Die Pianistin von Liniath ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Er kauerte im Flur am Boden, den Blick fest vor sich auf die Türe gerichtet. Leise Töne drangen gedämpft an seine Ohren. Er war kein Kind mehr, aber auch noch kein Erwachsener. Doch Hass und Verbitterung glühten trotzdem in seinen Augen. Die Verletztheit dahinter sah keiner, außer ihr. Sie war dort hinter der Türe und spielte. Eine sanfte Melodie auf dem Klavier, wie aus einem fernen Traum. Er würde warten bis sein Vater fort war. Dann würde er aufstehen und zu ihr gehen. Endlich konnte er sie wieder sehen, sie spielen hören. Sie spielt nur für mich. Mit einem Krachen fiel die Haustür ins Schloss. Das konnte er deutlich hören. Sein Vater war jetzt aus dem Haus. Langsam erhob er sich vom Boden, dabei sah er noch immer die Türe an. Er konnte hören wie die Musik lauter wurde. Es war nicht mehr die sanfte Melodie von zuvor. Der sanfte Traum war zu einem leidenschaftlichen Tanz geworden. In seinem Kopf konnte er sich bereits ausmalen, wie ihre Finger über die Tasten tanzten. Ich werde bald bei ihr sein. Seine Hand ruhte jetzt auf der Türklinke. Noch einige Momente hörte er der wilden Melodie zu, dann öffnete er die Türe. Der Raum vor ihm war leer, bis auf ein altes Klavier. Es war staubig, aber die Saiten stimmten noch. Durch ein dreckiges Fenster fiel schummriges Licht und erhellte ihre Gestalt. Sie saß am Klavier und spielte. Als er hereinkam blickte sie auf, spielte dabei noch weiter und lächelte. Sie lächelt nur für mich. Er schloss die Türe hinter sich leise und bedächtig. Nicht wie sie lächelte er. Sein Ausdruck war immer noch ernst. Auf dem alten und verblichenen Teppichboden klangen seine Schritte gedämpft und wurden von der Musik übertönt. Ohne ein Wort setzte er sich neben sie und sie lächelte deswegen nur. Doch ihre Spielweise änderte sich jetzt wieder. Sie begann ein wahres Meisterstück zu spielen, dass man vor Ehrfurcht erstarrte. Ich hielt den Atem an. Sie spielte und spielte. Dabei lächelte sie, doch sagte sie kein Wort. Aber sie brauchte auch nichts sagen. Sie ließ einfach das Klavier für sich sprechen. Die Töne erzählten ihm großartige Geschichten, entführten ihn in fremde Welten. Fern ab von seinem Zuhause. Die Musik berichtete ihm von großen Heldentaten und furchtbaren Kämpfen. Sie erzählt nur für mich. Noch lange Zeit spielte sie weiter. Sie spielte lächelnd ihre Weisen für ihn. Doch er lächelte noch immer nicht. Stattdessen blickte er sie unverwandt an. Beobachtete begierig ihre Finger, wie sie leichtfüßig über die Tasten tanzten. Aber durch einen schrecklichen Lärm wurde ihr Spiel unterbrochen. Es war die Haustüre gewesen. Nun blickte sie ihn bang an, doch er winkte nur mit einer Hand ab und stand auf. Ich will sie besitzen. Er ließ den Raum hinter sich und schloss ab. Die Musik verstummte. Der Flur war grau und trostlos. Schritte erklangen, doch er blieb einfach im stillen Flur stehen. Sein Vater tauchte auf und schenkte ihm einen abwertenden Blick. „Was tust du hier?“ „Nichts.“ Der Vater murrte etwas und ging zu der Türe, doch er kam nicht in den Raum. „Warum ist da abgeschlossen?“ Sie bekommst du nicht mehr. „Du hast wohl selber abgeschlossen, Vater.“ Daraufhin sah der Vater ihn nur misstrauisch an. „Wo ist Enya? Sie ist schon seit gestern verschwunden.“ „Ich weiß nicht, wo deine Freundin steckt, Vater.“ Wieder ein misstrauischer Blick. Aber er blieb ruhig. „Sonst ist sie doch immer am Klavier.“ „Hörst du irgendwelche Musik, Vater?“ Sein Vater schüttelte den Kopf. „Dann wird sie wohl nicht hier sein.“ Ich weiß, wo sie ist. „Hast vielleicht Recht.“ Mit diesen Worten wandte sich der Vater ab. Er begann zu grinsen. Sein Erzeuger war so leicht zu täuschen, dass es schon fast schmerzhaft einfach war. Doch er störte sich nicht daran. Stattdessen zog er den Schlüssel hervor und schloss auf. Sie, Enya, lächelte ihm sofort entgegen. Doch ihre Finger tanzten nicht mehr über das Klavier. Sie soll wieder spielen. Er betrat den Raum und schloss hinter sich ab. Sein Vater sollte jetzt nicht stören können. Schweigend setzte er sich wieder zu ihr. „Spielst du nicht mehr?“ „Spiel doch du einmal etwas.“ Daraufhin nickte er nur und nun begann er zu spielen. Seine Melodie war zaghafter wie ihre, wie eine Pflanze, die noch im Keimen erstickte. Ich will sie wieder spielen sehen. Doch die Töne wandelten sich. Energischer erklang die Musik, immer schneller liefen dabei seine Finger über die Tasten. Der Staub wirbelte von ihnen auf und schwebte durch die Luft. Sie hörte ihm zu, doch jetzt lächelte sie nicht mehr. Mit glühender Begeisterung sah sie ihm zu. Sie hielt den Atem an. Aber plötzlich hörte er auf zu spielen. Verwundert blickte sie ihn an, doch sie fragte nichts. Auch er sagte nichts. Stattdessen schloss er seine Augen und saß einfach da. Als er wieder die Augen öffnete, saß sie nicht mehr neben ihm. Er erhob sich und blickte sich kurz um. Sie lag mitten im Raum auf den Boden. Den Blick leer an die Decke gerichtet. Ich besitze sie. Er schritt zu ihr und kniete sich neben ihr auf den Boden. Sie lag noch immer reglos da und starrte aus leeren Augen nach oben. Das Blutrinnsal an ihrem Mundwinkel war getrocknet und braun. Sie hatte ihm versprochen, immer für ihn da zu sein. Sie hatte gelogen. Für ihn war sie nicht da gewesen. Nur seinen Vater hatte sie im Kopf gehabt. Für ihn hatte sie keine Augen gehabt. Doch er hatte sie schon immer verehrt. Sie und ihr grandioses Spiel. Endlich war sie sein. Mit gierigem Blick musterte er ihren Körper. Er begehrte sie nicht körperlich. Er begehrte immer ihr reines und unschuldiges Wesen. Ich werde sie für immer besitzen. Doch das so unschuldige Bild wurde getrübt. Das Messer in ihrer Brust zerstörte den Anblick. Ein dunkler Blutfleck hatte sich um die Klinge herum ausgebreitet. Der heute nicht mehr rot, sondern braun war. Mit einem Ruck zog er ihr das Messer aus der Brust und legte es vorsichtig bei Seite. Jetzt war das Bild der Unschuld wieder mehr hergestellt. Sie wird für immer bei mir sein. Die roten Haare fielen wie ein Heiligen Schein um ihren Kopf. Sie sah wunderschön aus. Rein und unschuldig. Er würde sie niemals berühren, niemals diese Unschuld beflecken. Sein Vater würde sie auch nie wieder so beschmutzen können, wie er es oft getan hatte. Nie wieder würde er so in Wut versetzt werden, wie es gestern gewesen war. Ich hatte sie weinend gefunden. Sein Vater hatte seine Lust an ihr getilgt gehabt. Sie hatte danach geweint, sie war noch so jung gewesen. Er hatte sie als einziges getröstet. Sie war ihm dankbar gewesen und hatte wieder für ihn gespielt. Aber sie war so traurig gewesen. Sie hatte ihm so Leid getan. Sie ist tot. Verzweifelt schrie er auf. Diese Erkenntnis traf ihn jetzt mit voller Wucht. Er hatte sie umgebracht. Die Erinnerung hatte er verdrängt. Aber er hatte ihr nur den Schmerz nehmen wollen. Sie hatte so gelitten und er hatte sie so sehr geliebt. Er hatte sich doch nicht mit ansehen können, wie sie so litt. Sie sollte doch nur nicht mehr weinen müssen. Er hatte ihr nur Frieden geben wollen. Ich habe sie umgebracht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)