100 Themen Herausforderung von Karopapier ================================================================================ Kapitel 12: #076 - Nun ruhe aus, du gutes Herz ---------------------------------------------- In meiner Zeit als Paketzusteller sind mir schon oft merkwürdige, lustige, traurige und auch nervenaufreibende Dinge passiert. Eine besonders schöne Geschichte verdanke ich einer alten Dame, das war vor etwa zwei Jahren im Januar. Die Straßen waren glatt und ich war gottfroh, dass ich mit meiner Tour gerade noch fertig werden würde. Nach dem Weihnachtsgeschäft hatte sich der Trubel wieder ein wenig gelegt und das letzte Päckchen würde ich genau fünf Minuten vor Feierabend abgeben können. Die alte Dame öffnete mir die Tür mit einem erstaunten Ausruf. Den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr, aber es ging in die Richtung "Ach du liebes Bisschen, bei dem Wetter hier draußen noch unterwegs!", während ich ihr den schweren Karton ins Wohnzimmer stellte. Sie bedankte sich überschwänglich für diesen kleinen Gefallen - sie hätte die Kiste definitiv nicht vom Fleck bewegen können, das Ding war wirklich schwer - und lud mich zu einer Tasse Kaffee oder Tee und übrig gebliebenen Plätzchen ein, was ich dankbar annahm. Meine Finger waren von den eisigen Temperaturen steif und blau gefroren und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich den Wagen unter Kontrolle halten können würde. Wir saßen also zusammen im Wohnzimmer, sie auf dem Sofa und ich auf dem Sessel, und erzählten ein wenig. Ihr Mann war vor zwei Jahren gestorben, sie hatte drei Kinder und fünf Enkel und schon viel von der Welt gesehen. Sie gehörte nicht zu den wehleidigen Alten, die nur über ihr Schicksal jammern, aber auch nicht zu den verbitterten Menschen, die sich nur gut fühlen, wenn sie den anderen den Tag vermiesen können. Stattdessen überraschte sie mich mit einem unglaublich schwarzen Humor, der allerdings nie verletzend war, einer Ironie, wie sie nur wenige beherrschen und einem unbändigen Lebenswillen. So saßen wir selbst dann noch da, als schon einige Stunden vergangen waren und es aufgehört hatte zu schneien. Es ist erstaunlich, wie gut man sich manchmal mit Menschen versteht, die man noch nie zuvor gesehen hat. Zwischen uns herrschte zufriedene Stille, während sie ihren Tee und ich meinen Kaffee trank, als ich sie auf die dicke Enzyklopädie ansprach, die mutterseelenallein auf dem obersten Regal stand. Alle anderen Bücher standen mindestens zwei Bretter tiefer, nur die großen, schweren Wälzer hatte jemand so hoch gelagert, dass die alte Dame sicherlich nicht ohne einen Stuhl an sie heran kam. "Sagen Sie", fragte ich sie neugierig, "warum steht diese Enzyklopädie so weit oben, wenn doch die gesamten Reihen darunter frei sind? Hat das einen bestimmten Grund?" Sie lachte herzlich, stellte ihre Tasse ab, lehnte sich zurück und betrachtete die Bände. "Eigentlich standen die Bücher dort oben, um sie vor kleinen übereifrigen Kinderhänden zu beschützen", schmunzelte sie und zwinkerte mir zu. "Die Enzyklopädie ist eines meiner größten Heiligtümer, müssen Sie wissen, ich habe sie oft benutzt wenn ich mich in meinen Kreuzworträtseln etwas besonders interessiert hat und ich habe es immer genossen, ab und zu in ihr blättern zu können. Über die Jahre bürgerte es sich so ein, die Enzyklopädie gehörte ganz nach oben, und schließlich, als mein Mann überraschend starb, stand sie eben immernoch da." Ich hakte nach. "Warum haben Sie sie nicht selbst heruntergeholt? Mit einem Stuhl müssten Sie sie doch erreichen. Soll ich sie vielleicht für Sie tiefer stellen?" Wieder lachte sie. "Ich hätte sie sicherlich selbst heruntergeholt, wäre da nicht meine Höhenangst. Und wenn meine Familie zu Besuch war, habe ich immer so viel anderes im Kopf gehabt, dass die Bücher vergessen waren. Was allerdings Ihr Angebot angeht... Nein. Vielen Dank, ich weiß es zu schätzen, aber wenn etwas im Leben seinen Platz gefunden hat, sollte man es nicht willkürlich umpflanzen. Es waren vielleicht diese Worte, die sich mir an der Geschichte am besten eingeprägt hatten und die mich seitdem immer begleiten. Sie ließen mich um zwei Uhr morgens nicht los, als ich nach einigen weiteren Tassen Kaffee langsam in Richtung Heimat trudelte. Sie ließen mich auch einige Monate später nicht los, als ich umzog in eine Wohnung mit kleinem Garten. Und selbst als ich jemanden kennenlernte, der Katzen so abgöttisch liebte, das Tier, ich nahezu auf den Tod nicht ausstehen kann, war dieser Satz das, was mir als allererstes in den Sinn kam. Ob die alte Frau richtig lag mit ihrer Aussage, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber irgend etwas lässt mich die alte Enzyklopädie, die mir gestern mit einer kurzen Notiz versehen von einer Frau, deren Namen ich nie gehört habe, geschickt wurde, nicht in das Regal stellen. Stattdessen hole ich mir einen Stuhl und schiebe sie, mit etwas Mühe, denn der Schuber ist schwer, auf das Regal. Dann klettere ich wieder von meinem improvisierten Podest hinab, schaue mir mein Werk zufrieden an und nicke mir in Gedanken selbst zu. Dort oben ist sie vor kleinen übereifrigen Kinderhänden gut geschützt, wenn es in fünf Monaten so weit ist. Und außerdem sollte man etwas, das im Leben seinen Platz gefunden hat, nicht willkürlich umpflanzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)