Order von Mebell (24 Tage - 24 Befehle (Oder: Der etwas andere Adventskalender)) ================================================================================ Kapitel 2: 2.Dezember --------------------- 2.Dezember Mit müdem Blick starrt Farin auf sein Käsebrötchen. Er weiß nicht mehr, wann er endgültig in den Tiefschlaf gesunken ist. Dafür hat er nun die neue Erkenntnis, dass man sich auch in die völlige Lethargie schlafen kann. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Schatten ab. Jegliche Gliedmaßen fühlen sich schwer an, die Erdanziehungskraft tut bestens ihren Dienst. Farin beobachtet weiter sein angebissenes Brötchen, in den Krümeln scheint sich ein Name abzuzeichnen. Bela. Alles, aber auch wirklich alles ist auf diesen vier Buchstaben gewachsen. In seinen Gedanken spinnt er schon die finstersten Rachepläne. Der See hinter seinem Haus ist zu dieser Jahreszeit sicher eiskalt. Außerdem liegt sicher bald wieder Schnee. Da kann man schon mal ausrutschen und jemanden anrempeln. So etwas passiert. Selbstzufrieden grinsend blickt er auf die tickende Küchenuhr und genießt sein Kopfkino. Jedoch wird er jäh aus seinen mehr oder weniger schönen Träumen gerissen. Es klingelt. Vielleicht der Paketbote oder die verspätete Post. Ganz sicher kein Drummer. Bela schafft es nie, irgendetwas zu Ende zu bringen oder seine seltsamen Ideen in die Tat umzusetzen. Während Farin sich selber manipuliert, trottet er ruhig zu seiner Tür. Am liebsten würde er rennen und die Türe aufreißen, doch er beschließt, sich zur Raison zu rufen. Als er endlich die Klinke berührt, kann Farin sich aber nicht mehr beherrschen. Abrupt reißt er die Tür auf und hofft auf das Gesicht seines Postboten. Stattdessen begrüßt ihn Leere. Eine böse Vorahnung beschleicht ihn. Eigentlich weiß er ganz genau, was ihn erwartet. Aber gewisse Dinge möchte man schlicht nicht wahrhaben. Deshalb schaut Farin betont gelangweilt in die Landschaft und versucht mit einem Fuß seine Haustüre wieder zu schließen. Natürlich bleibt sein Blick trotzdem an der Fußmatte kleben. Es herrscht akute Augenkrebsgefahr. Neongrün springt Farin förmlich ins Gesicht. Natürlich ist es einer dieser ekelhaften bunten Klebezettel. Unter diesem verbirgt sich etwas ebenso Knallbuntes und Quadratisches. Kurz überlegt er, den Zettel einfach Zettel sein zu lassen und sich wieder seinem Brötchen zu widmen. Farin verwirft die Idee und beugt sich hinunter. Gewohnt krakelig lacht ihm die bekannte Handschrift entgegen. Es braucht nur einen Blick, um eine weitere Unverschämtheit Belas zu erkennen: „Zweiter Befehl: Höre deine erste Schallplatte!“ Innerhalb von Sekunden wird Farin klar, was sich unter dem Zettel verbirgt. Irgendwo in seinem Schrank befindet sich ein anderes Exemplar ebendieser Platte, fein säuberlich eingeordnet. Vorsichtig löst Farin den Zettel ab und hebt die Schallplatte auf. Er will auf gar keinen Fall einen Kratzer an dieser musikalischen Perle vorfinden. 'Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band' Der Schriftzug strahlt etwas unheimlich vertrautes aus. Wenn man Musik wirklich zu Tode hören kann, hat er dies mit dieser Platte geschafft. Wie oft sie sich auf dem Plattenteller gedreht hatte. Seine Mutter war es, die ihm diese Vinyl offiziell schenkte. Damals war er noch ziemlich jung und verhältnismäßig normal gewesen, das Album lag jedoch auch später noch öfters auf dem Plattenspieler. Sie war und ist sein erster richtiger Bezug zur Musik gewesen, hatte deshalb diesen hohen Stellenwert. Diese Erinnerung scheint aber vergessen: Heute liegt sie irgendwo ganz hinten in seiner reichhaltigen Musiksammlung. Mittlerweile bemerkt Farin, wie die eisige Luft seine Finger nach ihm ausstreckt. Kopfschüttelnd wendet er seinen Blick vom Cover des Albums ab und begibt sich wieder in die Wohnung, genauer gesagt in sein Schlafzimmer. Hier befindet sich sein uralter Plattenspieler, scheinbar aus dem vorherigen Jahrhundert stammend. Er thront zwischen einigen Briefen, Fotos und Zetteln auf einem kleinen Schränkchen. Farin ist ein chronischer Ordnungsfanatiker, ein absoluter Minimalist. Doch in seinem Schlafzimmer sind die Verhältnisse anders. Briefe, Fotos, Notizbücher, Geschenke, Kleinigkeiten, sein Plattenspieler, einige Musikalben – Kurz, alle Dinge die ihm etwas bedeuten, versammeln sich hier. Dinge, die ihm unheimlich vertraut sind und die er für kein Geld der Welt je hergeben würde, befinden sich an seinem Rückzugort. Farin mag die Vorstellung, beim Schlafen von all dem umgeben zu sein. Zugeben würde er das nie, dieses Zimmer zu betreten ist deshalb auch mehr als nur verboten. Daher kennt jeder nur das schlichte, ordentliche und bildlose Weiß seiner restlichen Wohnung. Neben dem Krimskrams erkennt er einen alten Bekannten. Der Teddy sitzt auf der Ecke des Schrankes und starrt mal wieder ins Nirgendwo. Er muss ihn heute Morgen beim Aufstehen dorthin abgeladen haben. Jetzt wendet Farin sich aber lieber wieder dem Album zu. Allein das Cover hatte viele Erinnerungen geweckt, manche undeutlich, andere klarer. Was die eigentliche Musik nun bewirken würde, findet er auf seltsame Art und Weise spannend. Mit einem leichten Quietschen öffnet Farin die Abdeckung und legt fachmännisch die Platte auf den Teller. Äußerst behutsam setzt er die Nadel in die richtige Rille. Ächzend und leicht knackend nimmt der Plattenspieler seine Arbeit auf. Farin hat mit vielem gerechnet. Aber nicht damit. Schon die ersten, noch leicht schwerfälligen Töne lösen eine wahre emotionale Lawine in ihm aus. Schemen, Dialoge, Erinnerungen, ja sogar seine eigenen damaligen Gedanken toben durch seinen Kopf. Völlige Überforderung ist das Einzige, was bleibt. Langsam sinkt er auf die Kante seines Bettes. Es fühlt sich an, als wenn statt Blut die Musik durch seine Adern fließt. Als wenn sie gerade seinen Körper regieren würde. Farin gibt sich dieser Diktatur schlicht hin, schließt die Augen und lässt den Regen aus Empfindungen auf sich niederprasseln. Die Zeit scheint den Atem anzuhalten, alles um ihn gefriert und zentriert sich auf die Musik. "I get by with a little help from my friends" Die Songtextzeile reißt Farin aus seinem Orkan. Aus all den winzigen Stücken seiner Erinnerung formt sich zum Ersten Mal etwas kristallklar heraus. Sie war Asiatin, bildhübsch und intelligent. Ihr Haar hatte schon von Weitem einen starken Duft nach Pfirsichen, ihr Lachen war glockenhell. Jeder auf der Schule drehte sich nach ihr um. Was sollte da dieser seltsam gekleidete, bleiche, musikfanatische Punker erreichen? Richtig. Nichts. Es war zu Ende, bevor es begonnen hatte. Diese Tatsache war schmerzhaft. Sie zu akzeptieren, hatte gedauert. Der Bezug zu dem Song rührte jedoch aus einer anderen Situation, diese war aber direkt mit seiner aussichtslosen Liebe verbunden. * Im Hintergrund spielte die Musik, während Farin stumm auf seinem Bett saß. Auf dem Boden hatte sich Bela ausgebreitet, auf dem Bauch liegend. Der Kopf war in die Hände gestützt, er studierte aufmerksam den unglücklich Verliebten. Genau bei dieser Zeile hob er den Kopf und formte sie lautlos mit den Lippen mit. Dafür erntete Bela sein ehrlichstes Lächeln überhaupt. Liebe war nebensächlich, wenn es den besten Freund gab. Diese Begebenheit ist Farin so detailgetrau vor Augen, dass er sich sogar daran erinnert, wie Bela sich die zotteligen schwarzen Haare aus dem Gesicht strich. Die Bewegung ist haargenau vor seinem inneren Auge zu sehen. * Leicht benommen steht Farin wieder auf und stoppt die Musik. Es reicht für heute eindeutig an Nostalgie. Fast liebevoll verpackt er die Platte wieder. Irgendwo macht es Farin Angst, was für einen Sturm so etwas an sich Simples wie Musik in ihm auslösen kann. Musik ist an sich simpel. Aber sie begleitet ihn schon sein Leben lang, ist die einzige echte Konstante. Es ist mehr als logisch, dass ausgerechnet sie die verstecktesten Dinge ans Licht bringt. Seufzend lehnt er das Beatles Album an das Schränkchen. Darauf greift er nach Wischmopp und platziert ihn auf der wieder geschlossenen Abdeckung des Plattenspielers. Blinzelnd registriert Farin, was er da automatisch getan hat. Belas eigenartige Ideen tun ihm ganz und gar nicht gut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)