment gegen Simon geschubst wieder, weil mir irgendjemand im Vorbeigehen einen nicht gerade sanften Stoß in den Rücken gibt. Sofort schießt mir auch noch mein gesamtes restliches Blut ins Gesicht, aber ich kann nicht umhin, diese unbeabsichtigte halbe Umarmung trotzdem zu genießen. Er ist so schön warm. "Idiot!", grummelt Simon demjenigen hinterher, der mich gegen ihn geschubst hat, aber ich selbst bin dieser Person absolut nicht böse. Eher sogar im Gegenteil. Allerdings sollte ich Simons Hemd wohl trotzdem besser so langsam mal wieder loslassen. Sonst wird's nämlich peinlich. Also los, ihr Finger, bewegt euch! Loslassen, aber sofort. Nein, ihr sollt euch nicht noch fester in den Stoff krallen, sondern loslassen! Ist das denn so schwer, verdammt noch mal? Was soll Simon denn von mir denken? Jetzt lasst ihn doch endlich los, ihr nutzlosen Anhängsel meiner Hand! "Scheiße!", flucht Simon leise und als ich erschrocken zu ihm aufsehe, trifft mich ein seltsamer Blick aus heute roten Augen, den ich nicht zu deuten weiß. Irgendwie ist mir plötzlich ganz furchtbar komisch. Mein Magen rebelliert, meine Hände fangen an zu zittern und mir wird wahnsinnig heiß. Mein Herz legt eine Extraschicht ein und ich schlucke schwer, aber der Kloß, der in meinem Hals feststeckt, bewegt sich dadurch keinen einzigen Millimeter. Verdammt, was ist denn jetzt auf einmal los? Kann mir das mal bitte irgendwer erklären? "Heute herzukommen war definitiv eine ganz, ganz blöde Idee", murmelt Simon und mein Herz sackt ab. Allerdings ist das längst noch nicht alles. Simons nächste Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. " Ich glaub, es wär besser, wenn Du wieder zu Ruben nach drüben gehst, Jan", fordert er mich nämlich auf und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Hasst er mich jetzt auf einmal? Was habe ich ihm denn getan? Ich habe doch gar nichts gemacht! Oder etwa doch? Habe ich vielleicht irgendwas Blödes angestellt, ohne das zu merken? Was in aller Welt ist hier eigentlich los? "Wenn Du nicht willst, dass ich Dich jetzt küsse, dann sag was oder halt mich auf. Wenn Du das nicht tust, dann kann ich für nichts mehr garantieren. Jedenfalls nicht mehr lange", bekomme ich nur eine Sekunde später die Antwort auf meine unausgesprochenen Fragen und meine Augen werden groß. Das hat er doch jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Das hab ich mir doch bestimmt nur eingebildet. Ich bin kussgeschädigt durch das Erlebnis mit Christie vorhin und jetzt ... Weiter komme ich mit meinen Gedanken nicht mehr. Ehe ich so wirklich registriere, was hier passiert, legt Simon seine Lippen auf meine, so wie Christie es vorhin auch getan hat. Aber das hier ist ganz, ganz anders als das, was vorhin passiert ist. Simons Lippen sind weich und warm und es fühlt sich einfach nur unglaublich toll an, sie auf meinen zu spüren – so toll, dass ich mich gleich noch fester in sein Hemd kralle, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Meine Lider flattern und fallen schließlich ganz von selbst zu. Ich kann nicht atmen, kann nicht denken, kann nicht reagieren, kann absolut gar nichts tun. Das, ganz genau das hier wünsche ich mir eigentlich schon seit meinem Gespräch mit Ruben am Mittwochabend, wenn ich ehrlich bin. Und dieser Kuss, geht es mir durch den Kopf, ist eindeutig viel, viel besser als der, den ich von Christie bekommen habe. Aber dann streicht Simons Zunge kurz und ungemein zärtlich über meine Lippen, schiebt sich zwischen sie und ich vergesse schlagartig, wie das mit dem Denken überhaupt funktioniert. Alles in mir kribbelt und ich bin mir hundertprozentig sicher, wenn ich nicht tot und im Himmel bin, dann ist das hier definitiv das allerbeste Gefühl der Welt. Ich habe keine richtige Ahnung, was Simon da gerade genau mit mir macht – oder doch, eigentlich schon, aber irgendwie auch wieder nicht –, aber wirklich darüber nachdenken kann und will ich im Moment auch gar nicht. In meinem Kopf ist nur Platz für eine einzige Erkenntnis: Simon küsst mich gerade! Wo wir hier sind und wer uns eventuell dabei beobachtet, könnte mir definitiv nicht egaler sein. Was ist denn auch wichtig daran, ob irgendjemand uns zusieht? Sollen die doch alle woanders hinkucken, wenn ihnen der Anblick nicht gefällt. Hauptsache, Simon hört nie wieder damit auf, mich zu küssen! Wenn ich jetzt sterben muss, dann sterbe ich definitiv als der glücklichste Mensch der Welt. Nach einer halben Ewigkeit, in der meine Beine immer weicher werden, gibt Simon meine Lippen schließlich wieder frei und ich schnappe erst einmal nach Luft – wenn man so geküsst wird, wird Atmen einfach überbewertet –, ehe ich ihn aus sicherlich total verschleierten Augen anblinzele. Einzig und allein das Kribbeln meiner Lippen macht mir jetzt ohne den direkten Lippenkontakt noch klar, dass ich mir den Kuss und das ganze Drumherum nicht eingebildet hab. Mir ist heiß, mir ist schwindelig und ich kann immer noch nicht wieder völlig klar denken. Bevor ich mich allerdings so weit gesammelt hab, dass ich auch überhaupt nur "Piep" sagen kann, blickt Simon mich gleich noch mal so ... so an und das bisschen Hirn, das gerade wieder anfangen wollte zu arbeiten, gibt auf und tritt direkt wieder zurück in den Streik. "Miese Idee, Jan. Ganz miese Idee", murmelt Simon, aber ehe ich die Frage, die mir auf der Zunge liegt, artikulieren kann, küsst er mich schon wieder und nachdem ich den ersten Schreck darüber überwunden hab, schließe ich meine Augen und genieße es einfach nur. Dabei bete ich zu allen höheren Wesenheiten, die mir einfallen, dass sie ihn bitte, bitte, bitte nie wieder damit aufhören lassen sollen. Er soll bitte nie, nie, nie wieder etwas anderes tun als mich zu küssen! Allerdings wäre ich wohl nicht ich, wenn in meinem Leben auch nur ein einziges Mal irgendetwas ganz genau so laufen würde, wie ich es mir wünsche. Meine Wünsche können ja ruhig getrost ignoriert werden, wie mir mal wieder äußerst glorreich bewiesen wird, kaum dass ich diesen Wunsch überhaupt auch nur gedacht habe. Just in der Sekunde, in der ich mich nämlich einfach nur vollkommen fallen lasse und der Aufforderung von Simons Zunge Folge leisten will – heilige Scheiße, das fühlt sich so toll an! –, werden wir natürlich auch schon unterbrochen. Unwillig grummelnd lässt Simon von mir ab und ich blinzele einfach nur irritiert vor mich hin. Ich habe gerade nicht den geringsten Plan, was hier vor sich geht, aber die Worte, die ich zu hören kriege, wirken wie eine eiskalte Dusche auf mich, reißen mich aus meinen verklärten Träumen und katapultieren mich äußerst unsanft in die Realität zurück, die ich bis gerade vollkommen verdrängt hatte. "Hier steckst Du, Simon. Flo sucht Dich schon überall", teilt das schwarzhaarige Mädchen, mit dem Flo vorhin auf der Tanzfläche war, Simon mit und die Erwähnung von Flos Namen lässt irgendwas in mir zerbrechen. Scheiße, was habe ich getan? Bin ich denn völlig bescheuert? Warum habe ich ...? Wieso ...? Warum lasse ich mich von Simon küssen, obwohl ich doch eigentlich ganz genau weiß, dass er ... dass er und Flo ... "Scheiße!" Damit lösen sich meine Finger doch endlich mal von Simons Hemd. Ich drücke mich von ihm weg, quetsche mich hastig an ihm vorbei und stürme aus der Halle in den Vorraum, ohne auf das "Jan, warte!" zu reagieren, das er mir nachruft. Meine Augen brennen schon wieder und im allerletzten Moment schwenke ich in Richtung der Toiletten um, anstatt zu Jassi und den Anderen in die zweite Halle zu gehen. Wenn sie mich jetzt so sehen, dann werden sie auf jeden Fall wissen wollen, was passiert ist, und das kann ich ihnen nicht sagen. Auf gar keinen Fall! Eine absolut widerliche Mischung aus Erleichterung, Schuld, Scham, Ekel und noch einigen anderen Gefühlen, die ich gerade nicht richtig zuordnen kann, durchrieselt mich, als ich die Tür der letzten Klokabine ganz hinten an der Wand hinter mir zuwerfe und mich mit dem Rücken gegen das Holz lehne. Ich schließe mich ein, hocke mich auf den Klodeckel und ziehe meine Beine so nah an meinen Körper, dass ich sie mit den Armen umschlingen kann und trotzdem nicht runterfalle. Und in dem Moment, in dem ich meine Stirn gegen meine Knie drücke und meine Augen schließe, kommt das Gefühl von Simons Lippen auf meinen wieder hoch und ich kann fühlen, wie meine Jeans nass wird. Ich beiße mir so fest wie möglich auf die Unterlippe, damit mich bloß niemand von den Leuten, die da draußen hin und her rennen, hört, und lasse meine Tränen ansonsten einfach ungehindert fließen. So grauenhaft wie jetzt habe ich mich nicht mal am Sonntag gefühlt, als Jassi mir klargemacht hat, was eigentlich mit mir los ist, und auch nicht, als Ruben mir erzählt hat, was zwischen seinem Bruder und Flo läuft. Das hier ist eine vollkommen neue Dimension von scheiße, aber eindeutig. Warum immer ich? Warum bin immer ich derjenige, dem so ein Mist passiert? Wie lange ich hier hocke, heule und mein ganzes Leben und das Universum noch dazu verfluche, weiß ich nicht. Höchstwahrscheinlich haben Jassi und die Anderen in der Zwischenzeit schon angefangen, nach mir zu suchen, weil ich einfach nicht wieder auftauche, aber das ist mir vollkommen egal. Ich kann und will jetzt niemanden um mich haben. Wenn ich jetzt irgendwem erklären müsste, was mir gerade passiert ist ... Nein, das kann ich nicht. Zwei männliche Stimmen beinahe direkt vor der Kabinentür, die mir sehr zu meinem Leidwesen beide mehr als bekannt vorkommen, reißen mich schließlich wieder aus meiner Selbstgeißelung. Vor Schreck kippe ich beinahe von dem Klodeckel, auf dem ich sitze, als ich Flo draußen höre, aber als Simon ihm auch noch antwortet, setzt mein Herz erst recht aus. Scheiße, was wollen die Zwei denn ausgerechnet hier? Wissen sie etwa, dass ich hier bin? Haben sie mich gesehen und sind mir nach? Oh bitte, bitte nicht! "Okay, was ist so wichtig, dass Du mich fast schon gewaltsam ins Klo schleifst?", höre ich Flos Stimme und schlucke hart. Am liebsten würde ich mich jetzt in Luft auflösen, aber das funktioniert nicht. Und da die beiden sich zum Reden natürlich ausgerechnet genau die Ecke vor der Kabine ausgesucht haben, in der ich mich gerade befinde – wie sollte es bei meinem Glück auch anders sein? –, kann ich mich auch nicht still und heimlich aus dem Staub machen. Um hier rauszukommen, müsste ich immerhin die Kabinentür öffnen und an ihnen vorbeischleichen – was mir sicher nicht gelingen würde, weil sie mich dann sehen würden. Und das ist nun wirklich das Letzte, was ich will. Im Moment will ich einfach nur sterben, damit dieser elende Schmerz in meiner Brust endlich verschwindet. "Ich hab ihn geküsst", kommt die Antwort von Simon und meine Fingernägel krallen sich in den Stoff meiner Jeans. Seine Stimme klingt irgendwie seltsam gepresst und gar nicht so, wie ich sie von ihm kenne. So ähnlich hat er sich auch angehört, als er mir von der Sache mit seiner Tante erzählt hat. Heißt das, dass ihn das, was da eben zwischen uns passiert ist, auch so mitnimmt wie mich? Oder hat er einfach nur ein schlechtes Gewissen Flo gegenüber? Immerhin hat er ihn ja gerade praktisch halb mit mir betrogen oder so. Gott, das ist alles so unglaublich scheiße! "Was? Wann?" Flo klingt total aufgeregt und mein Herz setzt noch mal mindestens zwei Schläge lang aus, ehe es mit dreifacher Geschwindigkeit gegen meinen Brustkorb donnert. Ob er sehr sauer ist? Scheiße, ich weiß nicht mal, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Wenn er sauer ist, dann beendet er die Sache mit Simon vielleicht ganz und ich könnte ... Aber was, wenn es Simon dann deswegen schlecht geht? Dann ist das doch auch irgendwie meine Schuld, weil ich es überhaupt erst zugelassen – und verdammt noch mal auch noch genossen – habe, dass er mich küsst. Scheiße, das ist alles so kompliziert! Warum bin ich heute nicht zu Hause geblieben? Dann wäre mir der ganze Mist, der heute passiert ist, nicht passiert. Gut, dann wüsste ich jetzt auch nicht, wie unglaublich schön es ist, von Simon geküsst zu werden, aber genau betrachtet wäre das wahrscheinlich sogar besser für mich. Dann müsste ich nämlich nie wieder darüber nachdenken, was ich ein einziges Mal – ja, gut, zwei Mal, aber wer wird denn gleich so ein kleinlicher Erbsenzähler sein? – hatte und ganz sicher nie wieder bekommen werde. "Vor ein paar Minuten. Bevor Deine herzallerliebste Schwester aufgetaucht ist und unbedingt stören musste." Simons Tonfall nach zu urteilen ist er ziemlich angefressen. "Und?", fragt Flo daraufhin und von Simon kommt ein abgrundtiefes Seufzen. "Ich glaub, ich hab's total vermasselt", sagt er leise und ich spüre, wie mir bei diesen Worten gleich noch mehr Tränen über die Wangen laufen. Vermasselt ... Das kann man wohl laut sagen. Aber vielleicht verzeiht Flo ihm ja noch mal. Ich weiß, ich sollte ihm eigentlich die Daumen dafür drücken, aber das kann ich nicht. Wie auch? Immerhin bedeutet eine Versöhnung der beiden ja schließlich das endgültige Aus für mich. Verdammt, warum muss dieser Gedanke so unglaublich weh tun? "Und inwiefern hast Du's Deiner Meinung nach genau vermasselt?", erkundigt Flo sich und Simons nächste Worte – "Er ist weggelaufen." – hauen mich fast vom Klo, nachdem ich der Sinn des Gesagten zu mir durchgedrungen ist. Weggelaufen? Aber ... Der Einzige, der gerade weggelaufen ist, bin doch ... ich? Hä? Was geht denn hier ab? Irgendwie kapiere ich jetzt wirklich gar nichts mehr. "Oh Mann. Das tut mir echt leid für Dich", höre ich Flo sagen und in seiner Stimme schwingt ein tröstender Unterton mit. Ich höre ein Geräusch, das ganz danach klingt, als würde er Simon auf die Schulter klopfen oder ihn kurz umarmen. Was es auch ist, es versetzt mir einen schmerzhaften Stich in der Gegend, wo mein Herz sitzt. "Wahrscheinlich war es einfach noch zu früh und ich hab alles überstürzt, aber ich konnte einfach nicht anders", murmelt Simon daraufhin und seufzt ein weiteres Mal. "Ich hab ihn zwar vorgewarnt, dass ich ihn küssen würde, wenn er nichts dagegen sagt oder tut, aber ... Ich hab ihm eigentlich gar keine richtige Möglichkeit gelassen, irgendwie darauf zu reagieren. Ich wollte einfach nicht riskieren, dass er womöglich wirklich abhaut oder Nein sagt. Und jetzt hab ich's komplett versaut. Ich bin doch so ein Vollidiot", bescheinigt er sich selbst und ich muss mich an der Kabinenwand abstützen, um nicht den Halt zu verlieren. Heißt das, was ich da gerade gehört habe, etwa wirklich das, was ich glaube – und zugegebenermaßen auch hoffe –, was es heißt? Aber ... Wenn das tatsächlich so ist, was ist denn dann mit Flo? Scheiße, ich verstehe so langsam echt gar nichts mehr. Kann mir nicht mal irgendjemand erklären, was hier gerade eigentlich genau los ist? Ich habe irgendwie das Gefühl, als würde mir etwas verdammt Wichtiges entgehen – irgendetwas, was ich eigentlich unbedingt wissen sollte. "Vielleicht hast Du ihn ja auch einfach nur ein bisschen überrumpelt. Der Kurze fängt sich schon wieder", spricht Flo Simon Mut zu. "Immerhin hat er's doch zugelassen, dass Du ihn küsst, oder? Und das hätte er doch wohl kaum gemacht, wenn's ihm nicht wenigstens ein bisschen gefallen hätte, meinst Du nicht auch?", fragt er weiter. Simon bejaht und ich laufe vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen dunkelrot an, nachdem ich mich kurz gekniffen hab, um zu testen, ob ich nicht vielleicht doch nur halluziniere. Aber das tue ich ganz offensichtlich nicht. Und das, was ich hier höre, kann man auch einfach nicht mehr falsch verstehen. Nein, Simon wollte mich wirklich küssen. Mich, nicht Flo. Aber warum stört Flo sich nicht daran? Das begreife ich einfach nicht. "Ja." Diese Antwort auf Flos Frage höre ich nur wie durch Watte. Mir schwirrt der Kopf vor lauter Gedanken und Fragen, auf die ich einfach keine Antwort finde, so sehr ich auch darüber nachgrübele. Warum hat Simon mich eigentlich genau geküsst? Warum ist Flo deswegen nicht sauer auf ihn, auf mich oder auf uns beide? Warum habe ich vielmehr das seltsame Gefühl, als würde er Simon sogar trösten, weil ich gerade einfach so abgehauen bin? Ich versteh das alles nicht! "Jan? Bist Du das etwa da drin?" Ich erschrecke mich fast zu Tode, als Flo mich urplötzlich direkt anspricht. Vollkommen geschockt blicke ich zur Tür der Kabine, aber die ist immer noch abgeschlossen. Allerdings klopft es gerade gegen das Holz und ich schlucke hart. Bitte nicht! Bitte, bitte, bitte nicht! Ich hab doch jetzt nicht wirklich vollkommen im Tran mal wieder laut gedacht, oder? Das darf doch nicht wahr sein! Oh Scheiße! "Wenn Du wirklich da drin bist, dann komm bitte raus, Jan." Verdammt, das ist nicht fair! Wie soll ich mich denn bis ans Ende aller Tage hier drin verstecken, wenn Simons Stimme so verdammt bittend klingt? Am liebsten würde ich mich jetzt selbst im Klo runterspülen – einfach um behaupten zu können, dass ich nicht hier war und die Beiden auch nicht belauscht hab –, aber das tue ich nicht. "O-Okay", höre ich mich stattdessen zu meinem grenzenlosen Entsetzen nuscheln, rappele mich vom Klodeckel hoch und atme noch einmal tief durch, ehe ich mit zitternden Fingern die Kabinentür aufschließe. Zögerlich ziehe ich sie ein Stück auf und sehe mich gleich darauf mit Simon und Flo konfrontiert, die mich beide seltsam besorgt ansehen. "Ähm ... hi", murmele ich beschämt und senke meinen Blick ganz schnell auf meine Schuhspitzen. Wenn es jemals den perfekten Moment gegeben hat, in dem ein Loch im Boden wirklich die ultimative Rettung gewesen wäre, dann ist dieser Moment genau jetzt. Dummerweise öffnet sich natürlich kein solches Loch und die Erde verschlingt mich auch nicht. Nein, ich bleibe genau da stehen, wo ich gerade stehe, und fühle mich einfach nur grauenhaft. Es ist mir unglaublich peinlich, dass die Zwei jetzt wissen, dass ich ihr ganzes Gespräch mitangehört habe – auch wenn ich genau betrachtet ja eigentlich gar nichts dafür kann. Ich konnte ja schließlich nicht ahnen, dass sie sich zum Reden ausgerechnet hierher ins Klo verziehen würden. Trotzdem fühle ich mich mies und weiß einfach nicht, was ich jetzt sagen oder tun soll. Soll ich überhaupt irgendwas sagen? Scheiße, verdammt, warum bin ich eigentlich immer so verflucht planlos? Das ist doch einfach nur kacke! "Oh Mann, ihr seid vielleicht zwei seltene Vögel. Euch sollte man ausstellen, echt. Wegen euch beiden krieg ich noch graue Haare, wenn das so weitergeht." Flo klingt seltsamerweise eher amüsiert als wirklich sauer und als ich unter meinen Ponyfransen hindurch zu ihm rüberlinse, kann ich sehen, dass er tatsächlich breit grinst. Irgendwie verstehe ich absolut nicht, was gerade in ihm vorgeht. Ist er denn wirklich kein bisschen wütend wegen dem, was vorhin zwischen Simon und mir vorgefallen ist? "Wisst ihr, was ich jetzt am liebsten mit euch beiden machen würde? Am liebsten würd ich euch jetzt irgendwo einschließen und euch da erst dann wieder rauslassen, wenn ihr endlich mal die Zähne auseinandergekriegt habt. Das ist ja zum Mäusemelken mit euch! Wie kann man sich nur so verdammt blöd anstellen? Das gibt's doch gar nicht! Das gehört doch echt verboten!" Trotz dieser nicht gerade netten Worte grinst Flo noch immer und je mehr er redet, desto weniger kapiere ich, worauf er eigentlich hinauswill. Ist er jetzt sauer auf uns oder doch nicht? "Echt, wenn nicht wenigstens Du bald mal anfängst, endlich Klartext mit dem Kurzen zu reden, Simon, dann ...", setzt er an, aber Simon lässt ihn seinen wie eine Drohung klingenden Satz gar nicht erst beenden. "Schon gut. Ich hab's ja kapiert. Du kannst Dich also mal so langsam wieder einkriegen", brummt er und klingt dabei irgendwie verlegen. "Also, Jan, ich ...", wendet er sich dann an mich und ich kann fühlen, wie ich gleich noch ein ganzes Stück röter werde. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Kehle fühlt sich an wie ausgetrocknet. Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass mir jeder, der gerade sonst noch hier im Klo ist, ansehen kann, was in mir vorgeht und wie zittrig ich innerlich bin, aber dagegen kann ich absolut nichts machen. Bevor Simon seinen Satz zu Ende bringen kann, werde ich urplötzlich an der Schulter gepackt. Zu Tode erschrocken drehe ich mich um und sehe mich Maurice gegenüber, der mich mit einer Mischung aus Ärger und Erleichterung ansieht. "Endlich hab ich Dich gefunden!", sagt er und mir schwirrt der Kopf. Was ist denn jetzt los? "Wir haben Dich echt schon überall gesucht. Wir müssen so langsam abhauen. Es ist gleich zwölf", wird mir weiter mitgeteilt und mir fällt jetzt erst ein, dass ich Ruben ja vorhin – oder war das schon vor Stunden? – gesagt hab, dass ich in fünf Minuten wieder in die Halle kommen wollte. Das war ja wohl nix. "Ich ... ähm ...", stammele ich und werfe einen hilfesuchenden Blick zu Simon, aber ehe er etwas unternehmen kann, schiebt Maurice mich auch schon energisch vor sich her. "Ich hab keinen Bock auf Stress mit den Türstehern, also sei schön brav und komm mit", kommandiert er dabei und ich lasse mich etwas hilflos mitschleifen, obwohl ich mich eigentlich losreißen will, um bei Simon zu bleiben. Allerdings ist Maurice stärker als ich und er macht auch nicht den Eindruck, als würde er mich jetzt, wo er mich schon mal gefunden hat, wieder loslassen wollen. Scheiße, verdammt! "Ich ... komm morgen zu Dir!", rufe ich Simon noch schnell über die Schulter hinweg zu, ehe die Tür zur Toilette hinter Maurice und mir ins Schloss fällt. Ich bin mir nicht sicher, ob Simon meine Worte überhaupt noch gehört hat, aber ich hoffe es einfach mal. Kurz werfe ich einen Blick zu Maurice, aber der ist vollauf damit beschäftigt, irgendwas in seinen nicht vorhandenen Bart zu grummeln. Es klingt verdächtig nach "Kleinkinder, die nicht auf sich selbst aufpassen können", aber ich bin viel zu durcheinander, um irgendetwas dazu zu sagen. Als wir schließlich bei Ruben, Jassi und den Anderen ankommen, bin ich immer noch immer total neben der Spur. Jassi bemerkt meinen seltsamen Gesichtsausdruck als Erster, lässt Sinas Hand los – wahrscheinlich zum ersten Mal im Laufe der letzten Stunde – und kommt zu mir rüber. Vorsichtig legt er mir zwei Finger unters Kinn, hebt mein Gesicht an und mustert mich skeptisch. "Hast Du etwa geheult, Jan?", fragt er glücklicherweise so leise, dass es außer mir hoffentlich niemand hört, aber ich werde trotzdem rot. Antworten muss ich allerdings nicht, weil Jassi meine Mimik auch so deuten kann. "Scheiße, was ist passiert?", will er alarmiert wissen und ich versuche, den Kopf zu schütteln, aber das gelingt mir nicht. Und ehe ich es schaffe, mir eine verbale Antwort zurechtzustammeln, hängt sich Ruben auch schon zwischen uns und unterzieht mein Gesicht ebenfalls einer kritischen Musterung. "Was ist denn mit Dir los, Jan?", erkundigt er sich ebenfalls ziemlich besorgt und ich schlucke erst einmal schwer, ehe ich doch endlich ein paar Worte über die Lippen bringe. "Ich ... hab gerade ... mit Simon gesprochen. Im ... In der Toilette. Oder eigentlich wollten wir gerade reden, aber dann kam Maurice und hat mich mitgeschleift und ...", fange ich an und senke meinen Blick ganz schnell auf den unglaublich interessanten Hallenboden, bevor irgendjemand merkt, wie rot ich gerade bin. Ich kann jetzt weder Ruben noch Jassi ankucken. Das würde ich nicht garantiert nicht überleben. "Mensch, Mo, Du verdammter Riesenhornochse!", brüllt Ruben seinen Freund auf mein Geständnis hin an, lässt mich los und stapft zu dem ihn vollkommen verdattert anblickenden Maurice, um ihm einen kräftigen Schubs gegen die Brust zu geben. "Du bist doch so ein unglaublicher Trottel! Sag mal, merkst Du eigentlich gar nichts? Jan wollte gerade ...", motzt er weiter auf ihn ein, aber ehe er alles ausplaudern und mich so in noch größere Peinlichkeiten stürzen kann, hält Christie ihn schnell fest und legt ihm eine Hand auf den Mund. "Jetzt beruhig Dich erst mal wieder", beschwört er Ruben, wirft mir einen entschuldigen Blick zu und bringt ein schiefes Lächeln zustande, als ich daraufhin einfach nur dankbar nicke. "Dein Simon ist heute also tatsächlich auch hier", lenkt Jassis Stimme meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn zurück und ich nicke wieder, blicke ihn aber immer noch nicht an. "Ja. Und ich war drüben bei ihm in der anderen Halle und wir ..." An dieser Stelle breche ich ab und schüttele hastig den Kopf. Über den Kuss – oder vielmehr die Küsse – will ich nicht sprechen. Noch nicht. Nicht jetzt. Dafür ist die Erinnerung daran noch viel zu frisch. Das muss ich erst mal für mich selbst klarkriegen, bevor ich mit irgendjemandem darüber reden kann. "Und was ist jetzt? Hat er Dir weh getan oder sonst irgendwie Scheiße gebaut?", bohrt Jassi weiter nach und ich seufze abgrundtief, ehe ich ein weiteres Mal den Kopf schüttele. "Nein, hat er nicht. Aber ich will jetzt nicht mehr darüber reden", würge ich das Gespräch ab. Noch immer sehe ich Jassi nicht an. Ich will einfach nichts riskieren. Er soll nicht sehen, wie durcheinander ich bin. Wenn er das nämlich merkt, dann löchert er mich garantiert so lange mit Fragen, bis ich ihm alles erzähle. Und dazu bin ich einfach noch nicht bereit. "Okay", murmelt Jassi, legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich kurz an sich. "Dann reden wir eben morgen oder wann immer Dir danach ist", sagt er dabei und ich fühle, wie ein winziges Lächeln an meinen Mundwinkeln zupft. Jassi ist einfach der Beste. Er kennt mich ganz genau und weiß, dass ich manche Sachen erst mal gründlich überdenken muss, bevor ich darüber reden kann. "Ich ruf Dich morgen Abend einfach an, in Ordnung?", bietet er an und ich nicke nur, ehe ich mich wieder aus seinem Arm winde. "Ist gut. Aber jetzt solltest Du mal so langsam wieder zurück zu Deiner Sina gehen, findest Du nicht? " Damit gebe ich ihm einen kleinen Schubs und als ich aufblicke, grinst Jassi mich an. "Du willst mich wohl unbedingt loswerden, was, Kleiner? Aber okay, ausnahmsweise. Weil Du's bist", gibt er sich geradezu gönnerhaft geschlagen und jetzt muss ich auch grinsen. "Ach, und mit ihr hat das gar nichts zu tun?", frage ich zurück und aus seinem Grinsen wird ein verträumtes Lächeln. "Doch, auf jeden Fall", erwidert er und seufzt leise, aber eindeutig glücklich. "Echt, Jan, ich glaub, Sina ist das Beste, was mir dieses Jahr passiert ist", schiebt er noch hinterher und blickt mit leuchtenden Augen zu seiner Freundin, die sich gerade offenbar mal wieder ausgesprochen angeregt mit Marie-Claire unterhält. Ich beobachte Jassi einen Moment lang von der Seite, dann huscht mein Blick ungewollt in Richtung der Toiletten. Da ist allerdings sowohl von Simon als auch von Flo nichts mehr zu sehen. Trotzdem würde ich am liebsten wieder zurückgehen und im Notfall auch noch mal in der Halle nach Simon suchen, aber bevor ich irgendetwas in der Richtung unternehmen kann, wird unsere ganze Gruppe von einem der Türsteher, der hier wohl die Mitternachtskontrollrunde macht, zum Ausgang gescheucht. Brav machen wir uns alle auf den Weg zur Garderobe, holen unsere Jacken ab, bezahlen und treten dann nach draußen auf den Parkplatz, wo zwei mir bekannte Autos – das von Christies Vater und das von Jassis Mutter – schon auf uns warten. "So, wir müssen dann so langsam." Damit läutet Jassi die allgemeine Verabschiedung ein, die in eine wahre Knuddelorgie ausartet. Ich bin als Letzter dran und nachdem Sina mich kurz gedrückt hat, umarmt Jassi mich auch noch mal so richtig fest. "Denk dran, Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn Du doch jemanden zum Reden brauchst. Auch mitten in der Nacht. Das ist völlig egal. Aber das weißt Du ja", flüstert er mir dabei ins Ohr und nachdem ich daraufhin kurz genickt hab, lächelt er mir noch mal aufmunternd zu und geht dann gemeinsam mit Sina zum Auto seiner Mutter. Ich winke Viola auf die Entfernung zu, bin aber nicht sicher, ob sie mich wirklich erkannt hat. "Kommst Du, Jan?" Ruben hakt sich bei mir ein, schleift mich mit und wirft mir dabei einen zerknirschten Seitenblick zu. "Tut mir übrigens echt leid, dass ich mich da vorhin fast verquatscht hätte", entschuldigt er reumütig sich bei mir, grummelt aber gleich darauf wieder. "Aber Mo ist trotzdem ein Trottel. Echt, als ob's so schlimm gewesen wär, wenn wir zwei Minuten später gegangen wären", motzt er und ich winke schnell ab. "Ist schon gut", nuschele ich dabei. Ich will im Moment wirklich nicht über das Thema reden und fürs Erste am liebsten auch nicht mehr darüber nachdenken. Sehr zu meinem Erstaunen gibt Ruben sich damit zufrieden und bohrt nicht weiter nach. Stattdessen schleift er mich einfach nur zum Auto, schiebt mich auf die Rückbank und quetscht sich neben mich. Der Rest der Clique – also Nils und Yannick; Maurice und Marie-Claire werden offensichtlich von ihren eigenen Eltern abgeholt – quetscht sich irgendwie dazu, was schlussendlich dazu führt, dass Nils halb auf Yannick, Ruben und mir draufliegt, weil der Platz ansonsten zu knapp wäre. Besonders toll findet er das seiner Beschwerde zufolge zwar nicht, aber Ruben und Yannick lachen nur darüber und ich kann von meinem Platz aus erkennen, dass auch Christie vorne auf dem Beifahrersitz schmunzelt. "Mensch, jetzt mecker doch nicht dauernd rum, Du alter Grummelzwerg! Und mach Dich vor allem nicht extra fett, sonst bitte ich Andi, noch mal kurz anzuhalten und Dich als Kühlerfigur auf die Motorhaube zu setzen. Rein von der Größe her sollte das bei Dir ja kein Problem sein. Du bist schließlich winzig genug, dass man problemlos über Dich hinwegkucken kann", zieht Yannick Nils auf. Dafür erntet er zu Rubens, Christies und auch zu meiner Belustigung einen Tritt in die Rippen, der ihn allerdings auch nicht lange ruhigstellen kann. Als Rache hält Yannick Nils' Beine fest, setzt ein wirklich hinterhältiges Grinsen auf und fängt dann schließlich an, Nils die Socken herunterzuziehen und ihn an den Knöcheln zu kitzeln. Ich wusste gar nicht, dass man da empfindlich oder gar kitzelig sein kann, werde aber schnell eines Besseren belehrt. Nils lacht und motzt gleichzeitig, zappelt dabei herum wie ein Fisch auf dem Trockenen und es ist nur Christies Eingreifen zu verdanken, dass dadurch niemand zu Schaden kommt. Sobald Yannick endlich von ihm ablässt, japst Nils erst mal ordentlich nach Luft, während Ruben leise vor sich hin kichert. Christie schüttelt belustigt den Kopf, Yannick grinst triumphierend, Christies Vater lacht schallend und ich muss gestehen, dass ich mich durch dieses Geplänkel tatsächlich ein bisschen besser fühle als vorhin. Gut, das liegt vielleicht einfach nur daran, dass ich sämtliche Gedanken an Simon und das, was da in der Halle passiert ist, einfach nur zu verdrängen versuche, aber eigentlich ist mir der Grund egal. Ich bin nur froh, dass ich nicht schon wieder heulen muss. "Beim nächsten Mal musst Du unbedingt wieder mitkommen", kriege ich zum Abschied von Yannick zu hören, als Nils und er vor dem Haus, in dem sie wohnen, aus dem Auto steigen. Nils grummelt zwar wieder, nickt aber trotzdem und versucht dann tatsächlich so was wie ein Lächeln in meine Richtung. Yannick hingegen grinst mich breit und offen an und ich stelle unwillkürlich fest, dass Ruben und er vom Grinsen her fast Zwillinge sein könnten. Sie haben jedenfalls eindeutig beide die gleiche Art zu grinsen. "Gerne", höre ich mich selbst antworten und Yannicks Grinsen wird noch eine Spur breiter. Da er an mich nicht ganz drankommt, wuschelt er stattdessen Ruben durch die Haare und lacht, als dieser sich darüber beschwert. "Gib's halt weiter", fordert er ihn auf und ich kann Ruben nur mit Mühe davon abhalten, sich auf mich zu stürzen und mir tatsächlich meine Haare total durcheinander zu bringen. Sobald ich Ruben erfolgreich abgewehrt hab und auch Nils und Yannick im Haus verschwunden sind, startet Christies Vater seinen Wagen wieder, fährt weiter und parkt nur knapp zehn Minuten später an der Gärtnerei. Gemeinsam steigen wir aus, betreten das Haus und werden da von Christies Mutter in Empfang genommen. Sie ist, stelle ich fest, beinahe das totale Gegenteil ihres Mannes. Sie ist klein und recht rundlich, hat aber trotzdem ein hübsches Gesicht mit braunen Augen, die mir ziemlich bekannt vorkommen. Ganz offensichtlich hat sie sie ihrem Sohn vererbt. Bevor ich weiter nach Familienähnlichkeiten suchen kann, schwenkt sie nach der überaus herzlichen Begrüßung von Christie und Ruben – sie hat die beiden einmal kräftig durchgeknuddelt – zu mir herum, stellt sich mir als "Babsi, Chris' Mutter" vor und drückt mich auch einmal an sich. Ich bin etwas erschlagen von so viel Herzlichkeit – so oft wie heute wurde ich in meinem ganzen bisherigen Leben noch nie umarmt und gedrückt – und werde auf dem Weg nach oben in Christies Zimmer dann darüber aufgeklärt, dass seine Mutter wohl immer so ist. "Genau deshalb bin ich auch so gerne hier bei meinem Gummibärchen. Wenn man mal kurz geknuddelt werden will, braucht man's nur zu sagen und irgendwer nimmt einen auf jeden Fall in den Arm." Mit einem zufriedenen Lächeln, in dem ich allerdings auch einen Hauch Wehmut zu erkennen glaube, lässt Ruben sich auf die Schlafcouch fallen, während Christie kurz im Bad verschwindet, um sich abzuschminken. Sobald er wieder da ist, tue ich es ihm gleich und als ich wieder zurückkomme, sind Ruben und er schon dabei, die Couch auszuklappen. Da das wegen Rubens Gipsarm nicht ganz reibungslos hinhaut, fasse ich mit an und staune schlussendlich über die wirklich gigantischen Ausmaße der Couch. Das Ding ist fast so breit wie das alte Ehebett meiner Eltern. Ich wusste nicht, dass es so was überhaupt gibt. Da kann man mal sehen, wie unwissend ich bin. Mein wahrscheinlich unglaublich belämmerter Gesichtsausdruck sorgt bei Ruben für einen Lachkrampf allererster Güte. Auch Christie kann sich das Grinsen nicht ganz verkneifen, aber ich bin keinem der beiden wirklich böse deswegen. Im Moment fühle ich mich eigentlich ganz gut, aber einem Teil von mir graut es jetzt schon davor, mich mit den beiden zum Schlafen auf die Couch zu quetschen. Ich bete jetzt schon dafür, dass ich hoffentlich sofort einschlafe. Aber da ich eigentlich noch nicht besonders müde bin, ist diese Hoffnung wohl utopisch. Mehr oder weniger geordnet verschwinden wir Drei nacheinander im Bad, um uns umzuziehen und bettfertig zu machen. Ich bin der Letzte und als ich zurückkomme, hat Ruben sich schon auf einer Seite der Couch ausgestreckt und es sich dort bequem gemacht. Christie sitzt im Schneidersitz und mit einem hellblauen Pyjama, auf dessen Oberteil ein lila Glücksbärchen abgebildet ist, in der Mitte und ich schlucke schwer, als mir klar wird, dass ich ganz offensichtlich auf der anderen Seite neben ihm schlafen soll. Irgendwie ist mir das ein bisschen unangenehm, aber auf die Frage, ob mir eine Matratze zum Schlafen lieber wäre – entweder kann Christie Gedanken lesen oder ihm ist das Ganze genauso peinlich wie mir –, schüttele ich den Kopf. Ich will keinen unnötigen Aufwand verursachen. Außerdem habe ich zwei Nächte neben der Klette Ruben überlebt, da wird eine einzige Nacht neben dessen bestem Freund mich ja wohl nicht umbringen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf krabbele ich zu den beiden auf die Schlafcouch und sobald ich mich unter die Decke gewühlt hab, löscht Christie das Licht. Trotzdem ist es nicht völlig finster im Zimmer und ich beobachte mit einem Schmunzeln, wie Ruben sich so an seinen besten Freund kuschelt, wie er es auf der Klassenfahrt bei mir gemacht hat. Allerdings schläft er dieses Mal nicht sofort ein, sondern stützt sein Kinn auf Christies Brust ab und sucht im Dunkeln meinen Blick. "Und worüber hast Du vorhin mit Simon gesprochen?", stellt er die Frage, die ja wohl unweigerlich kommen musste, und jammert gleich darauf, weil Christie ihm dafür eine Kopfnuss verpasst hat. "Meinst Du nicht, dass das unter Umständen vielleicht etwas war, was Dich überhaupt nichts angeht?", tadelt er Ruben und ich kann den Flunsch, den der auf diese Belehrung hin zieht, zwar nicht richtig sehen, aber dafür umso in seiner Stimme besser hören. "Hey, Simon ist immerhin mein Bruder!", quengelt er beleidigt und Christie seufzt abgrundtief, ehe er den Kopf schüttelt. "Na und? Ist Jan deshalb dazu verpflichtet, Dir über jedes Wort Rechenschaft abzulegen, das die beiden miteinander wechseln?", gibt er zurück und ich kann fühlen, wie mein Gesicht wieder zu glühen beginnt. Ich bin es einfach nicht gewöhnt, dass jemand, den ich eigentlich nicht mal besonders gut kenne, so Partei für mich ergreift. Und ich will eigentlich auch nicht, dass die Zwei meinetwegen noch zu streiten anfangen, deshalb räuspere ich mich leise, ehe sie noch weiter darüber diskutieren können, ob Ruben jetzt ein Recht darauf hat, alles zu erfahren, oder eben doch nicht. "Ich ... ich geh morgen zu ihm, wenn ... wenn ich wieder zu Hause bin", werfe ich hastig ein und beiße mir auf die Unterlippe, um mich wegen des Kusses nicht zu verplappern. Dabei wird mir wieder heiß und ich würde mich am liebsten unter der Bettdecke verstecken, kämpfe diesen Drang aber mit aller Macht nieder. Wie würde das denn jetzt auch auf die beiden wirken? Ich habe mich heute echt schon genug blamiert. Mehr muss wirklich nicht sein. "Echt? Du gehst wirklich freiwillig zu ihm? Ganz ohne Scheiß?" Ruben klingt total überdreht und ich schlucke schwer, nicke aber trotzdem. "Ja, aber ... Ich weiß nicht, ob ich's ihm sage. Das ... das entscheide ich dann, wenn ich da bin", bremse ich seinen Enthusiasmus ein wenig und er schmollt kurz, gibt sich aber nach einer weiteren Kopfnuss von seinem besten Freund leise murrend geschlagen. "Dann viel Glück", wünscht Christie mir und in seiner Stimme schwingt ein Lächeln mit, das mich selbst auch ein wenig lächeln lässt, obwohl allein der Gedanken an vorhin und morgen und Simon mein Herz schon wieder zum Rasen bringt. Ich hab zugegebenermaßen wirklich Schiss davor, ihm wieder gegenüber zu treten, aber ich kann jetzt definitiv nicht mehr kneifen. Wenn ich das mache, dann wird Ruben sicher irgendeinen ultrapeinlichen Kuppelversuch starten und das muss ich echt nicht haben. Danke, aber danke, nein. "Wünsch ich Dir auch. Ruf mich auf jeden Fall an, wenn sich irgendwas ergibt, okay?" Ruben hibbelt aufgeregt auf dem Bett herum und kriegt sich erst wieder ein, nachdem ich ihm versprochen habe, mich auf jeden Fall morgen Abend bei ihm zu melden. Damit steht neben Jassi noch jemand auf meiner imaginären Anrufliste und ich verkneife mir mühsam ein Seufzen. Warum konnte ich Idiot bloß auf der Fahrt nicht meine Klappe halten? Dann müsste ich mich jetzt wenigstens nicht in Grund und Boden schämen. Zum Glück gibt Ruben nach einem dezenten Hinweis von Christie darauf, dass er ziemlich müde ist und eigentlich ganz gerne langsam schlafen würde, endlich Ruhe. Nach einem letzten "Ich drück Dir echt ganz, ganz fest die Daumen, Jan" kuschelt er sich wieder ganz eng an seinen besten Freund und nur ein paar Minuten später zeugen seine regelmäßigen Atemzüge davon, dass er auch schon tief und fest eingeschlafen ist. Ich klappe meine Augen ebenfalls zu, aber schlafen kann ich noch nicht. Dafür bin ich noch viel zu aufgekratzt. Trotzdem versuche ich, so ruhig wie möglich liegen zu bleiben, um meine beiden Bettnachbarn nicht zu stören. Allerdings, stelle ich nach einem kurzen Blick fest, scheint Christie seinen eigenen Worten von vorhin zum Trotz doch noch nicht wirklich müde zu sein. Stattdessen streicht er dem friedlich schlummernden Ruben gedankenverloren durch die Haare. Ich beobachte ihn eine Weile dabei und fahre ertappt zusammen, als er mich irgendwann plötzlich anspricht. "Kannst Du nicht schlafen?", fragt er leise und nach kurzem Zögern schüttele ich den Kopf. "Nicht wirklich", nuschele ich ebenso leise zurück, um Ruben nicht zu wecken. "Liegt das an der Sache mit dem Kuss?", kommt daraufhin etwas zögerlich die Rückfrage und ich nicke, nur um gleich darauf wieder den Kopf zu schütteln. "Ja. Also, nein. Also ... Na ja, nicht wegen Dir oder so", stammele ich mir zurecht und gebe mir dabei die größte Mühe, auch weiterhin zu flüstern. Ich will nicht, dass Ruben doch wieder aufwacht und durchdreht, weil ich ihm nichts davon erzählt habe, was zwischen Simon und mir passiert ist. Das würde er mir nämlich ganz bestimmt übel nehmen, aber ich kann im Moment einfach kein freudiges Gequietsche gebrauchen. Nicht, solange ich nicht wirklich weiß, wie ich mich jetzt fühlen soll. "Also, ich war vorhin noch mal in der anderen Halle drüben, nachdem ich mit Ruben gesprochen hab. Und da ... Ich hab Simon getroffen und ... Er hat mich geküsst. Zwei Mal", haspele ich schnell und kann fühlen, wie sich mal wieder mein gesamtes Blut in meinem Gesicht versammelt, um da eine "Wir machen aus Jan eine Tomate"-Party zu feiern. Dieses Thema ist mir einfach unglaublich peinlich, aber trotzdem hab ich seltsamerweise das Gefühl, dass ich mit Christie problemlos darüber reden kann. Er wird ganz sicher nicht quietschen oder sonst wie ausflippen. Jedenfalls hoffe ich das ganz stark. Das Universum scheint gerade mal einen ausgesprochen netten Moment zu haben, denn Christie rastet wirklich nicht aus, sondern dreht sich einfach mit der Schlafmütze Ruben im Arm ein wenig mehr zu mir um und als ich ihm ins Gesicht sehe, glaube ich zu sehen, dass er mich anlächelt. "Das ist doch schön. Freut mich für Dich, Jan", sagt er ehrlich und ich lächele etwas zaghaft zurück. "Ich bin jetzt irgendwie total durcheinander", gestehe ich leise und verfluche meine Stimme dafür, dass sie so belegt klingt. "Ich mein, ich freu mich natürlich schon, aber irgendwie ... Simon wollte gerade mit mir darüber reden, als Maurice ins Klo reinkam und mich direkt mitgeschleift hat. Ich hab ihm zwar Bescheid gesagt, dass ich morgen – also nachher – zu ihm komme, aber ich weiß nicht, ob er das überhaupt noch gehört hat. Und irgendwie weiß ich auch nicht, ob's wirklich angebracht ist, dass ich mich freue. Ich mein, da ist ja immer noch Flo. Der hat zwar nicht den Eindruck gemacht, als ob er sauer wär oder so, aber ... Das ist alles total verwirrend." "Glaub ich Dir", murmelt Christie und ich kann im Halbdunkel erkennen, dass er die Stirn runzelt. "Aber ich denke nicht, dass Du Dir wegen Flo wirklich Sorgen machen musst. Simon und er sind schon lange nicht mehr richtig zusammen. Die sind mehr so ... na ja, "Freunde mit Extras" würde man das wohl nennen. Aber hauptsächlich sind sie befreundet. Wenn da zwischen ihnen noch was Ernstes wäre, dann hätte Simon Dich nie geküsst. So was tut er einfach nicht. Du kannst Dir also sicher sein, dass er Dich zumindest sehr, sehr gern hat." Ich weiß nicht, ob ich diesen Worten wirklich Glauben schenken kann, aber Christie ist scheinbar noch gar nicht fertig, denn er spricht gleich weiter. "Weißt Du, als wir euch gestern Abend an der Schule abgeholt haben, da hat er ständig auf die Uhr gesehen. Er war ganz schön nervös und ungeduldig – und das ist sonst ganz und gar nicht seine Art. Man merkt ihm zwar meistens nichts von seiner Nervosität an, wenn man ihn noch nicht so gut kennt, aber ich kenn ihn immerhin schon beinahe mein ganzes Leben – also genauso lange, wie ich Ruben jetzt schon kenne. Wir Drei sind praktisch zusammen aufgewachsen. Klar, ich hab ihn auch nicht mehr besonders oft gesehen, seit er von zu Hause ausgezogen ist, aber so wahnsinnig verändert hat er sich gar nicht. Er ist vielleicht noch ein bisschen verschlossener geworden als er früher schon war, aber das ist auch schon alles", versichert er mir und lächelt wieder so zuversichtlich und ehrlich, dass ich gar nicht anders kann als ihm zu glauben. "Und Du bist Dir sicher, dass er mich wirklich ...?", frage ich dennoch unsicher nach und Christie nickt sofort, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern. "Auf jeden Fall. Sonst hätte er Dich ganz bestimmt nicht geküsst", antwortet er und klingt dabei so überzeugt von seinen eigenen Worten, dass mir ganz schwindelig wird. Jetzt haben mich schon zwei Leute, die Simon nahe stehen und ihn lange und gut kennen – Ruben und Christie – unabhängig voneinander davon zu überzeugen versucht, dass Simon mich ganz sicher mehr als nur ein bisschen mag. Gut, genau genommen waren es sogar drei Leute, wenn ich Jassi auch noch mitrechne. Der kennt Simon zwar bisher noch nicht persönlich, aber das, was er mir da am Telefon über Kerle und Sonnenuntergänge und das ganze Zeug erzählt hat, klang schon ziemlich glaubwürdig. Und wenn ich das alles zusammenzähle und dabei einfach mal meine mathematische Unfähigkeit außer Acht lasse, dann lassen diese ganzen Infos nur einen einzigen logischen Schluss zu: Simon mag mich wirklich. Wenn ich nicht sowieso schon liegen würde, würde mich diese Erkenntnis jetzt mit Sicherheit aus den Socken hauen. Ach Du heilige Scheiße! "O-Okay", stammele ich und verkrieche mich nun doch etwas tiefer unter der Bettdecke, während Christie wenig erfolgreich ein Gähnen zu unterdrücken versucht. "G-Gute Nacht", schiebe ich noch leise hinterher. "Wünsch ich Dir auch. Schlaf gut und träum was Schönes, Jan", antwortet er darauf schläfrig, schließt seine Augen und nur ein paar Minuten später kann ich zusätzlich zu Rubens auch Christies regelmäßige Atemzüge hören. Eine Weile beobachte ich die beiden noch beim Schlafen, aber der Anblick und auch die regelmäßigen Atemgeräusche so nah neben mir lullen mich immer mehr ein und sorgen dafür, dass meine Augen schließlich auch immer wieder zufallen. Mein letzter Gedanke, bevor ich ebenfalls ins Reich der Träume abdrifte, ist der, dass ich jetzt zu gerne so in Simons Armen liegen würde wie Ruben in Christies Armen liegt. Es muss wirklich unheimlich schön sein, von jemandem, den man selbst einfach wahnsinnig gern hat, so festgehalten zu werden und in seinem Arm einschlafen zu dürfen. ~*~ Bis zum nächsten Mal! Karma Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)