Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Prolog: Verraten und Verkauft ----------------------------- Suikoden II – „Another Side, Another Story“ Jowy-centric. Prolog: Verraten und Verkauft Es war bereits Nacht, doch der Großteil des Camps war noch auf den Beinen. Manche waren zu aufgeregt zum Schlafen und andere schienen beschlossen zu haben, diesen letzten Abend ruhig ausklingen zu lassen. Denn nach sechs Monaten im Tenzaan-Gebirge, das die kleine Stadt Kyaro im Königreich Highland von den Vereinigten Stadt-Staaten von Jowston trennte, war es für die Soldaten der Einhorn-Jugendbrigade endlich Zeit, nach Hause zurück zu kehren. Die Zeit in den Bergen war hart gewesen und nicht nur einer der jungen Soldaten hatte sich in dieser Zeit zurück nach Kyaro gewünscht. Es waren Wochen voller Angst und schlafloser Nächte gewesen, inmitten eines Krieges, der zwischen den beiden Ländern tobte. Das Gebirge war alles, was die Stadt-Staatler davon abhielt, in Highland einzumarschieren, und so waren die jungen Rekruten hier stationiert gewesen, um sie in ihrem Militärdienst für spätere Gefechte vorzubereiten. Doch jetzt war alles ruhig. Der Krieg war vorbei! Diese Nachricht hatte die Jugendbrigade spät erreicht, doch nun waren alle umso erleichterter. Nun, wo sich König Agares Blight dazu bereit erklärt hatte, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, konnten sich die jungen Soldaten beruhigt zurückziehen. Einige der Rekruten saßen in kleinen Grüppchen um das Lagerfeuer in der Mitte des Camps, andere bewachten die Zugänge zu dem kleinen Lager. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, doch Befehle waren Befehle – und Captain Rowd nahm seine Befehle für gewöhnlich sehr, sehr ernst. Doch dieses eine Mal, so beschloss Jowy Atreides für sich, würde er die Befehle seines Captains ignorieren. Er hatte sich schon früh seiner Uniform entledigt, da der Gedanke an die Rückkehr nach Kyaro ihn ganz nervös machte, und nun bewachte er schon den ganzen Abend in einer weißen Leinenhose und einem ärmellosen, blauen Oberteil den östlichen Eingang des Camps. Jowy war ein hochgewachsener, schlanker junger Mann von 16 Jahren, dessen langes, blondes Haar in seinem Nacken zu einem Zopf gefasst war. Er hatte graue Augen, die normalerweise lebendig schimmerten, doch im Moment waren sie eher kurz davor, zuzufallen. Der Kampfstab in seiner Hand war zurzeit mehr eine Stütze für ihn als eine tatsächliche Waffe und er wartete darauf, dass die Wachablösung endlich kam. Die Aufregung über die morgige Rückkehr hatte ihn völlig ausgelaugt und er wollte nur noch ins Bett. „Hey, Jowy“, erklang in diesem Moment eine Stimme hinter ihm. Der junge Aristokrat – denn er war der älteste Sohn der Adels-Familie Atreides – drehte sich um und erblickte einen seiner Kameraden aus der Jugendbrigade, der den Helm seiner Uniform bereits abgenommen hatte. „Abend, Lionell“, begrüßte Jowy den anderen Jungen, „Bitte sag mir, dass du meine Ablösung bist.“ „Schon“, erwiderte Lionell grinsend, „aber ich hab gerade mit Captain Rowd gesprochen. Er meint, wir sollen ruhig ins Bett gehen.“ Jowys Augenbrauen wanderten verblüfft in die Höhe. „Ehrlich?“, fragte er verwirrt, „Der Captain lässt doch nie zu, dass wir unsere Wache vernachlässigen…“ Lionell zuckte die Achseln und warf einen Blick zurück ins Camp, das von dem großen Lagerfeuer in der Mitte etwas erleuchtet wurde. „Wahrscheinlich kann er es auch kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen und ist deshalb gut gelaunt“, vermutete der Jüngere, dann blickte er zurück zu Jowy und sagte: „Du solltest ins Bett gehen. Der Captain mag zwar gut gelaunt sein, aber wenn er sieht, dass du dich schon umgezogen hast, gibt’s bestimmt Ärger.“ Jowy lachte leise. „Das werde ich machen. Gute Nacht!“, verabschiedete er sich, dann machte er kehrt und ging schnurstracks zurück zum Camp. Sein Zelt teilte er mit drei anderen Jungen, von denen einer sein bester Freund Riou war. Sie hatten einander den ganzen Tag kaum gesehen, weil Rowd es für besser gehalten hatte, sie manchmal zu trennen, weil sie sonst die ganze Zeit aufeinander saßen. Jowy persönlich hätte es überhaupt nichts ausgemacht, wenn er auch weiterhin bei seinem Freund hätte bleiben können, aber im Endeffekt war es auch egal. Ungesehen schaffte der blonde Aristokrat es am Zelt des Captains vorbei, und betrat zufrieden sein eigenes. Zwei der drei anderen Jungen schliefen bereits den Schlaf der Gerechten – Piet murmelte etwas im Schlaf, wie immer – doch ein anderer war noch hellwach. Es war ein für sein Alter von 15 Jahren recht großer Junge mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und ebenso braunen Augen, der gerade dabei war, der Gürtel seiner Tunika zuzubinden. Auch er war schon umgezogen und Jowy lächelte als er die altbekannte, rote ärmellose Tunika, die schwarze Leinenhose und die braunen Halbstiefel sah. Um die Schultern hatte der Junge ein gelbes Tuch geknotet und ein dünner Goldreif hielt ihm die Haare aus der Stirn. „Schon umgezogen? Du hast es ja ganz schön eilig“, sagte der Blonde grinsend und der Jüngere blickte erstaunt auf, ehe sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. „Hey, Jowy“, erwiderte er leise. Das war das Besondere an Riou – er wurde nie laut. Er war eine derart ruhige, ausgeglichene Person, dass Jowy ihn darum oft genug beneidete. „Ich hab selbst an die Rückkehr nach Kyaro gedacht und konnte es kaum erwarten, aus der Uniform herauszukommen“, gestand er, während er auf seinen Freund zuging und sich auf sein eigenes Bett fallen ließ. Riou lächelte über diese Worte, sagte jedoch nichts. Überhaupt sprach er eher selten – doch das hieß nicht, dass er dumm war. Tatsächlich war Riou einer der klügsten Menschen, die Jowy kannte. „Nanami wartet sicher auf dich“, murmelte der Blonde gedankenverloren, während er zur Zeltdecke hinaufsah, „Jetzt, wo Meister Genkaku tot ist, bist du alles, was sie noch hat.“ Nanami und Riou waren keine leiblichen Geschwister und Genkaku war nicht ihr leiblicher Vater gewesen – dennoch kannte er keine Familie, die diese Bezeichnung mehr verdient hatte. „Wenn dieser Krieg nicht wäre…“, murmelte Riou mit einem Nicken, doch er brach ab und ließ sich auf seinem Bett nieder. Einen Moment schwiegen sie, ehe Jowy sich wieder aufrichtete und fragte: „Wollen wir schlafen gehen? Oder willst du lieber noch ein wenig frische Luft schnappen? Scheint eine schöne Nacht zu werden.“ Riou blickte zum Zelteingang und überlegte einen Augenblick lang, dann schüttelte er den Kopf und antwortete: „Nein, schon gut. Lass uns schlafen, ich bin müde.“ „Gut“, nickte Jowy zufrieden, „Ich wollte ohnehin bei Tagesanbruch aufbrechen.“ „Dann sind wir uns ja einig“, meinte der Jüngere lächelnd, ehe er seine Stiefel im Sitzen abstreifte und unter seine Decke kroch. Jowy musste ebenfalls lächeln, entledigte sich ebenfalls seiner Stiefel und blies die Kerzen aus, die das Zelt erhellt hatten, ehe er ebenfalls zu Bett ging. „Gute Nacht!“, flüsterte er noch, ehe er die Augen schloss und entspannt seufzte. „Gute Nacht“, erwiderte Riou und dann war es still. Eine Weile lauschte Jowy den ebenmäßigen Atemzügen seiner Gefährten, dann gesellte sich auch Riou zu ihnen und schließlich merkte er selbst, wie er in den Schlaf driftete. Morgen würden sie nach Kyaro zurückkehren und den Krieg vergessen können. Alles würde gut werden. Wie sehr er sich irrte. Kampflärm riss ihn aus dem Schlaf, Schreie und der beißende Geruch von brennendem Holz ganz in seiner Nähe. Jowy fuhr hoch und im selben Moment gellte ein Schrei durch das Camp: „Überraschungsangriff!!“ Neben ihm fuhr nun auch Riou aus dem Schlaf und die zwei starrten einander im Halbdunkel an, während Piet und Marcus bereits unterwegs nach draußen waren. Ein Angriff? „Aber was ist mit dem Friedensvertrag…?“, hörte Jowy sich selbst flüstern, dann ergriff er Rious Arm und rief: „Los, Riou, lass uns gehen!“ Der Jüngere ließ sich das nicht zwei Mal sagen, er schlug die Decke zurück und zog in Windeseile seine Stiefel an, während Jowy es ihm gleich tat. Sein Herz hämmerte, während die Rufe draußen immer lauter wurden, und seine Gedanken rasten. Was war passiert?! Die Jungen griffen gleichzeitig nach ihren Waffen – Jowy nach seinem Kampfstab, Riou nach seinen Tonfa – dann liefen sie hinaus – und erstarrten. Das Camp stand lichterloh in Flammen, überall hasteten junge Soldaten panisch und manche sogar verletzt umher. „Bei den Runen…“, hauchte Riou entsetzt und schien noch etwas sagen zu wollen, doch in diesem Moment ertönte eine erleichtert klingende Stimme: „Riou, Jowy!“ Die Freunde wandten sich um und sahen Captain Rowd, einen Mann Mitte 30, auf sie zulaufen. „Captain, was ist hier los?“, verlangte Jowy zu wissen, während Riou wegen dem Rauch leise hustete. „Es ist ein Überraschungsangriff des Staates“, erwiderte Rowd gepresst und sah sich gehetzt um, „Sie haben den Friedensvertrag gebrochen, dieser Abschaum! Es sieht aus, als wären wir fast völlig umzingelt.... Jungs, nehmt den Bergpfad nach Osten und rettet euch! Los, Beeilung!!“ „Was ist mit Euch?“, fragte Riou leise, doch Rowd schüttelte den Kopf und wandte sich an Jowy: „Jowy, ich vertraue dir, verstanden? Bring Riou hier raus, du hast die Verantwortung!“ Der Blonde nickte, dann ergriff er den Arm seines Freundes und sagte: „Komm schon, Riou. Wir können hier nicht sterben… Nanami wird sonst ganz allein sein!“ Die Erwähnung seiner Schwester schien den Jungen aus seiner Starre erwachen zu lassen und er nickte. Mit einem letzten Blick zurück auf ihren Captain, der bereits wieder zwischen den brennenden Zelten verschwunden war, um weitere seiner Schützlinge aufzutreiben, setzten die beiden sich in Bewegung. Sie rannten wie befohlen in Richtung Osten, vorbei an ihren Kameraden. Piet kniete am Wegesrand über einem anderen Jungen und schüttelte ihn, eindeutig weinend: „Hey! Öffne deine Augen! Du darfst nicht sterben!!“ Riou schien stehen bleiben zu wollen, doch Jowy rief: „Piet! Mach, dass du hier wegkommst! Er ist tot, du kannst nichts mehr für ihn tun!“ Piet nickte schwach, dann riss er sich zusammen und lief weiter. Dabei überholte er Jowy und Riou, der mit betrübtem Blick den toten Jungen betrachtete. „Riou!“, drängte der Blonde, ergriff ihn an Arm und zog ihn weiter. Der Jüngere wirkte unglücklich, doch er hielt nicht mehr an. „Muss… Hier weg…“, keuchte jemand hinter Jowy und ihm nächsten Moment rannte Lionell an ihnen vorbei, seinen jüngeren Bruder an der Hand. Die beiden verschwanden im Dickicht des Waldes vor ihnen, während die Schreie hinter ihnen immer lauter wurden. Keuchend kamen Jowy und Riou an einer kleinen Lichtung zum Stehen, um etwas Luft zu schnappen. Der Rauch brannte noch immer in ihren Lungen und es war lange her, seit sie das letzte Mal so lange ohne Unterlass gerannt waren. „Es… tut so weh…“ Ein Stöhnen drang an seine Ohren und Jowy hob schwer atmend den Kopf. Ihnen näherten sich zwei Jungen, von denen einer verletzt zu sein schien und von dem anderen gestützt wurde. „Keine Sorge“, murmelte der unverletzt wirkende Junge, „Ich bring dich hier raus. Wir sind Freunde, schon vergessen?“ „Michael“, keuchte Riou entsetzt und eilte auf die zwei Jungen zu. „Riou…“, stöhnte der Verletzte, „Ist schon gut. Jowy, haut ab, solange ihr noch könnt… Wir schaffen es schon.“ „Aber…“, begann der Blonde, doch der unverletzte Junge unterbrach ihn resolut: „Wir können hier nicht alle sterben, Jowy! Nimm Riou und haut ab, los!“ Widerwillig nickte der junge Aristokrat und auch Riou biss sich auf die Lippe, ehe er nickte. „Wir sehen uns zu Hause“, murmelte er den beiden zu, ehe er sich umdrehte und weiterlief. Jowy folgte ihm eilig und hatte ihn schnell eingeholt. Noch immer konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Was im Namen der 27 Wahren Runen war denn überhaupt passiert? Sie hatten doch gerade einen Friedensvertrag unterzeichnet, der Krieg hätte doch eigentlich vorbei sein sollen! Und nun war er doch auf der Flucht, allein mit Riou in einem Gebirge voller wilder Monster, dessen einziger Fluchtweg…! Schlitternd kam er zum Stehen, als ihn eine Erkenntnis ereilte. „Warte mal, Riou!“, rief er und auch der Jüngere hielt inne. Verwirrt blickte er zurück und fragte: „Was ist los?“ Er wirkte besorgt, da Jowys Schreck ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben zu sein schien. „Findest du es nicht auch seltsam?“, fragte der Blonde, während er einen Blick über die Schulter warf, um mögliche Verfolger erkennen zu können, „Der einzige Weg hier raus ist durch den Wald. Das muss der Feind doch auch wissen?“ Riou starrte ihn geschockt an und hauchte dann: „Du meinst doch nicht, dass…?“ „Es könnte sein, dass der Feind uns hier in einen Hinterhalt locken will“, erwiderte Jowy ernst, „Was ist, wenn niemandem das bisher eingefallen ist?“ „Lass uns zurückgehen und dem Captain Bescheid geben“, schlug Riou vor. Der Blonde nickte und sie machten kehrt. Wenn er Recht hatte und bisher alle, die nach Osten gelaufen waren, in eine Falle getappt waren, dann hieß das, dass der Großteil der Jugendbrigade dem Feind zum Opfer gefallen war. Er biss sich auf die Lippe, als ihm klar wurde, dass es gut möglich war, dass er den Morgen nicht mehr erleben würde. Sie liefen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, doch sie trafen niemanden mehr aus der Jugendbrigade an… zumindest niemanden, der noch am Leben war. Noch im Wald fanden sie die Leichen von Michael und seinem Freund und auch auf dem gesamten Weg zurück entdeckten sie die gefallenen Körper ihrer ehemaligen Kameraden. Jowy vermied es, sie anzublicken, doch er wusste genau – wenn er diesen Tag überleben sollte, würden die Bilder ihn ewig verfolgen. Keuchend erreichten die beiden Jungen das noch immer lichterloh brennende Camp und machten sich geduckt, um den Rauch nicht einzuatmen, auf die Suche nach ihrem Captain. Ganz in der Nähe der Mitte des Lagers griff Riou plötzlich nach Jowys Arm und flüsterte: „Warte mal! Ich höre Stimmen…“ Der Blonde starrte ihn an und wollte bereits fragen, ob er sich nicht vielleicht etwas einbildete, als er es ebenfalls hörte. Da unterhielten sich Männer. „Was zum…?“, murmelte er, während die beiden näher krochen. Bald schon kam eine Gruppe Männer in Sicht – ein paar Soldaten standen mit gezückten Schwertern neben einem jungen Mann mit schwarzen Haaren, der sich mit Captain Rowd unterhielt! Jowy und Riou wechselten einen Blick und gingen dann hinter zwei unversehrt gebliebenen Kisten in Deckung, um das Geschehen beobachten zu können. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. „Es ist genau wie wir es geplant haben, Prinz Luca“, hallte Rowds Stimme durch das leere Camp, „Alle flohen durch den Wald im Osten, der Hinterhalt war perfekt.“ Trotz der Hitze lief Jowy ein eiskalter Schauer über den Rücken. Prinz Luca? War das etwa Prinz Luca Blight, Sohn von König Agares? Und was sollte das heißen, alles war nach Plan gelaufen?! Der junge Mann lachte abfällig und von dem Geräusch wurde dem blonden Aristokraten schlecht. Wie konnte jemand nur so grausam sein? „Alles arme Opfer des Hinterhalts des Staates, was?“, ätzte er mit einem breiten Grinsen, während seine dunklen Augen über die Flammen glitten, welche das Camp langsam zerstörten. Das Grinsen erreichte seine Augen nicht und Jowy fühlte sich unangenehm an einen Albtraum erinnert. Etwas Anderes konnte das alles hier nicht sein. „Ich wünschte, ich wäre beim Hinterhalt dabei gewesen“, fuhr der sogenannte Prinz fort, während seine Augen blutgierig zu funkeln schienen, „In letzter Zeit habe ich nur gegen einen alten Mann gekämpft… Wenn das so weitergeht, roste ich ein.“ Er spuckte zu Boden und Jowy ballte ohnmächtig eine Hand zur Faust. Obwohl er Luca Blight bisher noch nie gesehen hatte, wusste er, dass er diesen Mann abgrundtief hasste. „Ja“, stimmte Rowd dem Adligen zu, schüttelte dann, als ihm klar wurde, was er da gesagt hatte, schnell den Kopf und korrigierte sich: „I-Ich meine, nein, nein. Eure Fähigkeiten mit dem Schwert, Prinz Luca, sind wahrlich unvergleichlich. Meine Männer würden wie Idioten aussehen!“ Er lachte nervös und der Prinz fiel in das Lachen ein. Die Fingernägel der Hand, die er zur Faust geballt hatte, bohrten sich schmerzhaft in Jowys Handfläche, doch es war ihm egal. Rowd machte sich doch tatsächlich über die Jungen lustig, die er bereitwillig nach Osten geschickt hatte, wo sie ihrem Tod entgegen gelaufen waren! Der Blonde musste sich stark zusammenreißen, um seine Deckung nicht aufzugeben, zu den Männern zu laufen und sie zur Rede zu stellen. Doch er wusste, dass das im besten Falle Selbstmord wäre – im schlimmsten Fall würde Riou ihm folgen und sie würden beide sterben. „Tja, nun“, sagte Luca Blight schließlich, nachdem er sich beruhigt hatte, „die jungen Männer haben ihrem Land gut genug gedient und jetzt brauchen wir keinen Friedensvertrag mit diesen Schlappschwänzen des Staates. Ich werde beweisen, dass sie keine Chance gegen die Macht von Highland haben!!“ Riou schnappte neben ihm scharf nach Luft und musste stark husten, als er den Rauch einatmete. Alarmiert sah Jowy ihn an, doch der Jüngere drückte eine Hand auf seinen Mund und schüttelte mit tränenden Augen den Kopf. „Keine Sorge“, keuchte er und warf einen Blick zu den Soldaten, die nichts mitbekommen zu haben schienen, „alles… alles okay.“ Nicht überzeugt blickte Jowy zögernd zurück zu der Gruppe von Männern, die kaum ein paar Meter von ihnen entfernt waren. „Ich stimme Euch zu, Sire“, schleimte Rowd, „Mit Euch an der Spitze kann Highland endlich den Ruhm ernten, den es verdient!“ Wieder brachen die Männer in triumphierendes Gelächter aus und Jowy und Riou tauschten einen geschockten Blick. „Aber was… was im Namen der Runen…?“, flüsterte Jowy erstickt. Er blickte Riou an, der genauso entsetzt war wie er selbst. Doch im Gegensatz zum Blonden schien er eine Entscheidung gefasst zu haben. „Lass uns abhauen, Jowy!“, flüsterte er eindringlich. Der junge Aristokrat wollte etwas erwidern, wollte ihm sagen, dass er unmöglich weglaufen konnte… aber er sah ein, dass es nichts bringen würde, hier zu bleiben. Es sei denn, er wollte sterben. „Du hast Recht“, murmelte er unglücklich, „Aber wenn wir nach Osten gehen, bringen sie uns um!“ „Dann bleibt uns nur die Klippe im Norden“, nickte Riou und warf einen kurzen Blick zurück auf die Soldaten. Jowy folgte seinem Blick. „Sie haben uns noch nicht entdeckt“, stellte er fest, „vielleicht können wir die Klippe hochklettern und so entkommen…“ Riou nickte nur angespannt, dann zogen die beiden sich langsam von ihren Versteck zurück und beeilten sich, das Camp möglichst ungesehen zu verlassen. „Nach Norden“, raunte der Jüngere ihm zu, dann rannten sie los. Blut hämmerte in seinen Ohren, während sie den steilen Pfad entlang liefen. Was war denn nur los? Innerhalb weniger Stunden schien sein Leben völlig auf den Kopf gestellt worden zu sein und er kam einfach nicht hinterher. Er wusste nur, dass er gerade etwas beigewohnt hatte, dass er nicht hatte sehen sollen, und dass er und Riou schleunigst abhauen mussten, wenn sie nicht sterben wollten. Nach Atem ringend erreichten die beiden die Klippe, die direkt neben einem tosenden Wasserfall lag. Jowy stützt seine Arme auf die Knie und schnappte nach Luft, während Riou neben ihm wieder zu husten begann. „Alles okay?“, fragte Jowy besorgt nach, „Bist du verletzt?“ „Nein, schon gut“, hustete Riou und atmete tief durch, „mir geht’s gut.“ Der Blonde nickte, dann richtete er sich auf und blickte sich um. Sie waren allein. Zu ihrer Linken stürzte der Wasserfall in die Tiefe und zu ihrer Rechten und auch nach Süden hin verdeckte ein Baumdickicht die Sicht zurück zum Camp, und vor ihnen türmte sich eine Felswand des Tenzaan-Gebirges auf. „Ich glaube, man hat uns noch nicht entdeckt“, sagte er langsam und sah sich um, „Aber… aber warum würde der Captain…?“ „Ihr werdet die Antwort nie erfahren.“ Die Jungen zuckten zusammen und fuhren herum. Rowd höchstpersönlich trat aus dem Dickicht, flankiert von vier Highland-Soldaten. Jowy wich zurück und Riou tat es ihm gleich, während ihr Captain auf sie zukam. Ein abfälliges Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Ihr werdet hier sterben“, fuhr er fort und ließ die Gelenke seiner Fingerknöchel knacken, „Opfer des Überraschungsangriffs des Staates. Eure Zukunft endet hier.“ Jowy starrte den Mann ungläubig an. „Cap… Captain…“, hörte er sich selbst sagen, doch Rowd ignorierte ihn völlig. „Es ist wirklich schade“, fuhr der ehemalige Captain der Jugendbrigade fort, doch klang kein bisschen danach, als wenn er etwas bedauern würde, „Ihr beide wart vielversprechende Soldaten.“ Jowy umklammerte seinen Kampfstab und nahm seine Kampfhaltung an, neben ihm tat Riou es ihm gleich. Vielleicht würden sie sterben, aber nicht kampflos. „Wie niedlich“, kommentierte Rowd diese Handlung, dann warf er den Männern neben sich einen Blick zu. „Ergreift sie“, befahl er ihnen und sie ließen es sich nicht zwei Mal sagen. Die vier bis an die Zähne bewaffneten und ausgebildeten Soldaten stürzten auf die beiden Jungen zu, ganz ohne Zweifel mit dem eindeutigen Ziel, sie umzubringen. Doch Riou und Jowy hatten nicht umsonst den Großteil ihrer Kindheit bei Meister Genkaku im Dojo verbracht. Er hatte den Jungen alte Kampftechniken beigebracht, die nur er zu kennen schien, und Jowy dankte dem verstorbenen Kampfkünstler im Geiste, während er unter einem Schwerthieb hinwegtauchte und dem Soldaten seinen Stab in den Magen rammte. Gleichzeitig ließ Riou eins seiner Tonfa kreisen und erwischte einen der anderen Soldaten damit im Gesicht. Vor Schmerzen stöhnend ließ der Mann sein Schwert fallen, doch an seine Stelle trat gleich ein anderer. Jowy wirbelte herum und stieß seinen Stab in den Solarplexus des nächsten Soldaten, doch der Stab prallte an dem Brustpanzer der Rüstung ab und der Mann hieb mit seinem Schwert nach dem Blonden. Dieser wich zurück, ergriff seinen Stab etwas weiter unten und stieß wieder zu; diesmal traf die stumpfe Waffe ihr Ziel und auch dieser Soldat sank unter Schmer-zen zu Boden. Den dritten Soldaten schalteten die Jungen zusammen aus und auch der vierte konnte Genkakus Techniken nichts entgegensetzen. Schließlich lagen alle vier Männer bewusstlos geschlagen am Boden und die Jungen standen keuchend und mit erhobenen Waffen zwischen ihnen. Es war ein kurzer, aber heftiger Kampf gewesen und Jowy wusste genau, dass sie so etwas auf Dauer nicht durchhalten würden. „Verdammt!“, fluchte Rowd, als er seinen letzten Mann fallen sah, „Ihr widerspenstigen Gören! Wartet nur, ich bin sofort zurück!“ Mit diesen Worten und einem weiteren Fluch wandte er sich um und eilte zurück zum Camp. „Wir können nicht ewig so weitermachen“, sagte Jowy schweratmend, während er von den bewusstlosen Männern zu seinen Füßen zurückwich, weiter auf die Klippe zu. „Ich weiß“, erwiderte Riou, hustete noch einmal und schüttelte dann den Kopf, als sein Blick über die Soldaten glitt. Jowy wischte sich nervös eine verirrte Strähne aus dem Gesicht und dachte angestrengt nach. Ein Blick auf die Felswand vor ihm war genug, um zu wissen, dass sie unmöglich daran hochklettern konnten, und zurück ins Camp konnten sie auch nicht. Wenn sie hier blieben, würde Rowd sie erwischen… „Wir haben keine andere Wahl, Riou“, beschloss der Blonde, „wir müssen springen.“ Er blickte lieber nicht zum tosenden Wasserfall neben ihnen. Er wusste selbst, dass die Strömung stark war. Stattdessen sah er zu seinem besten Freund, der einen schnellen Blick auf das Wasser warf, ehe er leise seufzte. „Du hast Recht. Wir haben keine Wahl“, nickte Riou und in seinen Augen stand Entschlossenheit. Jowy atmete tief durch und blickte zur Felswand neben ihm. Dann traf er eine Entscheidung, zückte ein kleines Messer, das er in seinem Stiefel aufbewahrte – für alle Fälle – und schlug damit eine Kerbe in den Fels. „Okay. Hör zu, wenn wir es schaffen… aber irgendwie getrennt werden…“, murmelte er langsam und blickte dann zurück in Rious ruhige, braune Augen, „dann lass uns hierher zurückkehren. Dann können wir einander wiederfinden. Versprich es mir, ja?“ Flehend sah er den Jüngeren an. Er wusste selbst nicht genau, was in ihn gefahren war. Aber irgendwie ahnte er, dass dieser Sprung einfach nicht gut enden würde… „Ich verspreche es“, erwiderte Riou jedoch völlig ruhig, lächelte ihm zu und nahm das Messer an sich, um eine zweite Kerbe in den Fels zu schlagen. Jowy warf einen Blick auf das entstandene Kreuz, steckte das Messer zurück in seinen Stiefel und sagte leise: „Danke.“ Riou lächelte ihm aufmunternd zu, dann traten die beiden entschlossen an den Rand der Klippe und sahen hinunter. Sie sahen die Wasseroberfläche nicht, doch vielleicht war es besser so. „Also los“, murmelte Jowy, ergriff Rious Hand und tauschte einen letzten Blick mit ihm. Dann sprangen sie und als er mit einem Schrei unter Wasser tauchte und augenblicklich durch die Strömung von seinem besten Freund fortgerissen wurde, hoffte Jowy, dass sie nicht einen fatalen Fehler begangen hatten. Kapitel 1: Pilika ----------------- Kapitel 1: Pilika Nur langsam kam er zu sich. Es schien, als würde die Dunkelheit, in deren Arme er vor wer weiß wie langer Zeit gesunken, ihn nur ungern wieder gehen lassen. Sein Bewusstein kehrte schleichend zurück, doch irgendwann schaffte er es, die Augen zu öffnen. Das erste, was er bemerkte, war, dass sein Körper unglaublich weh tat. Ein leises Stöhnen entwich ihm, während er sich vorsichtig aufrichtete und erst einmal seine Umgebung in Augenschein nahm. Er lag in einem Bett und befand sich in einem kleinen, gemütlich eingerichteten Zimmer, durch dessen einziges Fenster zu seiner Linken das Sonnenlicht hereinfiel. In dem Raum stand noch ein zweites, breiteres Bett und kurz wunderte er sich, wo er war. Sein Blick glitt über eine kleine Keramikfigur in Form einer Katze, die auf dem kleinen Tischchen neben ihm stand, und ein Plüschtier, das auf dem zweiten Bett lag. Dann blickte er an sich hinunter und stellte fest, dass er nur eine Hose trug; sein Oberkörper war bandagiert worden, doch die Verbände waren an einigen Stellen bereits blutgetränkt. Was war passiert? Er fuhr sich mit der Hand durchs blonde Haar, das sich aus dem Zopf größtenteils gelöst hatte, und runzelte die Stirn. Und dann, während er so dasaß und die Bettdecke anstarrte, kehrte die Erinnerung plötzlich mit einem Schlag zurück. Natürlich! Der Hinterhalt der Armee des Staates… Nein, nicht der des Staates. Es war die Armee von Highland gewesen, die die Jugendbrigade abgeschlachtet hatte. Captain Rowd und Prinz Luca selbst hatten sie hintergangen und Riou und er hatten alles mitangesehen… Riou!! Jowy fuhr zusammen und bereute es sofort, da die leichte Bewegung eine Welle heißen Schmerzes durch seinen geschundenen Körper sandte. Riou. Wo war er? Was war passiert, nachdem sie in den Fluss gesprungen waren? Sein Kopf begann zu dröhnen und er schloss gepeinigt die Augen, ehe er die Zähne zusammenbiss und die Decke zurückschlug. Zwar waren seine Beine von einer – nicht seiner eigenen – Hose bedeckt, doch er musste sie nicht sehen, um zu wissen, dass er stark verletzt war. Offensichtlich hatte die starke Strömung ihn ziemlich oft gegen die Felsen geschleudert. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Doch all das war zweitrangig. Er musste Riou finden. Was, wenn ihm etwas passiert war? Er würde es sich niemals verzeihen können, wenn er den Jüngeren in den Tod gerissen hatte. Doch in dem Moment, als er seine schmerzenden Füße auf den kalten Boden setzte, öffnete sich die Tür leise und ein kleines Mädchen mit kurzen, braunen Haaren in einem rosa Kleid betrat das Zimmer. Als sie ihn erblickte, schaute sie ihn böse an und rief: „Du musst im Bett bleiben! Mama hat gesagt, dass du noch lange Zeit bei uns bleiben wirst.“ „Ich kann nicht hier bleiben“, erwiderte Jowy und betrachtete ihre großen, braunen Augen, die ihn viel zu schmerzhaft an Riou erinnerten, „Ich muss meinen Freund suchen.“ Das kleine Mädchen trat näher und blickte zu ihm hoch. Wie alt mochte sie sein? Fünf, vielleicht sechs Jahre? „Mama hat gesagt, dass dir der Bauch wehtut“, sagte das Mädchen ernst, „Mein Bauch tut auch manchmal weh, weißt du? Dann legt Mama immer ihre Hand auf meinen Bauch“, sie streckte die Hand aus und berührte mit ihren Fingerspitzen vorsichtig seine Bauchmuskeln, „und dann sagt sie einen Zauberspruch. Dann tut es nicht mehr weh.“ Verblüfft blickte Jowy auf das Kind hinunter und stellte dann fest: „Deine Mama hat dich wohl sehr lieb.“ „Ja“, strahlte das Mädchen glücklich, „und Papa auch. Und jetzt musst du still sein. Ich sag jetzt den Zauberspruch!“ Gegen seinen Willen schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, als das Mädchen die Augen schloss und laut rief: „Eins, zwei, drei – das Aua ist vorbei!“ Dann öffnete sie die Augen wieder und schaute zu ihm auf. „Tut es noch weh?“, fragte sie und Jowy schüttelte den Kopf, obwohl sich natürlich nichts getan hatte. „Mir geht es viel besser. Danke“, antwortete er und strich ihr übers Haar. Das Mädchen lächelte glücklich, ehe sie verkündete: „Jetzt kannst du deinen Freund suchen gehen, Onkel! Und dann kommt ihr zurück und Mama macht uns allen Essen.“ „Okay“, nickte Jowy. Doch noch bevor er versuchte, aufzustehen, öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und eine junge Frau trat ein. Sie war nicht älter als 30, ihr braunes Haar war im Nacken zu einem Knoten gefasst und sie trug ein schlichtes, dunkelrotes Kleid und eine Schürze. Ganz ohne Zweifel war dies die Mutter des kleinen Mädchens. „Du bist wach“, stellte sie mit einem Lächeln fest, als sie Jowy erblickte, „Wir haben uns Sorgen gemacht. Wie geht es dir?“ Der Blonde wollte antworten, dann warf er einen kurzen Blick auf das Mädchen an seiner Seite und verstummte wieder. Die Frau schien zu verstehen und fragte dann: „Pilika, Kleines? Warum gehst du nicht raus und hilfst Papa am Schrein?“ „Ja, mach ich!“, rief das Mädchen – Pilika – und lief hinaus. Ihre Mutter blickte ihr nach, dann kam sie weiter auf Jowy zu und sagte: „Pilika hat dich vor ein paar Tagen im Fluss treibend gefunden. Du wärst fast ertrunken und warst sehr, sehr schwer verletzt. Was ist passiert?“ Einen Moment lang war der Blonde versucht, die Wahrheit zu sagen. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass er diese Menschen besser nicht damit belasten sollte. Also überlegte er kurz fieberhaft nach einer Ausrede und log schließlich: „Ich war in den Bergen spazieren und bin dann ausgerutscht und in den Fluss gefallen.“ „Du hast großes Glück gehabt“, nickte die Frau, während sie eine Schublade in dem kleinen Tischchen neben Jowys Bett öffnete und Verbände herausnahm, „Wie heißt du?“ Der Blonde nannte seinen Namen und die Frau lächelte. „Ich bin Joanna“, stellte sie sich vor, „Mein Mann Marx ist der Hüter des Schreins dieses Dorfes.“ Sie machte sich schweigend daran, seine Verbände zu wechseln, und Jowy verzog das Gesicht, als er die Wunden betrachtete, die seinen Oberkörper überzogen. Nachdem Joanna ihre Arbeit beendet hatte und die benutzten Verbände in einen Korb warf, der an seinem Fußende stand, fragte er leise: „Joanna, war… war noch jemand bei mir, als Pilika mich gefunden hat?“ Sie blickte verwirrt zu ihm auf und schüttelte dann den Kopf. „Nein“, antwortete sie, „Wieso, vermisst du jemanden?“ „Ich… Ich war mit meinem besten Freund unterwegs“, erklärte Jowy, bemüht, seine Lüge weiter zu verfolgen, „Als ich… als ich ausgerutscht bin, hat er versucht mir zu helfen und… und ist auch in den Fluss gestürzt.“ Er konnte nur hoffen, dass diese Lüge nicht allzu offensichtlich war. „Oh“, machte Joanna mitfühlend, „es tut mir leid. Aber ihm ist bestimmt nichts passiert. Du wirst sehen.“ „Ich muss ihn suchen gehen“, sagte Jowy bestimmt und machte Anstalten, aufzustehen, doch der Schmerz in seinen Beinen zwang ihn zurück aufs Bett. „Du bist verletzt“, entgegnete Joanna ernst, „Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst, aber in deinem Zustand kannst du das Bett unmöglich verlassen. Der Arzt hat gesagt, dass du mindestens eine Woche hier bleiben musst, ehe deine Wunden sich geschlossen haben.“ „Was, wenn Riou verletzt wurde?“, erwiderte der Blonde kopfschüttelnd, „Es wäre meine Schuld und ich… ich hab versprochen, auf ihn aufzupassen…!“ „Es tut mir leid“, wiederholte Joanna und sah ihn traurig an. Jowy biss sich auf die Lippe; er hasste es, hilflos zu sein. „Versuch, ein wenig zu schlafen“, riet Joanna ihm und legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter, „ich bringe dir später etwas Suppe vorbei.“ „Danke“, murmelte der Blonde und lächelte ihr schwach zu. Er ließ es zu, dass sie ihn zurück in die Kissen drückte und zudeckte, doch als sie sich zur Tür wandte, fiel ihm etwas ein. „Joanna?“ Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn aufmerksam an. „Was ist denn, Jowy?“ „Bin ich… ist dieses Dorf… ich meine, wo sind wir?“ Die junge Frau lächelte ihn an und antwortete: „Wir sind im Dorf Toto.“ „Im… Staat?“ „Aber ja. Keine Sorge, Highland ist weit entfernt“, erwiderte Joanna beruhigend, „und außerdem, wir haben doch gerade einen Friedensvertrag unterzeichnet. Wir müssen also keine Angst mehr vor Highland haben.“ „Ja…“, murmelte Jowy abwesend, mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. Er spürte Joannas Blick noch auf sich, doch er erwiderte ihn nicht. Stattdessen starrte er die Wand neben sich an. Friedensvertrag, dass er nicht lachte. Er musste an die Schreie seiner Kameraden denken, an ihre Leichen, an das brennende Camp, das grausame Lachen Luca Blights. All das zeugte nur zu deutlich davon, dass der Vertrag nichts als eine Farce war. Das Königreich Highland hatte seine eigenen Landsleute verraten. Wer würde die Highlander nun daran hindern auch den Staat anzugreifen? Er hatte gedacht, dass der Krieg endlich vorbei war. Die Menschen im Staat waren sich dessen völlig sicher, sie waren erleichtert! Und doch… Er schloss die Augen. Sein Kopf tat furchtbar weh, von dem Rest seines Körpers ganz zu schweigen. Und so dringend er diesen Ort verlassen musste, so dringend er Riou finden musste… er wusste genau, dass er in seinem momentanen Zustand nicht einmal die Vordertür erreichen würde. „Onkel Jowy?“ Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er tatsächlich eingeschlafen war. Blinzelnd wandte er den Kopf nach links und erkannte Pilika, die vor seinem Bett stand und ein Tablett in den Händen hielt, auf dem eine Schüssel Suppe vor sich hin dampfte. „Du bist wach“, stellte das kleine Mädchen zufrieden fest und er nickte, ehe er sich aufrichtete und ihr das Tablett vorsichtig abnahm. „Die hat Mama gekocht“, erklärte Pilika ernst, als er den Löffel zur Hand nahm und die Suppe kurz beäugte. Es waren doch wohl hoffentlich keine Karotten da drin, nicht wahr…? „Mama macht die beste Suppe der ganzen Welt“, fuhr Pilika fort, während sie es sich an seinem Fußende auf dem Bett bequem machte, „und den besten Eintopf der Welt und das beste Fleisch der Welt und den besten Obstsalat der Welt!“ Jowy musste wieder unwillkürlich lächeln. „Du hast deine Mama sehr gern, hm?“ „Ja! Und Papa auch“, nickte Pilika und lächelte ihn an. Ihr fehlte ein Schneidezahn, fiel ihm auf. „Ich hab dich auch sehr gern, Onkel Jowy“, verkündete das Mädchen plötzlich und er verschluckte sich fast an seiner Suppe. „Was?“ „Ich mag dich, Onkel Jowy“, wiederholte Pilika breit lächelnd. Er blinzelte sie verblüfft an. „Du kennst mich doch gar nicht“, gab er zu bedenken, doch die Kleine zuckte die Achseln: „Na und? Ich mag dich trotzdem!“ „Ich…“ Jowy senkte den Blick auf die dampfende Suppe und verstummte. Er wusste nicht, warum, aber irgendwie nahmen ihn diese Worte mit. Vielleicht lag es daran, dass er und dieses Mädchen eigentlich Feinde waren. Er war ein Highlander, noch dazu ein junger Soldat. Wären die Umstände ein wenig anders gewesen… Er mochte nicht daran denken. „Ich mag dich auch, Pilika“, flüsterte er und musste sich plötzlich stark zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Er hörte das Mädchen vergnügt lachen und machte sich schnell daran, die Suppe zu löffeln. Er musste hier weg. Er musste weg und das schnell, weil er anfing, das Mädchen tatsächlich zu mögen… und das war nicht gut. Die nächsten zwei Tage verbrachte Jowy noch im Bett, dann erlaubte Joanna ihm endlich, aufzustehen und ein bisschen umherzugehen. Noch immer tat sein Körper weh, doch er merkte, wie er sich langsam erholte. Joannas Mann Marx war ein ebenso herzensguter Mensch wie sie es war und führte, wenn er Zeit hatte, gerne Gespräche mit dem Jungen. Doch jedes Mal, wenn er sich mit diesen Menschen unterhielt, spürte der junge Aristokrat seine Schuldgefühle an ihm nagen. Er hatte ihnen erzählt, dass er in einer kleinen Siedlung in den Bergen lebte, die noch auf dem Territorium des Staates lag. Er hielt es für besser, wenn sie nicht wussten, dass er ein Highlander war – und vielleicht wollte er es selbst vergessen. Er fühlte sich hier in dieser Familie so viel wohler als zu Hause, dass es ihn erschreckte. Es war nicht gut, es war falsch und doch… doch fühlte es sich richtig an. Als er das erste Mal mit Pilika an der Hand aus dem Haus trat – sie hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten und ihm alles zu zeigen – stellte er fest, dass das Dorf Toto wirklich winzig war. Natürlich war Kyaro keine Großstadt wie L’Renouille, wo die Königsfamilie residierte, doch im Vergleich zu Toto fühlte sie sich riesig an. Das Dorf bestand aus einem paar Dutzend Häuser, einem kleinen Schrein, der der Wahren Erdrune geweiht war – für eine gute Ernte, hatte Marx ihm erklärt – und einem großen Kastanienbaum direkt neben Pilikas Elternhaus, unter dem einige Kinder spielten. „Pilika!“, rief eines von ihnen, als es Jowy und das Mädchen vor dem Hauseingang bemerkte, „Kommst du spielen?“ „Nein“, antwortete Pilika ernst, „Ich muss heute auf Onkel Jowy aufpassen.“ Er war froh, dass die Kinder kein Interesse an ihm zeigten und sich stattdessen mit der Antwort ihrer Freundin zufrieden gaben und ohne sie spielten. „Du kannst ruhig spielen gehen…“, meinte Jowy mit einem Lächeln, doch Pilika schüttelte den Kopf: „Nein. Ich möchte bei dir bleiben, Onkel Jowy.“ Sie grinste ihn an und wieder machte sich das warme Gefühl in seinem Inneren breit, das seit ein paar Tagen von ihm Besitz ergriff, wenn das kleine Mädchen ihn anlächelte. Doch er wusste, dass er unmöglich hier bleiben konnte, nicht so. Er wusste noch immer nicht, was mit Riou passiert war und die Sorge ließ ihn nicht los, raubte ihm den Schlaf und nagte ständig an ihm. Er musste herausfinden, was mit seinem Freund passiert war. „Hast du schon gehört?“, drang die Stimme einer älteren Dame an Jowys Ohr, während er und Pilika den Dorfplatz passierte, auf dem ein paar Händler einige Stände aufgebaut hatten, „Von dem Jungen, der im in Viktors Söldnerfort gefangen gehalten werden soll?“ Ein kalter Schauer lief dem Blonden übern den Rücken und er wandte sich von Pilika ab, die vor einem Händler stand und ihm mit ernster Miene erzählte, dass ihr Stofftier erkältet war. Ganz in seiner Nähe standen ein paar alte Frauen und tratschten im Schatten eines Vordaches. „Ja, es heißt, er sei ein Highlander“, sagte gerade eine von ihnen kopfschüttelnd, „aber das ist Blödsinn. Was soll ein Highlanderjunge denn hier im Staat?“ „Soll ein stilles Bürschchen sein“, wusste eine andere, „sagt angeblich den ganzen Tag kaum etwas.“ „Hat Marvin dir das erzählt, ja?“, fragte die Frau, die zuerst gesprochen hatte. „Ja, er war dabei, als sie den Jungen aus dem Fluss gefischt haben“, erzählte die dritte Alte stolz. „Onkel Jowy?“ Er fuhr zusammen und sah zu Pilika, die ihn fragend anblickte. „Tut mir leid, was hast du gesagt?“, fragte er. Seine Gedanken rasten wieder. Dieser Junge, von dem die Frauen gesprochen hatten… „Ich hab dich gefragt, ob du das Kornfeld sehen willst“, wiederholte das Mädchen bereitwillig und er nickte abwesend. „Ja… ja, warum nicht…“ Er war sich sicher, dass der Junge, über den sich die alten Frauen unterhalten hatte, Riou war. Riou lebte! Dem jungen Aristokraten fiel ein so gewaltiger Stein vom Herzen, dass man meinen könnte, er hätte in den letzten Tagen das halbe Tenzaan-Gebirge mit sich herumgetragen. In diesem Moment beschloss er, dass er Toto in der Nacht verlassen würde. Als er sich sicher war, dass die kleine Familie tief und fest schlief, stieg er leise aus dem Bett und zog sich an; Joanna hatte an diesem Tag seine Kleidung fertig geflickt, sodass er erleichtert in seine eigenen Kleider schlüpfte. Nachdem er einen letzten, bedauernden Blick auf Pilika geworfen hatte, die zwischen ihren Eltern im zweiten Bett schlief, verließ er das Zimmer auf Zehenspitzen und schloss hinter sich leise die Tür, dann griff er nach seinem Kampfstab, der neben den Herd gelehnt war. Wie er es geschafft hatte, den Stab in den Fluten nicht zu verlieren, war ihm ein Rätsel, doch er war froh darüber. Der Stab war ein Geschenk von Meister Genkaku gewesen… Er warf einen letzten Blick auf die kleine Küche, dann schüttelte er den Kopf und verließ das Haus leise. Einerseits tat es ihm weh, die kleine Familie einfach so wieder zu verlassen, doch andererseits musste er es tun. Und es war besser, so schnell aus ging aus dem Leben dieser netten Menschen zu verschwinden, ehe noch etwas geschah. Jowy folgte der Straße nach Osten und war froh, dass sowohl das azurblaue als auch der scharlachrote Mond voll waren; die beiden Gestirne leuchteten ihm den Weg, während er durch die Nacht schritt. Er fröstelte leicht und die Schmerzen, die er noch immer verspürte, zeugten nur allzu deutlich davon, dass er eigentlich ins Bett gehörte, um sich auszukurieren, doch wenigstens musste er sich keine Sorgen darüber machen, von Monster angegriffen zu werden. Die hier ansässigen BonBons – kleine, dicke Wesen, die nur aus blauem Fell zu bestehen schienen – und Schattenhunde – wolfsartige Kreaturen, die mit den Schatten verschmolzen – waren tagaktive Tiere und wenn er nicht versehentlich in eine ihrer Herden hineinlief, würde ihm nichts passieren. Jedenfalls in der Theorie. Einer der Händler hatte ihm verraten, dass das Söldnerfort südöstlich von Toto lag, etwa zwei Stunden entfernt. Es war zwar spät genug für die Dörfler, sich schlafen zu legen, doch noch nicht tiefste Nacht, und Jowy hoffte, dass er trotz seiner Verletzungen nicht allzu lange für den Weg brauchen würde. Während er die völlig verlassene Straße entlang ging, kehrten seine Gedanken zu Pilika zurück. Obwohl er sie erst seit ein paar Tagen kannte, dass das Mädchen es doch tatsächlich geschafft, sich in sein Herz zu schleichen, und er erwischte sich selbst dabei, dass er sie vermisste. Dieses Mädchen aus dem Staat war ihm jetzt schon viel näher als sein Stiefbruder Marco es jemals gewesen war… Jowy atmete tief durch und vertrieb die Gedanken an Pilika entschlossen. Er würde Riou retten, mit ihm gemeinsam nach Kyaro zurückkehren und dann klären, was passiert war. Er würde dafür sorgen, dass Luca Blight und Rowd für den Tod der Jugendbrigade zur Verantwortung gezogen wurden, das schwor er sich. Und dann, vielleicht, eines Tages… konnte er Pilika, Joanna und Marx reinen Gewissens besuchen. Kapitel 2: Auf der Flucht ------------------------- Kapitel 2: Auf der Flucht Jowy erreichte das Fort gegen Mitternacht. Er hatte länger als zwei Stunden gebraucht, doch das war in seinem Zustand auch kein Wunder, und er war immerhin schneller an seinem Ziel angelangt als er befürchtet hatte. Das Fort war eine Festung, die von einem soliden Zaun aus angespitzten Baumstämmen umgeben war, bis auf einen etwa drei Meter breiten Durchgang, vor dem zwei Männer stationiert waren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren dies Söldner und er ging schnell hinter ein paar Bäumen in Deckung. Die Festung der Söldner war im Osten und Westen von Wäldern umgeben und zwangläufig wunderte Jowy sich, wer auf die Idee gekommen war, ein Hauptquartier ausgerechnet an diesem Ort zu bauen. Wenn jemand das Fort hätte angreifen wollen, hätte er leichtes Spiel, da er die Söldner einfach von zwei Seiten in die Zange nehmen konnte. Aber andererseits wussten die Staatler dies wahrscheinlich selbst und es hätte ihn nicht gewundert, wenn in den Wäldern Fallen aufgestellt waren, um zu verhindern, dass ein Feind sich unbemerkt von hinten anschleichen konnte. Jowys Blick wanderte zum Fort selbst. Die meisten Lichter waren gelöscht, doch hinter einigen Fenster schien noch Licht zu brennen… Wieder blickte er zu den beiden Söldnern, die sich leise miteinander unterhielten. Die Frauen in Toto hatten gesagt, dass Riou gefangen gehalten wurde… und Gefangene hielt man im Kerker, richtig? Und höchstwahrscheinlich würden die Söldner nicht sonderlich froh darüber sein, dass er hier war, um ihren Gefangenen zu befreien. Also musste er sich reinschleichen. In Gedanken fasste er in Windeseile einen Plan und bückte sich dann, um einen großen Stein vom Boden aufzuheben. Kurz warf der Blonde einen Blick zurück zu den Wachposten, dann holte er weit aus und warf den Stein so fest er konnte gegen den Holzzaun, möglichst weit weg vom Eingang. „Da war was!“, rief einer der Söldner alarmiert, als der Stein gegen das Holz krachte. „Ja, ich hab’s auch gehört“, nickte der andere und sie nickten einander zu, ehe sie zwischen den Bäumen verschwanden, um den Geräusch nachzugehen. „Jetzt oder nie“, murmelte Jowy, dann rannte er so schnell er konnte in den Innenhof des Forts und war erleichtert, dass sich dort keine Söldner mehr aufhielten. Er schlich zur Tür und hoffte, dass sie nicht verriegelt war, doch als er sie aufzog, glitt sie mit einem leisen Knarren auf. Der Blonde stieß erleichtert den Atem aus, den er ohne es zu bemerken angehalten hatte, und schob sich durch die schmale Türöffnung, ehe er die Tür vorsichtig wieder hinter sich zuzog. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an das Halbdunkel im Inneren des Forst zu gewöhnen, doch dann erkannte er, dass er sich in einem großen Raum befand. Rechts und Links von ihm führten zwei Treppen in den ersten Stock hinauf und den Rest der großen Raumes nahmen lange Tische ein. Außerdem führte eine halboffene Tür scheinbar in eine Küche; sie lag hinter einem Tresen, an der wahrscheinlich die Essensausgabe stattfand. Ein paar andere Türen waren verschlossen und das leise Schnarchen, welches die Stille zerriss, verriet ihm, dass dahinter wohl die Schlafsäle der Söldner lagen. „Halt…“, ertönte ganz in seiner Nähe plötzlich ein Murmeln und er fuhr zusammen. Sein Herz hämmerte panisch in seiner Brust und einen Moment lang fürchtete er, dass man ihn bereits entdeckt hatte, doch dann fiel sein Blick auf eine pelzige Gestalt, die an einem der Tische saß und den Kopf auf die Tischplatte gebettet hatte. Mit klopfendem Herzen trat Jowy näher und erkannte in der pelzigen Gestalt einen Kobold, dessen rötliches Fell in dem Schein der einzigen Fackel zu schimmern schien. „Captain Gegen macht euch alle…“, murmelte das hundeähnliche Wesen im Schlaf und schnarchte leise auf, „Macht euch bereit…“ Der junge Aristokrat atmete erleichtert durch und warf dem schlafenden Kobold einen letzten Blick zu, ehe er sich noch einmal umsah. Irgendwo hier musste es doch… Er bemerkte eine steinerne Treppe, die weiter nach unten führte, und musste unwillkürlich grinsen. Dann schlich er leise die Stufen hinunter in den geräumigen Keller des Forts. Noch von der Treppe aus sah er, dass die Söldner ihren Keller offensichtlich hauptsächlich als Lagerraum nutzten und der schwache Geruch von Schwertpolitur sagte ihm auch, dass man sich hier unten offensichtlich eine Schmiede eingerichtet hatte. Er ließ die Treppe hinter sich und sah sich um. Hier irgendwo mussten doch auch die Kerker sein, nicht wahr…? Sein Blick fiel auf eine eiserne Gittertür und er machte sich befreit aufseufzend auf den Weg. Doch kurz bevor er die Tür erreichte, hielt er inne und ging in Deckung – vor einer der zwei Zellen, die er im schwachen Licht dreier Fackeln erkennen konnte, stand ein Söldner. Soweit Jowy erkennen konnte, war der Soldat nicht viel älter als er selbst, womöglich war er sogar jünger. Seine feuerroten Haare hatte er im Nacken zu einem Zopf geflochten und er trug die gleiche Rüstung wie auch die zwei Söldner am Eingang. Kurz überlegte der junge Aristokrat fieberhaft, doch die Entscheidung, was als nächstes zu tun war, wurde ihm abgenommen, als eine Stimme oben rief: „Hey! Hier hat sich jemand eingeschlichen!“ Erschrocken zuckte Jowy zusammen und tauchte gerade rechtzeitig hinter einen Stapel Kartoffelsäcke, damit der junge Söldner, den er gerade beobachtet hatte, ihn nicht entdeckte. „So ein verdammter Mist“, hörte er den Jungen murmeln, während er an ihm vorbeihastete, „muss so was immer passieren, wenn ich ins Bett will?“ Jowy wartete noch ab, bis der Söldner nach oben verschwunden war, dann kam er aus seinem Versteck hervor und rief leise: „Riou! Bist du hier? Riou!“ „Jowy?!“, ertönte Rious leise, verblüffte Stimme aus einer der Zellen, „Ich bin hier!“ Der Blonde trat an die Zelle, vor der der junge Söldner gerade noch gestanden hatte, und sah in das verblüffte und gleichzeitig unheimlich erleichterte Gesicht seines besten Freundes. Er sah gesund aus – offensichtlich hatte er den Sprung in den Fluss besser überstanden als der junge Aristokrat. Ihm war nichts passiert. „Riou… Den Runen sei Dank“, flüsterte Jowy, dann riss er sich zusammen, „Ich hol dich da raus, warte!“ Riou nickte und trat von seiner Zellentür zurück, während der Blonde mit seinem Stab ausholte und ihn so fest er konnte gegen das Schloss schlug. Glücklicherweise schien es eine Weile her zu sein, dass die Söldner sich darum gekümmert hatten, die Schlösser ihrer Kerker auf Vordermann zu bringen, und so sprang die Tür auf. „Geht’s dir gut?“, fragte Jowy besorgt, als Riou aus der Zelle trat. Der Jüngere nickte und erwiderte: „Was ist mit dir?“ „Nicht der Rede wert“, winkte der Blonde ab, „Lass uns abhauen. Weißt du, wo sie deine Sachen hingebracht haben?“ „Nicht auf Anhieb“, antwortete Riou, „aber wir haben ohnehin keine Zeit.“ „Okay“, nickte Jowy, „dann lass uns abhauen, bevor die Söldner uns erwischen.“ Riou nickte nur, dann verließen sie den Keller eilig, indem sie die Treppe hinaufhasteten. Doch kaum, dass sie oben angekommen waren, war ihre Flucht bereits vorbei. Sie waren umstellt von einer Gruppe bewaffneter Männer, die allesamt auf sie zielten. Zwischen ihnen standen zwei Männer, die nicht die Uniform der anderen trugen. Einer von ihnen war riesig, er überragte sie alle bei weitem, hatte schwarzes Haar, das ihm ungebändigt ins Gesicht fiel, und dunkle Augen, die im Licht der Fackeln schimmerten. Er trug ein gelbes Hemd, dessen Ärmel er offensichtlich abgerissen hatte und somit seine muskulösen Arme entblößte, einen ledernen Brustschutz und eine schwarze Leinenhose. An seiner Hüfte hing ein Schwert, das fast genau so riesig war wie er selbst und Jowy schluckte, als er die dünne Narbe unter seinem rechten Auge bemerkte. Der zweite Mann, der aus der Menge herausstach, war kleiner, doch noch immer größer als die beiden Jungen. Seine hellbraunen Haare wurden ihm von einem blauen Stoffband aus der Stirn gehalten und er trug eine dunkelblaue Lederkluft über einem hellgelben Hemd, einen blauen Umhang aus dem gleichen Stoff wie auch das Stirnband und ebenfalls eine schwarze Hose. Auch an seiner Hüfte hing ein Schwert, doch es war bedeutend schmaler und filigraner als das seines Gefährten. Der kleinere Mann fixierte die Jungen mit ernstem Blick aus blauen Augen und verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er sagte: „Okay, das war’s. Ergebt euch, Jungs, bevor wir Erwachsenen noch wirklich wütend werden.“ Jowy presste trotzig die Lippen aufeinander. Er hasste es, wenn Erwachsene ihn nicht ernst nahmen… und das war hier ganz klar der Fall. Aber andererseits waren die Söldner alle bewaffnet und der große Kerl machte ihm mehr als nur ein wenig Angst. „Wir… wir sind in der Unterzahl“, murmelte er, ließ jedoch seinen Stab nicht sinken. Vielleicht… vielleicht…! „Okay, wir geben auf“, sagte Riou in diesem Moment und legte eine Hand auf Jowys. Der Blonde sah den Jüngeren überrascht an, doch dieser lächelte ihm nur kopfschüttelnd zu, und er seufzte. Wahrscheinlich hatte Riou Recht. Wie immer. „Lass die Waffe fallen“, sagte der Mann mit dem blauen Stirnband und widerwillig tat Jowy wie geheißen. Sofort wurde er von Söldnern ergriffen, doch er wehrte sich nicht, als man ihn und Riou in den ersten Stock schleppte; es hatte ohnehin keinen Sinn. Die Söldner führten die Jungen in einen großen Raum, in dem ein großer Tisch stand, auf dem eine gewaltige Karte des Staates lag. Sogar ein Teil von Highland war darauf noch zu sehen. An den Wänden befanden sich Regale voller Bücher und am anderen Ende des Raumes befand sich ein Kamin, in dem noch ein paar letzte Kohlen glühten. „Lasst uns allein“, sagte der Mann in blau an die anderen Söldner gewandt, „Ich glaube, wir kommen schon allein mit ihnen klar.“ Alle bis auf den Riesen taten wie ihnen geheißen und verließen den Raum, Riou und Jowy blieben eingeschüchtert da, während der Riese die Tür hinter den anderen abschloss. Der andere Mann warf derweil ein paar Holzscheite aus einem Korb neben dem Kamin in die Glut und goss etwas Öl in zwei Öllampen, die sofort heller leuchteten. „Fangen wir mit deinem Namen an“, sagte der Riese mit einer tiefen Stimme, die Jowy unweigerlich an einen Bären erinnerte. Die beiden Männer nahmen eine Position vor dem Kamin ein, die Jungen blieben am anderen Ende des Tisches stehen. „Jowy“, sagte der Blonde nach kurzem Zögern, „Jowy Atreides.“ „Jowy. Okay“, nickte der Riese und grinste dann, „Ich bin Viktor und das ist Flik.“ Er nickte in Richtung seines Gefährten, der mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Wand lehnte und die Jungen schweigend beobachtete. Riou schien das alles nichts Neues zu sein und er blieb ruhig. Der Blick von Viktors dunklen Augen glitt kurz aufmerksam über Jowys Gesicht, dann fragte er: „Da du gekommen bist, um Riou zu befreien, gehe ich wohl recht in der Annahme, dass du auch ein Highlander bist?“ Wieder zögerte der Blonde kurz, ehe er antwortete: „Das ist richtig.“ Er fühlte sich wie auf dem Präsentierteller und wohl fühlte er sich schon gar nicht. Er wusste nicht, was in den Köpfen der beiden Söldner vorging, doch ihm war klar, dass sie ihn wohl nicht mit offenen Armen empfangen würden. „Ich verstehe“, murmelte Flik, „dann bist du der andere. Der, den wir im Fluss verloren haben.“ Überrascht blickte Jowy den älteren Mann an, doch der blaugekleidete Söldner sagte nichts weiter. „Wo du es erwähnst“, sagte stattdessen Viktor und runzelte die Stirn, als er wieder zu seinen beiden Gefangenen blickte, „ich habe niemals erfahren, wie zum Henker ihr eigentlich in dieses Schlamassel geraten seid. Ich meine, ihr hättet sterben können!“ „Nun, das…“, begann Jowy verstummte aber, als ihm einfiel, dass er nicht wusste, was Riou ihnen erzählt hatte. Er konnte seinem Freund nicht einfach so in den Rücken fallen. „Riou hat etwas von einem Überraschungsangriff der Staats-Armee gefaselt, aber unsere Armee hat sich nicht bewegt, seit wir den Friedensvertrag unterzeichnet haben. Also was im Namen der 27 Wahren Runen ist wirklich passiert?“, verlangte Viktor zu wissen. Jowy und Riou wechselten einen langen Blick, dann biss der Blonde sich auf die Lippe. Er vertraute diesen Menschen nicht. Es waren Soldaten, Söldner noch dazu, und sie kamen aus dem Staat. Das letzte war nicht wirklich ein Grund – immerhin waren auch Joanna, Marx und Pilika Staatler – doch es reichte, um ihn den Entschluss fassen zu lassen, nichts zu sagen. Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, ertönte Rious leise, doch entschlossene Stimme: „Wir können es euch nicht sagen.“ Jowy blickte ihn verblüfft an, doch der Jüngere sah Viktor fest in die Augen. „Nein?“ „Nein“, wiederholte Riou bestimmt. Einen Moment lang blieb Viktor völlig still und Jowy bemerkte, dass Flik den Riesen fast schon interessiert beobachtete, als wäre er gespannt auf seine Reaktion. Der Blonde war es auch, vor allem, weil er nicht wusste, was er erwarten sollte. „Das ist eure Antwort?“, vergewisserte sich Viktor noch einmal und als Riou nickte, seufzte der Söldner und beschloss: „Gut, dann könnt ihr es euch ja heute Nacht noch einmal überlegen. Nachdem du“, er warf Jowy einen Blick zu, doch wirkte mehr belustigt als wütend, „eine unserer Zellen unbrauchbar gemacht hast, müsst ihr euch nämlich die andere teilen.“ Flik schnaubte und murmelte: „Ich hab dir doch gesagt, dass wir die Schlösser erneuern sollten.“ „Ja, ja“, winkte Viktor genervt ab, „Morgen dann.“ Flik rollte mit den Augen und seufzte, dann wandte er sich an die Jungen: „Ich nehme an, ihr habt Hunger?“ Riou schüttelte den Kopf und erwiderte: „Pohl hat mir gerade das Essen gebracht, als…“ Er errötete leicht und verstummte. „Was ist mit dir?“, fragte Viktor und sah zu Jowy. Dieser wollte gerade verneinen, als sein Magen eine andere Entscheidung für ihn traf. „Ich seh schon“, grinste Viktor breit und sah dabei überraschend nett aus, „Barbara wird sich sicher freuen, dass wir sie jetzt schon wieder aus dem Bett holen.“ Als sie später in der Zelle darauf warteten, dass der junge rothaarige Söldner – er wurde ihm von Viktor als Pohl vorgestellt – Jowy ein Abendessen brachte, saßen die beiden Jungen auf ein paar leeren Kisten, die ihnen als Betten dienten. Jowy saß an die Wand gelehnt und hatte die Beine an die Brust gezogen, Riou saß neben ihm und lehnte sich nach hinten, das Gewicht auf seine Arme gestützt. „Es tut mir leid“, murmelte der Blonde bedauernd und erntete einen überraschten Blick. „Was tut dir leid?“, fragte Riou verblüfft. Jowy seufzte und erklärte: „Dass ich dich doch nicht retten konnte.“ Wider Erwarten – obwohl es nach einigem Überlegen eigentlich gar nicht so überraschend war – lächelte der Jüngere und schüttelte den Kopf: „Mach dir keine Gedanken. Es ist okay. Und so übel ist es hier gar nicht. Die Söldner sind sogar ziemlich nett.“ „Trotzdem…“ Er verstummte wieder und eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte er: „Ich bin danach in einem Dorf namens Toto aufgewacht.“ Riou betrachtete ihn aufmerksam und wartete auf eine Fortsetzung. „Ein kleines Mädchen hatte mich im Fluss treibend gefunden und mich zu sich nach Hause gebracht, wo man meine Wunden versorgte… und dann hab ich das Gerücht gehört, dass hier ein junger Mann gefangen gehalten wird“, fuhr er leise fort und seufzte. Dann blickte er in die warmen, braunen Augen des Jüngeren und wiederholte: „Es tut mir leid.“ Riou blickte ihn lange an und nickte schließlich, dann erzählte er davon, wie er die letzten paar Tage verschiedene Arbeiten für die Söldner erledigt hatte. Hauptsäch-lich schien er geputzt und Botenaufträge erledigt zu haben. „Die oberste Regel ist Wer nicht arbeitet, bekommt auch nichts zu essen“, schloss Riou, grinste dann aber und fügte hinzu, „Auch, wenn ich mich frage, wie einige hier überleben, wenn das wirklich so ist.“ „Essen fassen“, ertönte in diesem Moment Pohls Stimme und er betrat die Zelle mit einem Tablett, auf dem er etwas Brot und eine Schüssel Suppe balancierte. Er überreichte es Jowy, der die Suppe misstrauisch beobachtete und die Nase rümpfte, als er ein paar eindeutig als Karotten zu identifizierende Stückchen darin schwimmen sah. Er hasste Karotten. „Tut mir leid“, entschuldigte sich Pohl, der den Ausdruck auf Jowys Gesicht bemerkte und richtig deutete, „Ich weiß, dieses Essen ist sicher nicht das beste, aber versuch trotzdem, alles aufzuessen.“ Unglücklich fixierte der Blonde sein Abendessen und hörte nur mit halbem Ohr zu, während Pohl sagte: „Riou, ich kann’s dir nicht verübeln, dass du weglaufen wolltest, aber versuch es bitte nicht noch einmal. Der Boss mag dich, er wird dich bestimmt bald ohnehin frei lassen.“ „Hm“, brummte Riou nur und Pohl seufzte. Er wandte sich bereits zum Gehen, als Jowy leise fragte: „Entschuldigung? Könnte ich vielleicht… einen Löffel haben?“ Er hatte gerade bemerkt, dass man ihm kein Besteck mitgegeben hatte. Pohl drehte sich überrascht zu ihm um. „Einen Löffel?“, wiederholte er verwirrt, als wolle er sich vergewissern, richtig gehört zu haben, „Für deine Suppe?“ „Ja…“, antwortete Jowy und spürte, wie er errötete. „Was sind wir doch für ein feiner Herr“, grinste der junge Söldner, „Warte kurz, ich hole dir einen.“ Mit diesen Worten verließ er die Zelle wieder, schloss sie vorsorglich ab und verschwand aus ihrem Blickfeld. Er schien sich beeilt zu haben, da er nur wenige Minuten später wiederkam und Jowy einen Messinglöffel übergab. „Behalt ihn ruhig“, sagte er, als der Blonde den Löffel durch die Gitterstäbe in die Hand nahm, „ich hab keine Lust, jedes Mal nach oben zu laufen, damit du deine Suppe essen kannst. Die wird’s nämlich noch eine ganze Weile geben.“ Offensichtlich war seine nicht vorhandene Begeisterung Jowy anzusehen, da Pohl auflachte. Dann hob er zum Abschied die Hand und sagte: „Wie auch immer, schlaft gut. Wir sehen uns morgen.“ Er gähnte demonstrativ und verschwand. Jowy senkte den Blick auf seine Suppe und fragte dann leise: „Riou… willst du… meine Karotten?“ Als er erwachte, fiel durch ein kleines Fenster in der Zelle graues Morgenlicht herein und er wusste, dass es kurz vor Sonnenaufgang sein musste. Und er wusste plötzlich auch ganz genau, was zu tun war. Sein unbequemes Lager hatte ihn wirre Träume haben lassen, doch immerhin war ihm plötzlich die Lösung eingefallen. „Riou“, flüsterte er und tastete nach der Schulter seines besten Freundes, um ihn leicht zu schütteln, „Riou, wach auf!“ „Hm…?“, machte der Jüngere verschlafen, gähnte und richtete sich auf, während er sich die Augen rieb, „Ist es schon Zeit zum Aufstehen? „Das nicht, aber Zeit, um hier zu verschwinden“, antwortete der Blonde und erkannte im Halbdunkel, wie Rious Augen sich überrascht weiteten. Augenblicklich schien er hellwach zu sein. „Du meinst, du hast einen Plan?“, flüsterte ungläubig und Jowy nickte. Dann fragte er: „Hast du vielleicht irgendetwas von deinen Aufträgen hier behalten?“ Der Jüngere überlegte einen Moment, ehe er von seinem Lager kletterte und im Zwielicht nach etwas zu suchen schien. „Hier“, wisperte er, „Pohl hat vergessen, es mir wieder abzunehmen, und ich hab gedacht, dass ich ihn vielleicht auch nicht daran erinnern sollte. Nur für alle Fälle.“ Jowys Blick fiel auf ein ordentlich zusammengerolltes Seil, zwei Feuersteine und einen Lappen, der über und über mit dunklen Flecken verschmutzt war. „Was ist das?“, fragte der Blonde verblüfft und deutete auf das schmutzige Stück Stoff. „Der Lappen, mit dem ich vorgestern das Öl vom Boden gewischt hab, das Viktor verschüttet hat“, antwortete Riou achselzuckend, „Ist das gut?“ „Das ist klasse! Sie werden nicht erwarten, dass wir so schnell wieder versuchen werden, abzuhauen“, erklärte Jowy, „Aber erst mal müssen wir hier raus.“ Er bückte sich nach dem Tablett mit der leeren Schüssel und hob den Löffel auf, dann trat er auf die Tür zu. „Ich muss den Löffel nur so biegen…“, murmelte er, während er an dem Messing arbeitete. Er war auf diese Art oft von zu Hause weggelaufen, um zu Riou zu schleichen. Sein Stiefvater hatte nie viel von Meister Genkaku und seinen Adoptivkindern gehalten und ihm verboten, sie zu sehen. Doch Jowy wäre nicht Jowy gewesen, wenn ein solches Verbot ihn davon abgehalten hätte. „Geschafft!“, flüsterte er triumphierend, als ein leises Klacken ertönte und das Schloss aufsprang, „Dieses Mal werden sie uns nicht kriegen!“ Riou folgte ihm in den Gang hinaus und sah sich um. „Sie müssen meine Sachen irgendwo hier aufbewahren“, wisperte er, „Ich erinnere mich, dass Pohl sie geholt hat, als ich Mehl im nächsten Dorf holen sollte.“ „Die können wohl gar nichts alleine“, schnaubte Jowy abfällig, während er dem Jüngeren leise in einen kleinen Abstellraum folgte, in dem haufenweise Plunder zu liegen schien. „Meine Tonfa!“, flüsterte Riou nach einem Moment erleichtert und nahm die Waffen aus einer Halterung an der Wand. Auch Jowy entdeckte seinen Stab zwischen ein paar Speeren und nahm ihn an sich, während Riou einen kleinen Beutel von einem Tisch nahm. „Was ist das?“, fragte Jowy und der Jüngere öffnete den Beutel und zeigte ihm ein paar dünne Lederbänder, auf denen silberne Münzen mit einem Loch in der Mitte aufgereiht waren: „Mein Geldbeutel. Er hat den Sprung in den Fluss überlebt… ich habe gar nicht gemerkt, dass ich ihn dabei hatte. Jedenfalls bis er mir abgenommen wurde.“ „Wie viel Geld hast du?“ „Etwa 1000 Potch“, antwortete Riou, während sie schon wieder hinausschlichen, „Es ist nicht viel, aber ich glaube, dass es erst mal reichen wird.“ Jowy nickte nur, dann setzten sie ihren Weg ins Erdgeschoss schweigend fort. Das ganze Fort schien zu schlafen, doch sie hielten trotzdem den Atem an, als sie die Treppe verließen. Was gut so war, denn in diesem Moment ertönte die leise Stimme eines Mannes: „Mann, bin ich fertig… ich glaub, ich hau mich ein bisschen aufs Ohr, bis der Boss aufwacht.“ Ein Gähnen ertönte, dann antwortete eine zweite Stimme: „Ja, ich glaub, ich auch. Es wird schon keiner herkommen um diese Zeit. Wir müssen nur aufpassen, dass Flik uns nicht erwischt… Hast du die Tür abgeschlossen?“ „Ja, so ein dummer Fehler passiert mir doch kein zweites Mal!“ Die Stimmen kamen aus Richtung einer der Treppen und Jowy stieß gedanklich einen Fluch aus. Es war also doch noch jemand wach. „Gib mir die Feuersteine und den Lappen“, flüsterte er an Riou gewandt, dieser nickte nur und reichte die verlangten Gegenstände. Der Blonde brauchte zwei-drei Anläufe, bis es klappte, doch dann fing der ölige Lappen Feuer und Jowy warf ihn schnell weg. Er landete zwischen den Tischen am anderen Ende des Raumes und nur Sekunden später breitete sich der unangenehme Geruch des brennenden Materials aus. „Sag mal, riechst du das auch?“, fragte plötzlich der erste Söldner, der gesprochen hatte. „Nein, ich… hey, was ist das für ein komischer Geruch?“ „Es brennt!“, japste der erste Söldner und im nächsten Moment rannten sie auch schon an den Jungen vorbei. „So ein verdammter Mist“, zischte der zweite, während sie versuchten, das Feuer auszutreten, das bereits auf den Holzboden übergriff. „Jetzt oder nie“, flüsterte Jowy und Riou nickte, während sie an den Männern vorbeischlichen und die Treppe nach oben nahmen. Dort blieben sie einen Moment lang ratlos stehen, während Jowys Herz vor Aufregung und Nervosität so laut zu schlagen schien, dass es ihm wie ein Wunder erschien, dass er den Rest der Söldner nicht auch noch weckte. „Ich hab eine Idee“, raunte Riou in diesem Augenblick, ergriff Jowys Arm und zog ihn durch eine kleine Tür nach draußen auf einen Balkon. Dort machte er sich schnell daran, das Seil an der Balustrade festzuknoten, ehe er es hinunterwarf und sagte: „Schnell, Jowy, du zuerst!“ Der Blonde wollte protestieren, sah jedoch ein, dass sie keine Zeit für Diskussionen hatten, und schwang sich über die Brüstung. Mit ein paar geübten Bewegungen kam er unten an und sah sich schnell um, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand sich im Hof befand, dann winkte er Riou zu sich hinunter. Dieser sprang den letzten Meter einfach hinunter und warf einen leicht nervösen Blick auf die versperrte Vordertür, ehe sie wortlos eine Entscheidung trafen und durch den unbewachten Eingang des Holzzauns liefen. Sie rannten eine ganze Weile, bis Jowy keuchend anhielt und sich die Seite hielt. Natürlich war er als Mitglied der Jugendbrigade – ehemaliges Mitglied, korrigierte eine bittere Stimme in seinem Kopf – daran gewöhnt, von einem Ort zum anderen zu hetzen, doch bis vor einer Woche hatte er beim Laufen auch nicht um sein Leben fürchten müssen. Jetzt schien diese Angst ein immerwährender Begleiter zu sein. Obwohl sie beide müde waren – ausgeschlafen fühlte sich eindeutig anders an – waren sie sich einig, keine Pause zu machen. Sie wussten nicht, wann die Söldner bemerken würden, dass sie weggelaufen waren, doch sobald sie es taten, wollte Jowy lieber ein Gebirge und eine Grenze hinter sich gebracht haben und sicher zu Hause sein. Apropos zu Hause… „Riou“, rief er leise und wartete, bis der Jüngere ihn fragend ansah, bis er fortfuhr, „In der Nacht des Angriffs, da…“ Er verstummte wieder, schüttelte den Kopf und begann von Neuem: „Wenn ich an Captain Rowd und diesen Mann denke, mit dem er sich unterhalten hat… Luca Blight… Es könnte gefährlich sein, nach Kyaro zurückzukehren.“ Riou nickte und sagte leise: „Ich weiß.“ Er seufzte, schwieg jedoch. „Ich möchte trotzdem zurückgehen“, stellte Jowy klar, „Und Nanami wartet auch auf dich. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.“ Riou sah ihn wieder eine lange Zeit an, ehe er nickte und langsam, fast zögernd sagte: „Ich möchte auch heim. Auch, wenn es gefährlich ist…“ Sie sahen einander in die Augen und irgendwie wusste Jowy in diesem Moment, warum ausgerechnet dieser stille, aufmerksame Junge sein bester Freund und nicht jemand anders. Sie verstanden einander einfach ohne Worte. Kapitel 3: Heimreise -------------------- Kapitel 3: Heimreise Sein Plan war eigentlich, so schnell wie möglich zurück nach Kyaro zu gelangen, um den Staat und damit die Söldner hinter sich zu lassen, doch als er ein paar Stunden nach Sonnenaufgang einen Blick auf Rious wehleidiges Gesicht warf, fiel dieser Plan in sich zusammen. „Was ist denn?“, fragte er verwirrt. Sie waren seit einigen Stunden unterwegs und bisher sah es nicht so aus, als würde sie jemand verfolgen… aber andererseits konnte man sich nie sicher sein. Die Jungen folgten der Straße nach Norden, die zum Tenzaan-Gebirge führte, und ganz in ihrer Nähe erkannte Jowy eine Abzweigung nach Osten. Rious Blick war gerade dorthin gewandert und der junge Aristokrat runzelte die Stirn. „Nichts“, antwortete Riou jedoch, seufzte und wandte den Blick von der Abzweigung ab, „Alles in Ordnung.“ Er schien sich zu bemühen, den traurigen Ausdruck auf seinem Gesicht zu vertreiben, doch es gelang ihm nicht. Überhaupt nicht. Und Jowy konnte nicht anders als zu grinsen, weil er genau wusste, worin das Problem lag… hauptsächlich, weil er zurzeit selbst daran litt. „Wenn du Hunger hast, dann sag es doch einfach“, schmunzelte er. Riou blickte ihn zuerst verblüfft an, dann lächelte er schwach und murmelte: „Ich frage lieber gar nicht erst, woher du das schon wieder weißt.“ Jowy warf einen Blick auf die Abzweigung und fragte: „Dort drüben ist ein Dorf, nicht wahr?“ „Das Dorf Ryube, ich wurde von den Söldnern dorthin geschickt“, erklärte Riou und seufzte dann, „Aber können wir es uns überhaupt leisten, jetzt anzuhalten?“ Er sah über seine Schulter zurück in die Richtung, aus der sie kamen. „Vielleicht nicht“, erwiderte Jowy langsam, „aber in einer Menschenmenge können wir uns besser vor ihnen verstecken.“ „Hm“, machte der Jüngere nachdenklich, dann hellte sich sein Gesicht merklich auf, als die beiden Jungen sich nach Osten wandten. Verglichen mit dem Dorf Toto war Ryube fast schon groß. Es lag direkt am Rande eines Waldes und ganz in der Nähe der Tenzaan-Berge, fast schon idyllisch in seiner Ruhe. Trotz der frühen Stunde befanden sich bereits Menschen auf den Straßen und als die Jungen das Gasthaus erreichten, bei dem sie zu frühstücken gedachten, hielten sie inne, als sie ganz in der Nähe eine Menschenmenge sahen. „Was ist da los?“, fragte Riou und reckte den Hals. Jowy tat es ihm gleich, konnte jedoch außer Hinterköpfen nicht allzu viel erkennen. Plötzlich stob inmitten der Menge eine Flamme in die Luft und die Leute brachen in Applaus und Jubel aus. Verwirrt wechselten die Jungen einen Blick, ehe sie näher traten und sich in der Menge weit genug nach vorne schoben, um wenigstens ein bisschen zu sehen. Die Menschen standen in einem Halbkreis um den Dorfplatz, in dessen Mitte ein großer Baum stand, herum; ihre Aufmerksamkeit galt drei Personen, zwei Mädchen, die Jowy auf irgendwo in seinem Alter schätzte, und einen jungen Mann, der sowohl groß als auch muskulös war. Er hatte kurzes, blondes Haar und trug lediglich einen blauen Lendenschurz. Dieser junge Mann war es, der gerade tief Luft holte und plötzlich erneut eine meterhohe Flamme in den Himmel spuckte. „Bravo!“, jubelte jemand neben Jowy auf, während ein kleiner Junge vor ihm begeistert schrie: „Wie macht er das?“ Das fragte sich der Blonde allerdings auch. Sein Blick wanderte zu einem der Mädchen; sie saß an einem Tisch und legte mit ernstem Blick aus dunklen Augen einer Frau gerade Karten. Sie hatte langes, schwarzes Haar und trug, so weit Jowy es erkennen konnte, ein schwarzes Kleid mit einem um die Hüfte geschlungenen grünen Seidentuch. Das andere Mädchen hatte kurze schwarze Haare und ebenso dunkle Augen wie die andere junge Frau und er fragte sich zwangsläufig, ob sie Schwestern waren. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses und bauchfreies Oberteil und eine kurze, schwarze Hose und auch um ihre Hüfte war ein Seidentuch geschlungen, dieses war allerdings rot. Beide Mädchen hatten stark sonnengebräunte Haut und wirkten irgendwie, als wären sie nicht von hier. Das Mädchen mit den kurzen Haaren klatschte gerade für den blonden jungen Mann und lächelte breit, dann rief sie mit lauter, klarer Stimme: „Okay, und nun zu unserer nächsten Vorführung! Dazu brauchen wir einen Freiwilligen!“ Zahlreiche Hände um Jowy schossen hoch und er sah sich verblüfft um. Irgendetwas sagte ihm, dass die meisten Männer, die sich gerade meldeten, dies nicht wegen dem jüngeren Mädchen taten, sondern eher wegen ihrer älteren Gefährtin, die in diesem Moment aufblickte und dem Publikum ein geheimnisvolles Lächeln schenkte. „Mal sehen“, fuhr das kurzhaarige Mädchen fort, während ihr Blick über die Menge schweifte, „Okay, du da!“ Verblüfft sah Jowy, dass sie direkt in seine Richtung zuhielt. „Ja, du dort drüben!“, rief sie noch einmal und einen Moment lang befürchtete er, dass sie ihn meinte, obwohl er sich gar nicht gemeldet hatte, da die Leute vor ihm einen Weg für die Schaustellerin freimachten, doch sie blieb stattdessen vor Riou stehen und betrachtete ihn eingehend. „Ähm, was?“, murmelte dieser ein wenig überfordert, während das Mädchen um ihn herumging und schließlich in die Hände klatschte und verkündete: „Wundervoll! Du hast die richtige Größe und ziemlich gutaussehend bist du auch. Komm mit! Beeilung! Los!“ Ohne Riou eine Chance zu lassen, sich zu wehren oder zumindest etwas zu sagen, ergriff sie ihn am Knoten seines Halstuches und schleppte ihn mehr oder weniger hinter sich her. „H-Hey!“, rief Jowy ihnen hinterher, während er sich weiter nach vorne drängte, um eine bessere Sicht auf das zu haben, was sie mit seinem besten Freund vorhatte, „Riou!“ „Keine Sorge, du bekommst ihn heil wieder“, grinste sie ihm über die Schulter hinweg zu, zwinkerte und Riou demonstrativ zum Baum in der Mitte des Platzes schob. „Willkommen zu unserer Hauptattraktion!“, rief der männliche Schausteller mit einem überraschend leisen Stimme, „Äähm… Hier ist sie! Unsere… messerwerfende Expertin!“ Dies schien nicht nur in Jowys Ohren ein wenig falsch zu klingen, da besagte messerwerfende Expertin sich wütend zu ihm umdrehte und etwas zischte, das der junge Aristokrat nicht verstand. Dann korrigierte der Schausteller seine Ansprache: „Hier ist sie! Die wunderschöne und berühmte Messerwerferin Eilie! Weidet eure Augen an ihrem bezaubernden Gesicht und Körper!“ Die Menge applaudierte, während das Mädchen, das in diesem Moment Wurfmesser aus einer kleinen Tasche zutage förderte, die scheinbar unter ihrem Hüfttuch verborgen war, sich verbeugte. Währenddessen stand das andere Mädchen von ihrem Platz hinter dem Tisch auf und ging zu Riou hinüber. Sie schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern und als dieser plötzlich unnatürlich blass wurde und mehr als verschreckt aussah, machte sich Jowy sofort noch mehr Sorgen als ohnehin schon. Er hatte ein verdammt schlechtes Gefühl bei dieser Sache. Das ältere Mädchen machte ein paar Schritte zurück, um Eilie freie Bahn zu machen, während der junge Schausteller eine Melone auf Rious Kopf positionierte. Oh nein. Sie würden doch nicht…! „Los geht’s!“, rief Eilie entschlossen, holte mit einem Wurfmesser weit aus und – warf. Das Messer traf die Melone genau in der Mitte und Jowy atmete erleichtert aus. Die Menge applaudierte wieder, doch anstatt Riou gehen zu lassen, wechselte der blonde Schausteller die Melone durch einen Kürbis aus und trat zurück. Wieder zielte Eilie, holte aus, warf und traf das Ziel wieder genau in der Mitte. Erneut brandete Applaus auf und erneut wurde das Ziel auf Rious Kopf ausgetauscht, der genauso nervös aussah, wie Jowy sich fühlte, als ein Bund dreier Bananen auf seinen Kopf gelegt wurde. Ein drittes Mal traf jedoch das Messer sein Ziel und das Publikum begann zu jubeln. „Hast du das gesehen?“, rief ein kleiner Junge irgendwo in der Nähe des Blonden begeistert, „Sie hat die Banane erwischt!“ Nun… nun würde es doch sicher zu Ende sein, richtig? Sie hatte nicht vor, etwas noch Kleineres auf Rious Kopf abzustellen, oder…? Seine Hoffnungen wurden jäh enttäuscht, als der blonde Schausteller, der dank seiner Größe und Masse Riou völlig verdeckte, plötzlich zurücktrat und alles, was auf Rious Kopf zurückblieb, ein kleiner, unscheinbarer Apfel war. „Im Namen aller Runen!“, rief Jowy panisch, „Ihr könnt doch nicht…!“ „Nein, lass sie werfen!“, wurde er von einer älteren Dame unterbrochen, die sich zwar schwer auf einen Gehstock stützte, jedoch von der Vorstellung begeistert zu sein schien, „Ich will sehen, ob sie dem Jungen den Schädel spalten kann!“ „Was?!“, heulte der Blonde beinahe auf, doch bevor er noch weiter protestieren konnte, um seinen besten Freund vor dem Tod durch ein Wurfmesser zu retten, hob die ältere Schaustellerin beide Hände und rief: „Ich bitte um Ruhe im Publikum! Sonst könnte der Wurf daneben gehen.“ Jowy wurde blass und verstummte sofort und auch Riou wirkte von dieser Aussicht nicht besonders beruhigt. Eilie schien tief durchzuatmen, dann zielte sie länger als bei den anderen Würfen und warf. Instinktiv schloss Jowy die Augen und öffnete sie erst wieder, als die Menge um ihn herum in ohrenbetäubenden Jubel ausbrach. Er blickte zu Riou hinüber, der unglaublich erleichtert schien, als man ihm endlich den Apfel vom Kopf nahm und er sich wieder bewegen durfte. Eilie lief zu ihm, drehte sich zum Publikum um, nahm seine Hand und verbeugte sich tief. „Vielen Dank!“, rief sie strahlend, „Danke, dass wir hier auftreten durften!“ Das Publikum applaudierte und Jowy fiel in den Applaus ein, mehr aus Erleichterung denn aus wirklicher Begeisterung – obwohl er einräumen musste, dass Eilies Künste mit dem Wurfmesser beeindruckend waren. „Wirklich toll!“, jubelte auch der junge Schausteller breit grinsend, „Einen großen Applaus, bitte!“ Eine Weile applaudierte die Menge noch, dann begannen die Menschen langsam, sich zu verstreuen, da die Vorstellung offensichtlich beendet war. Eilie beugte sich zu Riou hinüber und schien in etwas zu fragen, woraufhin er nickte und freundlich lächelte. Daraufhin winkte der blonde Schauspieler Jowy zu und rief: „Hey du! Du darfst auch helfen!“ „W-Was…?“ „Danke, dass ihr uns geholfen habt“, sagte die langhaarige Schaustellerin schließlich zu den Jungen, nachdem alle Sachen der Schausteller sicher in einem großen Handkarren verstaut waren, „Das war wirklich nett von euch.“ „Nicht der Rede wert“, erwiderte Riou und lächelte. „Wir sind reisende Schausteller“, erklärte das ältere Mädchen, „wie ihr sicher bemerkt habt. Ich bin Rina.“ „Ich bin Eilie“, stellte sich die jüngere ebenfalls vor, „Wir sind Schwestern und er hier ist unser kleiner Bruder.“ „Bolgan“, nickte der blonde Schausteller und Jowy runzelte die Stirn. „Klein?“, wiederholte er. Rina kicherte und erklärte: „Bolgan ist jünger als Eilie und ich. Er ist einfach nur sehr groß für sein Alter.“ „Ich bin Jowy“, stellte der junge Aristokrat sich nach kurzem Zögern ebenfalls vor und lächelte den dreien zu, „und das ist mein bester Freund Riou.“ „Nett, euch kennen zu lernen“, nickte dieser und lächelte wieder. „Seid ihr von hier?“, fragte Rina, „Es ist ein schönes Dorf.“ „Nein, wir sind… Reisende“, antwortete Jowy, nachdem er beschlossen hatte, dass dies eigentlich nicht einmal gelogen war, „Wir sind auf dem Weg nach Kyaro, in Highland.“ „Oh, Highland“, rief Eilie begeistert aus, „Dahin sind wir auch unterwegs.“ „Wir haben schon alle Dörfer in der Umgebung abgeklappert“, fügte Rina hinzu, „Es ist Zeit für eine Abwechslung. Aber… hmm…“ „Was ist?“ Riou runzelte die Stirn, doch bevor die Schaustellerin antworten konnte, fuhr Eilie sie an: „Ich hab dir doch gesagt, dass es kein Problem sein wird! Mach dir wegen diesem sogenannten Nebelmonster keine Sorgen, ich bin ja da!“ Rina sah nicht sonderlich überzeugt aus und Jowy fragte verwirrt: „Was für ein Nebelmonster?“ Die Schausteller wechselten einen Blick, dann erklärte Rina: „Um von hier aus nach Highland zu gelangen, muss man den Nord-Sperlingspass nehmen. Aber in letzter Zeit halten sich hartnäckige Gerüchte darüber, dass dort oben ein furchtbares Nebelmonster leben soll. Ein paar der Menschen hier haben gesagt, sie hätten es mir eigenen Augen gesehen…“ „Wenn du mich fragst, ist das alles völliger Blödsinn“, verkündete Eilie überzeugt und schnaubte, „Die Gerüchte werden wahrscheinlich von Highland selbst verbreitet, um die Staatler zu erschrecken.“ Riou und Jowy sahen einander kurz an. Der junge Aristokrat war sich völlig sicher, niemals etwas von einem Nebelmonster gehört zu haben und immerhin hatte er ein halbes Jahr in den Tenzaan-Bergen verbracht… „Hey“, sagte Rina plötzlich und lächelte zuversichtlich, „wenn ihr Jungs auch nach Highland geht, warum gehen wir nicht gemeinsam?“ Jowy überlegte kurz und nickte dann: „Ja, von mir aus. Was sagst du dazu, Riou?“ Der Jüngere schien ebenfalls nachzudenken, dann grinste er breit und sagte: „Es ist mir eine Ehre, mit so hübschen Damen zu reisen.“ „Du Schmeichler“, kicherte Rina vergnügt, schien sich über das Kompliment jedoch zu freuen. Eilie sagte nichts, sondern wurde nur rot, und Jowy begnügte sich damit, die Augen zu verdrehen. „Vielen Dank, ihr beiden“, murmelte Eilie schließlich mit hochrotem Kopf und Bolgan beschränkte sich grinsend auf ein bloßes: „Bolgan glücklich.“ Dann ergriff er die Griffe des Handkarrens und machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen, als Riou sich leise und plötzlich verschüchtert zu Wort meldete: „Bevor… bevor wir aufbrechen, könnten wir vielleicht vorher… etwas essen?“ Das kleine Grüppchen erreichte den Nord-Sperlingspass gegen Nachmittag und zwar ohne jegliche Spur von Verfolgern. Vielleicht war es den Söldner ja tatsächlich egal, ob ihre Gefangenen entflohen waren? Die drei Schausteller hatten einige interessante Geschichten zu erzählen und Jowy stellte fest, dass er die drei gern mochte. Es waren fröhliche, junge Menschen und waren von ihrem Lebensstil derart überzeugt und begeistert, dass er sie fast ein wenig beneidete. Immerhin wussten sie genau, was sie mit ihrem Leben machen wollten. Der Pfad, den sie entlanggingen, wurde jedoch schon bald von zwei Soldaten versperrt, die den Weg zu bewachen schienen. Ganz in ihrer Nähe befand sich ein kleines Häuschen – eine Wachstube, wie Jowy stark vermutete – und sie trugen die typische Uniform der Armee des Staates. „Halt!“, rief einer der Männer, als die fünf in Hörweite kamen, „Vor euch liegt die Grenze zum Königreich Highland. Auf Befehl von Bürgermeisterin Anabelle von Muse ist der Zutritt niemandem gestattet. Bitte geht den Weg zurück, den ihr gekommen seid.“ „Aber wir müssen zu-“, begann Jowy, hielt dann inne und korrigierte sich, „Ich meine, wir müssen unbedingt nach Highland.“ „Tut mir leid“, erwiderte der andere Soldat kopfschüttelnd, „aber wir haben unsere Befehle. Außerdem hält sich das Gerücht, dass dort oben ein Nebelmonster leben soll und wir hatten noch keine Zeit, dies nachzuprüfen. Also kann ich euch so oder so nicht durchlassen.“ „Könnt Ihr nicht dieses eine Mal eine Ausnahme machen?“, fragte Eilie und sah die beiden Männer flehend an. Doch der, der zuerst gesprochen hatte, schüttelte den Kopf: „Nein, tut mir leid.“ „Biiitteee“, bat nun auch Bolgan, doch der Soldat seufzte nur und sagte: „Nun kommt schon, Kinder, ich habe euch doch gesagt, dass ihr nicht durchkönnt. Warum geht ihr nicht nach Hause?“ Ja, genau das hatte Jowy vor, auch wenn er es diesem Mann besser nicht auf die Nase band. „Hm“, räusperte sich Rina unerwarteterweise von hinten und alle wandten sich überrascht zu ihr um, „Herr Captain? Könnte ich kurz mit Euch sprechen? Unter vier Augen, meine ich.“ „Huh?“, gab der Mann verwirrt von sich und nickte dann, „Ja, sicher…“ „Hier rüber“, winkte Rina und verschwand dann im Dickicht einiger Bäume. Die beiden Soldaten – und auch die vier zurückgebliebenen Jugendlichen – wechselten einen Blick, dann zuckte der offensichtlich ranghöhere Offizier die Achseln und folgte der Schaustellerin zwischen die Bäume. Jowy sah ihnen verwirrt hinterher. Was im Namen der Runen hatte sie vor? Etwa zehn Minuten später kam Rina zurück. Sie wirkte vergnügt und hatte leicht rötliche Wangen, was angesichts der leichten Frische in den Bergen etwas seltsam war. Ihr folgte in einiger Entfernung ein hochroter Soldat, was Jowy noch mehr stutzen ließ. Was in aller Welt…? „Also gut“, nuschelte der Mann, „geht. Aber versprecht mir, dass ihr euren Mund haltet.“ „Huh…?“, gab der junge Aristokrat verwirrt von sich, da ihn der plötzliche Sinneswandel irritierte. „Aber natürlich“, nickte Rina mit einem seltsam verführerischen Lächeln, „Macht Euch da keine Sorgen.“ „Rina“, sagte Eilie langsam und sah sie skeptisch an, „was hast du…?“ „Wenn dieser nette Herr sagt, dass wir gehen können, dann sollten wir sein nettes Angebot annehmen“, flötete ihre Schwester, zwinkerte den beiden Soldaten noch einmal zu und tätschelte Bolgan den Arm, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Dann schritt sie zufrieden an den Soldaten vorbei. Stirnrunzelnd – und vielleicht sogar ihr Glück nicht ganz fassen könnend – folgten die anderen ihr. Sobald sie außer Hör- und Sichtweite der beiden Staatssoldaten waren, ergriff Jowy Rina jedoch am Arm und fragte: „Was hast du mit ihm gemacht, Rina?“ Sie lächelte jedoch nur geheimnisvoll und antwortete leise: „Nichts. Wir hatten lediglich ein Gespräch unter Erwachsenen. Los, kommt schon.“ Stirnrunzelnd und mehr als verwirrt ließ sie den jungen Aristokraten zurück und schritt weiter voran. „Mach dir nichts draus“, seufzte Eilie, die neben ihm stehen geblieben war, „Ich glaube, so genau möchte ich es gar nicht wissen.“ Die Dunkelheit brach plötzlich herein, viel früher als erwartet, und mit ihr kam der Nebel. Es wurde merklich kälter und sie beeilten sich, ein Lager aufzuschlagen und ein Lagerfeuer zu entzünden, um sich daran wärmen zu können. Jowy hüllte sich enger in die Decke, die Eilie ihm gegeben hatte, und atmete den Duft der Suppe, die Bolgan gerade in einem kleinen Kessel köcheln ließ, tief ein. „Kann ich euch eine Frage stellen?“, erkundigte sich Riou, der dankbar eine Tasse Tee von Rina entgegen nahm, „Wenn ich das richtig verstanden habe, seid ihr beide und Bolgan nicht verwandt. Wie habt ihr euch kennen gelernt?“ Zumindest so viel hatte Jowy inzwischen auch herausbekommen. Eilie setzte sich und lächelte, dann erklärte sie: „Rina und ich haben unsere Eltern früh verloren und waren seitdem immer auf Reisen. Als wir uns zum ersten Mal gesehen haben, hat Bolgan in einem Zirkus in den Graslanden gearbeitet.“ „Aber er wurde dort schlecht behandelt“, fuhr Rina fort, „deshalb haben wir ihm vorgeschlagen, mit uns wegzulaufen.“ „Er wollte nicht“, sagte Eilie, „Könnt ihr euch das vorstellen? Er wollte dort bleiben und seine Schulden abbezahlen.“ „Das hat er dann gemacht und wir haben ihm geholfen“, schloss ihre ältere Schwester bei der Erinnerung lächelnd, „und seitdem sind wir gemeinsam unterwegs.“ „Ich schätze mal, dass ihr viel erlebt habt“, vermutete Jowy und nahm einen Schluck von dem heißen Tee, von dem die Schausteller schworen, dass er gegen jede Kälte wirkte, und die Schwestern nickten. Dann fragte Eilie: „Und was wollt ihr in Kyaro?“ „Wir leben dort“, antwortete Riou leise, „aber wir haben gedacht, dass wir es besser nicht an die große Glocke hängen sollten.“ „Aber der Krieg ist doch vorbei?“, erwiderte Rina. Jowy nickte langsam und zögerte einen Moment, entschied sich dann aber wiederum dagegen, den wahren Hintergrund ihres Aufenthalts im Staat Dritten zu offenbaren. Schließlich sagte er: „Das schon, aber das Vertrauen zwischen Highland und dem Staat ist noch immer zerrüttet. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis der Frieden nicht mehr nur auf dem Papier herrscht.“ Die Schwestern schwiegen betroffen, dann öffnete Eilie den Mund, doch sie kam niemals dazu, etwas zu sagen. Denn in diesem Moment verdichtete sich der Nebel plötzlich und abrupt um das kleine Lager und aus den Schwaden bildete sich eine monströse Gestalt wie aus Jowys schlimmsten Albträumen. Es war gute drei Meter groß und seine gierigen roten Augen glühten im Dunkeln. Bevor auch nur einer von ihnen zu einer Waffe greifen konnte, schrie das Nebelmonster ohrenbetäubend auf und aus der Mitte der Schwaden schossen plötzlich zwei krallenbesetzte Klauen. Genau auf Jowy zu. Kapitel 4: Das, was bleibt -------------------------- Kapitel 4: Das, was bleibt In dem kleinen Moment, den er hatte, um zu realisieren, was gerade passierte, wusste er, dass er keine Chance mehr hatte, sich auch nur irgendwie zu verteidigen. Er hatte nicht einmal die Zeit, den Kopf wegzudrehen, da erwischte ihn eine der Krallen auch schon und er kippte mit einem schmerzerfüllten Keuchen nach hinten. „Jowy!“, schrie Riou entsetzt und stürzte zu ihm, während von irgendwoher plötzlich Bolgan auftauchte und die zweite Kralle abfing. Leise stöhnend griff sich Jowy an die verletzte Seite, richtete sich auf und ergriff seinen Stab. Er spürte, wie warmes Blut sein Oberteil tränkte, doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Adrenalin peitschte durch seine Venen, als er mit Rious Hilfe aufstand und seinen Stab schwang, um einen weiteren Angriff des Monsters abzuwehren. Bolgan hatte derweil die Kralle, die er mit beiden Händen festgehalten hatte, niedergerungen und Eilie warf eines ihrer Wurfmesser in die Mitte der Nebelschwaden. Doch natürlich flog das Messer direkt durch die Schwaden hindurch und landete mit einem leisen, metallischen Geräusch irgendwo auf dem Boden. „So ein Mist!“, fluchte die Schaustellerin, während sie zurückwich, als ein weiterer Arm aus dem Nichts erschien, um nach ihr zu schlagen. Bolgan schlug auf einen anderen Arm ein, doch obwohl seine Fäuste den verdichteten Nebel eindeutig trafen, schien es dem Nebelmonster nichts weiter auszumachen. Probeweise schlug nun auch Riou nach dem Monster, doch auch seine Tonfa glitten durch den Körper, und Jowy ergriff ihn eilig an der Tunika, um ihn aus dem Weg zu ziehen, als erneut ein Arm nach ihnen schlug. „Unsere Waffen können nichts ausrichten!“, rief Eilie verzweifelt. Jowy knurrte und dann drang ein leises Murmeln an sein Ohr. Aus den Augenwinkeln sah er Rina, die ihre linke Hand mit der rechten umklammert hielt und diese im nächsten Augenblick hochriss. Aus ihrer Handfläche, die plötzlich von Feuer umgeben war, schossen Flammen auf das Monster zu. Es brüllte auf und Rina rief über den Lärm hinweg: „Versucht es mit Feuer!“ Jowy ließ sich das nicht zwei Mal sagen und griff trotz der Schmerzen nach einem der Holzscheite des Lagerfeuers. In dem Moment, als Bolgan es nicht ganz schaffte, einem der Arme auszuweichen und an der Schulter erwischt wurde, holte Jowy aus und warf den brennenden Stock auf das Nebelmonster. Dieses brüllte wieder voller Schmerz und plötzlich schienen die Schwaden zusammenzuschrumpeln. Im nächsten Moment schossen plötzlich noch mehr Klauen aus dem Nebel hervor und Eilie schrie: „Deckung!“ Sie riss Rina zur Seite, während Jowy Bolgan aus dem Weg zog und Riou mit seinen Tonfa nach allen Klauen schlug, die in seine Nähe kamen. Schließlich schickte Rina einen weiteren Schwall Flammen auf das sterbende Monster und mit einem letzten Schrei, der durch das gesamte Gebirge zu hallen schien, sank es in sich zusammen und löste sich buchstäblich in Luft auf. Der Nebel verschwand genauso plötzlich wie er gekommen war und ließ ein durcheinandergebrachtes Lager zurück. Jetzt, da die Anspannung des Kampfes von ihm wich, spürte Jowy, wie weh seine Seite eigentlich tat, und er sank mit einem leisen Stöhnen zu Boden. Sein Stab fiel ihm aus der Hand und rollte zur Seite, dann stürzte auch schon Riou an seine Seite. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er besorgt und der junge Aristokrat ächzte bestätigend: „Sicher…“ Er berührte mit den Fingerspitzen die Wunde und schrie unterdrückt auf, als ein heißer Schmerz durch seine Seite schoss. Sofort nahm er die Hand weg und brauchte nur einen Blick, um festzustellen, dass seine Handfläche voller Blut war. „So ein Mist“, murmelte er, als Riou entsetzt nach Luft schnappte. „Lass mich das machen“, sagte Rina, die plötzlich neben ihnen erschienen war und sich jetzt hinkniete. „Sieht übel aus“, murmelte sie, „aber ist wahrscheinlich nicht mal halb so schlimm.“ „Wenn du das sagst“, erwiderte Jowy mit zusammengepressten Zähnen, als sie die Wunde inspizierte. „Ich habe gute Medizin“, erklärte sie ihm mit einem aufmunternden Lächeln, „Die hat sich bewiesen.“ „Wobei?“, fragte Riou verwirrt und Eilie hustete plötzlich sehr stark. Besorgt sah sich Riou nach ihr um, während Rina Jowy zuflüsterte: „In letzter Zeit war Eilie nicht wirklich gut im Messerwurf… gestern hat sie zum ersten Mal seit Wochen niemanden verletzt.“ Er schauderte und begnügte sich dann damit, sich an einen Felsen zu lehnen. Vielleicht war es besser gewesen, als er das noch nicht gewusst hatte. „Das war gruslig“, murmelte Eilie derweil, „Ich bin froh, dass wir nicht allein hier hoch gekommen sind.“ „Ich auch“, nickte Jowy und versuchte, nicht an die Schmerzen und seinen knallroten Kopf zu denken, als Rina ihm ohne viel Federlesen das Oberteil über den Kopf zog und begann, das Blut von der Wunde zu tupfen, „Riou und ich hätten es allein wohl auch nicht geschafft.“ „Ich hab Hunger“, stellte Bolgan in diesem Moment unzufrieden fest und Rina lachte. Dieses Abenteuer hatten sie überstanden. Als Jowy am nächsten Morgen leicht durchgefroren und mit Muskelkater erwachte, stellte er fest, dass Rina recht behalten hatte. Seine Verletzung tat nicht mehr weh – was auch dem Heiltrank zu verdanken war, den Eilie ihm noch gereicht hatte – und bis auf die Muskelschmerzen ging es ihm sogar ziemlich gut. „Wie geht’s dir?“, fragte die jüngere Schaustellerin besorgt, während sie ihm etwas später eine Schüssel Suppe gab, die sie über dem Feuer aufgewärmt hatten. Er zuckte die Achseln und erwiderte: „Es ging mir schon besser, aber es ist halb so wild.“ „Wir sollten bald aufbrechen“, meinte Rina über ihre Schüssel hinweg, „das Nebelmonster mag zwar weg sein, aber von diesen Bergen habe ich erst einmal die Nase voll.“ „Mhm“, brummte Riou nur und seufzte. Jowy warf ihm einen schnellen Blick zu und wusste sofort, dass der Unmut seines Freundes nicht nur auf den gestrigen Kampf bezogen war. Seine Gedanken kehrten zu der Nacht vor ein paar Tagen zurück und er konnte nicht glauben, dass es erst ein paar Tage her war. Schreie. Blut. Feuer. Und über all dem dieses laute, irre Lachen…! „Jowy!“ Er zuckte zusammen und sah Rina erschrocken an. „Entschuldige, was…?“ „Ich hab dich gefragt, wie weit es noch ist“, wiederholte sie geduldig und mit einem Lächeln. Er runzelte die Stirn und blickte nach Norden, doch von ihrem Lagerplatz aus sah man lediglich das Tal unter ihnen. „Ein wenig weiter nach Norden und wir sollten die Stadt Kyaro sehen können“, sagte er schließlich und musste etwas lächeln. Sein Zuhause war ganz in der Nähe. Bald war der Schrecken vorbei. „Dort scheiden sich dann also unsere Wege…“, murmelte Eilie nachdenklich und blickte irgendwie unglücklich in ihre Suppenschüssel, nachdem sie Riou einen schnellen Blick zugeworfen hatte, den dieser gar nicht mitbekam. Stirnrunzelnd betrachtete Jowy die beiden und ahnte plötzlich, warum Eilie den ganzen Morgen schon so still war. Irgendwie tat sie ihm leid. „Wir sind endlich zurück, Riou“, flüsterte Jowy erleichtert, als die Stadtmauer von Kyaro endlich vor ihnen auftauchte, „Wir sind zu Hause…“ „Ja“, nickte Riou mit einem befreiten Seufzen und lächelte. Jowys Blick glitt über die vertrauten Hausdächer und das Stadttor, das wie einladend offen stand. Er war zu Hause. „Das ist also eure Stadt“, stellte Eilie beeindruckt fest, „Sieht wirklich hübsch aus.“ „Ist sie auch“, versicherte Riou ihr und sie schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. Oje. Hatte er denn wirklich noch nichts verstanden…? Das hätte Jowy nicht gewundert. „Hier sagen wir dann also Lebwohl“, seufzte Rina, nachdem sie das Stadttor erreicht hatten, „Es hat wirklich Spaß gemacht, mit euch zu reisen.“ Sie lächelte freundlich und Jowy grinste zurück. „Danke für deine Medizin“, sagte er, „Sie hat mir wirklich geholfen.“ „Nicht der Rede wert“, erwiderte sie kopfschüttelnd, „immerhin habt ihr uns gegen dieses Nebelmonster geholfen.“ „Hm, ja“, murmelte er etwas verlegen und grinste wieder. „Und wo wohnt ihr?“, fragte Eilie interessiert, „Vielleicht besuchen wir euch ja, solange wir in der Stadt sind.“ Sie warf Riou wieder ein hoffnungsvolles Lächeln zu und Jowy erbarmte sich: „Mein Haus ist ganz im Norden, dort, wo die Straße endet. Auf dem Hügel da hinten, seht ihr?“, er deutete auf das Dach eines großen Anwesens, das man von ihrem Standpunkt aus sehen konnte, „und Riou wohnt im Westen der Stadt, nehmt einfach die Abzweigung dort vorne nach links.“ „Genau“, nickte Riou und zeigte auf die besagte Abzweigung, die, im Gegensatz zu den anderen Straßen der Stadt, nicht gepflastert war, ehe er Eilie freundlich anlächelte. „Okay, danke“, entgegnete sie und errötete leicht. „Vielleicht sehen wir uns ja noch“, sagte Rina in diesem Moment laut, „Wiedersehen, ihr beiden.“ „Passt gut auf euch auf“, fügte Bolgan hinzu. Sie reichten einander zum Abschied die Hände, dann winkten die Schausteller und zogen in Richtung Stadtmitte. „Sie sind echt nett“, stellte Riou fest und sah ihnen hinterher. „Das sind sie“, nickte Jowy, dann sah er zurück zu den Bergen, die sie erst vor wenigen Stunden verlassen hatten, „Riou… dieser Anführer der Söldner macht mir wirklich Angst. Ich gehe direkt nach Hause. Und du solltest Nanami nicht länger warten lassen.“ „Du hast Recht“, nickte Riou und folgte seinem Blick zurück zum Gebirge, „Wir sehen uns dann… heute Abend.“ „Okay“, nickte Jowy, „pass auf dich auf, ja? Bis nachher.“ „Du auch“, erwiderte Riou. Er winkte Riou noch kurz zu, dann wandte er sich um und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg nach Hause. Er hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, dass Viktor ihm Angst machte – in der Tat befürchtete er, dass die Söldner bemerkt hatten, dass ihre Gefangenen sich aus dem Staub gemacht hatten und schon auf dem Weg nach Kyaro waren. Er knirschte leise mit den Zähnen, als er daran dachte, wie dumm er doch gewesen war, Viktor nicht anzulügen. Jeden Moment rechtete er damit, hinter sich die tiefe Stimme des Söldners zu hören und sein Schwert im Nacken zu spüren. Jowy erschauerte kurz und beschleunigte dann seine Schritte. Er wollte nur noch nach Hause, sich dort ausruhen und die Schrecken der letzten Woche vergessen. Erleichterung durchflutete ihn, als das Herrenhaus der Atreides-Familie in Sicht kam. Er war zu Hause. „Mutter? Vater? Marco!“ Er öffnete die Haustür und trat vorsichtig ein. Es war still im Haus, wie immer eigentlich. Marcel Atreides hasste Lärm und das hatte Jowy schon früh lernen müssen… Kein Wunder, dass er den größten Teil seines Lebens in Genkakus Dojo bei Riou und Nanami verbracht hatte! „Jowy, bist du das?“ Marcel trat aus seinem Arbeitszimmer zu Jowys Rechten und hob überrascht die Brauen, als er seinen Stiefsohn erblickte. Jowy sah ihn etwas eingeschüchtert an, ehe er langsam sagte: „Vater, ich… ich bin zu Hause.“ „Das sehe ich“, nickte Marcel mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, „Gut, dich zu sehen. Wir haben dich schon früher erwartet. Wo warst du so lange?“ Die Reserviertheit seines Vaters war nicht unüblich; er hatte sich nie allzu viele Sorgen um Jowy gemacht, es sei denn, es ging um den Ruf der Familie. „Ich…“ Er verstummte, als die Erinnerungen wieder auf ihn einprasselten. Dann holte er tief Luft und erzählte mit bebender Stimme von den Ereignissen der letzten Woche. Das Massaker an der Einhorn-Brigade, der Sprung in den Fluss, die Flucht aus dem Söldnerfort… Das alles schien jetzt, wo er es jemandem erzählte, noch schlimmer zu sein. Wie hatte er all das nur überlebt…? „Ich verstehe“, sagte Marcel stirnrunzelnd, nachdem Jowy geendet hatte, „Dann ist es ja kein Wunder, dass du… nicht früher heimgekommen bist.“ Jowy warf einen Blick auf sein spärliches Gepäck, das er mitgebracht hatte. Von dem Proviant war seit heute Morgen nichts mehr übrig gewesen und er brauchte dringend etwas Schlaf… „Geh dich in deinem Zimmer ausruhen“, schlug Marcel plötzlich vor, „Ich lasse dich dann rufen, wenn das Essen fertig ist. Oh, und ruf mir bitte deinen Bruder her.“ „Okay“, meinte Jowy etwas verwirrt. Nun fand er es doch ein wenig ungewöhnlich, dass sein Vater keinerlei Gefühlsregung zeigte. Bevor er jedoch fragen konnte, war Marcel schon wieder ohne ein weiteres Wort in seinem Arbeitszimmer verschwunden und hatte die Tür ins Schloss fallen lassen. Und Jowy stand allein in der Eingangshalle und war mehr als durcheinander. Dann aber entschied er sich, sich erst einmal wirklich ein wenig hinzulegen und seinen Vater beim Essen dann auf sein Verhalten anzusprechen. Er nahm seinen Reisesack und seinen Stab, dann schlich er die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo neben seinem Zimmer und dem seines Stiefbruders Marco auch das Zimmer seiner Mutter Rosa lag. Er klopfte an, doch niemand öffnete. „Wahrscheinlich schläft sie“, murmelte er, dann ging er weiter, um an Marcos Zimmertür zu klopfen. Diese öffnete sich kurze Zeit später und er erblickte seinen jüngeren Stiefbruder. „Jowy“, stellte dieser verblüfft fest, „Du bist zu Hause?“ „Ja“, nickte der Blonde mit einem Lächeln, „Hallo.“ „… Willkommen zurück“, erwiderte Marco nach einem Moment Schweigen. Dann lächelte er ebenfalls. „Vater möchte dich sehen“, sagte Jowy und deutete dann zur Zimmertür seiner Mutter, „Was ist mit Mutter?“ „Sie fühlte sich heute nicht sonderlich gut und hat sich hingelegt“, erklärte Marco achselzuckend, „Aber zum Essen ist sie bestimmt da.“ „Gut, dann…“ Jowy sah zu seiner geschlossenen Zimmertür und meinte dann: „Dann lege ich mich auch mal ein wenig hin. Meine Füße bringen mich um!“ Er lachte etwas und ließ Marco dann stehen. Bevor er in seinem eigenen Zimmer verschwand, sah er noch, wie sein Stiefbruder ihm einen langen, seltsamen Blick zuwarf. Seufzend stellte er seinen Reisesack in die Ecke und lehnte seinen Stab daneben, dann ließ er sich aufs Bett sinken. Er war zu Hause. Und es hatte sich eigentlich nichts geändert. „Jowy? Komm runter!“, hallte Marcos Stimme etwas später durchs Haus. Er erhob sich, voller Vorfreude auf ein vernünftiges Mittagessen und darauf, seine Mutter wiederzusehen. Er war immerhin mehrere Monate weg gewesen und hatte sich im Winter auf dem Tenzaan-Pass fast den Hintern abgefroren… Wenigstens war Riou bei ihm gewesen. Aus reiner Gewohnheit griff er nach seinem Stab, ließ ihn dann aber stehen. Er war zu Hause, hier würde ihn ja wohl keiner angreifen! Als er die Treppe runterkam, erstarrte er. In der Eingangshalle standen Marco und Marcel, flankiert von ein paar Soldaten. „Vater…?“, fragte Jowy irritiert und begegnete dem kalten Blick aus Marcels grauen Augen. Im selben Moment eilten zwei der bewaffneten Männer die Treppe hinauf, ergriffen den Blonden an den Armen und zerrten ihn mit sich hinunter. „Was ist hier los?!“, verlangte Jowy zu wissen. Er war fassungslos. Was hatten die Soldaten hier zu suchen? „Du bist angeklagt, für die Allianz der Stadt-Staaten von Jowston spioniert zu haben! Damit bist du verantwortlich für das Massaker an der Einhorn-Brigade!“, raunzte der Kommandant der Soldaten. Jowy, dem ein kalter Schauer über den Rücken lief, hob langsam den Blick zu Marcel und sagte langsam: „Dann… dann nehme ich an, dass du mir nicht glaubst…“ Marcel machte ein abfälliges Geräusch. „Ganz genau“, sagte er mit kalter, schneidender Stimme, „Du warst einmal mein unwürdiger Sohn, aber nun nicht mehr. Ab heute bist du kein Atreides mehr!“ Jowy spürte, wie Verzweiflung und Angst in ihm aufwallten. „Warum… Warum glaubst du mir nicht?“, fragte er leise, weil seine Stimme nicht den Anschein machte, als würde sie lange ohne ein Zittern durchhalten, „Ich – Ich bin doch dein Sohn nicht wahr? Oder ist das Blut in meinen Adern…“ Er schüttelte den Kopf und verstummte. Das konnte nicht wahr sein. Sein eigener Vater hatte ihn verraten? Er wollte es nicht glauben. Er konnte es nicht glauben! „Es tut mir weh, dich ansehen zu müssen, Jowy“, erwiderte Marcel, ihn schon fast unterbrechend, „Ich kann niemanden anerkennen, der als Mitglied der Atreides-Familie Landesverrat begangen hat.“ Diese Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Er spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben, doch die zwei Männer, die ihn noch immer an den Armen ergriffen hielten, zogen ihn gewaltsam wieder hoch. „Komm mit“, befahl der Kommandant und gab seinen Leuten ein Zeichen. Diese zogen ihn nun rückwärts durch die Tür. Marcel und Marco folgten ihnen nach draußen und sahen dabei zu, wie die Soldaten den ehemaligen Atreides mit sich schleppten. „Lebwohl, großer Bruder“, rief Marco verächtlich, „Du bist jetzt nicht mehr mein Bruder. Lebe wohl, Jowy!“ Er wandte sich ab und verschwand wieder im Haus. „Bitte!!“, rief Jowy nun, dem vor Verzweiflung und Wut nun Tränen in die Augen stiegen, „Mutter… Lass mich sie sehen! Lass mich mit ihr reden!!“ Marcel begegnete seinem Blick kalt und voller Verachtung. „Rosa sagte, dass sie dich nicht sehen will“, sagte er schneidend. Jowy schüttelte den Kopf. „Du lügst… Du lügst!!“, schrie er, während die Tränen ihm nun über die Wangen rannen. Er stemmte sich gegen den Griff der Soldaten und wollte sich losmachen, doch sie hielten ihn eisern fest und zogen ihn weiter mit sich. „Halt!“, verlangte er wütend, „Lasst mich gehen! Lasst mich los! Ich will meine Mutter sehen…!!“ Wieder versuchte er, sich zu befreien, doch er hatte keine Chance. In seiner Verzweiflung schrie er auf, aber keiner beachtete ihn. Zufällig glitt sein Blick über eines der Fenster im ersten Stock und er erstarrte. Das Gesicht seiner Mutter, bleich und traurig, war dahinter zu sehen. Ihre Augen trafen sich einen winzigen Moment lang, dann sah er Rosa Atreides ungläubig den Kopf schütteln und sich abwenden. „Mutter…!“, flehte er ein letztes Mal, dann brach sein Widerstand in sich zusammen und er ließ sich schweigend mitziehen… Sie schleppten ihn in die Militärkaserne und in den Kerker darunter. Der Kommandant persönlich öffnete eine der Türen, dann wurde er auch schon in die Zelle hineingestoßen – und aufgefangen, bevor er fallen konnte. Mit leerem Blick und den heißen Spuren getrockneter Tränen auf seinen Wangen blickte Jowy auf und erkannte Riou und Nanami, die ihm fürsorglich auf die Beine halfen. Als er in ihre warmen, besorgten Augen blickte, wurde ihm bewusst, dass sie nun seine Familie waren. Alles, was ihm geblieben war. Kapitel 5: Lügen und Illusionen ------------------------------- Jowy ließ zu, dass Riou und Nanami ihn auf die einzigen Pritsche der kleinen Gefängniszelle drückten und blickte dann zu ihnen auf. „Dann haben sie euch auch erwischt, hm?“, murmelte er. Was war denn nur mit seiner Stimme los? Wo war sie hin? Warum zitterte er so? Wer hatte ihm die Luft abgeschnürt? Was für ein Messer hatte man ihm in die Brust gerammt…? „Was ist denn nur passiert?“, fragte Riou leise und sah ihn besorgt an. Kraftlos schüttelte Jowy den Kopf und öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Er schloss ihn wieder, öffnete ihn noch einmal und antwortete dann: „Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung…“ Er sah, wie die Geschwister einen Blick wechselten, dann schlang Nanami wortlos die Arme um seinen Hals und umarmte ihn fest. „Es wird alles wieder gut, Jowy. Du wirst sehen“, flüsterte sie aufmunternd, „wir sind alle zusammen.“ „Hmm…“ Sie ließ ihn wieder los und strich sich eine Strähne des hellbraunen, kinnlangen Haars hinters Ohr, dann ließ sie sich mit einem Seufzen neben ihm nieder und blickte zu ihrem jüngeren Bruder hoch. Riou wirkte ernst, fiel Jowy auf. Er war sich sicher, seinen besten Freund niemals zuvor mit einem derart düsteren Gesichtsausdruck gesehen zu haben. Riou blickte ihn lange an, dann sagte er: „Man beschuldigt uns, für den Staat spioniert zu haben. Offiziell sind wir Landesverräter und verantwortlich für das Massaker an der Jugendbrigade.“ „Das ist eine Lüge“, erwiderte Jowy nachdrücklich und Riou nickte: „Ich weiß. Aber unser Wort gilt hier nicht mehr, wie es aussieht.“ Ja. Ja, davon konnte Jowy ein Lied singen. Sein eigener Vater hatte ihm nicht geglaubt, seine Mutter hatte ihn nicht sehen wollen… wie sollten sie jemals andere davon überzeugen, dass all das ein abgekartetes Spiel war? „Wir haben unser Bestes gegeben“, fügte Nanami traurig hinzu, „aber es waren zu viele. Sie haben uns einfach überwältigt.“ Jowy wollte ihnen von dem Verrat seiner Familie erzählen, wollte ihnen sagen, wie froh sie sein konnten, dass sie einander hatten, doch er konnte es nicht. Die Geschehnisse der letzten Stunde – war es erst eine Stunde her…? – waren für ihn selbst kaum zu begreifen. Ein Wachmann brachte ihnen Abendessen – es bestand aus hartem Brot und Wasser für jeden – und spuckte Riou, der das Tablett am Gitter in Empfang nahm, abfällig ins Gesicht. „Verdammter Verräter!“, spie der Soldat aus, ehe er sich umdrehte und schnurstracks aus ihrem Sichtfeld verschwand. Riou seufzte nur schwer, übergab Nanami das Tablett und wischte sich schließlich das Gesicht an seinem gelben Halstuch ab. In seinen brauen Augen stand eine Bitterkeit, von der Jowy gedacht hatte, dass sein Freund gar nicht in der Lage wäre, diese zu empfinden. „Gibt es denn keine Möglichkeit…“, murmelte Nanami gepresst und er blickte zu ihr, nur um zu sehen, wie sehr sie vor unterdrückter Wut zitterte. Natürlich, so war sie. Es war immer Nanami gewesen, die ihn und Riou beschützt hatte. In ihrer Kindheit war sie nicht nur für Riou eine große Schwester gewesen. Man hatte sie oft Wildfang genannt – aber Nanami war nun mal nicht die Art Mädchen, die gern mit Puppen spielte oder kochte. Sie war die Art Mädchen, das die anderen Kinder aus der Stadt verprügelt hatte, wenn diese auf ihm oder Riou rumgehackt hatten. Sie war keine passive Person und das wussten sie alle. Umso besser konnte Jowy verstehen, wie schwer es ihr fiel, nicht völlig auszurasten, vor allem nachdem der Soldat Riou angespuckt hatte. Früher wäre sie wahrscheinlich Zeter und Mordio schreiend ans Gitter geeilt, um dem Wachmann ganz genau mitzuteilen, was sie von ihm hielt. Dass das womöglich ihr selbst schaden könnte, hätte dabei gar keine Rolle gespielt… „Lass gut sein, Nanami“, erwiderte Riou müde und legte ihr eine Hand auf die Schulter, „Wir können hier nichts tun.“ „Ich weiß“, knurrte Nanami, „und ich hasse es!“ Mit einem Schnauben stellte sie das Tablett neben Jowy auf der Pritsche ab. Sie aßen schweigend, jeder vertieft in seine eigenen Gedanken. Während er auf dem harten Brot herumkaute und versuchte, nicht daran zu denken, was in der Atreides-Villa geschehen war, schweiften seine Gedanken stattdessen zu der Nacht des Massakers ab und er schauderte. All das war schlimmer als jeder Albtraum, den er je gehabt hatte. Doch anders als bei den Nachtmahren, die ihn sonst quälten, gab es keine Möglichkeit, aus diesem zu erwachen. Er wusste später nicht, wie viel Zeit sie in der Zelle verbracht hatten. Das kleine Verlies hatte keine Fenster und es konnten genauso gut Tage wie Stunden sein, die sie hier unten verbracht hatten. Viel gesprochen hatten sie nicht. Jowy hatte sich nur dazu durchringen können, den Geschwistern vom Verrat seines Stiefvaters zu erzählen, und ihr stummes Mitleid war tröstender als alles, was sie hätten sagen können. Es zeigte ihm, dass auch sie keine Worte für das fanden, was passiert war, und er fühlte sich gleich viel weniger allein. „Eins verstehe ich nicht“, sagte Nanami irgendwann leise, „Warum denken sie, ihr wärt Spione?“ Das hätte Jowy selbst gern gewusst. Doch bevor er die Vermutung äußerte, dass sie höchstwahrscheinlich als Sündenböcke missbraucht wurden, ertönte eine wohlbekannte Stimme: „Das kann ich dir sagen.“ Jowy hob beim Klang dieser Stimme erschrocken den Kopf und sah Captain Rowd höchstpersönlich vor ihrer Zellentür stehen. Er wirkte triumphierend, fast schon glücklich darüber, seine ehemaligen Schützlinge in dem Verlies anzutreffen. „Captain…“ Jowys Stimme klang unangenehm heiser und wieder fragte sich, was im Namen aller Runen eigentlich mit ihm los war. Ihn brachte doch sonst nichts so einfach aus dem Konzept. „Beeindruckend“, sagte Rowd ungerührt und kratzte sich am Kinn, das von einem leichten Dreitagebart bedeckt war, „dass ihr diesen Sprung in den Fluss überlebt habt.“ „Warum habt Ihr…?“, begann Riou, schüttelte dann den Kopf und brach ab. Er schien es nicht über sich bringen zu können, auszusprechen, was er dachte. „Was soll dieser Überraschungsangriff gewesen sein?“, fragte Jowy und erhob sich langsam vom kalten Steinboden, während er spürte, wie plötzlich Wut in ihm hoch wallte, „Wer war der Mann?!“ Sie wussten alle, wen er meinte, und glücklicherweise mimte Rowd nicht den Dummen. „Tut mir leid, ihr beiden“, erwiderte der Captain achselzuckend, „aber dieser Mann, Prinz Luca Blight von Highland, hat große Ziele. Und die habe ich auch.“ „Prinz?“, wiederholte Nanami verblüfft, „Dann ist es wirklich der Kronprinz, der…?“ „Aber warum würde einer aus dem Königshaus…?“, flüsterte Jowy ungläubig. Natürlich, er hatte gewusst, dass es sich um Luca Blight gehandelt hatte. Aber tief in seinem Inneren hatte ein Teil von ihm gehofft, dass er sich geirrt hatte, dass es nicht wahr war, dass es nicht der Kronprinz gewesen war, der seine eigenen Landsleute hatte abschlachten lassen wie Tiere, dass Highland sie nicht verraten hatte. Diese Hoffnung zersprang gerade in Millionen kleinster Scherben, von denen jede einzelne rasiermesserscharf zu sein schien. „Luca Blight brauchte ein Opfer, um seine Ziele zu erreichen“, erklärte Rowd, doch er wirkte lange nicht so kaltblütig wie er sie glauben machen wollte, „Die Königliche Jugendbrigade von Highland wurde vom Staat abgeschlachtet. Das wird genug sein, um die Menschen von Highland nach Rache aufschreien zu lassen.“ Er schnaubte leise – aber vielleicht bildete sich Jowy das auch nur ein – und blickte dann zu Nanami, deren Hände zu Fäusten geballt waren. „Was denkst du, Mädchen?“, fragte Rowd sie laut, „Was hättest du getan, wenn deine beiden kleinen Freunde hier nicht zurückgekommen wären wie die anderen?“ Vielleicht hätte es weniger grausam gewirkt, wenn er gespottet hätte. Doch es war der kalte Ernst in der Stimme seines alten Captains, der Jowy einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. „W-Wenn ich…“, begann Nanami langsam und ihre Stimme zitterte nun genau so sehr wie sie selbst, „Wenn ich gedacht hätte, dass Riou und Jowy… vom Staat getötet worden wären, dann…! Dann hätte ich es niemals verzeihen können, aber… aber ich wusste nicht, dass…!“ Sie schüttelte den Kopf und brach ab. „Genau“, nickte Rowd, „und wenn niemand weiß, wie es wirklich war, wird eine Lüge zur Wahrheit.“ Jowy konnte nicht glauben, was er da hörte. Also hatte er tatsächlich Recht gehabt. Der Angriff auf die Jugendbrigade war von Highland ausgegangen. Die Leben all der jungen Männer, die in dieser Nacht gestorben waren, waren nichts als ein Opfer gewesen, um den Krieg erneut anzufachen. Ein Mittel zum Zweck. Wertlos. „Prinz Luca musste die Menschen aufrütteln, um ihren Willen zum Kämpfen erstarken zu lassen“, fuhr Rowd fort, während er sich an die Wand hinter ihm lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte, „und das hat er geschafft. Seine Pläne gehen voll auf… und meine auch. Ich will nicht länger Captain von ein paar Kindern sein. Ich will einen richtigen Job, wo ich richtiges Geld verdienen kann.“ Nun schnaubte er wirklich und warf den drei Jugendlichen einen langen, seltsamen Blick zu. Dann sagte er: „Und dazu müsst ihr beiden als verräterische Spione sterben… und die Wahrheit über das, was wirklich geschehen ist, wird mit euch sterben.“ „Das…“, knurrte Nanami, „das…!“ Sie stampfte ohnmächtig vor Wut mit dem Fuß auf den Boden auf und schrie: „Das kannst du doch nicht einfach machen!!“ Rowd sagte nichts, sondern zuckte nur die Achseln. „Dafür“, hörte Jowy sich selbst sagen, „dafür hast du all diese Kinder getötet… hast ihnen ihre Leben geraubt…!“ „Vergib mir“, entgegnete Rowd, „Das ist alles, was ich sagen kann.“ „Niemals!“, schrie Jowy zurück und starrte seinen alten Captain hasserfüllt an. Wenn er nur seine Waffe gehabt hätte…! Ja, was dann? Er saß noch immer hier fest. „Captain Rowd, die Vorbereitungen sind abgeschlossen“, ertönte plötzlich die Stimme des Wachmanns, der sie bisher bewacht hatte. Er klang erleichtert… also hatte er nicht gehört, was Rowd ihnen hier erzählt hatte. „Wurde auch Zeit“, brummte Rowd leise, dann nickte er und sagte laut: „Nun, ihr zwei… Es wird ein schmerzhafter Tod werden, auch für die kleine Dame.“ „Warum sie?“, fragte Riou nur leise und sah den Mann wütend an, „Nanami hat nichts damit zu tun!“ „Sie kennt jetzt auch die Wahrheit“, erwiderte Rowd achselzuckend, „aber wenn es dich tröstet… ihr werdet nicht mehr sehen, wie sie stirbt. Ihr werdet heute bei Sonnenuntergang für eure Verbrechen gehängt werden.“ Jowy ballte die Hände zu Fäusten und stieß einen leisen, verzweifelten Laut aus. Er hasste diese Hilflosigkeit. Er hasste sie abgrundtief. „Wenn ihr keine Probleme macht, wird es ganz schnell gehen“, versprach Rowd ihnen gerade. Aber was hätten sie auch tun sollen? „Ich werde doch nicht zulassen, dass…!“, rief Nanami wütend aus und war schon fast unterwegs zu Rowd, um – wie Jowy stark vermutete – ihm wenigstens irgendwie Schmerzen zuzufügen, doch Riou legte ihr eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf: „Lass gut sein, Nanami. Schon gut.“ „Aber…“ Sie begann zu schluchzen und er lächelte ihr leicht zu: „Keine Sorge. Wir haben doch Großvater gebeten, auf uns aufzupassen, weißt du noch?“ Sie biss sich auf die Lippe und nickte, angestrengt blinzelnd, um die Tränen zurückzuhalten. „Gutes Mädchen“, kommentierte Rowd und nickte er ein paar Männern zu, die an seine Seite getreten waren, und dann wurden Riou und Jowy auch schon aus der Zelle geholt. Man fesselte ihnen augenblicklich die Hände hinterm Rücken und das so fest, dass die Stricke ihm schmerzhaft in die Haut schnitten, doch er beschwerte sich nicht. Ganz im Gegenteil; er spürte, dass etwas in seinem Inneren, das bis dahin noch verzweifelt versucht hatte, sich gegen sein Schicksal zu wehren, zerbrach, als man ihm auch noch einen Strick um den Hals legte. Das war es also. Sie würden sterben. „Verräter!“ „Verdammte Spione!“ „Mörder!“ „Ihr seid Schuld daran, dass mein Sohn tot ist!“ Jowy wusste nicht, was schlimmer war – die Hilflosigkeit, die er zuvor verspürt hatte, oder der Hass, den die Menge ihm entgegenbrachte. Er wollte schreien und um sich schlagen, doch er wusste, dass es nichts bringen würde. Das Wort eines Captains, der angeblich das Massaker an seiner Einheit überlebt hatte, stand gegen ihres, das zweier angeblicher Verräter. Ihm war klar, dass er hier erzählen konnte, was er wollte; ihm würde keiner glauben. Als die Soldaten, die sie durch Kyaro führten, plötzlich stehen blieben – und das mitten auf der Hauptstraße – hob Jowy verwirrt den Kopf. Sie waren neben einer reich verzierten Kutsche zum Stehen gekommen, aus deren Fenster sich ein junges Mädchen lehnte. Er schätzte sie etwa auf sein Alter, vielleicht etwas jünger. Lange, schwarze Haare fielen in einer eleganten Kaskade ihren Rücken hinab und ein dünner Reif aus Silber ruhte auf ihrem Haupt. Ihre dunklen Augen betrachteten die Prozession, dann fragte sie mit einer leisen, melodiösen Stimme: „Was ist denn das für ein Geschrei?“ „Mylady, wir haben einige Spione aus Jowston verhaftet“, antwortete einer der Männer vor Jowy und salutierte, „Wir bringen sie zum Schafott.“ „Ich verstehe“, nickte das Mädchen, dann glitt ihr Blick über die beiden Gefangenen und sie runzelte die Stirn. „Aber es sind doch nur Kinder“, murmelte sie, „Wie können sie Spione sein?“ Jowy spürte eine Welle von Ärger in sich hoch wallen. Er war kein Kind mehr. „Wir sind unschuldig“, teilte Riou ihr leise mit, doch bevor das Mädchen darauf reagieren konnte, stieß ihm einer der Männer mit der stumpfen Seite seines Speers in den Rücken und er ging mit einem leisen, schmerzerfüllten Ächzen in die Knie. „Wie kannst du es wagen?“, brüllte der Soldat, während der Junge brutal wieder auf die Füße gerissen wurde, „Wie viele Leben wurden wegen eurem Verrat ausgelöscht?!“ „Ruhe!“, rief das Mädchen laut dazwischen. „W-Wie Ihr befehlt, Prinzessin“, stammelte der überraschte Gardist und verneigte sich eilig. Jowy hob den Kopf. „Prinzessin?“, fragte er und das Mädchen nickte. Er wählte die Worte mit Bedacht, da er wusste, dass es womöglich seine letzten waren. Aber wenn dieses Mädchen die Prinzessin war – Jillia Blight – hatte sie wenigstens ein bisschen Macht. Wenn sie ihm glaubte… „Riou und ich haben dieses Land nicht verraten“, sagte er laut und gut hörbar, obwohl in seinem Inneren ein Sturm aus Gefühlen tobte, „Dieses Land hat uns verraten.“ „Was hast du gesagt?“, blaffte der Kutscher und ein schmerzhafter Stoß von hinten ließ den jungen Aristokraten taumeln, „Was glaubst du, mit wem du sprichst, du Hund?!“ „Schon gut“, erwiderte die Prinzessin ruhig, „Lasst ihn reden. Immerhin hat er nicht mehr lange zu leben.“ Sie blickte Jowy aufmerksam an, offensichtlich erstaunt darüber, dass er nicht einmal im Traum daran dachte, die Augen abzuwenden oder sich zu verbeugen. „Ich werde das niemals vergeben“, sagte er leise und schüttelte den Kopf. Die Gesichtszüge der Prinzessin von Highland zeigten keine Regung. Einen Moment blickte sie ihn noch an, dann nickte sie kaum merklich und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. „Fahren wir“, rief sie. Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung und Jowy und Riou wurden weitergetrieben, die Menge begann wieder zu schreien und sie zu beschimpfen, doch nun fühlte er sich plötzlich völlig ruhig. Vielleicht waren es die Augen der Prinzessin gewesen, in denen bei seinen letzten Worten Mitleid aufgeflackert war, als wenn sie die Wahrheit kennen würde, als wenn sie wüsste, dass er sie nicht belog, aber plötzlich wusste Jowy, dass diese junge Frau auf seiner Seite stand. Und dieses Wissen gab ihm nun wenigstens ein bisschen Kraft. Der Rohrstock sauste durch die Luft und gab ein pfeifendes Geräusch von sich, ehe er zum wiederholten Male auf seinen Rücken traf. Schmerz schoss durch seinen Körper, doch er weigerte sich, aufzuschreien. Diese Genugtuung würde er Rowd nicht verschaffen. Eben dieser stand nämlich vor dem Schafott und schaute zu, wie man die vermeintlichen Verräter auspeitschte. Wenn es ihm leid tat, so zeigte er es nicht. Sein Gesicht war blank. Der Hinrichtungsplatz war leer; außer der Gruppe Gardisten, die sie hergeführt hatte, hatte niemand Zutritt erhalten und er war fast froh, dass die Menge abgezogen war. Er wollte nicht, dass das letzte, was er auf dieser Welt sah, womöglich die kalten Augen von Marcel Atreides waren. Wieder peitschte der Stock Jowys Rücken und er ächzte leise. Er wusste, dass seine Haut an einigen Stellen aufgeplatzt war und wo er nicht blutete, dort würden sich mit Sicherheit blaue Flecke bilden – jedenfalls, wenn er überhaupt so lange lebte, was im Moment nicht so aussah. „Dies ist die Strafe für eure Verbrechen an eurem Vaterland, Highland. Habt ihr letzte Worte?“ Es war Tradition, dass man Verurteilten erlaubte, vor ihrem Tod noch etwas zu sagen, doch in dieser Situation empfand Jowy es zum ersten Mal als Hohn. Egal, was er oder Riou sagen würden, es würde ihnen ohnehin niemand glauben… „Nein“, antwortete Riou, bevor der Stock erneut auf seinen Rücken niederfuhr und er einen unterdrückten Schrei von sich gab. Jowy schwieg. Alles, was er hatte sagen wollen, hatte er der Prinzessin gesagt. „Gut“, nickte Rowd, „ihr ergebt euch also dem Tod.“ Er erwartete, dass der Rohrstock noch einmal durch die Luft flog, doch der Schmerz blieb aus. Der Strick um seinen Hals, der nun am Schafott befestigt war, hinderte ihn in seiner Bewegungsfreiheit, doch er sah aus den Augenwinkeln, dass die beiden Soldaten hinter ihnen nun stillstanden. „Seht euch diesen Sonnenuntergang an!“, rief Rowd und Jowy folgte seinem Blick über die Baumwipfel hinweg, die den Hinrichtungsplatz umgaben. Es war wirklich ein schöner Anblick und als wenn Rowd seine Gedanken gelesen hatte, fuhr er fort: „Es ist der letzte, den ihr sehen werdet. Aber für mich ist es nur ein weiterer Sonnenuntergang, einer von vielen.“ Er verstummte kurz und sagte dann: „Natürlich wird sich mein Leben nach diesem Sonnenuntergang auch verändern. Bis jetzt war ich dazu gezwungen, mich um eine Horde Kinder zu kümmern… aber meine Pechsträhne hat jetzt ein Ende.“ Er lachte leise und Jowy wandte den Blick von der untergehenden Sonne ab. Er wollte das nicht mehr hören. Plötzlich bemerkte er in den immer länger werdenden Schatten eine Bewegung und seine Augen wurden groß, als er eine Person sah, die sich von hinten einem der Soldaten näherte und ihm in einer fließenden Bewegung die Kehle durchschnitt, sodass er kraftlos in sich zusammen fiel. Der Mörder fing sein Opfer auf und hob den Blick zum Schafott – in diesem Moment sog Jowy vor Überraschung scharf die Luft ein; der Mann, der überraschend leise auf den nächsten Gardisten zueilte, um ihn auszuschalten, war Viktor. „Ich habe die Spione gefangen, die die Jugendbrigade auf dem Gewissen haben!“, fuhr Rowd triumphierend fort, „Damit ist meine berufliche Zukunft gesichert. Bald werde ich eine richtige Kompanie anführen…“ Er verstummte und drehte sich wieder zum Schafott um, doch seine Gesichtszüge entgleisten fast sofort. „Was ist hier los?!“, brüllte er. In diesem Moment spürte Jowy, wie der Strick um seinen Hals plötzlich durchtrennt wurde und er fiel auf die Knie, da ihn nichts mehr auf den Beinen hielt. Und dann hörte er hinter sich Fliks spöttische Stimme: „Wirklich schade, aber ich glaube, dass dein Weg zum Erfolg gerade in eine Umleitung gemündet hat!“ Kapitel 6: Unerwartete Hilfe ---------------------------- Kapitel 6: Unerwartete Hilfe Staunend beobachtete der junge Aristokrat, wie aus den Schatten der Bäume weitere Söldner traten, während Viktor – den fassungslosen und vor Wut fast spuckenden Rowd gänzlich ignorierend – auf das Schafott zuschritt und sagte: „Ha, endlich haben wir euch eingeholt. Ich hoffe doch, dass wir nichts allzu Wichtiges unterbrochen haben?“ Er grinste und Jowy spürte unendliche Erleichterung sein Herz fluten. Die Stricke, die tief in seine Handgelenke geschnitten hatten, wurden ebenfalls durchtrennt, dann wurde er von Flik hochgezogen, genau wie Riou. „Aber… aber was…?“, stammelte dieser verblüfft und sah von einem Söldner zum anderen. „Ihr hättet nicht einfach so davon laufen sollen“, fuhr Viktor noch immer grinsend fort, „Ich war ganz überrascht, weil ihr plötzlich weg wart.“ „Warum…?“, begann Jowy verwirrt, während sein Blick über die toten Highlander glitt und über Rowd, der von Söldnern eingekreist stand und die Zähne fletschte. Viktor runzelte die Stirn und rief dann: „Hast du es nicht verstanden? Ihr beiden wart meine Gefangenen! Ich kann euch doch nicht einfach so entkommen lassen.“ Das Grinsen des Söldneranführer schien von einem Ohr zum anderen zu reichen. „Viel eher bist du neugierig gewesen“, erwiderte Flik und führte die beiden Jungen vom Schafott. Jowy warf ihm einen kurzen dankbaren Blick zu, doch der blaugekleidete Söldner winkte ab. „Ja, das mag sein“, überlegte Viktor laut, „aber Pohl kam zu mir und bat mich, für euch die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Scheint, als hätte er gewusst, dass hier was faul sein würde. Also sind wir los.“ Jowy machte sich eine mentale Notiz, sich herzlich bei Pohl zu bedanken. Er konnte sein Glück kaum fassen. Ausgerechnet die Menschen, denen er nicht vertraut hatte, die sie gefangen gehalten hatten, die eigentlich ihre Feinde waren, hatten sie gerade vor dem sicheren Tod bewahrt. Doch bevor er auch nur ein Wort des Dankes aussprechen konnte, brach Rowd plötzlich mit einem Schrei durch die Reihen der Söldner, die ihn umstellt hatten, und rannte ins Dickicht der Bäume, wo er aus ihrer Sicht verschwand. „Hey!!“, bellte Viktor wütend, „Hier geblieben!!“ Er folgte Rowd in den Hain hinein, genau wie zwei andere Söldner, die beschlossen hatten, ihrem Anführer sicherheitshalber zu folgen. „Danke“, hauchte Jowy erleichtert und Flik nickte, dann wandte er sich an einen der verbliebenen Söldner: „Warren, geh zurück zu den anderen und sag ihnen Bescheid, dass sie das Camp abbauen sollen.“ Der Mann nickte, gab ein kurzes Handzeichen, das Flik erwiderte – offensichtlich einen Gruß innerhalb der Söldner – und lief in die Richtung zurück, aus der die Rettungsmannschaft erst vorhin gekommen war. Flik nickte zufrieden, dann schob er das Schwert, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, zurück in die Scheide und sagte zu einem der anderen Söldner: „Hey, Caden-“ „Verdammt, wie der laufen kann!“, unterbrach Viktors Bass seinen Kollegen, während der Zwei-Meter-Mann aus dem Unterholz gestapft kam, „Vor ein paar Jahren hätte ich ihn noch gekriegt.“ Die anderen Söldner folgten ihrem Anführer und wirkten ziemlich geknickt. „Ist irgendwo verschwunden“, knurrte Viktor weiter, „verdammter Mist, dass ich die Gegend nicht kenne.“ „Vielleicht wirst du auch einfach nur alt?“, schlug Flik mit einem Grinsen vor und Viktor schnaubte, dann rief er, die Bemerkung ausdrücklich ignorierend: „Los, Männer, lasst uns hier abhauen. Wenn der Depp seine Leute alarmiert, möchte ich nicht mehr hier sein.“ „Wartet!“, rief Jowy dazwischen und die Blicke aller wandten sich ihm zu. „Wir können hier nicht weg“, fuhr er fort und als Viktor den Mund öffnete, um ihm zu widersprechen, fügte er erklärend hinzu, „Wir müssen Nanami retten.“ „Wen?“, fragte Flik verblüfft. „Meine Schwester“, erklärte Riou, „sie ist noch in der Zelle. Ich kann sie nicht einfach zurücklassen!“ „Sie werden sie töten“, stimmte Jowy ihm zu, „oder als Druckmittel benutzen.“ „Ich verstehe“, nickte Viktor nachdenklich, dann breitete sich wieder ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, „Klingt nach Spaß. In letzter Zeit hab ich überhaupt keine Bewegung bekommen.“ „Und jetzt hast du wieder diese dämliche Angewohnheit, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen“, seufzte Flik, als wenn er daran schon gewöhnt wäre, „Was soll ich nur mit dir machen?“ „Boss, hältst du das wirklich für eine gute Idee?“, fragte der Mann namens Caden und Viktor nickte bestimmt: „Aber ja.“ Dann sah er zu Riou und sagte: „Zeig uns den Weg, Kleiner.“ Später konnte Jowy unmöglich sagen, wie sie es geschafft hatten, unbemerkt zurück nach Kyaro zu schleichen und ebenfalls ungesehen zu den Militärkasernen zu gelangen. Die Söldner schienen in der Lage zu sein, mit den Schatten zu verschmelzen, und selbst Viktor bewegte sich trotz seiner Größe und Masse überraschend leise fort. Bei den Kasernen angekommen, verbargen sie sich in den Büschen davor. Der Gebäudekomplex, in dem die Stadtwachen lebten und junge Rekruten trainiert wurden, lag etwas außerhalb der eigentlichen Siedlung, doch immer noch innerhalb der Stadtmauern und plötzlich war Jowy heilfroh, dass die Büsche und Bäume vor den Kasernen so viel Deckung boten und die Nacht, die inzwischen hereingebrochen war, ihnen zusätzlichen Schutz gab. „Zwei Wachen am Eingang“, flüsterte Viktor mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, der eher danach aussah, als hätte er gerade den Spaß seines Lebens, und nicht wirklich zu der Rettungsaktion passen wollte, die er gerade anführte. „Sie erwarten ja auch nicht, dass irgendjemand sie in ihrer eigenen Stadt bedroht“, erwiderte Flik augenverdrehend. Viktor ging gar nicht erst darauf ein – er schien Fliks sarkastische Kommentare grundsätzlich zu ignorieren – und wandte sich den Jungen zu: „Okay, Riou, Jowy. Rein da!“ Doch Flik ergriff ihn am Arm, bevor er sich aus seiner Deckung bewegen konnte. „Nicht immer mit dem Kopf durch die Wand!“, knurrte der blaugekleidete Söldner, als würde er mit einem unartigen Kind sprechen, „Wir müssen sie leise ausschalten, damit wir Zeit haben, abzuhauen!“ „Ach was“, winkte Viktor entschieden ab, „Angriff ist die beste Verteidigung. Los, Männer!“ Zwei der Söldner schlichen zur Mauer der Kaserne und drückten sich daran entlang, bis sie fast neben den zwei Highlandern standen. Einige schnelle Bewegungen folgten, woraufhin die beiden Gardisten entweder ohnmächtig oder tot zu Boden sanken – Jowy wollte es eigentlich nicht wissen. „Los!“, rief Flik, packte Jowy am Arm und zog ihn mit sich. Geduckt und schnell eilten sie in den Innenhof der Kasernen und Jowy wollte bereits in die Richtung abbiegen, in der die Gefängniszellen lagen, doch beim Klang einer nur allzu bekannten Stimme blieben er und Riou schlagartig stehen: „Ich warne euch! Geht mir aus dem Weg! Ich muss sie retten!!“ Die Söldner waren ebenfalls stehen geblieben und wechselten nun verwirrte Blicke, doch Jowy entdeckte auf der anderen Seite des Innenhofs im Lichte der Fackeln einige Personen, von denen eine Nanami war. Sie rannte gerade an einigen Soldaten vorbei und schaffte es noch in der Bewegung, jeden von ihnen zwischen den Beinen zu treten, sodass sie alle mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden sanken. „Wer ist das?“, fragte Flik entsetzt und beobachtete, wie das Mädchen wutschnaubend auf eine weitere Gruppe Soldaten zu rannte, die sich ihr in den Weg stellten. „Nanami“, antworteten Riou und Jowy wie aus einem Mund und Viktor fragte nur leise: „Seid ihr euch ganz sicher, dass wir sie retten müssen?“ Nanami war derweil vor den Highland-Soldaten stehen geblieben und blickte sie wütend an. „Jetzt bin ich wirklich sauer!“, verkündete sie und nahm eine der Grundstellungen ein, die Meister Genkaku sie vor so langer Zeit gelehrt hatte, „Im Namen von Großvater Genkaku, hier ist seine geheime Technik!!“ Sie brach plötzlich aus ihrer Position aus und schrie dabei: „Goldvogel-Heiligblumen-Drachenzahn-Ruhmes-Schlag!“ Ob diesem eindrucksvollen Kampfschrei noch eine Bewegung folgte, erfuhr Jowy nie, da allein er ausreichte, um die Soldaten in Panik zu versetzen. Erschrocken aufschreiend machten sie auf dem Absatz kehrt und liefen an den völlig perplexen Söldnern vorbei, Nanami auf ihren Fersen. „Okay! Haltet aus, Jungs, ich komme, um euch zu retten!!“, rief sie laut. Vor Wut offensichtlich sprühend rannte sie an ihren Rettern vorbei und Jowy drehte sich bereits verwirrt nach ihr um, um sie zurückzurufen, als sie schlitternd von selbst zum stehen kam und langsam zurück kam. Stirnrunzelnd und mehr als verwirrt bahnte sie sich einen Weg zwischen den Söldnern vorbei – die respektvoll zur Seite wichen – und blieb vor Riou und Jowy stehen. „Riou?“, fragte sie ungläubig, „Jowy? W-Was macht ihr denn hier? Sie wollten euch doch hinrichten!“ „Wir wollten dich retten“, erwiderte der Blonde peinlich berührt und sie lachte laut auf. „Ihr macht mir ja Spaß!“, rief sie aus, „Ich wollte euch auch retten!“ „Das ist ja alles schön und gut“, beschloss Flik, der sich als erstes wieder zusammenriss, „aber wenn wir noch länger hier bleiben, werden sie uns sofort einsperren. Erst recht, nachdem die junge Dame hier so einen Krawall gemacht hat. Lasst uns hier verschwinden.“ Riou packte Nanami resolut am Arm und zog sie mit sich, während die Gruppe kehrt machte und die Kasernen schnurstracks verließ. „Welche Richtung?“, fragte Viktor nur und Riou zeigte nach Westen: „Dort entlang.“ Durch Hinterhöfe und Seitengassen eilten sie im Dunkeln zurück zu den Stadttoren, während sich in der Stadt allmählich ein ziemlicher Tumult erhob. „Die Spione sind ausgebrochen!!“, schrie eine Frau irgendwo in ihrer Nähe und ihre Stimme hallte seltsam laut durch die Nacht. „Verriegelt eure Türen!“, brüllte jemand anders. „Durchsucht die Stadt!!“, bellte ein Dritter und Flik fluchte. „Schneller“, zischte er, die Gruppe der Flüchtigen antreibend. Jetzt, wo er rannte, wurde Jowy zum ersten Mal wirklich bewusst, wie sehr sein geschundener Rücken eigentlich schmerzte. Er war vor nicht allzu langer Zeit noch so schwer verletzt gewesen, dass er das Bett nicht verlassen konnte, und diese Wunden waren noch nicht ganz verheilt gewesen, als er Hals über Kopf aus dem Dorf Toto aufgebrochen war, um Riou zu retten. Nun hatte er neue, offene Wunden auf dem Rücken und er spürte, wie der Stoff seines bereits zerrissenen Oberteils unangenehm an der Haut klebte – er wollte gar nicht erst über die Schmerzen nachdenken, die er haben würde, wenn man seine Verletzungen verarzten würde. Sie hielten in einem stockfinsteren Hinterhof kurz an, um zu verschnaufen und Jowys Blick fiel auf Nanami, die schwer atmete. „Übrigens“, sprach er sie an, während er selbst nach Luft schnappte, „was war das gerade für eine Technik?“ „Mir hat Großvater sie auch nie gezeigt“, meinte Riou und beide Jungen blickten das Mädchen erwartungsvoll an und auch die Söldner schienen interessiert zuzuhören. „Ähm“, machte Nanami, während sie unglaublich rot wurde, was sogar im Dunkeln noch sehr gut zu erkennen war, „das… ja… das ist doch völlig egal. Lasst uns einfach hier verschwinden.“ „Richtig“, nickte Flik, der um eine Ecke spähte und dann die Flüchtlinge weiterwinkte. Als sie endlich die Stadttore hinter sich gelassen hatten, war Jowy völlig aus der Puste. Er war in den letzten anderthalb Wochen – zumindest schätze er, dass es anderthalb Wochen waren – mehr gerannt, gelaufen und geflohen als je zuvor in seinem Leben und irgendetwas sagte ihm, dass dies noch eine ganze Weile so weitergehen würde. Das Schicksal hatte seinen Lebensweg plötzlich eine derart scharfe Kurve nehmen lassen, dass er langsam befürchtete, nicht mehr hinterher zu kommen. Aus den Wäldern, welche die Stadt Kyaro umgaben, tauchten plötzlich die anderen Söldner hoch zu Ross und mit ein paar Fackeln in den Händen auf und Jowy atmete erleichtert auf, als er ein paar unbemannte Pferde entdeckte. „Wir haben schon befürchtet, sie hätten euch geschnappt“, sagte der Söldner, den Flik vorhin zu den anderen zurückgeschickt hatte, „Es wurde plötzlich so laut.“ „Sie sind uns jedenfalls auf den Fersen“, antwortete Flik kurz angebunden, während er sich auf ein Pferd schwang, „also lasst uns hier abhauen, bevor sie uns wirklich erwischen.“ In Windeseile saßen die Söldner auf und Jowy fand sich hinter Caden sitzend wieder, Riou und Nanami teilten sich eins der anderen Tiere. „Fackeln aus!“, befahl Viktor und die Männer folgten seinem Befehl. „Halt dich gut fest“, raunte der Caden Jowy zu, während er an den Zügeln zog, „es könnte holprig werden.“ Der Aristokrat ließ sich dies nicht zwei Mal sagen. Sie ritten so lange, bis sie den Fuß der Tenzaan-Berge erreichten und als sie die Pferde anhielten, wusste Jowy, dass er die nächsten Tage Schmerzen haben würde und das an Stellen, die ihm zuvor noch nie weh getan hatten. Einige Feldflaschen mit Wasser gingen um, während er zu Riou und Nanami trat, die zurück in die Richtung blickten, aus der sie gerade gekommen waren. „Meint ihr… Meint ihr, wir werden jemals zurückkommen…?“, fragte Nanami leise und strich sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Sie wirkte plötzlich sehr, sehr traurig und irgendwie verloren. Jowy folgte ihrem Blick, sagte jedoch nichts. Er wollte nicht zurückkehren. Hier gab es nichts mehr, was ihn hielt. Er hatte keine Familie mehr, die wenigen Freunde, die er unter den Städtern gehabt hatte, waren entweder tot oder glaubten, er wäre ein Verräter, und die zwei Menschen, die ihm noch wichtig waren, standen hier neben ihm. Ja, er war in Kyaro groß geworden und auch, wenn er an einem anderen Ort geboren war, so würde diese kleine Stadt wohl für immer seine Heimat bleiben. Doch mehr als Erinnerungen – schöne und schmerzhafte – blieben ihm hier nicht. „Eines Tages kommen wir bestimmt wieder zurück“, versicherte Riou ihr lächelnd und Jowy sah ihn einen Moment lang an. In den ruhigen, braunen Augen erkannte er dieselbe Ruhe, die immer in ihnen gestanden hatte. Doch dazu war noch etwas Anderes hinzugekommen, eine Art Entschlossenheit, für die er seinen besten Freund bewunderte. Denn Jowy selbst war alles andere als entschlossen. Kurz kehrten seine Gedanken zu den dunklen Augen der Prinzessin zurück, doch er verscheuchte das Bild wieder. Im Moment hatte er nun wirklich andere Sorgen. „Meinst du?“, fragte Nanami nach und riss Jowy damit aus seinen Gedanken, „… Ja. Ja, du hast Recht. Also ist es kein Lebwohl…“ „Geht und seht nicht zurück“, ertönte hinter ihnen überraschend Viktors tiefe Stimme, „schaut immer nach vorn. Dann werdet ihr auch nicht stolpern.“ Jowy wandte sich zu dem Söldner um, doch in der Dunkelheit war es unmöglich, dessen Gesichtsausdruck zu erkennen, da weder Mond noch Sterne zu sehen waren und der Himmel über ihnen stark bewölkt. „Ist bei euch dreien alles in Ordnung?“, fragte Flik, der ebenfalls dazu kam und Jowy zuckte die Achseln: „Wir leben.“ „Könnt ihr noch weiterreiten?“, erkundigte sich Viktor und als die drei Jugendlichen bejahten, fuhr er fort, „Wir werden es langsam angehen lassen, um die Pferde zu schonen, aber ehrlich gesagt will ich nicht mehr Zeit auf highlandischem Boden verbringen als unbedingt nötig.“ „Hm“, brummte Jowy vage und sah noch einmal zurück zur Stadt Kyaro, deren Lichter nur noch kleine Pünktchen in der Ferne waren, über die Ebene hinweg gut erkennbar. „Aufsitzen!“, rief Flik den Söldnern zu und kurze Zeit später saß Jowy wieder hinter Caden im Sattel. „Geht’s dir gut, Junge?“, fragte er Mann und der Blonde nickte nur, dann setze sich die Gruppe in Bewegung. Irgendwann waren er, Riou, Nanami, Flik und Viktor fast auf einer Höhe miteinander und der Söldneranführer fragte: „Also, wollt ihr uns jetzt vielleicht erzählen, wie ihr vor zwei Wochen im Fluss gelandet seid?“ Es war bereits ganze zwei Wochen her? Dann hatten sie mehr Zeit in der Zelle verbracht, als Jowy gedacht hatte. „Wir…“, begann er unschlüssig, verstummte jedoch wieder. Nicht, weil er den beiden nicht vertraute – nach der Rettungsaktion traute er ihnen mehr als seinem eigenen Stiefvater – sondern weil ihm klar wurde, dass er all das, was passiert war, selbst noch nicht ganz begriffen hatte. Vielleicht weigerte sich sein Kopf auch vehement dagegen… Doch Riou ergriff wie selbstverständlich das Wort und erzählte mit leiser, fester Stimme von dem Hinterhalt der Highland-Armee und auch das, was Rowd ihnen gegenüber erwähnt hatte. Als er geendet hatte, herrschte Schweigen. Die Söldner, die seiner Geschichte ebenfalls gelauscht hatten, blieben stumm und schienen ihren eigenen, düsteren Gedanken nachzuhängen. „Luca Blight“, hörte Jowy Viktor murmeln, „Ich habe von ihm gehört… aber dass er so grausam ist…“ „Woher wusstet ihr überhaupt, wo ihr uns suchen müsst?“, fragte Riou, „Wir haben euch nie erzählt, dass wir aus Kyaro kommen.“ „Das nicht“, antwortete Flik, „aber es war nicht gerade schwer, zwei flüchtigen Gefangenen zu folgen, die zu Fuß unterwegs waren und eindeutige Spuren hinterlassen haben. Die Leute in Ryube erinnern sich sehr gut an den Freiwilligen, der den reisenden Schaustellern geholfen hat.“ „Und in Kyaro selbst war es auch nicht schwer, euren Aufenthaltsort herauszubekommen“, pflichtete Viktor seinem Kollegen bei. Sie ritten noch eine Weile und nachdem Jowy sich ein paar Mal dabei erwischt hatte, wie ihm die Augen zugefallen waren, rief Viktor leise: „Lasst uns hier unser Nachtlager aufschlagen. Hier sieht man ja die Hand vor Augen nicht.“ Als sie am Lagerfeuer beieinander saßen, merkte Jowy erst, wie müde er wirklich war. Sein Rücken schien in Flammen zu stehen und jedes Mal, wenn er einen Arm oder den Kopf bewegte, schoss heißer Schmerz durch seinen wunden Körper. Zwei der Söldner hatten sich erbarmt, ihre Feldlazaretterfahrung anzuwenden, um die Wunden der Jungen zu versorgen, und nun hockte Jowy vor einem grimmig aussehenden Mann mit Vollbart, der erstaunlich vorsichtig die eingetrockneten Fetzen seines zerrissenen Oberteils von den Wundrändern löste. Als der Aristokrat zum wiederholten Male vor Schmerz zusammenzuckte, tätschelte der Söldner ihm die Schulter und sagte: „Halt durch, Junge. Das wird eine lange Nacht.“ Von dieser Aussicht eher mäßig begeistert verzog Jowy das Gesicht und ergab sich seinem Schicksal, als der Söldner, dessen Namen er immer noch nicht kannte, ihm resolut die traurigen Überreste des ehemaligen Kleidungsstücks über den Kopf zog. Trotzdem konnte er sich ein Zischen nicht verkneifen, als der Mann eine Salbe auf die Wunden auftrug, die sich anfühlte, als würde sie sich direkt in seine ohnehin wunde Haut fressen. „Die Salbe hilft, die Wunden zu schließen“, erklärte der Bärtige, während er einige Verbandsrollen hervorholte, „heb die Arme und lass sie erst runter, wenn ich es dir sage.“ Leise murrend – es tat weh, sich zu bewegen – tat Jowy wie ihm geheißen und entblößte dabei offenbar die halb verheilte Verletzung, die ihm das Nebelmonster zugefügt hatte. Sofort verlangte Nanami zu wissen, was passiert war, und Riou, der ebenfalls von einem Söldner verarztet wurde, berichtete ihr vom Kampf gegen das Nebelmonster weiter oben in den Bergen. „Dann gab es dieses Nebelmonster also wirklich?“, fragte Viktor verblüfft, „Und ich dachte, dass wären nur Gerüchte. Schade, dass ich nicht dabei war.“ Flik verdrehte die Augen und erwiderte: „So, wie ich dich kenne, wärst du kopfüber in den Kampf gestürzt und hättest als Erster am Boden gelegen.“ Jowy grinste bei der Vorstellung leicht. So langsam wurden seine Arme lahm und es wurde immer anstrengender, sie oben zu halten, während der Söldner hinter ihm seinen Rücken fast völlig verband. „Fertig“, schnaufte er jedoch irgendwann und der Blonde ließ erleichtert die Arme sinken. Ja, das würde eine lange Nacht werden. Er konnte doch nur auf dem Rücken einschlafen... Kapitel 7: Verschnaufpause -------------------------- Kapitel 7: Verschnaufpause Gegen Mittag am nächsten Tag erreichten sie die Grenze zum Staat und ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Reihen der Söldner. Auch, wenn sie aus aller Herren Länder zu stammen schienen – einige der Männer stammten aus den Namenlosen Ländern jenseits von Zexen und einer kam ursprünglich sogar aus dem fernen Königinnenreich Falena – waren alle nur zu deutlich heilfroh, wieder zurück nach Jowston zu kommen. Riou und Jowy hatten eine lange, schmerzhafte Nacht hinter sich, aber dafür hatte die Salbe beim erneuten Auftragen die Schmerzen so weit betäubt, dass sie Hemden anziehen konnten, die mehr zufällig ins hastig zusammengeworfene Gepäck der Söldner geraten zu sein schienen. Die Kleidung war den Jungen etwas zu groß, doch immerhin war es besser, als mit nacktem Oberkörper umher zu laufen. Schon aus einiger Entfernung hatte Jowy die beiden Soldaten erkannt, welche die Grenze bewachten und bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass es die gleichen Männer waren, welche ihn, Riou und die drei Schausteller vor nicht allzu langer Zeit durchgelassen hatten. „Gute Arbeit, Männer“, dröhnte Viktors Stimme durch die Landschaft und die beiden Soldaten fuhren erschrocken herum. „Viktor“, atmete der Ranghöhere erleichtert aus, als er den hochgewachsenen, muskulösen Söldner erkannte, „Im Namen von Chaos und Dharma! Erschreck mich nicht so!“ Viktor brach in lautes Gelächter aus, während der Soldat den Kopf schüttelte. „Tut mir leid“, grinste der Söldneranführer schließlich und sah kein bisschen danach aus. „Schon gut“, winkte der Mann ab, „Ich hoffe, ihr habt keinen Ärger gemacht?“ „Nicht mehr als sonst auch“, erwiderte Viktor locker und der Soldat runzelte misstrauisch die Stirn, zog es jedoch vor, nicht weiter nachzufragen und meinte stattdessen: „Solange alles in Ordnung ist, ist ja alles gut. Aber wir sollten das nicht unbedingt an die große Glocke hängen, wenn du weißt, was ich meine. Wenn in Muse bekannt werden würde, dass in Highland Soldaten ein und aus gehen, wären wir beide unseren Posten schneller los als uns lieb ist.“ „Bist du dir sicher, dass du dir nicht nur Sorgen um deinen eigenen Posten machst?“, fragte Flik mit einem süffisanten Lächeln, „Immerhin bist du derjenige, der Kinder nach Highland gelassen hat.“ Der Soldat lief knallrot an und sein Blick streifte Riou und Jowy, die die Gelegenheit genutzt hatten, um endlich aus dem unbequemen Sattel zu kommen, und nun neben den beiden Söldneranführern standen. „Ich…“, stammelte der Mann, „Also, weißt du, Flik, ich… hmm…“ „Schon gut“, winkte der blaugekleidete Söldner ab, „Wenn ihr darüber kein Wort verliert, halten auch wir den Mund.“ „Einverstanden“, nickte der Soldat des Staates und die Erleichterung war ihm nur allzu deutlich anzusehen. „Tut mir nur einen Gefallen und verdoppelt die Wachen“, bat Flik, „wir werden auch ein paar Leute herschicken.“ „Wieso das denn?“, wunderte sich der zweite Grenzwächter und Viktor erwiderte: „Tut es einfach.“ Verwirrt versprachen die beiden Männer, der Bitte der Söldner Folge zu leisten, dann verabschiedeten sich Viktor und Flik von den Grenzwächtern und die Söldner zogen weiter. „Meint ihr, dass sie uns verfolgen werden?“, fragte Riou besorgt, nachdem sie die Soldaten und die Grenze nach Highland hinter sich gelassen hatten. „Möglich“, antwortete Flik langsam, „aber ehrlich gesagt macht mir Luca Blight mehr Sorgen.“ „Wir hatten schon vermutet, dass es sich bei diesem Überraschungsangriff, von dem du gesprochen hast, um einen Hinterhalt von Highland selbst handelt“, nickte Viktor, „und einige unserer Informanten haben berichtet, dass Luca Blight zum Befehlshaber über die erste Kompanie der Highland-Armee, die Weißen Wölfe, ernannt wurde. Das heißt, dass Agares ihn als Nachfolger offiziell macht.“ „Und es heißt auch, dass der König mit großer Wahrscheinlichkeit nicht weiß, dass sein eigener Sohn hinter dem Massaker an euren Freunden steckt und deshalb den Friedensvertrag für nichtig erklärt“, fuhr Flik fort, „wir sollten Anabelle schnellstens einen Boten schicken und ihr Bescheid geben, dass wir womöglich bald mit einem erneuten Angriff rechnen müssen.“ „Ich mach d-“, begann Viktor bereits, doch Flik unterbrach ihn resolut: „Nein, das mache ich. Sicher ist sicher.“ Jowy schwieg. Zum wiederholten Mal wurde ihm bewusst, wie sehr sich eigentlich alles um ihn herum verändert hatte. Er fühlte sich, als hätte er beim Treppensteigen eine Stufe vergessen und würde jetzt ungewiss und unsicher einfach so in der Luft hängen. Ein schwacher Trost war es, dass er wenigstens nicht der einzige war, der diese Treppenstufe verpasst hatte – Riou und vielleicht sogar Nanami schwankten hilflos an seiner Seite. Er wollte nicht rückwärts die Treppe hinunterfallen… aber irgendwie schien es momentan, als ob er mehr und mehr das Gleichgewicht verlor. „Endlich daheim!“, rief Viktor laut und hörbar erleichtert, als sie am frühen Nachmittag den Innenhof des Söldnerforts betraten. Jowys Blick wanderte über das solide Holzgebäude und die rechteckige, grüne Fahne, auf der ein Wappen prangte, das an etwas zwischen Löwe und Bär erinnerte, und er runzelte die Stirn. Daheim? Inwiefern galt das Fort als Heim? Nur, weil die Söldner hier lebten, wenn sie gerade keinen Auftragsgeber hatten? Ab wann war ein Ort ein Heim…? „Dieses ranzige, alte Fort?“, grinste Flik und tauchte unter Viktors Arm hinweg, als dieser nach seinem Freund schlug. „Ach, halt doch den Mund!“, rief der Söldneranführer gespielt schmollend, grinste jedoch wieder, als er fortfuhr, „Ich mag diesen Ort, er hat einen gewissen Charme. Was sagt ihr, Riou, Jowy?“ Wieder sah der Blonde sich um, stellte jedoch fest, dass er keine Antwort auf diese Frage hatte. Als er das letzte Mal hier gewesen war, war er ein Gefangener gewesen… und jetzt? Wie sah es jetzt mit seinem Status aus? „Irgendwie, ja“, schmunzelte Riou und erntete einen dankbaren Blick von Viktor und einen skeptischen von Nanami. „Dieser Ort?“, fragte sie stirnrunzelnd, „Wo soll da der Charme sein?“ Viktor brach ihn Gelächter aus und zerzauste ihre Haare, was zur Folge hatte, dass sie jaulend seine Hand wegschlug. „Ein Kind kann das eben nicht verstehen“, verkündete er lautstark und löste mit diesen Worten verhaltenes Gelächter bei seinen Männern und eine Schimpftirade bei Nanami aus. Nachdem Riou sie mit leisen Worten beruhigt hatte – wie er das immer wieder schaffte war selbst Jowy ein Rätsel – meinte Viktor: „Ich werde mich jetzt erst einmal eine ganze Weile hinlegen! Ich werde zu alt für solche Reisen.“ „Ihr solltet euch auch ausruhen“, nickte Flik, „allerdings haben wir nur noch ein freies Einzelzimmer, also werdet ihr Jungs mit den anderen in den Schlafsälen schlafen müssen.“ „Schon in Ordnung“, winkte Riou mit einem Lächeln ab, „Ich bin froh, dass wir uns überhaupt hinlegen können.“ Jowy sah zu Viktor und fragte dann: „Ich nehme dann an, dass wir wieder Gefangene sind?“ „Huh?“ Überrascht und mäßig verwirrt blickte der Söldneranführer auf ihn hinunter und runzelte dann leicht überfragt die Stirn, ehe er langsam antwortete: „Das stimmt, aber… hmm… ach, solange ihr keinen Ärger macht, könnt ihr meinetwegen tun, was ihr wollt. Warum geht ihr nicht nach Rekruten schauen, sobald ihr euch ausgeruht und auskuriert habt? Wir können immer welche gebrauchen.“ „Wir können uns wirklich frei bewegen?“, vergewisserte Jowy sich ungläubig und Viktor nickte: „Klar. Warum auch nicht?“ „Lasst es erst einmal ruhig angehen“, riet Flik den drei Jugendlichen, „ich hab da so ein Gefühl, dass hier in nächster Zeit einiges los sein wird, also sollten wir die Gelegenheit nutzen und uns entspannen.“ „Ein wahres Wort“, grinste Viktor, gähnte dann demonstrativ und fügte hinzu, „Wenn ihr irgendwelche Fragen habt, dann wendet euch an Leona. Ihr findet sie an der Bar.“ Jowy nickte, dann hoben die beiden Söldneranführer zum Abschied die Hand und verschwanden im Inneren des Forts. Die übrigen Söldner brachten die Pferde in die Stallungen und Nanami sah sich um. „Das ist also der Staat“, murmelte sie nachdenklich, „Komisches Gefühl.“ „Hier ist es nicht viel anders als in Highland“, erwiderte Jowy leise, der plötzlich an Pilika, Joanna und Marx denken musste. Jedes Land hatte seine Vorzüge… und all der Krieg hatte keinen Sinn. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde. „Was steht ihr hier so rum, Kinder?“, erklang die Stimme des bärtigen Söldners – Asmund – plötzlich neben ihnen. Jowy hob überrascht den Blick und erwiderte dann: „Wir wissen nicht ganz, wohin.“ „Ah“, nickte der Söldner, „dann folgt mir mal.“ Die nächsten Tage waren ungewohnt ruhig. Bei den Söldnern, die ein erstaunlich faules Volk waren, gab es zwar viel zu tun, aber zum ersten Mal seit zwei Wochen konnte Jowy sich entspannen. Nicht einmal im Dorf Toto hatte er das tun können, da ihn dort die Sorge um Riou schier in den Wahnsinn getrieben hatte. Nun aber, da sein Freund und dessen Schwester munter den Söldnern bei den verschiedensten anfallenden Aufgaben halfen, erlaubte er sich selbst, zur Ruhe zu kommen. Jowy stellte schnell fest, dass im Söldnerfort nicht nur Söldner lebten. Zu den Bewohnern gehörten auch noch die Lagerhausverwalterin Barbara – eine resolute, rothaarige Frau, die ihm bei ihrer ersten Begegnung einen gewaltigen Schrecken einjagte, da sie gerade einen Söldner angeschrieen hatte, als er das Lager betreten hatte – die Bardame Leona, die sich äußerster Beliebtheit bei den Männern erfreute – und das nicht nur wegen ihres Aussehens – und der junge Arzt Tuta. Dieser zählte nicht unbedingt zu den festen Bewohnern des Forts, sondern kam eigentlich aus der Hauptstadt von Jowston, Muse, und war der Lehrling des Heilers Huan. Der Arzt, von dem sogar Jowy gehört hatte, da der Mann unter dem berühmten Liukan aus der Republik Toran studiert hatte – welcher eine entscheidende Rolle im Torrunen-Krieg vor drei Jahren gespielt hatte – sandte den gerade einmal zehnjährigen Jungen oft zu den Söldnern, um deren Wunden und Krankheiten zu versorgen. „Damit ich praktische Erfahrung sammeln kann“, erklärte Tuta, während er sich um die Verletzungen auf Jowys Rücken kümmerte. Der Aristokrat beschloss für sich, dass dies gar nicht mehr nötig war – er war sich sicher, dass der Junge in ein paar Jahren bereits ein erstklassiger Arzt sein würde. Und dann war da noch Gengen, der Kobold, der bei Jowys Einbruch auf einem der Tische geschlafen hatte. Das hundeähnliche Wesen mit dem rötlichen Fell war etwa in seinem Alter und ehrlich gesagt wusste der junge Aristokrat nicht genau, was er von ihm halten sollte. In Highland gab es nicht viele Kobolde und er hatte sich noch keine Meinung über sie bilden können. Gengen selbst hatte sich zum Captain über die Jugendlichen ernannt – er hatte dies getan, ohne die anderen davon in Kenntnis zu setzen – und hielt sich die meiste Zeit des Tages am Brunnen im Innenhof auf, während Riou, Jowy und Nanami den Söldnern halfen… oder vielmehr die Arbeiten erledigten, für die die Männer zu faul waren. Nanami hatte schon am ersten Tag ihres Aufenthalts im Fort Küchenverbot in der Küche bekommen, was Jowy durchaus nachvollziehen konnte. Sie mochte viele Stärken und Talente haben, aber Kochen war keine davon. Er erinnerte sich an einen Vorfall vor ein paar Jahren, als sie für Meister Genkaku, Riou und ihn Suppe gekocht hatte… dabei war ihm weniger die ungenießbare Suppe in Erinnerung geblieben, als vielmehr der Durchfall und Brechreiz, die ihn die nächsten paar Tage gequält hatten. Etwa eine Woche später lief Flik ihnen über den Weg, als sie sich gerade auf den Stufen, die ins Innere des Forts führten, ausruhten und die Sonne genossen. „Habt ihr euch eingelebt?“, fragte der blaugekleidete Söldner, als er die drei Jugendlichen bemerkte. „Ja, danke“, nickte Riou und lächelte. „Warum schaut ihr euch nicht in den umliegenden Dörfern nach Leuten um, die sich uns anschließen könnten?“, fragte Flik, „Ich kann mir vorstellen, dass ihr nicht gerade Lust darauf habt, für uns zu putzen.“ „Das ist eine gute Idee“, nickte Nanami und pustete sich ein paar Haarfransen aus der Stirn, „Wenn das heißt, dass ich erst einmal nicht mehr aufräumen muss!“ Der Söldner lachte, dann erwiderte er: „Die Menschen denken immer noch, dass der Krieg vorbei ist… also müssten sie wieder reisen. Schaut euch um.“ „Braucht ihr mehr Leute?“, fragte Riou leise, der seinen Blick in die Ferne gerichtet hatte, „Machst du dir Sorgen…?“ Flik schien einen Moment zu überlegen, dann seufzte er und erwiderte: „So würde ich es nicht sagen. Aber mir wäre einfach wohler, wenn ein paar Leute mehr hier wären. Nur… für alle Fälle.“ Alle vier schwiegen eine Weile, dann erhob Jowy sich und sagte: „Also los, schauen wir uns in den umliegenden Dörfern um. Vielleicht treffen wir ja ein paar Leute, die sich einer Bande Söldner anschließen möchten.“ Kapitel 8: Neue Freunde ----------------------- Mit Gengen im Schlepptau, der unbedingt hatte mitkommen wollen, waren die drei Jugendlichen etwas später unterwegs nach Ryube. Sie hatten beschlossen, einen großen Kreis zu machen und nach dem Dorf Ryube auch noch Toto und die Stadt Radat zu besuchen. Wonach – oder vielmehr nach wem – genau sie suchten, wusste keiner von ihnen, aber sie wollten es dennoch probieren. Und schließlich hätten sie alle einiges dafür getan, um nicht mehr putzen zu müssen. Pohl hatte ihnen Geld mitgegeben – für alle Fälle – das er trotz aller Proteste nicht wieder zurückhaben wollte. „Es sind Ersparnisse aus unserem Fundus“, hatte er gesagt, „und es ist ja gerade für solche Gelegenheiten da.“ Dennoch nahm Jowy sich fest vor, ihm das Geld irgendwann zurück zu zahlen. Er fühlte sich einfach nicht wohl dabei, jemandem etwas zu schulden. Außerdem hatte Pohl ihnen Waffen gegeben, da sie ihre ja in Kyaro zurückgelassen hatten, und auch, wenn der Kampfstab, der er nun auf dem Rücken trug, bei weitem nicht so vertraut in seinen Händen lag wie der, den Meister Genkaku ihm geschenkt hatte, so war er doch nicht schlecht und auch Nanami und Riou schienen ganz zufrieden mit dem dreiteiligen Nunchaku und den Tonfa, die sie noch im Waffenlager der Söldner gefunden hatten. Sie erreichten das Dorf gegen Mittag und wie bei ihrem letzten Besuch sprühte die kleine Siedlung nur so vor Leben. Fast erwartete Jowy, erneut auf die Schausteller zu treffen, erinnerte sich dann aber daran, dass sie versuchen wollten, in Highland Fuß zu fassen. Was wohl aus ihnen geworden war? Eilie hatte Riou anscheinend ziemlich gern gehabt… „Sagt mal, hört ihr das auch?“, riss Nanamis Stimme ihn aus seinen Gedanken und er blinzelte verwirrt in ihre Richtung. „Was denn?“ „Gengen hört es auch“, schaltete der Kobold sich ein, dessen Ohren aufrecht standen, als würde er genau lauschen, „und Captain Gengen hat gutes Gehör, jaja.“ Die Stirn runzelnd hörte Jowy ebenfalls genauer hin und ein leises Stöhnen drang an seine Ohren. „Ist da jemand…?“, murmelte er verwirrt. Riou hatte ebenfalls die Stirn in Falten gelegt und sah sich etwas irritiert in der Straße um, in der sie standen. „Oooh… Oooh…“ Wieder ertönte das Stöhnen und diesmal war Jowy sich sicher, dass er es sich nicht nur eingebildet hatte. Er wandte sich zu Riou um, doch dieser blickte mit schiefgelegtem Kopf in eine schmale Seitengasse und setzte sich dann plötzlich in Bewegung, auf etwas zu, das verdächtig nach einem Bündel Lumpen aussah. Doch als sein Freund neben dem Etwas in die Knie ging, erkannte Jowy erschrocken, dass dort ein Mann auf dem Boden lag, auf dessen Rücken ein riesiges Schwert geschnallt war. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Riou besorgt und der Mann gab wieder ein Stöhnen von sich: „Mein… mein Bauch…“ „Bist du verletzt?“, erkundigte sich Jowy, nun ebenfalls besorgt, und trat zu den beiden. Der Schopf hellbrauner Haare bewegte sich leicht und der Blonde erahnte das Kopfschütteln eher, als dass er es tatsächlich sah. „Bauch… so hungrig…. K-kann… mich nicht bewegen…“, ächzte der Mann und hob den Kopf weit genug, um den Jugendlichen einen flehenden Blick zuzuwerfen, „B-Bitte… gebt mir… etwas zu essen…“ „Natürlich“, nickte Riou sofort, „Warte kurz. …Jowy?“ Der Aristokrat musste nicht in die braunen Augen sehen, um zu wissen, dass sie ihn hilfesuchend anblickten. Er seufzte und half dem Jüngeren, den Mann aufzurichten, dann schleppten sie ihn zum nächstgelegenen Gasthaus. Eine Stunde später war Jowy ehrlich erstaunt darüber, wie viel ein einzelner Mensch essen konnte. Neben dem Bettler, den sie in der Seitengasse aufgelesen hatten, stapelten sich bald so viele Teller, Schüsseln und Schalen, dass man hätte meinen können, dass hier zehn Personen gespeist hatten anstatt einer. Der Blonde spürte förmlich, wie seine Augen in Relation zum Geschirrberg immer größer wurden und auch die anderen schienen entsetzt darüber zu sein, wie viel Essen in diesen Mann hineinpasste. Zugegeben, er war fast so groß wie Viktor und auch in etwa so muskulös, aber… wie groß konnte ein Magen sein? „Uff!“, machte der Mann schließlich, stellte die letzte Schüssel Reis und das Besteck beiseite und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Danke“, sagte er nach einer kurzen Pause und lächelte die Jugendlichen freundlich an, „Vielen Dank. Ich schulde euch etwas.“ „Ja“, brummte Gengen kaum hörbar, „Viel, viel gutes Essen.“ Jowy verkniff sich ein Lachen, indem er sich auf die Innenseite seiner Wange biss. „Mein Name ist Rikimaru“, fuhr der Mann fort, „ihr würdet mich einen Reisenden nennen.“ „Wie kommt es, dass du so hungrig warst?“, fragte Nanami, „Wenn man auf Reisen geht, hat man doch für gewöhnlich Geld dabei.“ Wenn Jowy sich nicht stark irrte, errötete der Mann leicht und erzählte dann leise: „Es ist wirklich traurig, aber ich habe einen unglaublich festen Schlaf. Das haben unterwegs ein paar Banditen ausgenutzt und mich um all meine Ersparnisse erleichtert…“ „Das ist wirklich traurig“, stimmte Nanami ihm etwas verdutzt zu. „Wirklich vielen Dank“, wiederholte Rikimaru und lächelte erneut, „Wirklich, ich werde euch das niemals vergessen.“ „Ähm“, meldete sich in diesem Moment die Wirtin hinter ihnen und Jowy wandte verwirrt den Kopf zu ihr, „die Rechnung für das Essen…?“ „Oh!“ Rikimaru zuckte zusammen und sah augenblicklich unheimlich schuldbewusst aus. „Wie viel?“, fragte Riou bloß und sah sie Wirtin freundlich an. Diese betrachtete die kleine Gruppe einen Moment lang skeptisch, dann antwortete sie: „Nun, die Gesamtkosten betragen 3000 Potch, aber…“ „Tut mir leid“, unterbrach Rikimaru sie mit einem Seufzer, „aber das kann ich unmöglich bezahlen. Kann ich meine Schulden abarbeiten?“ Die Wirtin blinzelte und nickte dann langsam: „Sicher. Wenn du nichts dagegen hast, die nächsten sechs Wochen Geschirr zu spülen?“ Schicksalsergeben nickte der Schwertkämpfer – denn das war er mit diesem riesigen Schwert ja ganz offensichtlich – und wollte bereits antworten, als Riou seine Geldbörse zückte und daraus ein paar der Münzketten zutage förderte, deren geschätzter Wert etwa 3000 Potch betrug. „Schon gut“, sagte er und lächelte breit, als er das Geld in die ausgestreckte Hand der verblüfften Wirtin fallen ließ, „Ich zahle.“ „W-Wirklich?“ Jowy war nicht der einzige, der seinen besten Freund etwas irritiert anstarrte. „Sicher“, nickte Riou und grinste Rikimaru an, „Das geht doch in Ordnung, oder?“ „Also, ich habe mein Geld“, verkündete die Wirtin achselzuckend und entfernte sich wieder vom Tisch. „Bei den Runen“, atmete Rikimaru auf, „Ich stehe in eurer Schuld! Wie kann ich das jemals wieder gutmachen?“ „Komm mit uns“, erwiderte Riou leichthin, „Wir suchen Leute, die sich uns anschließen.“ Der Schwertkämpfer warf ihm einen verwirrten Blick zu und Jowy tauschte einen kurzen Blick mit Nanami, ehe er leise – man konnte nie wissen, wer ihnen gerade zuhörte – erzählte, was sie hergeführt hatte. „So ist das also“, nickte Rikimaru etwa zehn Minuten später nachdenklich. Dann erhellte sich sein unrasiertes, freundliches Gesicht und er grinste: „Dann werde ich mich euch anschließen. Ich werde meine Schuld zurückzahlen oder ich will nicht Rikimaru heißen!“ „Wirklich?“, vergewisserte sich Riou erfreut, „Danke!“ Er reichte dem Schwertkämpfer die Hand und Jowy spürte, wie sich ein spontanes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. Irgendwie beruhigte ihn der Gedanke, diesen Mann dabei zu haben. Er wirkte irgendwie verlässlich, obwohl man ihn beraubt hatte, als er geschlafen hatte. Sie erhoben sich und verließen das Gasthaus in Richtung Dorfplatz. „Diese Söldner sind doch gut ernährt, oder?“, fragte Rikimaru an Gengen gewandt, dessen pelzige Erscheinung ihn anscheinend faszinierte. „Richtig“, schnaufte der Kobold und warf dem deutlich größeren Mann einen seltsamen Blick zu, „Aber Gengen bekommt bestes Essen. Gengen großer Kobold-Krieger!“ Jowy wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment fiel sein Blick auf ein Mädchen mit einer großen, weißen Ballonmütze, das ganz in der Nähe des Gasthauses stand und nervös auf und ab zu laufen schien. „Was mach ich nur, was mach ich nur, was mach ich nur, was mach ich nur?“, jammerte sie leise, während sie an der kleinen Gruppe vorbeieilte, „Mein armer, armer Bonaparte…“ „Ähm“, machte Jowy verwirrt, „Ist alles in Ordnung?“ Das Mädchen fuhr erschrocken zu ihm herum und starrte ihn einen Moment lang aus großen, braunen Augen an. Sie war jung, kaum älter als Tuta, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Lange, braune Haare fielen in sanften Wellen ihren Rücken hinab und sie trug ein kurzes, hellblaues Kleid; an einem dünnen, weißen Ledergürtel hing ein Bumerang aus hellem Holz. „Mein Haustier, Bonaparte, ist weggelaufen“, erklärte das Mädchen schließlich und blickte augenblicklich wieder unglücklich drein, „Er ist in den Wald hinein und ich kann da unmöglich reingehen!“ „Wieso?“, fragte Nanami verwirrt und blickte zu dem Walddickicht, das das Dorf umgab, „So tief ist er nicht. Es ist ein Bergwald, da sollte es nicht allzu schlimm sein.“ „Weil es da drin Spinnen gibt!“, jammerte das Mädchen und schluchzte trocken auf, „Und mein armer Bonaparte ist irgendwo da drin! Er hat bestimmt Angst!“ Riou und Jowy wechselten einen Blick, dann bot der Jüngere freundlich an: „Sollen wir vielleicht mit dir kommen und dir helfen?“ Die großen Rehaugen wandten sich nun ihm zu und die Besitzerin eben dieser fragte ungläubig: „Das würdet ihr tun? Obwohl es dort Spinnen gibt?“ „Sicher“, antwortete Jowy und verzichtete darauf, sie darauf hinzuweisen, dass es für manche Menschen durchaus schlimmere Dinge als Spinnen gab – Schlangen, zum Beispiel. Er schauderte kurz bei diesem Gedanken und grinste dem Mädchen dann aufmunternd zu. „Oh danke! Danke!“, rief sie aus und fiel dem überraschten Riou spontan um den Hals, „Ich bin übrigens Millie!“ Nachdem sie sich alle vorgestellt hatten, folgten sie Millie durch die Straßen des Dorfes, bis sie den Waldrand erreichten, wo das Mädchen stehen blieb. „Okay, dann lasst uns gehen“, murmelte sie und warf den Bäumen einen unglücklichen Blick zu, „und ihr beschützt mich auch wirklich vor den Spinnen?“ „Natürlich“, versicherte Rikimaru ihr mit einem Grinsen, „keine Sorge, junge Dame.“ Sie waren eine Weile durch den Wald gewandert, während Millie unablässig nach ihrem Haustier gerufen hatte – wobei Jowy ernsthaft bezweifelte, dass das Tier bei dieser Lautstärke zu ihr zurückkehren würde – als Riou plötzlich an einem Baum anhielt und sich bückte. „Was machst du da?“, verlangte Nanami zu wissen, als ihr Bruder etwas vom Boden aufhob und es auf den höchsten Ast setzte, den er erreichen konnte. Jowy runzelte ebenfalls die Stirn, als er erkannte, dass nun ein Nest mit einem kleinen Vogel darin auf dem Ast thronte. „Das Nest war runtergefallen“, erklärte Riou und lächelte dem Vogel zu, eher er zu der Gruppe zurückkehrte und sie ihren Weg fortsetzten, „und wenn es niemand aufgehoben hätte, wäre er sicher gefressen worden.“ „Riou guter Mensch“, beschloss Gengen und bleckte die Zähne in einem Grinsen, „Hat gute Augen.“ Riou errötete leicht bei diesem Kompliment und lächelte peinlich berührt, während Jowy überlegte, was genau der Kobold mit diesen Worten meinte. Sprach er davon, dass die gütigen braunen Augen jeden in ihren Bann zogen, der Riou begegnete? Oder meinte er, dass außer Riou niemandem aufgefallen war, dass das Nest vom Baum gefallen war? Seine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als Millie plötzlich schrie: „Bonaparte! Da vorne ist er!!“ Sie zeigte auf einen Busch, aus dem in diesem Moment ein kleines Tier mit gelblichem Fell und für Jowys Geschmack eindeutig zu vielen Augen hüpfte und einen lauten Fiepston ausstieß. Dann rannte es trotz der kurzen Pfoten – es waren sechs an der Zahl – erstaunlich schnell davon, tiefer in den Wald hinein. „Hinterher!!“, rief Millie und eilte ihrem Haustier nach, ohne auf ihre Gefährten zu warten. Diese zögerten einen Moment noch, dann setzten sie sich ebenfalls in Bewegung, um dem Mädchen zu folgen. Sie holten Millie schnell ein; sie hatte das komische kleine Tier, das an eine absurde Kreuzung zwischen Ferkel und Hund erinnerte, gestellt. Es stand quietschend, mit aufgestelltem Fell gegen eine Felswand gedrängt und funkelte seine Besitzerin aus vier Paaren dunkler Augen böse an. „Du kannst nicht mehr weg laufen!“, erklärte Millie ihrem Haustier ernst, „Jetzt hab ich dich!“ Sie machte einen Schritt auf Bonaparte zu, doch das Tierchen knurrte, entblößte plötzlich zwei Reihen spitzer, kleiner Zähne und schnappte nach ihrer ausgestreckten Hand. „Aaah!“, schrie das Mädchen erschrocken auf und stolperte zurück, bis sie gegen Jowy prallte, „Was machst du denn, Bonaparte?!“ Das Wesen knurrte erneut und schoss dann unerwarteterweise auf die kleine Truppe zu, mit gebleckten Zähnen und weit aufgerissenen Augen. „Vorsicht!“, rief Rikimaru geistesgegenwärtig und schubste Gengen aus dem Weg, auf den Bonaparte direkt zugehalten hatte. Er verfehlte den Kobold um Haaresbreite, der eilig ein Kurzschwert zog und seinen Gegner ebenfalls anknurrte. „Tut ihm nicht weh!“, schrie Millie entsetzt, als Rikimaru ebenfalls sein Schwert zog. Der Schwertkämpfer runzelte die Stirn und wehrte das aggressive Tier, das seine Aufmerksamkeit nun ihm zuwandte, statt mit der Klinge, mit der flachen Seite der Waffe ab. Ein hässliches Knirschen ertönte, als die Zähne auf den Stahl des Schwerts trafen und kopfschüttelnd wich Bonaparte von dem hochgewachsenen Krieger zurück, als wäre er verwirrt. Dann wandte sich der Blick der dunklen, bösartig zusammengekniffenen Augen Nanami zu und das Tier hüpfte mit aufgerissenem Maul auf sie zu. Schreiend stürzte Nanami zur Seite, schlug das pelzigen Wesen in der selben Bewegung mit ihrem Nunchaku und kam dann schlitternd zum Stehen. „Millie?“, rief Jowy, während er seinen Stab benutzte, um Bonaparte ein paar Meter von sich fortzuschleudern, „Bist du dir sicher, dass er zahm ist?!“ „Er hat nur Angst!“, rief das Mädchen zurück, „Tut ihm nicht weh!“ Sie zückte ihren Bumerang und warf ihn mit einem Schrei in die Richtung ihrer kämpfenden Gefährten, Riou nur knapp verfehlend. „Spinnst du?!“, schrie Nanami. „Bitte tut meinem armen Bonaparte nicht weh!“, flehte Millie, die den Bumerang wieder einfing und aussah, als wenn sie ihn nach dem nächsten, der seine Waffe gegen ihr geliebtes Haustier erhob, werfen würde. „Und wer sagt ihm, dass er uns nicht weh tun soll?“, knurrte Jowy und brachte sein Bein aus der Reichweite des noch immer knurrenden und fauchenden Tieres, das jetzt ihn als Opfer auserkoren zu haben schien. „Gengen tapferer Kobold-Krieger!“, brüllte Gengen in diesem Moment, schlug Bonaparte resolut mit der dem Heft seines Schwerts zwischen die vielen Augen und wich dann vorsichtshalber zurück. Doch das Tier schwankte nun, als wäre es betrunken – und kippte dann plötzlich auf den Rücken, die kurzen Beinchen in die Luft streckend wie ein umgefallener Käfer. Einen Augenblick lang hielten alle inne, dann ließ Jowy vorsichtig seine Waffe sinken. „Bonaparte!“ Millies erleichterter Ausruf zerriss die Stille des Waldes, als sie auf ihr Haustier zueilte, es hochhob und in die Arme schloss. Zuerst passierte nichts, dann zuckte Bonaparte plötzlich zusammen, blinzelte synchron mit allen acht Augen und fiepste, plötzlich deutlich freundlicher. „Was ist denn los?“, säuselte Millie selbstvergessen, während sie das struppige Tier vor ihr Gesicht hielt, um es genau betrachten zu können, „Hattest du Angst, mein Kleiner? Du hättest nicht weglaufen sollen.“ Jowy und Riou wechselten einen zweifelnden Blick, als das Mädchen gurrte: „Ist schon gut. Guter Junge. Hab keine Angst.“ Nanami stemmte die Hände in die Hüften und sah aus, als wüsste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Gut gemacht, Gengen“, wandte sich Riou an den Kobold, der – wie alle anderen – die seltsame Szene stirnrunzelnd beobachtet hatte, „Woher wusstest du, dass ihn das aufhalten würde?“ „Tiere um Gengens Dorf oft aggressiv, wenn ängstlich“, erklärte dieser und entblößte bei seinem Grinsen die Zähne, „Schlag zwischen Augen oft Wunder!“ Er zuckte die Achseln und wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. „Danke für eure Hilfe!“ Millie schien wieder eingefallen zu sein, dass sie nicht allein war und sie strahlte den Rest der Gruppe fröhlich an. „Das ist Bonaparte“, verkündete sie, als wenn ihre Gefährten dies noch nicht begriffen hätten, „Ist er nicht süß?“ „Ähm“, machte Nanami und starrte das seltsame Tier an. Jowy runzelte die Stirn und konnte bei aller Mühe nichts Niedliches an Bonaparte ausmachen. „Nicht… unbedingt“, sagte er langsam und beschloss für sich selbst, dass das Wesen einfach zu viele Augen und Beine hatte, um als süß bezeichnet werden zu können. „Was?“, fragte Millie enttäuscht und zog eine Schmolllippe, „Du findest ihn also nicht süß? Dieses niedliche Gesichtchen?“ „Doch, sicher“, erwiderte Riou diplomatisch, obwohl sein Gesicht etwas ganz anderes erzählte, „sehr… niedlich.“ „Nicht wahr?“, strahlte Millie überglücklich, streichelte Bonaparte dann den Hinterkopf und ergriff dann Rious Hand, „Wirklich vielen Dank, dass ihr mir geholfen habt. Gibt es irgendwas, das ich für euch tun kann?“ „Nun, wir… suchen eigentlich Gefährten, die sich uns und den Söldnern anschließen, aber…“, begann Jowy, doch das Mädchen unterbrach ihn mit vor Begeisterung leuchtenden Augen: „Söldner? Klasse! Natürlich helfe ich euch auch.“ „Aber…“, begann Jowy wieder, doch erneut ergriff Millie das Wort: „Keine Sorge, ich nehme kein Geld.“ „Bist du dir ganz sicher, dass du dich uns anschließen willst?“, fragte Riou vorsichtig, „Was sagen deine Eltern dazu?“ Millie lachte auf und erwiderte: „Ach, die! Schon okay, macht euch da keine Sorgen drum. Also los, suchen wir mehr Freunde!“ Ohne eine Antwort abzuwarten marschierte sie schnurstracks in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, ein fröhliches Liedchen pfeifend – ihre Angst vor Spinnen schien sie völlig vergessen zu haben. „Ich glaube nicht, dass Flik an jemanden wie Millie gedacht hat, als er meinte, wir sollten nach Leuten suchen, die sich uns anschließen…“, murmelte Jowy stirnrunzelnd und Riou seufzte. „Vielleicht… ist sie ja doch ganz nützlich“, meinte er achselzuckend, dann bedeutete er den anderen, ihm zu folgen und setzte sich in Bewegung. Sie hatten Millie schnell eingeholt – sie hatte eine Spinne entdeckt und weigerte sich in unglaublicher Lautstärke weiterzugehen, bis Rikimaru sich erbarmte und dem großen Arachnoiden in einer Bewegung den pelzigen Körper teilte – und gingen schweigend durch den Wald, zurück zum Dorf, als plötzlich etwas Weißes zwischen den Bäumen hervorkam, auf Riou zusprang und ihn auf den Rücken warf. Das Etwas stellte sich als großer, weißer Wolfshund heraus, um dessen linke Vorderpfote ein blaues Lederband gewickelt war. Der Hund beschnüffelte Rious Gesicht und entfernte sich von dem Jungen gerade rechtzeitig, um nicht von Nanami geschlagen zu werden. Während Riou sich mit Jowys Hilfe aufrappelte und die Gruppe den Hund unsicher fixierte, heulte das Tier auf und nur wenige Augenblicke später tauchte aus dem Wald ein junger Mann in Jowys Alter auf; er hatte halblange, dunkle Haare, die ihm in die Stirn fielen und durch den Lauf leicht durcheinander geraten waren. Er trug eine gelbe, langärmelige Tunika und eine graue Stoffhose, um seinen Hals war ein roter Schal geschlungen und auf seinem Rücken war ein lederner Köcher festgeschnallt, in dem ein Dutzend Pfeile steckten, den dazugehörigen Bogen hielt er in der Hand. „Hat Shiro euch etwas getan?“, fragte der junge Mann mit einer unerwartet sanften Stimme. „Nein“, erwiderte Riou, „er hat mich nur erschreckt. Springt er oft Menschen an?“ Die Augen des Unbekannten wurden groß und er sah den Wolfshund, der inzwischen auf seinen Hinterläufen saß und hechelnd zu seinem Herrchen aufsah, verblüfft an. „Eigentlich nicht“, murmelte der junge Mann, dann sah er wieder zu Riou und fragte: „Wart ihr diejenigen, die das Nest aufgehoben haben?“ Er zeigte auf eine Astgabel, in der das Nest lag, welches Riou auf dem Hinweg entdeckt hatte, wie Jowy erkannte. „Ja“, nickte Riou, „Wieso? War das falsch?“ „Nein“, lächelte der Junge, „keine Sorge. Hmm… Shiro hatte also Recht.“ Der Wolfshund bellte, als er seinen Namen hörte, und wandte den Blick seiner intelligenten, gelben Augen der kleinen Gruppe Reisender zu. „Ich bin Kinnison“, stellte der junge Mann sich vor, „ich bin Jäger, Shiro und ich leben hier im Wald. Wir kümmern uns um ihn, wisst ihr?“ „Dann musst du ja sehr tierlieb sein“, stellte Nanami fest und lächelte Kinnison an, „Das finde ich toll!“ Der Jäger errötete leicht und schwieg einen Moment, dann fragte er: „Darf ich fragen, was ihr hier macht? Es kommen nicht oft Menschen in den Wald.“ „Wir haben meinen Bonaparte gesucht!“, antwortete Millie, „Ist er nicht süß?“ Sie streckte Kinnison das struppige Tier hin, welches ihn mit den acht Augen anstierte. Wenn der junge Jäger angewidert oder erstaunt war, so zeigte er es nicht. Er kraulte Bonaparte unter dem Kinn – was das Tier wohlig ein Geräusch ausstoßen ließ, das sehr nach einem Maunzen klang – und sagte dann: „So ist das. Dann war er es also, den Shiro gerochen hatte… und ich dachte schon, es wären wieder Highland-Soldaten.“ Überrascht hob Jowy die Brauen und fragte: „Kommen die Highlander oft hierher?“ Kinnison nickte betrübt und erklärte: „In letzter Zeit ständig. Sie haben viele Tiere aus ihren Lebensräumen vertrieben und bringen das natürliche Gleichgewicht hier völlig durcheinander…“ „Das tut mir leid“, sagte Riou ernst und der Jäger sah ihn dankbar an. Jowy zögerte einen Moment und fragte dann: „Du kämpfst also gegen Highland?“ „So würde ich es nicht nennen“, entgegnete Kinnison mit einem Seufzer, „Ich bin nur ein einfacher Jäger. Gegen die Armee von Highland könnte ich bei bestem Willen nichts ausrichten, auch mit Shiros Hilfe nicht.“ „Dann komm mit uns“, schlug Riou vor, „wir… kämpfen auch gegen Highland.“ Bei den letzten Worte zögerte er, merkte Jowy, und er fragte sich, ob es den anderen ebenfalls aufgefallen war. Sie waren Highlander. Angeklagt als Hochverräter waren sie in den Staat geflohen… und jetzt kämpften sie gegen ihr Vaterland. Dieses Land hat uns verraten, hatte er der Prinzessin gesagt, und er wusste, dass es stimmte. Aber waren dieses Wissen und der tatsächliche Kampf gegen Highland unweigerlich miteinander verbunden…? „Tatsächlich?“ Kinnisons ruhige Stimme brachte Jowy zurück in die Wirklichkeit und er blinzelte. Der Jäger blickte zu seinem Hund, ging neben ihm in die Hocke und strich dem Tier übers weiße Fell, während er leise murmelte: „Na, Shiro? Was sagst du denn dazu?“ Der Wolfshund blickte sein Herrchen an, dann schleckte er ihm einmal über die Hand und bellte laut. Kinnison nickte leicht, seufzte dann und erhob sich wieder, dann lächelte er Riou zu und sagte: „Wenn wir euch irgendwie behilflich sein können, dann… schließe ich mich euch gerne an. Shiro auch.“ Shiro erhob sich und bellte wieder, während Riou Kinnison die Hand gab. „Willkommen an Bord. Ich bin Riou und das sind…“ Während sie nacheinander vorgestellten wurden, warf Jowy seinen Gefährten einen langen Blick zu. Was für ein seltsamer Haufen hatte sich hier nur versammelt…? ~~~~~~~~ A/N: Ich glaub, ich mag das Kapitel selbst nicht. Doof, das. Trotzdem viel Spaß beim Lesen :) Kapitel 9: Wo das Herz ist -------------------------- Am frühen Nachmittag betrat das seltsame kleine Grüppchen das Dorf Toto. Instinktiv hielt Jowy auf den Straßen Ausschau nach einem bekannten Gesicht, doch er sah nur eine muskulöse, grimmige Frau, an deren Hüfte ein Breitschwert hing und die aufmerksam den Dorfplatz zu beobachten schien, auf dem wie gewohnt reges Treiben herrschte. „Das ist also Toto?“, fragte Riou und fing Jowys Blick auf, „Es ist schön hier.“ „Ja“, nickte der junge Aristokrat und dachte daran, wie wohl er sich hier gefühlt hatte, während er bei Joanna, Marx und Pilika gelebt hatte. Ob er es sich wohl erlauben konnte, ihnen einen Besuch…? „Onkel! Onkel Jowy!!“ Er zuckte zusammen und sah auf, nur um im nächsten Moment Pilika zu erkennen, die fröhlich lachend auf ihn zugelaufen kam und ihn in Bauchhöhe fest umarmte. „Onkel! Onkel!“, rief sie immer wieder, während sie das Gesicht in seinem Hemd vergrub, „Du bist wieder da!“ „Pilika“, sagte er und spürte, wie sich in seinem Inneren plötzlich ein wohliges, warmes Gefühl ausbreitete, das ihn Zuhause nie ereilt hatte, „Geht es dir gut?“ Sie ließ ihn los und schaute ihn mit einem breiten Lächeln an, ehe sie nickte und erwiderte: „Ja! Mir geht’s gut.“ „Das freut mich“, lächelte Jowy und ging unter den erstaunten Blicken seiner Begleiter in die Hocke, um mit dem Mädchen auf einer Augenhöhe zu sein, „Hast du viel erlebt, seit ich gegangen bin?“ „Ganz viel!“, nickte Pilika eifrig, „Ich war mit Mama und Papa in Muse! Wir mussten ein…“, sie zögerte und schien nach dem richtigen Wort zu suchen, „ach ja! Wir mussten ein Opfer für Papas Schrein besorgen. Es war ganz weit weg, aber ich bin ganz allein gegangen. Ist das gut, Onkel Jowy?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an und er fühlte sich gerührt, dass sie so viel Wert auf seine Meinung legte. Also nickte er und sagte: „Ja, Pilika, sehr gut. Du bist ein gutes Mädchen.“ Er strich ihr übers kurze, braune Haar und sie kicherte vergnügt. Er hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber er hatte sie vermisst. Und plötzlich wünschte er sich, eine kleine Schwester zu haben. „Wer ist das Kind?“, fragte Nanami stirnrunzelnd und Jowy sah zu ihr auf. Er bemerkte, dass Riou ihn irgendwie zufrieden betrachtete, beschloss aber, dass der Jüngere wohl seine Gründe hatte. Er erhob sich wieder und erklärte: „Das ist Pilika. Sie war diejenige, die mich gefunden und zu ihrer Familie gebracht hat, nachdem… du weißt schon.“ Nanami nickte und lächelte Pilika zu, dann sagte sie: „Hallo, Pilika. Ich bin Nanami.“ Das kleinere Mädchen nickte und rief: „Hallo, Tante Nanami!“, dann blickte sie allerdings zu Riou hoch und betrachtete ihn einen Moment lang aufmerksam. Schließlich trat sie zu ihm und fragte: „Bist du ein Freund von Onkel Jowy? Du siehst genau so lieb aus wie er.“ Riou grinste, kniete sich hin, um ihr in die Augen sehen zu können und antwortete: „Ja, ich bin sein bester Freund.“ Er sagte das ohne Stolz oder Arroganz, es war eine bloße Feststellung, eine Tatsache. Und genau so war es. „Ich wusste es!“, triumphierte Pilika, „Wie heißt du, Onkel?“ „Ich bin Riou.“ „Onkel Riou, ja? Ich bin Pilika! Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte sie freundlich, dann kehrte ihre Aufmerksamkeit zu Jowy zurück und sie rief: „Onkel Jowy! Bring Onkel Riou und Tante Nanami mit zu mir nach Hause, ja?“ „Meinst du denn, dass deine Mama und dein Papa einverstanden sind?“, fragte Nanami besorgt, doch Pilika nickte bestimmt: „Ja! Los, los! Beeilt euch, ja? Ich warte zu Hause!“ Mit diesen Worten lief sie los und verschwand zwischen den Häusern. Jowy, Riou und Nanami tauschten einen Blick, dann wandte sich der Aristokrat an die anderen, die stumm lächelnd die Szene betrachtet hatten: „Hört mal… wäre es in Ordnung für euch, wenn ihr im Gasthaus auf uns warten würdet?“ „Aber sicher“, erwiderte Kinnison und kraulte Shiro hinterm Ohr. „Ist Zeit zu essen“, stimmte Gengen ihm zu, „Tapfere Kobold-Krieger brauchen viel gutes Essen, jaja.“ „Essen klingt gut“, meinte Rikimaru und auch Millie nickte heftig, „wir warten dann auf euch drei, ja?“ „Einverstanden“, sagte Riou und lächelte, „Danke.“ Er überreichte Kinnison seinen Geldbeutel, den dieser mit einem Nicken entgegen nahm. „Keine Ursache. Wir sehen uns später“, entgegnete der Jäger mit einem Augenzwinkern, dann hob er zum Abschied die Hand und die drei Menschen, der Kobold und der Wolfshund bogen in die Richtung eines großen Gebäudes ab, welches die anderen Häuser im Dorf überragte. „Geht das wirklich in Ordnung?“, fragte Jowy die Geschwister leise, doch Nanami winkte resolut ab: „Natürlich ist das okay! Mach dir nicht immer so viele Gedanken, davon bekommst du Falten!“ Er grinste schwach, dann führte er die beiden zu Pilikas Haus. Es war erstaunlich, wie leicht es ihm fiel, zurück zu finden. Es war etwa drei Wochen her, seit er Toto hinter sich gelassen hatte, aber dennoch kam es ihm vor, als würde er das Haus, in dem diese nette, kleine Familie wohnte, selbst im Schlaf noch finden können. Was war es, das ihn so zu ihnen zog? Das dieses seltsame, warme Gefühl in ihm auslöste? Er wusste es nicht. Aber er wusste, dass das Gefühl, als wäre er wirklich nach Hause zurückgekehrt, ihn beim Betreten des Anwesens der Atreides-Familie nie derart überwältigt hatte. Wie versprochen hatte Pilika ungeduldig auf sie gewartet und riss die Eingangstür auf, sobald die Jugendlichen in ihre Sichtweite gelangten. „Mama! Papa!“, rief sie ins Innere des Hauses hinein und klang dabei so begeistert, dass Jowy unwillkürlich grinsen musste, „Kommt doch mal her! Los, los! Kommt her und schaut doch mal!!“ Einen Moment später traten die reichlich verwirrten Joanna und Marx aus dem Haus, doch als ihre Blicke auf Jowy fielen, der stehen geblieben war und etwas unbeholfen in ihre Richtung lächelte, verzogen sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln. „Jowy“, begrüßte Marx ihn mit einem Nicken, „Willkommen zurück.“ Joanna eilte strahlend auf ihn zu und schloss den Jungen in eine mütterliche Umarmung, ehe sie sich etwas von ihm entfernte und ihn von Kopf bis Fuß fixierte. „Du siehst gut aus“, stellte sie fest und lächelte wieder, „Du bist gegangen, bevor deine Wunden verheilt waren… wir haben uns solche Sorgen gemacht… Aber es ist alles in Ordnung.“ Sie atmete erleichtert durch und ließ ihn los, während Marx zu ihr trat und einen Arm um ihre Hüfte legte. „Ich… bin froh, euch wiederzusehen“, sagte Jowy mit brüchiger Stimme, „Ich weiß gar nicht, wie ich euch dafür danken soll, was ihr für mich getan habt…“ „Wir haben nur getan, was jeder getan hätte“, erwiderte Marx kopfschüttelnd, „Du brauchst dich nicht zu bedanken, Junge.“ „Das stimmt“, pflichtete Joanna ihrem Mann bei, dann wanderte ihr Blick zu Riou und Nanami, die irgendwie gerührt etwas abseits standen und sie fragte: „Du hast Freunde mitgebracht?“ „Ja“, nickte Jowy und grinste etwas, „Das sind Riou und Nanami, meine besten Freunde.“ „Dann bist du also der Freund, den Jowy unbedingt suchen gehen wollte“, sagte Joanna an Riou gewandt und gab den Geschwistern nacheinander die Hand, „willkommen, ihr beiden.“ „Kommt erst einmal rein“, unterbrach Marx lachend die Begrüßungen, „ihr seht hungrig aus.“ „Oh, wir wollten nicht…“, begann Jowy, der eigentlich nicht vorgehabt hatte, lange zu bleiben, doch Joanna schnitt ihm resolut das Wort ab: „Ach was! Jetzt, wo ihr da seid, lassen wir euch nicht so schnell wieder gehen.“ Ohne auf die weiteren, halbherzigen Proteste der Jugendlichen zu achten, winkte sie die drei ins Haus und ehe sie sich’s versahen, saßen sie bereits am Tisch und aßen mit der Familie zu Abend. „Warst du inzwischen zu Hause?“, erkundigte sich Joanna irgendwann, „Deine Familie macht sich doch sicher Sorgen um dich, Jowy.“ Er hielt im Essen inne und fühlte sich plötzlich so, als hätte er soeben einen Schlag in den Magengegend bekommen. „Ich… wir…“, begann er, verstummte jedoch und sah kurz zu Riou und Nanami, die schweigend in ihre Teller starrten, dann seufzte er und flüsterte: „Wir können nicht mehr nach Hause gehen.“ Er erwartete, dass Fragen auf ihn einprasseln würden. Dass Joanna und Marx ihn ausfragen würden, warum er nicht nach Hause konnte, was eigentlich passiert war… aber entgegen all seiner Erwartungen und Befürchtungen und obwohl er wusste, dass diese Menschen mehr als alle anderen ehrliche Antworten verdient hatten, ertönte lediglich Marx’ ruhige, freundliche Stimme: „Wenn das so ist, dann betrachtet dieses Haus als euer Zuhause. Ihr seid hier jederzeit willkommen, Kinder.“ Drei Köpfe fuhren gleichzeitig hoch, drei Augenpaare richteten sich ungläubig auf den braunhaarigen Mann mit den freundlichen grauen Augen. Jowy spürte, wie ein kalter Schauer seinen Rücken hinablief und ein Kloß sich in seinem Hals bildete. „Ganz genau“, nickte nun auch Joanna und lächelte Pilika zu, „du bist doch auch dafür, nicht wahr, Pilika?“ „Ja!“, krähte das Mädchen zufrieden und reckte in einer Jubelpose triumphierend die Arme in die Luft, „Dann wird Onkel Jowy immer bei mir sein! Und Onkel Riou und Tante Nanami!“ Sie lachte vergnügt. Jowy hingegen spürte, wie er unkontrolliert zu zittern begann. Vor lauter Rührung und Dankbarkeit schnürte es ihm die Luft ab und er merkte, wie seine Augen feucht wurden. „Danke“, hörte er sich selbst flüstern, „vielen Dank… Ich bin… so froh…“ Er fand selbst, dass sich das seltsam und fast schon lächerlich anhörte, aber er konnte seine Gefühle nicht in Worte fassen. Dazu war er einfach zu gerührt. „Pilika freut sich auch“, schmunzelte Joanna, was ihre Tochter mit einem lauten: „Ja!“, bestätigte. Während er die kleine Familie betrachtete, die ihm und seinen zwei besten Freunden soeben ein neues Heim angeboten hatte, wurde Jowy klar, dass längst nicht alles in seinem Leben verloren war. Ja, er war ein Highlander… aber es schien ganz so, als könne er noch einmal von vorne anfangen. Etwa eine Stunde später döste Pilika auf dem Schoß ihrer Mutter, während sich die Jugendlichen leise mit den Erwachsenen unterhielten. Sie hatten ihnen noch immer nicht die Wahrheit verraten… aber irgendwie brachte es keiner von ihnen über sich, ein solches Geständnis zu machen. Und Jowy persönlich wollte eigentlich vergessen, wo er ursprünglich herkam. „Vielleicht sollten wir jetzt gehen“, sagte Riou und erhob sich, „die anderen warten bestimmt schon.“ „Was habt ihr jetzt vor?“, fragte Marx ehrlich interessiert, „Werdet ihr Toto wieder verlassen?“ „Ja, wahrscheinlich“, nickte Jowy, „Wir wollen euch nicht allzu lange zur Last fallen.“ „Wir haben euch doch gesagt, dass ihr jederzeit wiederkommen könnt“, entgegnete Joanna lächelnd. „Danke“, murmelte Nanami und lächelte ebenfalls. Die drei Freunde erhoben sich und verabschiedeten sich leise, als Pilika plötzlich die Augen aufschlug und müde blinzelte, ehe ihr Blick auf Jowy fiel und sie augenblicklich wieder wach wurde. „Onkel Jowy… Onkel Riou, Tante Nanami… geht ihr etwa schon?“ „Es ist spät, Liebes“, erklärte Joanna zärtlich, „wir müssen alle ins Bett gehen.“ Doch das Mädchen war bereits vom Schoß ihrer Mutter gerutscht und war zu Jowy gelaufen, um ihn am Hosenbein zu ergreifen und zu fragen: „Könnt ihr nicht noch ganz kurz bleiben?“ „Riou, Jowy und Nanami sind sehr erschöpft, Pilika“, erwiderte Marx, „Lass sie für heute gehen.“ „Schon gut“, winkte Riou ab, „einen Moment können wir sicher erübrigen.“ „Schließlich ist Pilika ja unsere kleine Freundin“, lachte Nanami und strich dem kleinen Mädchen durchs kurze, braune Haar. „Dann aber schnell, Pilika“, sagte Joanna, „es ist Schlafenszeit.“ „Okaaay!“, rief das Mädchen, dann griff sie nach Jowys Hand und führte ihn und die Geschwister in das kleine Nebenzimmer, in dem die Familie schlief. Dort angekommen, zündete sie eine kleine Lampe an, die auf dem Nachttisch stand und bat Riou, die Tür zu schließen. „Was ist denn, Pilika?“, fragte Jowy, den die Geheimniskrämerei etwas irritierte. Pilika blickte sich um, als fürchtete sie, dass jemand lauschen konnte, und winkte die Jugendlichen dann zu sich: „Kommt näher, ganz nah mit dem Ohr dran!“ Die Freunde tauschten einen Blick, ehe sie der Bitte nachkamen. „Worum geht’s, Pilika?“, erkundigte sich nun auch Nanami und das Mädchen warf ihnen einen verschwörerischen Blick zu, ehe es sagte: „Ich hab etwas wirklich Tolles gesehen, als ich mit Mama und Papa in Muse war!“ „Etwas Tolles?“, wiederholte Jowy stirnrunzelnd. Er war sich nicht ganz sicher, wohin dies führen sollte. „Ja“, nickte Pilika und wandte ihm den Blick ihrer leuchtenden Augen zu, „Papa hat bald Geburtstag… und ich möchte ihm etwas wirklich Schönes schenken! Und in einem Laden in Muse hab ich ein schönes Holzamulett gesehen, mit Sternen und einem Fisch! Meint ihr, dass Papa das mögen wird?“ Die Verwirrung wechselte erneut zu Rührung und Jowy grinste leicht, ehe er dem Mädchen durchs Haar streichelte. „Ich bin mir ganz sicher“, versicherte er ihr und wieder strahlte das kleine Mädchen übers ganze Gesicht. Dann sagte sie: „Wisst ihr, wenn ich Mama und Papa helfe, krieg ich zwei Potch. Und ich hab jetzt genug, um das Amulett zu kaufen… Aber allein darf ich das Dorf nicht verlassen. Könnt ihr also nach Muse gehen und das Amulett kaufen? Bitte, bitte?“ „Natürlich“, nickte Jowy sofort, dem in diesem Moment klar wurde, dass er diesen Augen nichts abschlagen konnte, „Nicht wahr, Riou? Nanami?“ Er blickte zu den anderen beiden auf, doch zu seiner Erleichterung lächelten beide. „Sicher“, nickte Riou und auch Nanami nickte. „Klasse!“, verkündete Pilika begeistert, dann hüpfte sie aufgeregt zu dem kleinen Nachttisch und der kleinen Keramikfigur, die wie eine Katze aussah, und nahm den Kopf ab. Erst jetzt erkannte Jowy, dass es sich um eine Spardose handelte. Das kleine Mädchen förderte einen kleinen Haufen Münzen zutage, den sie vorsichtig in einen kleinen Lederbeutel fallen ließ, den Nanami ihr geistesgegenwärtig hinhielt. „Es ist ein Holzamulett und es ist im großen Laden in Muse“, schärfte sie den Jugendlichen noch einmal ein, nachdem Jowy den Beutel behutsam in Empfang genommen hatte, „Nicht vergessen!“ „Keine Sorge“, versprach Nanami und nickte dem kleinen Mädchen aufmunternd zu, „Wir holen das Geschenk. Aber jetzt sei ein braves Mädchen und geh schön ins Bett, ja?“ „Okay“, erwiderte Pilika zufrieden, „Danke.“ „Keine Ursache“, sagte Jowy und lächelte wieder. Irgendwie… mochte er die Unbeschwertheit, die dieses Mädchen ausstrahlte. Kindliche Naivität, ein warmes Heim, liebevolle Eltern… Er wollte hier bleiben und neu anfangen. Kapitel 10: Verlorene Zeit -------------------------- Die Sonne stand schon hoch am Himmel und Jowy streckte die müden Glieder. Der Aufenthalt in Muse war aufregend gewesen, aber auch anstrengend. Keiner von ihnen war in einer Großstadt aufgewachsen und daher hatte die geschäftige Hauptstadt nicht nur den blonden Aristokraten überrumpelt. Es gab dort so viele Menschen, die alle irgendwohin zu eilen schienen, Kutschen, Handkarren und Reiter, die auf den Straßen unterwegs waren, und es herrschte unglaublich viel Lärm. Zu viel für Gengens empfindliche Ohren, der beide Tage ihres Aufenthalts in der Hauptstadt über Kopfschmerzen geklagt hatte. Jowy hingegen war fasziniert. Die Hauptstadt des Staates war ein derart lebendiger Ort, dass sie einen krassen Gegensatz zum verschlafenen Städtchen Kyaro bildete. Er mochte diese Stadt. Pilika hatte ihnen 70 Potch anvertraut und obwohl diese Summe streng genommen nicht sonderlich viel war – für diesen Preis bekam man auf dem Markt nicht einmal ein Päckchen Medizin – erschienen Jowy die Münzen viel, viel wertvoller als alles Geld, das er jemals besessen hatte. Ungeachtet dessen, dass sie erst fünf Jahre alt war, hatte sie dieses Geld mit ehrlicher Arbeit verdient. Und in seinen Augen waren diese 70 Potch etwas ganz Besonderes. Der Juwelier in Muse hatte jedoch anders darüber gedacht. Als sie den Laden endlich gefunden hatten – Pilikas Beschreibung war doch etwas vage gewesen – hatten sie die Kette schnell gefunden. Es war eigentlich nur ein Lederband mit ein paar Holzanhängern daran, ein stilisierter Fisch, einige kleine Sterne und zwei Steuerräder. Allein vom Betrachten hatte Jowy stark vermutet, dass es womöglich aus den Inselnationen stammen konnte, doch genau konnte ihm das nicht einmal der Verkäufer sagen. Er konnte ihm jedoch etwas Anderes sagen: Nämlich, dass die Kette einem Reisenden gehört hatte, die dieser vor Ewigkeiten als Pfand im Laden gelassen, sie jedoch nie abgeholt hatte. Ein Verkauf war ausgeschlossen. Vielleicht hatte der Verkäufer Mitleid gehabt. Vielleicht war ihm plötzlich klar geworden, dass er diese Kette ohnehin niemals mehr loswerden würde, da der eigentliche Besitzer wahrscheinlich ganz vergessen hatte, dass sie existierte. Jedenfalls hatte er ihnen ein Angebot gemacht: Für 500 Potch war er bereit, ihnen die Kette zu verkaufen. Als er den Preis gehört hatte, waren Jowys Gesichtszüge kurzzeitig entgleist und er hatte einen Blick mit Riou gewechselt. So viel Geld hatten sie nicht eingeplant. Doch als Riou einen leisen Seufzer ausstieß und Anstalten machte, seine Geldbörse zu ziehen, um den verlangten Preis zu bezahlen, hatte Jowy bereits eine Entscheidung getroffen. „Wie viel würdet Ihr mir für diesen Ring bezahlen?“ Er hatte die überraschten Blicke seiner Gefährten auf sich gespürt, doch sich dazu gezwungen, sie zu ignorieren, als er den silbernen Siegelring der Atreides-Familie von seinem linken Ringfinger gezogen und ihn dem verblüfften Verkäufer unter die Nase gehalten hatte. „Jowy…“, hatte er Nanamis leisen Protest gehört, doch er hatte nur den Kopf geschüttelt und den Verkäufer angesehen. „Also?“ Der Mann hatte die Stirn gerunzelt, ehe er den Ring in Empfang genommen und ihn genau betrachtet hatte. „Das ist das Siegel einer der Adelsfamilien aus Highland“, hatte er schließlich nach einer langen Pause festgestellt, „das Silber ist makellos. Ich vermute, er ist an die 3000 Potch wert.“ Jowy hatte sich abwesend den unangenehm kribbelnden Finger gerieben, an dem der Ring zuvor gesteckt hatte, und dann mit überraschend fester Stimme gesagt: „Behaltet das übrige Geld und gebt mir nur die Kette.“ Der Juwelier hatte sich vor Überraschung verschluckt und leicht gehustet: „Seid ihr euch da ganz sicher? Dieser Ring ist mehr wert und ich kann Euch…“ „Nein, schon gut“, hatte der junge Aristokrat ihn unterbrochen, „ich möchte ihn nicht mehr. Die Kette ist genug.“ Er hatte skeptische Blicke geerntet, doch schlussendlich waren sie mit dem Geburtstagsgeschenk wieder aus dem Laden getreten. Ob er sich das auch ganz genau überlegt hätte, hatte Nanami gefragt. Ob das nicht ein Fehler wäre. Ob ihn denn wirklich nichts mehr mit seiner Familie verband. Er hatte keine Antwort auf diese Fragen. Seit sie Highland verlassen hatten – Hals über Kopf, ohne recht zu wissen, was genau auf sie zukam – war der Ring mehr und mehr zu einem höhnischen Mahnmal geworden. Er wollte ihn nicht mehr. Er war eine Last gewesen, die er jetzt losgeworden war. Ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren war, würde sich noch herausstellen. Sie befanden sich auf dem Rückweg nach Toto. Die warmen Sonnenstrahlen versprachen schon jetzt einen heißen Sommer und er dachte zurück an unbeschwerte Tage aus seiner Kindheit, in denen er mit Riou und Nanami lachend durch die Straßen von Kyaro gelaufen war. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er erschrocken zusammenzuckte, als Shiro plötzlich zu bellen begann. Verwirrt drehte er sich zu dem Wolfshund um, der stehen geblieben war und nun laut knurrte. „Was ist denn los, Shiro?“, fragte Kinnison verblüfft, „Riechst du etwas?“ Der Hund knurrte nur noch lauter und legte die Ohren an, ehe er zu winseln begann. Da jedoch stellte Gengen die Ohren auf und schnupperte: „Riecht nach Rauch, jawohl. Geruch nicht gut. Nicht hierher gehören!“ „Das Dorf!“, japste Millie in diesem Moment und zeigte nach Osten, dahin, wo das Dorf Toto lag. Jowy fuhr herum und erstarrte, als er eine Rauchfahne entdeckte, welche den Himmel in der Ferne verdunkelte. Fassungslos starrte er die schwarzen Schwaden an, die hinter dem kleinen Wald aufstiegen, und spürte, wie ein fassungsloses Grauen von ihm Besitz ergriff. „Nein…“ „Wir müssen uns beeilen“, ertönte Rikimarus Stimme wie aus weiter Ferne, „los!“ Jowy spürte, wie Riou ihn am Arm ergriff und mit sich zog, als die Gruppe zu rennen begann. Noch bevor sie das Dorf erreichten, wusste Jowy, dass sie viel, viel zu spät kamen. Die Dorfmauern waren heruntergebrannt und von den Häusern war nicht viel mehr übrig als zerfallene, verbrannte Ruinen, deren Asche noch immer glomm. Entsetzen schien ihm die Luft abzuschnüren, als er zögernd einen Fuß vor den anderen setzte und das Ausmaß der Zerstörung betrachtete. Ein kaltes, schweres Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und er spürte, wie ihm übel wurde, als ein Blick über leblose Körper, Blutlachen und letzte Feuerherde glitt. „Was… was zum…?“ Seine Stimme zitterte. „Das… das glaube ich einfach nicht“, hörte er Nanami neben sich hauchen und er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Shiro winselte leise… vielleicht war es aber auch Gengen, er wusste es nicht. Es spielte keine Rolle. All das… das war zu viel. Das Abschlachten der Einhorn-Brigade, der Verrat seiner Familie und jetzt das! Er spürte, wie in seinem Inneren erneut etwas zerbrach, viel heftiger als zuvor. Und dann fasste er eine Entscheidung und rannte los. „Jowy?!“, schrie Riou ihm hinterher, doch er blieb nicht stehen, „Wo willst du hin?!“ „Ich muss sie finden!“, brüllte er zurück und beschleunigte seine Schritte noch weiter, verzweifelt versuchend, nicht auf die Zerstörung um sich herum zu achten. Er wusste selbst nicht genau, warum er überhaupt nach ihnen suchen wollte. Letzten Endes würde er ja doch nichts ändern können. Aber er konnte nicht… er konnte nicht einfach…! Der Schrei eines Kindes ließ ihn erstarren. Es war ein verzweifeltes Weinen, ein hysterisches Schluchzen, das da offensichtlich aus dem Mund eines Kindes kam. Jowy spürte, wie ein kleiner Funke Hoffnung sich in seinem Inneren entzündete. Vielleicht… vielleicht… Er wandte sich in die Richtung, aus der das Weinen kam, und als er zwischen zwei verbrannten Häusern hindurchschritt, fiel sein Blick auf drei Personen, die in einiger Entfernung dicht beieinander standen. Einer von ihnen war ein junger Mann in fremdländischer Kleidung, der mehr als überfordert mit der Situation aussah, die zweite Person war die grimmige Frau, die er bei seinem letzten Besuch in Toto bemerkt hatte, und die dritte… „Pilika!“ Die drei sahen auf und das kleine Mädchen schluchzte auf, als sie ihn erkannte. Sie stürzte völlig verheult in seine Arme und klammerte sich hilfesuchend an ihn, während ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. „Was… was ist denn nur passiert…?“ „Jowy!!“ Er blickte kurz über seine Schulter zurück und sah, dass der Rest der Gruppe ihn eingeholt hatte; sie sahen genauso verloren aus, wie er sich fühlte. „Seid ihr Freunde des Mädchens?“, fragte die große, grimmige Frau, die im Moment gar nicht so grimmig aussah. Vielmehr wirkte sie verzweifelt, gebrochen, hilflos. Und wenn er sich nicht stark irrte, war sie verletzt… oder das Blut auf ihrer Rüstung stammte von jemand anders. „Ich… ja“, antwortete Riou, „Was ist hier passiert?“ Die Frau schüttelte den Kopf und erwiderte leise: „Ich… ich konnte nichts tun…“ Jowy und Riou wechselten einen Blick, ehe der Aristokrat das kleine Mädchen in seinem Arm näher an sich drückte und ihr übers Haar strich. Bei den Runen, was sollte er nur tun? Wie konnte er ein Kind trösten, wenn er selbst nicht wusste, was zu tun war? Wie sollte er ihr erklären…? „Pa-pa-papa… Papa hat gesagt ‚Versteck dich!’, also… also…“, begann Pilika schluchzend und er starrte mit wachsendem Grauen auf ihren Hinterkopf hinunter, „also hab ich mich versteckt. Ganz gut, niemand… niemand hat mich gefunden! Aber, aber… es war so laut! Ich hab Lärm gehört, viel Lärm… ganz viel Angst-Lärm!“ Wieder schluchzte das Mädchen herzzerreißend auf und weinte in sein Hemd, ehe sie fortfahren konnte: „Also… also… habe ich hingesehen, nur ganz, ganz kurz… und, und, und…! Mama und Papa lagen da und sie… sie haben sich nicht bewegt! Und da war überall… rotes, klebriges Zeug… und ich… ich…!“ Sie heulte auf und begann, vehement den Kopf zu schütteln, während sie immer lauter weinte. Erst nach einer ganzen Weile, in der das kalte Gefühl in Jowys Magengegend immer schwerer zu werden schien und ihm immer übler wurde, erzählte Pilika leise weiter: „Ich… ich… ich… Ich weiß… Mama und Papa sind… sie sind tot, nicht wahr? Papa hat mir davon erzählt, als meine Katze gestorben ist… aber… aber…“ Sie hielt inne und sah zu ihm auf, mit großen Augen voller Tränen. „Aber es ist in Ordnung. Papa… Papa hat gesagt, dass es nicht schlimm ist, tot zu sein… Das ist, als wenn man weit, weit weg geht… nicht wahr? Nicht wahr? Ich… ich werd ein braves Mädchen sein…“ Gerade hatte er gedacht, dass sie sich beruhigt hätte, doch in diesem Moment fing sie wieder an zu weinen und nach ihren Eltern zu rufen. Hilflos drückte er das Mädchen fester an sich und wünschte sich verzweifelt, etwas tun zu können, um sie zu beruhigen. „Hallo?“, ertönte plötzlich eine Stimme und er hob den Kopf und sah sich um, genau wie alle anderen, „Ist hier irgendjemand? Hallo!“ Eine junge Frau mit kinnlangen, braunen Haaren, einer großen Brille und mit einem langen, gelben Mantel bekleidet, unter dem sie ein beiges Hemd und eine weiße Hose zu tragen schien, tauchte plötzlich zwischen den zerfallenen Häusern auf. Sie hielt ein Buch an sich gedrückt und sah sich um, scheinbar auf der Suche nach jemandem. Dann schien sie die Gruppe zu bemerken, die sich um Jowy und Pilika versammelt hatte, und eilte auf sie zu. „Ihr… ihr seht nicht aus wie Highland-Soldaten“, bemerkte sie, nachdem sie jeden der Anwesenden in Augenschein genommen hatte, „Seid ihr Überlebende?“ Jowy nickte nur, dann fragte Riou: „Was ist hier passiert?“ Die junge Frau betrachtete kurz die zerstörten Häuser um sie herum, dann sagte sie leise: „Luca Blight. Er und seine Armee haben dieses Dorf überrannt. Er hat alles geraubt, was er konnte, und dann alles in Brand gesteckt, nur um seine Männer zu unterhalten. Und als nächstes wird er…!“ Sie hatte sich in Rage geredet und schüttelte nun den Kopf, ehe sie tief Luft holte und fragte: „Kennt ihr einen Mann namens Viktor? Er ist ein Söldner und sollte sich hier ganz in der Nähe aufhalten…“ „Ja, wir kennen ihn“, bestätigte Riou, „Warum?“ „Wir haben keine Zeit“, erwiderte die junge Frau gepresst, „wenn ihr ihn kennt, dann bringt mich bitte so schnell es geht, zu ihm!“ „Warte!“, rief Jowy, „Pilika weint immer noch!“ Die junge Frau warf ihm einen mitleidigen Blick zu, schüttelte den Kopf und sagte: „Tut mir leid, aber wir haben absolut keine Zeit. Schleif sie mit dir, wenn du musst, aber wir müssen unbedingt gehen!“ Nur widerstrebend hatte Jowy dieser Anweisung Folge geleistet. Er trug die noch immer schluchzende Pilika auf dem Arm, während er Riou und den anderen folgte. Apple – so hieß die junge Frau mit der Brille – schien es eilig zu haben und trieb sie ständig vorwärts. Doch niemand protestierte. Die zwei anderen, die sie neben Pilika angetroffen hatten, waren Reisende, die gerade in Toto Halt gemacht hatten, als die Highlander eingefallen waren. Der junge Mann – Zamza – hatte die ganze Zeit über nicht viel gesagt, sondern ihnen allen nur überhebliche Blicke zugeworfen, sodass Jowy sich nicht ganz sicher war, was er von diesem Kerl halten sollte. Die große Frau hieß Hanna und hatte ihnen leise davon berichtet, wie sie verzweifelt versucht hatte, eine Gruppe Kinder zu beschützen, jedoch verwundet und einfach liegen gelassen worden war, da sie ihr Bewusstsein verloren hatte und die Soldaten wohl gedacht hatten, dass sie tot war. „All die Jahre des Trainings“, murmelte sie leise, „alles umsonst… ich konnte niemanden beschützen…“ Jowy hätte gerne etwas gesagt, um sie aufzuheitern, doch ihm fiel nichts ein. Er drückte Pilika, deren Schluchzer inzwischen leiser wurden, enger an sich und ließ seinen Blick über die Gruppe gleiten. Kinnison schritt mit grimmiger Miene neben ihm her, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Seine Hand fuhr von Zeit zu Zeit durch Shiros weißes Fell, der mit hängenden Ohren neben seinem Herrchen hertrabte. Sogar der Hund schien betrübt zu sein. Millie hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als fürchtete sie, dass etwas in ihr zerbersten könnte, wenn sie es nicht tat, und Bonaparte saß auf ihrem Kopf, eingebettet in die große Ballonmütze. Vielleicht spürte das Tierchen die Verzweiflung seiner Besitzerin. Jedenfalls verhielt es sich so still wie nie zuvor… Rikimaru stützte Hanna und blickte nach vorn, sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Doch in seinen dunklen Augen tobte ein Sturm. Gengen schlich mit hängenden Ohren und ungewohnt schweigsam hinter ihnen her. Der Kobold sah zu Boden und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen… wie sie alle. Riou hatte einen Arm um Nanamis Schultern gelegt und spendete seiner Adoptivschwester stummen Trost, während sie von Zeit zu Zeit einen Blick über ihre Schulter warf, als wolle zurück. Jowy seufzte leise und schüttelte den Kopf. Traurige Gesichter, rasende Gedanken… Der Krieg hatte begonnen. Im Söldnerfort angekommen, liefen sie fast sofort Viktor und Flik über den Weg, die mehr als erstaunt zu sein schienen. „Hey, wenn das nicht Apple ist!“, rief der hochgewachsene Söldner, als er die Gruppe erblickte, „Meine Güte, bist du groß geworden, wir haben uns ja ewig nicht gesehen!“ „Du!“, rief Apple wütend, machte einen entschlossenen Schritt auf ihn zu und stieß ihm einen Finger in die Brust, „Spielst dich hier als Pate aller Söldner auf und benachrichtigst uns nicht einmal?! Wir haben uns verdammte Sorgen gemacht!“ Viktor blinzelte überrumpelt und sah auf sie hinunter, während Flik ihn ungläubig anstarrte. „Du hast wirklich Nerven, Viktor!“, knurrte der blaugekleidete Söldner aufgebracht, „Ich kann es nicht glauben! Du hast gesagt, du würdest ihnen Bescheid geben!“ Mit der Situation überfordert, begann Viktor nervös zu lachen, räusperte sich dann und fragte laut: „Was führt dich denn überhaupt her, Apple?!“ Die Brillenträgerin zuckte zusammen und sah kurz zur Seite, dann erkundigte sie sich leise: „Können wir irgendwo hingehen… wo man sich in Ruhe unterhalten kann?“ „Sicher“, erwiderte Flik verblüfft und bedachte die Gruppe zum ersten Mal bewusst mit einem langen Blick, runzelte dann besorgt die Stirn und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Mit der inzwischen eingeschlafenen Pilika auf dem Arm folgte Jowy ihnen, ohne wirklich darüber nachzudenken. Seine Bewegungen schienen automatisiert, fast, als würde sein Körper ohne sein Zutun handeln; mit nichts sehendem Blick folgte er einfach Rious gleichmäßigen Schritten. Erst in dem großen Konferenzraum war er in der Lage, sich zusammenzureißen und in die Gegenwart zurückzukehren. Viktor und Flik fixierten die müden, deprimierten Gesichter besorgt, dann fragte der bärige Söldner: „Was ist passiert?“ „Luca Blight hat das Dorf Toto angegriffen“, antwortete Apple kopfschüttelnd. Sie war ruhiger, als sie hätte sein dürfen – immerhin war vor nicht allzu langer Zeit ein ganzes Dorf dem Erboden gleichgemacht worden. Aber irgendwie hatte Jowy das Gefühl, dass die junge Frau in einer absurden Weise an Krieg gewöhnt war. „Ich bin hergekommen, um euch zu warnen“, fuhr sie fort und blickte die beiden Söldner ernst an. „Luca Blight…“, knurrte Flik und biss sich auf die Lippe, „Dieser Mistkerl!“ „Es ist furchtbar“, sagte Apple und klang plötzlich doch erschöpft, als ob sie sich erst jetzt erlaubte, die Erinnerungen an das Gesehene ihrer habhaft zu werden, „Er hat alles geraubt, was zu holen war, und dann haben sie das Dorf bis auf die Grundmauern heruntergebrannt. Diese Leute“, sie wies auf Pilika, Hanna und Zamza, „sind die einzigen Überlebenden.“ „Verdammt!“, fluchte Viktor, „Was hat er vor?!“ „Er plant eine Invasion des Staatenbundes“, erklärte Apple, „Toto war nur eine Aufwärmübung… Dieses Fort steht ihm im Weg, Viktor. Wenn er es ignoriert, riskiert er, an seinen Flanken angegriffen zu werden, wenn er nach Muse marschiert.“ „Und Agares lässt das einfach so zu?“, verlangte Viktor zu wissen und schüttelte ungläubig den Kopf, „Das ist doch ein Scherz. Agares mag stur sein, aber es ist kein Idiot!“ „Soweit ich weiß, hat Luca eine Art Überraschungsangriff auf die Jugendbrigade der Armee von Highland befohlen und es so gedreht, dass es aussah wie ein Angriff des Staats. Und jetzt schreit das ganze Land nach Rache für die jungen Männer, die ihre Leben bei diesem Angriff lassen mussten! Das kann Agares nicht ignorieren, er würde einen Bürgerkrieg provozieren.“ Apple stieß aufgebracht Luft aus ihren Lungen, dann sagte sie: „Er mag sich für den Moment vom Gebiet des Staates zurückgezogen haben, aber ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Luca Blight wieder angreift.“ „Er kann doch nicht jeden mit diesem Zirkus zum Narren halten!“, rief Flik und schlug mit der Faust so laut auf den Tisch, dass Pilika zusammenzuckte und erwachte. Erschrocken begann das kleine Mädchen wieder zu weinen und Jowy beeilte sich, ihr beruhigende Worte ins Ohr zu flüstern. Flik beobachtete die Szene zerknirscht, schüttelte dann den Kopf und seufzte schwer. „Ihr habt gute Arbeit geleistet“, sagte Viktor daraufhin, „Flik, Apple und ich werden das ganze weiter besprechen. Warum geht ihr nicht und ruht euch aus? Ihr müsst müde sein. Für die Neuankömmlinge gibt es auch Platz genug.“ Er warf Millie, Rikimaru, Kinnison, Hanna und Zamza ein flüchtiges Lächeln zu, dann kratzte er sich am Kopf. Zum ersten Mal, seit Jowy den Söldner kannte, wirkte der Bär verloren. „Danke“, seufzte Jowy schließlich, dann wandte er sich ab und bahnte sich mit der noch immer weinenden Pilika einen Weg nach draußen. Wieso konnte man die Zeit nicht zurückdrehen? Kapitel 11: Die Ruhe vor dem Sturm ---------------------------------- Nanami hatte ihm angeboten, Pilika in ihr Zimmer zu bringen, damit sich die Kleine beruhigen konnte, fernab von den Söldnern, die ihr ohne Zweifel Angst machten. Jowy legte das kleine Mädchen in das Bett und deckte sie zu; Pilika zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch und sah ihn mit ihren großen, tränenverschleierten Augen an. „Onkel Jowy…“, flüsterte sie erstickt und er nickte aufmerksam, ehe er ihr tröstend übers Haar strich. Es fühlte sich noch immer so paradox an – er kümmerte sich hier um ein Kind und das obwohl er selbst vor nicht allzu langer Zeit dem Kindesalter entwachsen war. In den Augen der Söldner war er noch immer ein Kind… „Was ist denn, Pilika?“ „Kannst du… Kannst du mir eine Geschichte erzählen? Bitte?“ Sie schniefte leise und sah ihn flehend an. Eine Geschichte. Das war keine gute Idee. Er war kein Geschichtenerzähler, sondern eher der Leser. Früher hatte er sich gern hinter dem einen oder anderen Buch vergraben, doch jetzt fühlte sich der Gedanke daran, ein Buch zur Hand zu nehmen, einfach nur falsch an. Dennoch überlegte er fieberhaft, bis ihm eine mehr oder weniger harmlose Geschichte einfiel, die er noch aus seiner eigenen Kindheit kannte. Er erzählte leise, manchmal stockend, doch Pilika lauschte ihm aufmerksam, fast schon dankbar dafür, dass er sie von den Schrecken ablenkte, die sie Stunden zuvor hatte mit ansehen müssen. Irgendwann nickte sie ein und er betrachtete schweigend, deprimiert ihr schlafendes Profil, bis sie begann, sich hin und her zu wälzen. Ein Albtraum. Natürlich. „Pilika“, rief er leise und berührte sie sachte an der Schulter, woraufhin das Mädchen aus dem Schlaf fuhr und schluchzend das Gesicht in seinem Hemd verbarg. „Mama!“, weinte sie laut, „Papa!“ Jowy spürte, wie sein Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Bei den Runen, warum war er nur so hilflos? Warum konnte er nichts tun?! Es dauerte lange, bis Pilika sich in den Schlaf geweint hatte. Sie hatte sich nicht beruhigt, es war lediglich die Erschöpfung, die irgendwann ihren Tribut gefordert hatte. Er beobachtete sie aufmerksam, doch sie schien traumlos zu schlafen, wie immer, wenn man vor Erschöpfung einfach zusammen brach. Ihre Wangen waren noch immer tränennass… „Jowy…?“ Er zuckte zusammen und fuhr herum, doch es war nur Riou, der unsicher im Türrahmen stand. „Du bist es“, stellte Jowy leise fest und Riou nickte, ehe er leise die Tür hinter sich schloss und näher ans Bett trat. „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Jüngere besorgt und der blonde Aristokrat zuckte die Achseln. „Sie hat sich endlich in den Schlaf geweint…“, antwortete er mit einem Seufzer und rieb sich müde mit dem Handrücken über die Augen. „Das arme Mädchen“, murmelte Riou mitfühlend und Jowy nickte nur. Was sollte er darauf auch erwidern? Sein Herz schien vor Mitleid zu platzen. „Und was ist mit dir?“ Er hob den Blick und sah in besorgte, braune Augen. „Ich…“ Er verstummte wieder. In seinem Kopf ging so viel vor, dass er einen Moment brauchte, bis er ein wenig Ordnung in das Chaos seiner Gedanken gebracht hatte. Dann sagte er leise: „Ich weiß nicht mehr, wo ich hingehöre, Riou. Ich bin ein Highlander und trotzdem haben sie uns gejagt… Irgendwie habe ich immer gedacht, dass wir eines Tages zurückkehren können, aber… das Massaker an der Einhorn-Brigade, Captain Rowds Verrat, das Zerstörung von Toto…“ Er schüttelte hilflos den Kopf. „Ich weiß einfach nicht mehr, wem ich vertrauen kann.“ Einen Moment lang sagte Riou nichts. Dann breitete sich ein aufmunterndes Lächeln auf seinem Gesicht aus und er erwiderte: „Du kannst mir vertrauen, Jowy.“ Jowy starrte ihn wortlos an, bis die Worte langsam in sein Bewusstsein drangen. Er spürte, wie eine Welle der Rührung ihn erfasste und wie sich seine Lippen langsam zu einem dankbaren Lächeln verzogen. Natürlich. Riou war ein fester Punkt in seinem Leben gewesen, seit sie sich kannten. Nanami natürlich auch, aber mit Riou hatte ihn immer mehr verbunden… da war so vieles! Es war immer Riou gewesen, zu dem er hatte gehen könnten, wenn er zu Hause wieder einmal mit Marcel oder Marco gestritten hatte, und es war auch Riou gewesen, der die ganze Zeit an seiner Seite gewesen war, seit all das angefangen hatte. „Danke… Riou.“ Einen Moment fixierten sie einander, dann sagte Riou: „Pohl hat ein Bad organisiert. Du solltest die Gelegenheit nutzen, solange das Wasser noch heiß ist.“ Jowy warf einen kurzen, zweifelnden Blick auf die schlafende Pilika, dann seufzte er und nickte. Er war sich im Klaren darüber, dass es keinen Sinn hatte, die Bedürfnisse seines eigenen Körpers zu vernachlässigen – und im Augenblick gehörten ein Bad, eine Mahlzeit und eine Mütze voll Schlaf auf jeden Fall dazu. Als er am nächsten Morgen – oder vielmehr Mittag – die Augen aufschlug und sich in der Küche einfand, wo Leona Gnade vor Recht ergehen ließ und ihm ein verspätetes Frühstück gewährte, waren alle anderen bereits wach und auf den Beinen. Ein völlig übermüdeter Söldner erzählte ihm, dass Bonaparte die halbe Nacht beunruhigende Geräusche von sich gegeben hatte, bei denen nur Millie hatte ruhig schlafen können, und plötzlich war Jowy unheimlich froh, dass sein Bett sich in einem anderen Schlafsaal befand. Seltsam, wie das Leben einfach weiterging, obwohl gestern eine Welt zusammengebrochen war. Aber die Menschen schliefen, aßen und lebten, als sei nichts gewesen. Aber was blieb ihnen auch Anderes übrig…? Jowy war klar, dass man nicht in der Vergangenheit leben konnte, egal, was passierte. Doch Apple, die ihm beim Mittagessen seine Gedanken anzusehen schien, erklärte ihm leise, dass es im Krieg nur den Blick nach vorne gab. Bei diesen Worten wirkte sie älter als sie war, als hätte sie mit ihren 18 Jahren mehr gesehen als sie hätte sehen sollen. Nachdem er sich dazu durchgerungen hatte, sie zu fragen – er wollte nichts vom Krieg hören, nicht jetzt – erzählte sie ihm tatsächlich, dass sie vor drei Jahren ein Teil der Befreiungsarmee im Torrunenkrieg gewesen war. „Das ist eine lange Geschichte“, seufzte sie schließlich, „und besser dafür geeignet, zu einem anderen Zeitpunkt erzählt zu werden.“ „Hm.“ Vielleicht konnte man ihm ansehen, dass ihm das Thema nicht behagt, vielleicht wollte die junge Frau auch selbst nicht an den letzten Krieg denken. Jedenfalls ebbte das Gespräch ab und Jowys Gedanken begannen wieder, einander unkontrolliert zu jagen, bis er Kopfschmerzen bekam. Eine Woche verstrich quälend langsam und Jowy rechnete jeden Tag mit einem Angriff der Highland-Armee, doch es blieb besorgniserregend ruhig. So ruhig, dass er sich schon fast wünschte, dass irgendetwas geschehen würde. Pilika schien sich einigermaßen erholt zu haben. Sie war traurig, ja, aber wenigstens weinte sie nicht mehr so oft. Nur ein-zwei Mal hatte sie Nanami nachts wegen eines Albtraums geweckt, doch anscheinend war es nichts Schlimmes gewesen. Jedenfalls war es das, was Jowy hoffte. Er wollte nicht, dass sie litt, das hatte sie nicht verdient. Sie war erst fünf Jahre alt. In diesem Alter hätte sie lachend durch ihr Elternhaus laufen und mit Gleichaltrigen spielen sollen. Doch der Status quo sah nun einmal anders aus… „Da seid ihr ja!“ Leonas Stimme schreckte Jowy aus seinen Gedanken und er sah etwas verwirrt zur Tür. Riou und er hatten in einem der Lagerräume der Söldner aufgeräumt – wie die Männer es hinbekamen, überall, wo sie auftauchten, totales Chaos zu hinterlassen, war ihm ein Rätsel – um wenigstens irgendetwas tun zu können. Die Bardame hatte dunkle Ringe unter den Augen, doch die hatte inzwischen fast jeder Bewohner des Söldnerforts; Stress forderte nun mal irgendwann einen Preis. „Viktor sucht euch“, erklärte sie und sah sich im halb aufgeräumten Lagerraum um, ehe sie den Jungen in die Augen sah. Einen Moment zögerte sie, als wollte sie etwas sagen – in ihren Augen flackerte Mitleid auf – dann sagte sie: „Geht besser schnell hin, er scheint wieder irgendwas vorzuhaben.“ Riou und Jowy tauschten einen Blick, bedankten sich und eilten hinauf in den Konferenzraum, wo bereits Flik, Viktor und Apple warteten. Sie wirkten entschlossen, als hätten sie einen Plan. „Hallo, ihr zwei“, begrüßte Viktor die beiden. Sie murmelten ebenfalls eine Begrüßung, dann ergriff Riou das Wort: „Leona hat gesagt, du hast nach uns gesucht?“ „Ja“, erwiderte der Söldner, „Ich fürchte, ich muss euch um einen Gefallen bitten.“ „Einen Gefallen?“ „Wir wissen nicht, wie lange dieses Fort gegen Luca Blight standhalten kann“, erwiderte Viktor, „aber wir haben beschlossen zu kämpfen.“ Jowy blinzelte überrascht. „Wirklich?“ Flik nickte. „Ja. Ich werde heute Nachmittag nach Muse aufbrechen und versuchen, Verstärkung anzufordern.“ „Und ich werde Fallen aufstellen“, fügte Apple hinzu, „Kinnison hat sich bereit erklärt, mir zu helfen.“ „Ich werde Waffen und Soldaten sammeln. Wir werden einfach alles nutzen, was wir finden können“, schloss Viktor zuversichtlich. „Ihr habt also eine Strategie?“, stellte Riou klar und Apple nickte entschieden: „Ich war zwar nur eine Schülerin unter Meister Mathiu, aber ich will verdammt sein, wenn ich nicht wenigstens etwas gelernt habe!“ Mathiu? Meinte sie etwa den Mathiu Silverberg, den berühmten Strategen, der die Befreiungsarmee in der Republik Toran, dem ehemaligen Reich des Scharlachroten Mondes, angeführt hatte? Das erklärte eine Menge. Apples Ruhe angesichts der Zerstörung in Toto, der Rat, den sie Jowy gegeben hatte… Ganz offensichtlich hatte sie viel erlebt. Jowys Blick wanderte gedankenverloren durch den Raum, bis er auf ein langes, undefinierbares Etwas aufmerksam wurde, das von einem groben Leinentuch verdeckt wurde und an der Wand lehnte. Was im Namen der Runen war das? „Seht euch das hier mal an, ihr beiden“, sagte Viktor in diesem Moment, trat zu dem seltsamen, verdeckten Gegenstand und nahm das Tuch ab. Zum Vorschein kam ein Speer, doch er sah anders aus als alle Speere, die Jowy je gesehen hatte. Er war dicker und wirkte schwerer, die Klinge war länger und schien durch einen seltsamen Mechanismus mit einem Behälter am stumpfen Ende der Waffe verbunden zu sein. Über eine so eigenartige Konstruktion konnte er nur die Stirn runzeln. Allen voran machten ihn die kupferroten Stellen auf dem Stahl stutzig. „Was ist das?“, fragte Riou neugierig und Viktors schwarze Augen blitzten vergnügt auf. „Man nennt sie Feuerspeere“, erklärte der Söldner, offensichtlich sehr zufrieden mit sich selbst, „Sie wurden vor einigen Jahren von Zwergen geschmiedet – für den Krieg in Toran. Aus den Spitzen kommt Feuer!“ Seine Begeisterung für die Waffen schienen die anderen Anwesenden nicht zu teilen. Während Apple erstaunt zu sein schien, die Speere zu sehen – irgendwie hätte es Jowy nicht gewundert, wenn Viktor die Waffen ohne Erlaubnis einfach mitgenommen hatte, als er und Flik den Kontakt zu ihren alten Freunden verloren hatten – blickte Flik eher missbilligend drein. Und sein Blick galt ganz eindeutig den kupferfarbenen Flecken. „Wir haben 30 dieser Speere im Lager“, fuhr Viktor fort, „und sie können wirklich nützlich sein, aber…“ Er wurde rot. „Sie sind ganz verrostet.“ „Ich hab dir doch gesagt, dass du besser auf dein Spielzeug aufpassen sollst“, knurrte Flik vom anderen Ende des Raumes und pustete sich entnervt ein paar verirrte Haarsträhnen aus der Stirn, ehe er die Arme verschränkte und einfach nur den Kopf schüttelte. „Ruhe!“, schnappte Viktor böse, was Flik lediglich mit einem lauten Schnauben quittierte. Der hochgewachsene Söldner räusperte sich, dann wandte er sich wieder an die beiden Jungen, die den Austausch etwas verwirrt verfolgt hatten: „Jedenfalls brauchen wir jemanden, der die Feuerspeere wieder repariert. Das Problem ist, dass ich das nur einem Mann zutraue und den kann ich momentan nicht erreichen, weil ich hier zu tun habe. Er wohnt ganz in der Nähe und man nennt ihn ‚Tsai des Gottesspeers’. Ich möchte euch beide bitten, nach ihm zu suchen und ihn, wenn möglich, zu überzeugen, uns zu helfen. Würdet ihr das machen?“ Riou und Jowy tauschten einen Blick, dann nickten beide und Riou erwiderte: „Sicher.“ „Wirklich?“ Viktor wirkte ehrlich überrascht, dann grinste er. „Vielen Dank. Ich zähle auf euch!“ Flik seufzte ergeben, dann kramte er in einem der Schränke herum, holte einen Lederbeutel hervor und ließ ihn in Jowys Hand fallen. „Ich habe ein wenig Geld zurückgelegt, mit dem ihr Tsai für seine Arbeit bezahlen könnt“, erklärte er, dann grinste er leicht und fügte hinzu, „Am besten gebt ihr unterwegs nicht alles aus.“ „Keine Sorge“, versicherte Jowy amüsiert, der über das seltsame Verhältnis der beiden Söldner zueinander nur grinsen konnte. „Tsai lebt in der Nähe des Dorfes Ryube“, erklärte Apple und zeigte auf einen Punkt zwischen dem Dorf und den Tenzaan-Bergen auf der Karte, „er hat sich in die Berge zurückgezogen. Ich würde ja Kinnison bitten euch, zu begleiten, aber…“ „Schon gut“, unterbrach Riou sie hastig, „Wir finden ihn schon. So groß ist der Wald um Ryube nicht.“ „Danke“, wiederholte Viktor, „Seid vorsichtig… nehmt am besten noch jemanden mit euch. Nur für alle Fälle.“ „Machen wir“, nickte Jowy. Dann hoben die Jungen zum Abschied die Hände und verließen den Konferenzraum. Sie baten Nanami, bei Pilika zu bleiben, und Rikimaru würde sie nach Ryube begleiten. Jowy hatte vorgehabt, Zamza ebenfalls zu fragen, doch dieser hatte den jungen Aristokraten mit den Worten abgefertigt, dass er kein Botenjunge war und sicherlich keine niederen Arbeiten erledigen würde, woraufhin Jowy es vorgezogen hatte, die Flucht zu ergreifen. Dieser Kerl war ihm zunehmend unsympathisch und die Tatsache, dass er bereits in den ersten Stunden seines Aufenthaltes nach einem Einzelzimmer verlangt hatte, trug nicht gerade positiv zu seinem Eindruck über den Feuermagier bei. Gengen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich um Shiro zu kümmern, solange Kinnison Apple half, und der Kobold und der Wolfshund schienen sich prächtig zu vertragen. Millie leistete Nanami Gesellschaft und irgendwie fand Jowy es sehr besorgniserregend, dass Pilika von Bonaparte so fasziniert war. Aber er verdrängte den Gedanken daran, so gut es ging, und konzentrierte sich auf das Gespräch, in das Riou und Rikimaru vertieft waren. „Wie geht es Hanna? Ich hab sie kaum gesehen“, sagte Riou gerade. „Die Wunde war nicht so tief“, erwiderte Rikimaru achselzuckend, „es lag alles am Blutverlust. Aber warum fragst du ausgerechnet mich?“ Er schmunzelte. „Ihr scheint auf einer Wellenlänge zu sein“, erklärte Riou mit einem Grinsen, „ihr seid beide Krieger, kommt beide aus einem anderen Land...“ „Hm, das stimmt…“ Rikimaru kratzte sich am Hinterkopf und meinte dann: „Ich bin so lange allein gereist, da ist es fast schon ungewohnt, Gesellschaft zu haben.“ Der Schwertkämpfer lachte sein tiefes Lachen und sagte noch etwas, doch Jowys Gedanken schweiften schon wieder ab. Wenn sie diesen Tsai fanden, würde er ihnen helfen? Und wenn ja, würden die Feuerspeere rechtzeitig fertig sein, damit die Söldner sie verwenden konnten, wenn die Highland-Armee angriff? Er hielt in seinen Gedanken inne, als ihm klar wurde, was er da gerade gedacht hatte. Es waren seine Landsmänner, gegen die die Söldner sich gerade zum Kampf rüsteten. Möglicherweise waren es Männer, die er kannte. Und dennoch überlegte er, ob die Staatler sie besiegen konnten. Er dachte wie der Vaterlandsverräter, für den man ihn zu Hause hielt. Jowy presste die Zähne fest aufeinander und ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass seine Fingernägel schmerzhaft in die Haut schnitten. Er wollte das nicht. Die Hütte, die einer der Dörfler ihnen beschrieben hatte, war leer, als die drei sie betraten. Jowy sah sich in dem einzigen Raum um und fixierte die leeren Regale, das gemachte Bett und die kalte Feuerstelle. „Niemand da“, stellte er fest und runzelte die Stirn. Auch Riou schien ratlos. „Was sollen wir machen?“, fragte Rikimaru, „Warten wir?“ Erneut fixierte Jowy die verlassene Hütte, dann seufzte er und erwiderte: „So wie es aussieht, wird das wohl nichts bringen. Ich glaube nicht, dass er zurückkommt.“ „Ich mag es nicht besonders, wenn jemand ohne meine Erlaubnis mein Haus betritt.“ Die drei fuhren erschrocken zusammen und wandten sich zur Tür um, in der ein Mann stand, den Jowy auf etwa Mitte 30 schätzte. Er hatte schwarzes Haar, das zu einem festen Knoten hochgebunden war, einen leichten Dreitagebart und trug eine sandfarbene Hose und ein dazu passendes Hemd mit weiten Ärmeln, darüber eine grüne Tunika. In der Hand hielt er einen Speer und er betrachtete die Eindringlinge missbilligend. „Bist… Bist du Tsai des Gottesspeers?“, fragte Jowy vorsichtshalber, obwohl der Speer in der Hand des Mannes ein eindeutiger Hinweis dafür war. Aber sicher war sicher. „Gottesspeer?“ Der Mann schnaubte belustigt und schüttelte dann den Kopf: „Nein, einfach nur Tsai. Möchtet ihr etwas Bestimmtes?“ Riou zögerte kurz und sagte dann: „Wir sind hier, weil wir deine Hilfe brauchen. Viktor schickt uns.“ Tsai betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich, dann nickte er: „Es geht um die Feuerspeere, nicht wahr? Ja, ich habe gehört, dass das Dorf Toto angegriffen worden ist.“ Er seufzte. „Es ist also wieder Krieg.“ Oh ja… es war Krieg. Nur, dass der Staat dies noch nicht wusste. „Es sieht ganz so aus, ja“, nickte Riou betrübt, „Wirst du uns helfen?“ Tsai überlegte nicht lange. Tatsächlich überlegte er gar nicht, da er sofort antwortete: „Natürlich. Ich habe meine persönlichen Dinge bereits gepackt, also können wir jederzeit aufbrechen.“ Jowy beobachtete, wie der Speerträger einen Reisesack unter dem Bett hervorzog, dann erinnerte er sich an das Geld, das Flik ihm gegeben hatte, und holte den Lederbeutel hervor. „Wir haben das hier als Bezahlung für deine Arbeit mitgebracht…“, begann er, doch Tsai winkte ab. „Ihr braucht mir jetzt nichts zu bezahlen“, erwiderte der Mann, „Wenn ich meine Arbeit erledigt habe und die Highland-Armee besiegt ist, dann könnt ihr mir das Geld immer noch geben.“ Jowy blinzelte verblüfft, protestierte jedoch nicht. Das war eine sehr ehrenvolle Haltung, die er durchaus respektierte. „Dann… sollten wir so schnell es geht zurück zum Fort gehen“, beschloss Riou mit einem schwachen Lächeln, als wären seine Gedanken ganz woanders. Keiner hatte Einwände und so ließen sie die Hütte im Bergwald schnell hinter sich. Jowy betrachtete Tsai beim Gehen nachdenklich und fragte sich, was den Mann wohl so tief in die Berge geführt hatte. Er hatte gehört, dass manche Krieger sich im hohen Alter gern zurückzogen, um ihre Ruhe zu haben, aber so alt war Tsai nun wirklich nicht. Und dann war da dieser seltsame Namenszusatz, ‚Gottesspeer’... Er hatte gerade genug Mut zusammengekratzt, um danach zu fragen, als Tsai und Rikimaru plötzlich stehen blieben und zu lauschen schienen. „Was ist…?“, begann Riou, wurde jedoch durch ein Zischen des Speerträgers unterbrochen: „Leise!“ Die Jungen wechselten einen alarmierten Blick und in diesem Moment roch er es. Der beißende Geruch von brennendem Holz, ganz in der Nähe, traf Jowy wie ein Vorschlaghammer in der Magengegend. Das Dorf. Kapitel 12: Prioritäten ----------------------- Tsai fluchte, als Riou und Jowy an ihm und Rikimaru vorbeirannten, doch die beiden Männer holten die Jungen erst am Waldrand ein, wo sie ungläubig stehen geblieben waren. Das Dorf Ryube brannte lichterloh. Doch damit nicht genug – es war voller Highland-Soldaten, die mit erhobenen Schwertern schreiende Dörfler verfolgten. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Jowy, wie einer der Soldaten eine junge Frau hinterrücks erschlug und ihr mit dem Schwert den Schädel spaltete, während ein anderer einen alten Mann durchbohrte. Übelkeit stieg in ihm hoch, widerlich und kalt schwappte alles in seinem Inneren hin und her. Seine Organe schienen zu verkrampfen, er schnappte verzweifelt nach Luft. Das konnte nicht wahr sein. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?!“ Tsais Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm, als er am Arm gepackt und zur Seite gerissen wurde. Die beiden Krieger hatten die Jungen aus dem Weg gezogen, in die zweifelhafte Sicherheit eines riesigen Busches, der von einer Gruppe eng beieinander stehender Bäume umgeben war. „Sie hätten euch sehen können!“, zischte Rikimaru ernst, „Das ist gefährlich!“ Jowy starrte ihn dumpf an, während in seinem Kopf die Gedanken im Kreis rasten, doch er konnte keinen davon fassen. Er befand sich in einem Schockzustand. Im nächsten Moment spürte Jowy einen beißenden Schmerz in seiner rechten Gesichtshälfte und er hob eine Hand an seine schmerzende Wange, ehe er Tsai anstarrte. „Was… was…?!“ „Tut mir leid“, erwiderte der Speeträger kopfschüttelnd, „aber wir können es uns jetzt nicht leisten, den Kopf zu verlieren!“ Neben ihm stieß Riou einen verzweifelten Laut aus und Jowy sah ihn besorgt an. „Was ist los…?“ „Er.“ Jowy sah durch das Gestrüpp, hinter dem sie sich verbargen, zurück zum Dorf und erstarrte wieder. Von ihrem Versteck aus hatten sie Sicht auf den Dorfplatz – und was er dort sah, brannte sich in diesem Moment für alle Zeiten in seine Erinnerung ein. Luca Blight stand inmitten eines Haufens von Leichen und hatte den Kopf in den Nacken gelegt, während sein Körper von einem Lachanfall geschüttelt wurde. Irres Gelächter hallte über den Lärm hinweg, dann hörten sie ihn rufen: „Töten! Verbrennen! Sterbt, ihr dreckigen Würmer!!“ In diesem Moment wurden von einigen Soldaten zwei Dörfler an die Seite des Prinzen gezerrt, eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters. „Bitte“, flehte der Mann, „bitte! Verschont mich…!“ Der glühende Blick des wahnsinnigen Highland-Prinzen bohrte sich in die Augen seines Opfers. „Bring mich nicht zum Lachen!“, blaffte der Blight-Erbe, „Dein Leben ist es nicht wert, verschont zu werden!!“ „Ihr… Ihr seid… grausam!“ Der Mann brach in Tränen aus, doch im selben Moment wurde er von Lucas Schwert durchbohrt. Leblos sackte der Mann zu Boden, woraufhin die verbliebene junge Frau sich beide Hände auf den Mund presste, um einen Schrei zu unterdrücken. Doch die Tränen, die wie Sturzbäche ihre blassen Wangen hinunterliefen, konnte sie nicht aufhalten. „Bitte“, schluchzte sie laut, „hört auf!“ „Alles, was ihr Würmer tun könnt, ist, um euer Leben zu betteln!“, schnappte der Prinz fast schon genervt, „Hängt ihr wirklich so verzweifelt an euren mickrigen Existenzen?!“ „J-Ja“, heulte die Frau, „Bitte! Ich… ich tue alles! Nur… nur tötet mich nicht!“ „Ist das so?“ Der Kronprinz wirkte auf absurde Weise begeistert. „Dann mach mal wie ein Schwein!“ Sein Opfer starrte ihn verwirrt an. „W-Wie… bitte…?“ „Ich sagte, benimm dich wie ein Schwein!!“, brüllte Luca Blight auf und die Frau zuckte entsetzt zusammen, ehe sie sich eilig nickend auf die Knie fallen ließ und leise grunzend auf dem blutüberströmten Boden herumkroch. Bei diesem Anblick brach der Kronprinz von Highland wieder in Gelächter aus und Jowy wurde übel. Der Anblick der über den Boden kriechenden Frau war erniedrigend. „Sehr gut!“, jubelte Luca Blight, als die junge Frau noch immer weinend, aber mit einem Funken Hoffnung in den vor Tränen glänzenden Augen zu ihm aufsah. „Dann… dann bedeutet das…?“ Jäh fuhr die Hand des Prinzen samt seinem Schwert nach oben und sauste dann unaufhaltsam auf die Frau hinab. „Stirb, Schwein!!“ Enthauptet fiel der Körper um, während der Kopf mit den vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zur Seite rollte und liegen blieb. Während Luca Blight wieder hysterisch zu lachen begann, trat ein Mann zu ihm. Er hatte eine Glatze, obwohl er höchstens Mitte 40 war, und trug eine Rüstung mit rotem Umhang. Ganz ohne Frage war dies ein General. „Lord Luca“, sprach der General seinen Oberbefehlshaber an, „sind wir nun fertig?“ In seinen Augen spiegelte sich Abscheu, als wenn er die Taten seiner Männer nicht guthieß... und die seines befehlshabenden Offiziers gleich drei Mal nicht. „Genug?!“, echote der Kronprinz schrill und starrte den General an, „Mein Schwert dürstet immer noch nach Blut!!“ Der General blieb stumm und wartete ab. Doch an der Art, wie sich seine rechte Hand zur Faust ballte, erkannte Jowy, dass der ältere Mann seine Wut unterdrücken müsste. Luca wandte den Kopf hin und her und betrachtete das Ausmaß der Zerstörung im Dorf, dann ergriff er wahllos einen der umstehenden Soldaten am Kragen und blaffte: „Du! Zünde diesen Ort an! Lass alles niederbrennen!!“ Der Mann nickte überrumpelt und rannte dann davon, um Verstärkung für diese neue Aufgabe anzufordern. Verborgen hinter Gestrüpp und Bäumen biss sich Jowy so heftig auf die Lippe, dass sich der metallische Geschmack von Blut in seinem Mund ausbreitete und unangenehm zur Übelkeit beitrug. „Luca Blight“, hörte er Tsai neben sich murmeln, „Er ist… ein Monster…“ „Er wird das büßen“, presste Jowy hervor und machte Anstalten sich zu erheben, um loszustürmen und diesem Irren wenigstens irgendwie Einhalt zu gebieten, doch der eiserne Griff Rikimarus hielt ihn zurück. „Warte“, flüsterte Tsai, „Du oder ich haben gegen Luca Blight keine Chance, er besitzt Kraft, die nicht von dieser Welt ist! Die Zeit wird kommen, in der du ihm all das zurückzahlen kannst, aber sie ist nicht jetzt!!“ „Aber wir können doch nicht einfach hier sitzen und zusehen!“, wandte Riou ein und Jowy sah ihn überrascht, aber dankbar an. „Das stimmt, Riou! Ich werde nicht zulassen, dass es noch mehr Opfer wie Pilika gibt!!“ „Das kann ich nicht zulassen, tut mir leid“, entgegnete Rikimaru, während er nun auch Riou am Arm ergriff, „Ich habe Viktor versprochen, auf euch aufzupassen.“ „Wir haben keine Zeit für dieses Gerede!“, knurrte Jowy und wollte sich bereits losreißen, doch da traf ihn etwas in der Magengegend. Bevor ihm schwarz vor Augen wurde, hörte er Tsais bedauernde Stimme: „Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.“ Als er endlich zu sich gekommen war, war es späte Nacht gewesen. Rikimaru und Tsai hatten die Jungen zurück zur Berghütte gebracht und dort darauf gewartet, dass sie wieder aufwachten. Zunächst war Jowy wütend gewesen, doch dann hatte sich sein gesunder Menschenverstand eingeschaltet. Tsai hatte Recht gehabt. Kopflos ins Geschehen zu stürzen hätte höchstens mit ihrem Tod geendet, helfen hätten sie ohnehin nicht können. Dennoch halfen sie den wenigen Überlebenden in Ryube, die letzten Flammenherde zu löschen und die Toten, deren Leichen nicht verbrannt waren, anständig zu bestatten. Es tat gut, sich in Arbeit zu stürzen – so konnte er sich auf etwas konzentrieren und musste nicht nachdenken. Die Dörfler bedankten sich, doch sie weigerten sich, das zerstörte Dorf zu verlassen. „Egal, was passiert ist“, hatte ein Mann ihnen erklärt, „das hier bleibt unser Zuhause.“ Als sie Ryube hinter sich ließen, war der Morgen schon lange angebrochen und Jowy fühlte sich wie gerädert. Er hatte nicht geschlafen – die Ohnmacht galt wohl kaum als Schlaf – und die ganze Nacht durchgearbeitet, doch er wusste, dass sie sich keine Rast erlauben durften, sie mussten zurück ins Fort, damit Tsai so schnell wie möglich seine Arbeit an den Feuerspeeren beginnen konnte. Sie erreichten das Söldnerfort gegen Mittag und wurden prompt von Pilika begrüßt. Sie umarmte Jowy überschwänglich und rief: „Onkel Jowy!! Da bist du ja wieder. Alle haben auf dich und Onkel Riou gewartet! Der Mann, der aussieht wie ein Bär, hat sich Sorgen gemacht!“ Er stutzte kurz und sah verwirrt, auf das kleine Mädchen hinunter, bis sich sein Gehirn doch in der Lage sah, das Gesagte zu verarbeiten. Bär… Sie meinte Viktor. „Dann sollten wir ihn besser schnell suchen, richtig?“ Er zwang sich zu einem Lächeln und strich seinem Schützling durchs Haar. Pilika strahlte ihn an und nickte, dann winkte sie auch Riou zu, der ihre Begrüßung erwiderte. Jowy sah ihm an, dass er am liebsten ins Bett gefallen wäre, doch der Jüngere riss sich zusammen, lächelte das kleine Mädchen breit an und fragte: „Hast du denn eine gute Zeit hier gehabt?“ Pilika nickte und erzählte ihnen den ganzen Weg zum Konferenzraum über, wie sie mit Nanami, Millie und Bonaparte gespielt hatte und was für Blumen sie wo im Hof gefunden hatte. „Und Onkel Pohl hat mir eine Puppe geschenkt! Sie sieht aus wie ein kleiner Bär, schau mal, Onkel Jowy!“ Mit glänzenden Augen holte sie aus einer der Taschen ihres pinken Kleides ein kleines Stofftier in Form eines Bären. Jowy lächelte schwach. Er musste dieses Kind schützen, egal um welchen Preis. Er konnte nicht zulassen, dass sie litt. Es war dieser Moment, indem er in Pilikas Augen blickte, an Joanna und Marx dachte und sich und ihnen schwor, die Kleine zu beschützen. Und wenn es das Letzte war, was er tat. „Hübsch“, kommentierte er den Stoffbären mit einem schwachen Lächeln, dann blickte er die geschlossene Tür des Konferenzraumes an und sah dann Rikimaru an: „Kannst du sie bitte zu Nanami bringen? Ich möchte nicht…“ Er nickte vielsagend auf die Tür und war froh, als Rikimaru verstand. „Aber sicher. Nun, kleine Lady!“, sprach er Pilika an, die den Krieger aufmerksam ansah, „Dann lass uns mal dein Tantchen suchen!“ Er hob das vor Vergnügen quietschende Mädchen auf seine Schultern und verschwand aus Jowys Sicht. Tsai fixierte nachdenklich das Gesicht des jungen Aristokraten und sagte dann: „Ich glaube, jetzt verstehe ich.“ Was genau er verstand, führte er jedoch nicht aus und bevor Jowy ihn danach fragen konnte, hatte Riou bereits angeklopft. Nur Augenblicke später öffnete sich die Tür und ein nervös und besorgt dreinblickender Viktor starrte sie an. „Ihr seid zurück!“, stellte er erleichtert fest, als er die Jungen erkannt hatte, „Bei den Runen, bin ich froh.“ Er winkte sie hinein und schloss die Tür. Flik, Apple und die zwei Söldneroffiziere, die ebenfalls mit im Raum waren, erhoben sich von ihren Stühlen und wirkten ebenso froh, die drei Neuankömmlinge zu sehen, wie Viktor. „Wir haben gehört, dass das Dorf Ryube angegriffen wurde“, sagte Flik angespannt, „Stimmt das?“ Jowy öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn jedoch wieder. Wenn er jetzt alles rekapitulierte, was in den vergangenen zwölf Stunden geschehen war, würde er in Tränen ausbrechen, dessen war er sich sicher. Umso dankbarer war er, als Tsai diese Aufgabe übernahm und den Söldnern von den Geschehnissen in Ryube berichtete. Nachdem er geendet hatte, fluchte einer der Offiziere laut, ansonsten herrschte bedrückte Stille. Jowy beobachtete die vier Männer und die junge Strategin schweigend und fragte sich, ob sie sich tatsächlich eine Chance gegen Luca Blight errechneten oder ob man sich hier auf ein Selbstmordkommando vorbereitete. „Gut, dass du hier bist, Tsai“, seufzte Viktor schließlich. „Nicht der Rede wert“, winkte der Speerträger ab, „wir haben nicht viel Zeit. Ich sollte gleich mit der Arbeit an den Feuerspeeren beginnen.“ Viktor nickte. „Danke. Wollen wir hoffen, dass man sie noch reparieren kann.“ Er bat einen der Offiziere, Tsai ins Lager zu bringen und ihm ein paar Helfer zur Seite zu stellen, dann wandte er sich an die beiden Jungen. „Gute Arbeit, ihr beiden“, lobte er sie, „Ihr habt jetzt genug für uns getan… Macht euch bereit, gemeinsam mit Leona und Barbara nach Muse aufzubrechen. Wir werden das Fort evakuieren. Diese Schlacht betrifft euch nicht.“ Ungläubig starrte Jowy den Söldneranführer an. Er wollte sie weg schicken? Er konnte hier nicht weg! Er musste kämpfen! Kämpfen und Luca Blight büßen lassen für das, was er Joanna, Marx und all den anderen angetan hatte!! Er öffnete den Mund, um zu protestieren, doch da ertönte auch schon Rious Stimme: „Wir werden an eurer Seite kämpfen.“ Jowy fuhr herum zu seinem besten Freund und sah ihn an, hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Erstaunen. Doch Riou blickte entschlossen in Viktors Augen, der verblüfft zurück sah. „Ihr wollt was?“ Der Söldneranführer runzelte zweifelnd die Stirn. „Das ist ja ganz nett, aber…“ „Seid ihr euch da völlig sicher?“, unterbrach Flik seinen Kollegen. Er hatte nach Tsais Bericht schweigend, mit düsterem Blick und verschränkten Armen an der Wand gelehnt. Nun stieß er sich davon ab und fixierte beide Jungen mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. „Ja, sind wir“, bestätigte Jowy, ohne weiter nachzudenken, „Wir können nicht einfach weglaufen!“ Riou nickte und Fliks Gesichtsausdruck verdüsterte sich leicht. „Wir können niemanden gebrauchen, der uns aufhält“, verkündete er, „also werde ich euch auf die Probe stellen. Wenn es euch gelingt, mir das Schwert aus der Hand zu schlagen, könnt ihr hier bleiben. Was sagt ihr dazu?“ Die blauen Augen des Söldners fixierten die Jungen ernst und Jowy zögerte nicht eine Sekunde lang, ehe er seinen Stab in die Hand nahm. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Riou im gleichen Moment seine Tonfa zog. Die Müdigkeit spielte keine Rolle. „Doch nicht hier drin!“, protestierte Apple entsetzt, doch Viktor und der verbliebene Offizier schoben bereits den großen Tisch beiseite und ignorierten sie. Flik zog sein Schwert und nahm eine abwartende Kampfposition ein, dann rief er: „Na los! Zeigt mir, was ihr könnt!“ Zeitgleich setzten sich die Jungen in Bewegung in dem Moment, in dem Adrenalin durch Jowys Adern zu peitschen begann, fühlte er sich plötzlich wach und so stark wie nie zuvor, obwohl er die Nacht nicht geschlafen hatte. Rious rechter Tonfa traf zuerst auf Fliks Klinge, die plötzlich aus dem Nichts hervorzuschnellen schien, dann schlug der Söldner auch den zweiten Tonfa zurück, ehe er herumwirbelte und das Schwert auf Jowy zuraste. Der Aristokrat stieß überrascht die Luft aus seinen Lungen – warum war Flik so schnell?! – und riss seinen Stab in einer Abwehrhaltung nach oben, was dem Söldner lediglich ein amüsiertes Schnauben entlockte. Er wirbelte herum und tauchte unter Rious Angriffen hindurch, dann stieß er mit dem Ellenbogen – wann war er ihm so nahe gekommen? – in Jowys Magengegend. Mit einem leisen Ächzen stolperte Jowy zurück, Riou verharrte ebenfalls kurz. Sie fixierten den blaugekleideten Mann, der sie seinerseits abwartend ansah, dann wechselten sie einen Blick und griffen erneut an. Jowy erinnerte sich plötzlich an etwas, dass Meister Genkaku ihnen einmal gesagt hatte. Es war ein anstrengender Tag gewesen, viel zu heiß, und sie hatten beim Training noch nie zuvor derart jämmerlich versagt. „Ihr habt nichts gelernt!“, hörte er die Stimme seines alten Lehrmeisters durch seine Gedanken rufen, „Nur gemeinsam seid ihr stark!“ Das war immer der Schlüssel gewesen… warum nicht dieses Mal auch? Rious Tonfa knallten auf das erhobene Schwert und im selben Moment brach Jowys Stab durch Fliks Deckung. Dem Söldner entwich ein überraschter Laut, dann schlug Riou ihm auch schon die Klinge aus der Hand, die dumpf auf dem Teppich aufschlug, der auf dem Holzfußboden ausgebreitet war. Einen kurzen Augenblick blinzelte Flik verblüfft, dann grinste er und meinte: „Hey, Viktor! Die beiden kämpfen gar nicht schlecht. Ich bürge für sie.“ „Vielleicht bist du aus der Übung?“, erwiderte Viktor mit vor der Brust verschränkten Armen, doch das Grinsen auf seinem Gesicht verriet, dass er die Worte nicht ernst meinte. Das hinderte Flik jedoch nicht daran, vor Wut rot anzulaufen und zu zischen: „Was hast du gesagt?!“ Der Bär – irgendwie erinnerte er Jowy mehr denn je an einen – brach in lautes Gelächter aus, während Apple neben ihm nur seufzte und etwas zu murmeln schien. Flik warf seinem Kollegen einen mürrischen Blick zu und sammelte sein Schwert auf, Viktor jedoch ignorierte ihn geflissentlich – irgendwie schien Ignoranz ein wesentlicher Bestandteil ihrer Freundschaft zu sein – und sagte: „Okay, Jungs, das habt ihr gut gemacht. Ihr könnt hier bleiben und mitkämpfen.“ Die Jungen wechselten einen Blick und Jowy fiel auf, dass Riou erleichtert wirkte. War er selbst es auch? Er hörte Viktor noch etwas hinzufügen, doch seine Gedanken waren ganz woanders. Erst jetzt, wo er seinen Stab sinken ließ und zur Ruhe kam, wurde ihm die Tragweite seiner Tat bewusst. Er hatte sich gerade dazu entschieden, sein Heimatland wirklich zu verraten. „Bleibt in meiner Nähe, wenn der Kampf beginnt“, drang Fliks Stimme langsam in sein Bewusstsein und im nächsten Augenblick spürte er die Hand des Söldners auf seiner Schulter. „Der Feind wird sich nicht zurückhalten wie ich.“ Also hatte er sich zurückgehalten… Natürlich, Jowy war kein Idiot – ihm war klar, dass Flik nicht umsonst der Blaue Blitz genannt wurde, zwei übermüdete Jungsoldaten konnten ihn unmöglich einfach so schlagen. Der Feind würde sich nicht zurückhalten. Das war es also? Highland war zum Feind geworden? Jowy fühlte sich bei diesem Gedanken überhaupt nicht wohl. Plötzlich wollte er nur noch ins Bett. „Du hast dich also doch zurückgehalten!“, triumphierte Viktor, doch Flik schenkte ihm keinerlei Beachtung. Dennoch grinste der Bär zufrieden weiter, ehe er sich an die Jungen wandte. „Was soll’s, ein Versprechen ist ein Versprechen. Ruht euch aus, ihr beiden, ihr seht aus, als ob ihr jeden Moment umkippt.“ So fühlte sich Jowy auch. Er tauschte einen Blick mit Riou, der ihm aufmunternd zulächelte. Dann nickte er müde. Der Feind wird sich nicht zurückhalten wie ich. Nein, wohl nicht. Irgendwie hatte Jowy das Gefühl, als müsste er dringend seine Prioritäten klären. Denn Pilika und seine Heimat unter einen Hut zu bekommen – das war wohl gerade unmöglich geworden. Kapitel 13: Im Angesicht des Feindes ------------------------------------ Der Frühling kündigte sich langsam, aber sicher an. Jowy bemerkte es, als er draußen im Hof des Söldnerforts im Schatten eines Baumes saß und gemeinsam mit Millie und Nanami an einer Strohpuppe arbeitete. Die Sonne brannte auf den Hof hinab, in dem Rikimaru, Hanna, Viktor und ein paar Söldner miteinander trainierten, während Kinnison am anderen Ende des Platzes Schießübungen mit den Schützeneinheiten machte. Jowys Blick wanderte über die Söldner und er fragte sich unwillkürlich, ob sie überhaupt eine Chance gegen die Highland-Armee hatten. Wie viele Leute befanden sich hier im Fort, vielleicht etwa achthundert? Frauen und Kinder nicht mitgerechnet. Nicht einmal einen richtigen Arzt hatten sie, weil Viktor und Flik Tuta fortgeschickt hatten. Er war gemeinsam mit den paar Flüchtlingen aus Ryube, die in den letzten Tagen zu ihnen gestoßen waren, und einer Konsorte Söldner unter Fliks Führung, der bei Bürgermeisterin Anabelle Verstärkung anfordern wollte, nach Muse aufgebrochen. Der Arztlehrling hatte es widerwillig getan – immerhin, hatte er gesagt, sei es seine Pflicht als Arzt, am Ort des Geschehens zu helfen. Aber Viktor hatte darauf bestanden und Tuta sich schließlich mürrisch gefügt. Barbara und Leona hatten sich standhaft geweigert, auch nur einen Fuß aus dem Fort zu setzen und zu fliehen. „Und wer würde sich um euch Ochsen kümmern?“, hatte Barbara geraunzt, als Viktor sie darauf angesprochen hatte. Und Leona hatte hinzugefügt: „Ohne uns würdet ihr doch nichts hinbekommen!“ Nachdem Nanami gehört hatte, dass Jowy und Riou kämpfen würden, hatte sie sich ebenfalls geweigert, nach Muse zu gehen – sie und Pilika blieben, egal, wie sehr Jowy sie anflehte, zu gehen. „Ich muss doch auf euch aufpassen“, hatte sie gesagt und Riou und Jowy angelächelt. Aber er hatte die Furcht in ihren Augen bemerkt… Kindergelächter drang an seine Ohren und er sah von seiner Arbeit auf, um Pilika beim ausgelassenen Spielen mit Shiro und Gengen zu beobachten. Der Kobold hatte das Mädchen auf den Rücken des weißen Wolfshundes gesetzt und lockte ihn nun mit einem Knochen hinter sich her, während Pilika so herzhaft lachte, dass sie beinahe von Shiros Rücken purzelte. Doch obwohl der Anblick herzerwärmend war, fühlte Jowy sich, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Sein Herz zog sich zusammen. Wie viel länger würde Pilika so ausgelassen lachen können? Was, wenn die Highland-Armee sie alle abschlachten würde? Ihm graute bei dem Gedanken daran, was dem kleinen Mädchen noch alles zustoßen könnte. Vielleicht sollte er Nanami doch noch einmal bitten, sich mit Pilika auf den Weg nach Muse zu machen… „Wie kommt ihr voran?“ Jowy zuckte zusammen, als hinter ihm Apples Stimme ertönte. Er fuhr zu der Strategin herum und atmete tief durch, als er sie erkannte. „Wir haben fünfzehn von diesen Dingern fertig“, informierte Millie sie hilfsbereit und deutete auf die fertigen Strohpuppen. „Gute Arbeit!“, lobte Apple und nickte. Nanami, die gerade hochkonzentriert Stroh in ein an den Ärmeln und unten herum zugeknotetes Hemd stopfte, sah auf und fragte: „Aber was willst du mit all diesen Vogelscheuchen?“ „Die Truppenstärke der Highlander beträgt unseren Informationen zufolge etwa 2500 Mann“, erklärte Apple, während sie sich neben den dreien niederließ, sich eine alte, zerlöcherte Hose angelte und die Hosenbeine zuknotete, „und ist damit viel größer als unsere. Aber mit einer guten Strategie kann eine kleine Armee auch eine große schlagen. Ich will die Vogelscheuchen auf dem Dach postieren… aus der Ferne oder im Dunkeln sehen sie aus wie Soldaten und mit ein bisschen Glück machen wir dem Feind wenigstens ein bisschen Angst.“ Jowy runzelte die Stirn über eine solche Taktik und sah auf seine halbfertige Strohpuppe hinunter. „Aber werden ein paar Vogelscheuchen sie einfach so in die Flucht schlagen?“, murmelte er. „Natürlich nicht“, erwiderte Apple, „aber ihre Moral werden sie sicher senken können.“ Sie klang zuversichtlich, aber irgendwie zweifelte Jowy ehrlich am Erfolg dieses Plans. Die Highlander waren ausgebildete Soldaten, jeder zweite Mann verpflichtete sich auf Lebenszeit… „Hast du noch etwas geplant?“, fragte Millie und Jowy wunderte sich beiläufig darüber, wie sehr ihre Augen funkelten. Verkannte sie in ihrer Jugend die Situation oder war sie einfach naiv? Ihm gefiel es immer weniger, wie viele Kinder sich eigentlich hier aufhielten. Streng genommen waren auch er und Riou noch keine Erwachsenen… „Ich habe Barbara und Leona gebeten, Töpfe und Pfannen zu sammeln“, gab Apple bereitwillig Auskunft, offensichtlich froh über die Gelegenheit, ihre Pläne zu erläutern, „damit können wir Lärm machen.“ „Dann sieht es aus, als hätten wir noch mehr Männer, richtig?“, stellte Nanami klar und Apple nickte begeistert. Und Jowy hoffte inständig, dass die Highlander tatsächlich Angst bekamen… und nicht in Gelächter ausbrachen. „Apple!“ Alle vier sahen auf, als Kinnisons Stimme ertönte. Der Jäger kam zu ihnen herüber gelaufen und sagte: „Ich habe die Stellen im Wald markiert.“ Stellen? Wald? Was für Stellen?! „Oh, gut!“ Apple nickte und erhob sich. Dann blickte sie zu Jowy: „Werdet ihr mit den Vogelscheuchen alleine fertig?“ Millie nickte enthusiastisch und versicherte: „Natürlich! Bonaparte hilft uns auch.“ Sie tätschelte ihr Haustier, das friedlich dösend und leise schnarchend auf ihrem Kopf hockte und es sich in ihrer Ballonmütze gemütlich gemacht hatte. Apple wirkte zufrieden und verabschiedete sich dann von den Jugendlichen, um gemeinsam mit Kinnison und ein paar anderen Söldnern durch das bewachte Tor in den Wald zu verschwinden. Jowy sah ihnen nach und dann zu Pilika zurück, die inzwischen auf dem kleinen Stück Wiese saß, das sich in einer Ecke des Hofes befand, und Shiro streichelte, während Gengen ihr irgendetwas erzählte. „Hier seid ihr.“ Er hob den Kopf und sah Riou zu ihnen herüberschlendern. Er hatte einen Ölfleck auf der rechten Wange und wischte sich die Hände gerade an einem dreckigen Lappen ab. „Wo warst du?“, fragte Jowy, der seinen Freund den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte, da er mal wieder bis mittags geschlafen hatte. „Bei Tsai“, antwortete Riou und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, wodurch er einen weiteren Ölfleck darauf hinterließ, „er hat mich gebeten, ihm bei der Arbeit an den Feuerspeeren zu helfen.“ Er ließ sich schwer neben Jowy auf den Boden sinken und sah interessiert zu den Strohpuppen hinüber. „Werden sie einsatzbereit sein?“, erkundigte sich der Aristokrat, während er einen Sack zu sich herüberzog und ihn mit Stroh voll stopfte. „Ich weiß es nicht“, sagte Riou ehrlich, „sie sind völlig verrostet.“ „Hmm…“ „Du bist total verdreckt!“, bemerkte Nanami, die von ihrer Arbeit aufgesehen hatte, in diesem Moment missbilligend, als sie das ölverschmierte Gesicht ihres Bruders bemerkte. „Komm her, ich mach das sauber!“ Sie holte ein Taschentuch hervor und begann damit, Rious Gesicht zu säubern, wobei sie geflissentlich sämtlich Proteste seinerseits völlig ignorierte. „Wenn ich es nicht tue“, erklärte sie und wirkte mal wieder sehr mütterlich, „macht es keiner!“ Riou wollte gerade etwas erwidern – wahrscheinlich, dass er sich durchaus selbst waschen konnte, vermutete Jowy – als Viktors tiefe Stimme über den Hof dröhnte: „Riou! Jowy! Kommt mal her.“ Die Jungen wechselten einen Blick und taten dann wie geheißen. Als sie den Söldneranführer erreichten, bemerkten sie die zwei Offiziere, die bereits bei ihrer Rückkehr ins Fort anwesend gewesen waren. „Das sind Andris und Cedric“, stellte Viktor die beiden Männer vor, „gute Freunde und noch bessere Soldaten.“ „Wir hatten viel zu tun“, sagte Cedric, während er den Jungen die Hände schüttelte, „deshalb konnten wir uns bisher nicht unterhalten.“ „Sie haben das Kommando über je ein Viertel unserer Männer“, erklärte Viktor, „und wir haben uns etwas überlegt.“ Jowy runzelte die Stirn. Etwas überlegt? „Außer den Vogelscheuchen, die Apple aufstellen will?“ „Die Vogelscheuchen sind ganz nett, aber kämpfen müssen werden wir trotzdem“, erwiderte Andris mit einem leichten Grinsen. Ja, das hatte sich Jowy schon gedacht… Er dachte mit Schaudern daran, dass er womöglich einige Highlander erkennen konnte. „Ich habe euch Jungs versprochen, dass ihr mitkämpfen dürft“, sagte Viktor, „und das werde ich einhalten. Ihr bekommt das Kommando über eine eigene Kompanie.“ „Was?!“ Ungläubig sahen Riou und Jowy zum Söldneranführer auf. Eine eigene Kompanie? „Keine Sorge, wir schicken euch nicht gleich in die Schlacht. Ihr habt den Befehl über hundert Bogenschützen und bleibt hier im Fort“, erzählte Cedric und wies vage in die Richtung der Söldner, die Schießübungen machten. Jowy sah zu ihnen herüber und bemerkte dann: „Aber wir hatten noch nie etwas mit Bogenschützen zu tun. Woher wollt ihr wissen, dass wir es nicht völlig vermasseln?“ Viktor grinste und schlug ihm so hart auf die Schulter, dass er fast in die Knie ging. „Ich habe vollstes Vertrauen in euch!“, versicherte er ihnen und lachte. Aber warum? Obwohl ihm diese Frage auf der Zunge lag, wagte Jowy nicht, sie zu äußern. Also nickte er nur und akzeptierte alles so, wie es war. Flik kehrte am Abend erschöpft und leicht gehetzt aus Muse zurück. Jowy und Riou waren wieder in den Konferenzraum gerufen worden und lauschten nun dem Bericht des blaugekleideten Söldners, der von seinen Männern heimlich Blauer Blitz genannt wurde. „Sie sind überall“, erzählte er, während er das Brot und die Suppe, die Barbara ihm gebracht hatte, hinunterschlang, „bewaffnet bis an die Zähne. Wir sind einem Trupp fast in die Arme gelaufen…“ Jowy und Riou tauschten einen besorgten Blick. Hatten sie überhaupt eine Chance gegen die Highland-Armee? Nach Fliks Rückkehr war die Anspannung der Bewohner des Forts fast greifbar. Jowy, Nanami und Millie hatten mit der Hilfe einiger Söldner die Strohpuppen fertig gestellt und Rikimaru hatte sie auf dem Dach postiert. Allerdings machten ihnen die Feuerspeere noch immer Sorgen – Tsai arbeitete bereits seit drei Tagen an ihnen, doch sie schienen irreparabel zu sein. Zumindest war das die Befürchtung, die Riou äußerte, als die beiden Jungen nach einem anstrengenden Tag endlich ins Bett fielen. Jowy lag noch lange im Dunkeln wach und lauschte Rious gleichmäßigem Atem und dem leisen Schnarchen der Söldner um ihn herum. Er wurde mit jedem Tag, der verging, nervöser. Er hasste diese Warterei. Sie erinnerte ihn viel zu sehr an die Gefangenschaft in Kyaro, als er in der viel zu dunklen, viel zu engen Zelle gesessen und darauf gewartet hatte, dass man ihn aufknüpfte für etwas, das er nicht getan hatte. Nun wartete er wieder, doch diesmal war ihm nicht klar, was passieren würde. In Kyaro waren Riou, Nanami und er allein gewesen. Hier standen ihnen ausgebildete Soldaten zur Seite… doch war es genug? In den letzten Wochen hatte er sich mit den Söldnern angefreundet und war ihnen inzwischen näher, als er seinen Nachbarn in Kyaro je gewesen war. Und er hoffte, betete inständig, dass sie diese Schlacht überleben würden. Am nächsten Tag half Jowy gerade dabei, sämtliche verfügbare Waffen aus der Waffenkammer auf den Hof zu schaffen, als plötzlich die Tore sich öffneten und Pohl auf den Platz stolperte. „Sie kommen!“, schrie er, schnappte dann nach Luft und hielt sich die Rippen, „Die Highland-Armee kommt!“ Viktor, der gerade einen Arm voll Speere und Schwerter getragen hatte, ließ seine Beute fallen und brüllte: „Ihr habt es gehört! Versammelt euch alle auf dem Hof! Na los!“ Jowy verzog das Gesicht, da er genau neben dem Bären gestanden hatte, und warf dann seine Beute auf den großen Haufen, ehe er sich neben Nanami und Millie einreihte. Auch Kinnison und Gengen stießen zu ihnen und zwischen den umherlaufenden Söldnern, die durcheinander riefen, sah Jowy, wie Leona Pilika auf den Arm nahm und das Mädchen ins Fort brachte, dicht gefolgt von Pohl. „Jetzt ist es also so weit“, murmelte Nanami neben ihm angespannt und kaute auf ihrer Lippe herum. Jowy nickte stumm und dann tauchte Riou bei ihnen auf. „Sie sind endlich da, huh?“ Die Jungen nickten einander zu, dann rief Viktor, der gemeinsam mit Tsai, Flik, Apple, Cedric und Andris vor der Menge stand: „Also, Leute, hört gut zu! Die Highland-Armee ist auf dem Weg hierher! Bereitet euch also auf den Kampf vor.“ „Wir haben unterwegs ein paar Fallen gelegt“, fügte Apple hinzu, die nervös ihre Brille hochschob und eines der Bücher an sich drückte, in denen sie in den letzten Tagen ununterbrochen ihre Nase vergraben hatte, „Das wird sie aufhalten und ein wenig kitzeln.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, dann trat Tsai nach vorne, der furchtbar übernächtigt aussah, aber zufrieden wirkte. „Die Feuerspeere sind fertig“, rief er, „Ich danke allen, die die letzten Tage und Nächte mitgeholfen haben.“ Ein paar der Söldner stießen einen Jubelruf aus und der Rest der Menge fiel ein. Riou, Jowy und Nanami blieben stumm, genau wie Kinnison, der neben ihnen stand und abwesend Shiro hinterm Ohr kraulte. „Wenn dieses Fort fällt“, sagte Flik laut, „wird die ganze Gegend Highland gehören. Ihr wisst alle, was mit den Dörfern Ryube und Toto geschehen ist. Wir dürfen diese Schlacht nicht verlieren, hört ihr?!“ „Aye!“, rief die Menge im Chor. Viktor nickte trotz sichtlicher Anspannung zufrieden und wandte sich an Apple: „Okay, App, erklär unsere Strategie.“ Die junge Strategin nickte abrupt und rief dann: „Hört gut zu!“ Während sie ihre Strategie ausführte, die beinhaltete, dass Viktor und Flik je zwei Einheiten in die Wälder führen und sich dort verborgen halten würden, um die Highlander mit den Feuerspeeren an ihren Flanken anzugreifen, während Cedric, Andris, Riou und Jowy die Verteidigung des Forts übernehmen würden, sah Jowy sich um. Die Mienen der Söldner um ihn herum waren ernst, sie hörten Apple aufmerksam zu, hingen an ihren Lippen. Der junge Aristokrat biss sich auf die Lippe und hoffte, dass er die Söldner nicht enttäuschte. „Flik zufolge sollte die Verstärkung aus Muse bald eintreffen“, drang Apples Stimme wieder an seine Ohren, „Wenn wir bis dahin durchhalten können, haben wir eine Chance zu gewinnen. Ihr solltet keine unnötigen Heldentaten vollbringen, unsere Hauptstrategie ist Verteidigung! Wir werden von hier aus angreifen, das wird sie frustrieren und unvorsichtig machen..“ „Habt ihr das alle verstanden?“, fragte Viktor und seine tiefe Stimme hallte über den Platz, während er seinen Blick über die Menge schweifen ließ. Als die Söldner bejahten, fuhr er fort: „Gut! Im Namen des großen Löwen auf unserer Flagge, lasst uns unser Fort verteidigen!“ Jowy erwartete, dass die Söldner in Jubel ausbrechen würden, doch stattdessen blieb es still. Und dann sah Apple über die Schulter zurück auf die grüne Fahne, die über der Eingangstür wehte, und fragte: „… Das Ding ist ein Löwe?“ Jowy hockte auf dem Dach des Forts, umgeben von Bogenschützen, und starrte angestrengt in den Wald hinein, der das Fort umgab. Neben ihm saßen Riou und Kinnison, die sich beide an den Pfählen festhielten, mit denen die Vogelscheuchen auf dem Dach befestigt waren. Und dann erkannte er zwischen den Bäumen plötzlich die nur allzu bekannten Uniformen der Highland-Armee und ein Mann in weißer Uniform trat nach vorne, etwa zweihundert Schritte vom Fort entfernt. „Ich bin Solon Jhee“, schrie er, „Kommandant der zweiten Kompanie der Königlichen Armee von Highland! Ergebt euch und wir werden euch Gnade zuteil und am Leben lassen, Hunde des Staates!“ „Du kannst dir deine Gnade sonst wohin stecken!“, brüllte einer der Bogenschützen neben Jowy, „Wir werden unser Fort nicht aufgeben!“ „Als ob eure rostigen Schwerter dieser Festung auch nur einen Kratzer zufügen könnten!“, stimmte ihm ein zweiter Söldner zu. Jowy sah wie der Mann namens Solon Jhee vor Wut rot anlief und dann zurückschrie: „Wir werden ja sehen, wie rostig unsere Schwerter sind, wenn wir euch abstechen, ihr verdammten Stiefellecker von Muse!“ „Okay, ich habe genug gehört“, murmelte Riou neben ihm, „Kinnison!“ Der junge Jäger ließ sich nicht lange bitten – er zog so schnell einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken und spannte ihn auf seinen Bogen, dass Jowy nur blinzeln konnte, bis der Pfeil sich auch schon mit einem leisen Sirren von der Sehne löste und auf den General der zweiten Kompanie zuflog. Einen Moment lang glaubte er, der Pfeil würde Solon Jhee direkt treffen – aber dann riss der Mann sein Breitschwert hoch und wehrte den Pfeil ab. In dem Bruchteil einer Sekunde, die alle anderen brauchten, um diesen Schreck zu verarbeiten, hatte Jowy sich bereits gefasst und brüllte: „Feuer frei!“ Pfeile regneten vom Himmel, als die Bogenschützen seinem Befehl folgten und die Highlander unter Beschuss nahmen. Als der Feind – Jowy zwang sich dazu, seine Landsmänner als solchen anzusehen – den Angriff erwiderte, gingen die Söldner in Deckung, dann hörte er Cedric schreien: „Zamza, jetzt!“ Jowy fiel plötzlich auf, dass er den eigensinnigen Feuermagier schon länger nicht gesehen hatte. Doch die Feuerfontäne, die mit einem Mal zwischen den Bäumen aufloderte, zeugte nur allzu deutlich davon, dass Zamza nicht verschwunden war, sondern an vorderster Front kämpfte. Im nächsten Moment gellte der Kampfschrei der Söldner durch den Wald und Andris und Cedric führten ihre Einheiten in den direkten Kampf mit den Highlandern hinein, während die Bogenschützen unter Rious und Jowys Befehl weiter Pfeile abschossen. Irgendwo im Chaos der Kämpfenden erhaschte Jowy einen Blick auf Gengens rötliches Fell, der sich erstaunlich flink auf Jhee zu bewegte. Mit wachsender Besorgnis beobachtete der Blonde von seinem Platz aus, wie sich der Kobold mit dem Highlander ein hitziges Duell lieferte, doch schließlich sein Schwert verlor, da Solon Jhee es ihm einfach aus der Pfote schlug. „Kinnison!“, rief Jowy panisch, der Jäger folgte seinem Blick und reagierte gerade rechtzeitig, um Gengen davor zu bewahren, enthauptet zu werden; sein Pfeil bohrte sich in Jhees Schulterpolster und der Kobold nutzte die Gelegenheit, um zu flüchten. „Jetzt!!“, schallte dann plötzlich Viktors Stimme zu ihnen herüber und sie sahen die Einheiten von ihm und Flik von zwei Seiten angreifen. Jowy beobachtete fast schon fasziniert, wie je zwei Söldner einen der Feuerspeere hielten und damit auf den Feind zielten. Eine meterlange Stichflamme loderte aus der Spitze des Speeres hervor und er hörte die gepeinigten Schreie der verletzten Highlander. Wieder gab er den Befehl zu schießen, während er irgendwo unter sich Apple rufen hörte: „Sie haben uns unterschätzt! Greift an!!“ Irgendwann brach die Nacht über sie herein, doch trotz der Erschöpfung, die langsam in Jowys Glieder kroch, gab er ihr nicht nach. All die anderen schliefen immerhin auch nicht! Die Fackeln im Fort waren entzündet worden und unter ihnen im Hof wurden am laufenden Band Verletzte versorgt, doch er konnte sich nicht darum kümmern. Seine Sorge galt den Söldnern, die noch immer draußen im Wald waren und sich mit den Highlandern eine verbissene Schlacht lieferten. Solon Jhee war irgendwann aus ihrem Blickfeld verschwunden, aber Jowy bezweifelte ehrlich, dass er bereits gefallen war. So viel Glück konnten sie einfach nicht haben. Aber statt Jhee hatte er zwei andere Männer in weißen Uniformen zwischen den Highlandern erspäht, die allem Anschein nach Jhees Unteroffiziere waren. „Ich kann kaum etwas erkennen…“, brummte Kinnison neben ihm, der in diesem Moment gleich drei Pfeile aus der Kiste neben ihm nahm, sie auf den Bogen spannte und abschoss. Jowy warf einen schnellen Blick auf die anderen Bogenschützen und vergewisserte sich, dass sie alle ähnlich Probleme hatten. Doch dann kam ihm eine Idee. „Ich bin gleich wieder da!“, rief er, während er auch schon eilig das Dach hinunterkletterte und in seiner Eile beinahe den Halt verlor. „Jowy?!“, rief Riou ihm hinterher, doch der Blonde ignorierte ihn. Er hechtete über eine Leiter hinunter in den Hof, entdeckte Leona, die zwischen den Verletzten hin- und herhetzte, und rief: „Leona!!“ Sie warf ihm einen Blick zu, überließ den Söldner, um den sie sich gerade gekümmert hatte, Nanamis Obhut – die selbst im fahlen Licht der Fackeln völlig erschöpft aussah – und lief zu ihm. „Habt ihr Probleme?“, fragte sie gepresst und er registrierte, dass ihre Hände voll von getrocknetem und frischem Blut waren. Jowy unterdrückte den Würgereiz und fragte schnell: „Habt ihr eine doppelte Mauer?“ Die Barfrau runzelte kurz die Stirn, dann schien sie jedoch zu verstehen, was er wollte, und nickte. „Hinter dem zweiten Lagerhaus ist der Eingang“, sagte sie und zeigte zu dem hohen Gebäude neben dem Haupthaus des Forts, „aber die Sichtlöcher sind nicht besonders breit, ihr müsst also vorsichtig sein.“ „Danke!“, rief Jowy über die Schulter zurück, nachdem er sich bereits wieder umgedreht hatte und zurück aufs Dach eilte. „Kinnison“, keuchte er, kaum, dass er wieder oben angekommen war, „nimm dir zwanzig Männer und geh mit ihnen zwischen die Mauern!“ Jowy deutete hinunter auf den schmalen Spalt zwischen den zwei hohen Holzzäunen und fügte hinzu: „Die Sichtlöcher sind nicht besonders breit und ihr müsst aufpassen, dass ihr nicht von oben getroffen werdet.“ Der Jäger sah ihn erstaunt an, nickte dann jedoch und tat, wie ihm geheißen. Dafür, dass er, wie er nicht müde wurde ihnen zu versichern, nur ein gewöhnlicher Jäger war, schlug er sich erstaunlich professionell, fand Jowy. „Warum ist das vorher niemandem eingefallen?“, wunderte sich Riou leise, während sie beobachteten, wie die Bogenschützen hinter der Mauer Position bezogen. „Wahrscheinlich weil sie kaum Platz haben, um sich zu bewegen“, brummte Jowy, „und wegen der kleinen Sichtlöcher nur die Feinde treffen können, die sich in unmittelbarer Nähe der Mauer aufhalten.“ Riou nickte, dann explodierte direkt vor der Mauer erneut eine Feuerfontäne und erhellte die Nacht. Selbst oben auf dem Dach spürten sie die Hitzewelle, die vom Feuer ausging… und der Wald brannte inzwischen lichterloh. Aber das kam ihnen sogar ganz gelegen. „Feuer!“, kommandierte Riou im nächsten Moment, als ein Trupp Highlander plötzlich zwischen den brennenden Bäumen auftauchte und direkt auf Andris’ stark dezimierte Einheit zuhielt. Im Licht der Flammen trafen die Pfeile der Bogenschützen recht treffsicher ihre Ziele und Andris und seine Männer erledigten den Rest. Als aus den Tiefen des Waldes Schreie ertönten, achtete Jowy zunächst nicht darauf, was geschrieen wurde, doch schließlich wurden die Schreie laut genug, dass er ohne Mühe das Wort verstehen konnte, dass sich die Highlander zubrüllten: „Rückzug!!“ Sollten sie es tatsächlich geschafft haben…? Kapitel 14: Das Schweigen der Lämmer ------------------------------------ Jowy starrte Riou an und der starrte zurück. Dann brachen die Bogenschützen um sie herum in triumphierenden Jubel aus und im Licht der Flammen sahen sie die anderen Söldner zurückkehren. „Wir… wir haben es geschafft…“, sagte Riou leise und ungläubig, obwohl seine Worte in dem Lärm, der um sie herum herrschte, beinahe untergingen. Jowy zwang sich zu einem Lächeln und nickte. „Gute Arbeit, Riou.“ Der Jüngere zuckte zusammen und sah ihn kurz unsicher an, ehe er auch lächelte. „Du auch, Jowy.“ Sie kletterten vom Dach, begleitet von den Männern, die ihrem Befehl unterstanden, und die ihnen gratulierten und versicherten, dass sie gute Arbeit geleistet hatten. Jowy selbst verspürte zwar unglaubliche Erleichterung darüber, dass sie die Schlacht gewonnen hatten, aber andererseits war da noch ein seltsames Gefühl in seinem Inneren, dass er nicht bestimmen konnte. Er warf Riou einen Seitenblick zu und ihm fiel ein wahrer Findling vom Herzen, als er genau dieses Gefühl auch in den Augen seines besten Freundes entdeckte. War es etwas, das nur sie beide spüren konnten? Diese nagende Empfindung irgendwo in der Magengegend… Der Hof füllte sich wieder mit Söldnern, die teils verletzt einander beglückwünschten, während Nanami, Millie, Barbara und Leona sich noch immer um die Schwerverletzten kümmerten. Wie viele von ihnen würden diese Nacht überleben…? „Öffnet die Tore!“ Jowy half dabei, die Tore aufzuziehen, um die Einheiten von Viktor, Flik, Cedric und Andris wieder hinein zu lassen. Gengen hinkte auf sie zu und obwohl er sich die Seite hielt und das Fell in seinem Nacken blutverkrustet war, strahlten seine dunklen Augen. „Captain Gengen hat es ihnen gezeigt!“, rief der Kobold triumphierend, als er bei den Jungen ankam. „Captain Gengen ist großer Kobold-Krieger!“ Riou lachte und drückte Gengen übermütig an sich. „Der beste!“, versicherte er ihm und Jowy musste gegen seinen Willen grinsen. Im nächsten Augenblick schloss sich ein Schraubstock um ihn und Riou und jegliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Erst, als der Druck um seinen Oberkörper nachließ und die Sterne, die vor seinen Augen tanzten, verschwunden waren, erkannte Jowy, dass Viktor die Jungen enthusiastisch in seine Arme geschlossen hatte. „Eure erste Schlacht war ein voller Erfolg!“, gratulierte er ihnen mit einem Grinsen und Jowy bemerkte besorgt, dass er übers halbe Gesicht blutete und sich auf seinem rechten Oberarm eine mittelschwere Verbrennung abzeichnete. Der Bär folgte seinem Blick und winkte ab. „Alles okay“, beruhigte er sie, „ich sah schon schlimmer aus.“ Flik nickte und brummte: „Ja, aber wessen Schuld war das?“ Viktor lachte röhrend und erwiderte: „Sagt der Mann, den ich vor drei Jahren halb-bewusstlos aus Gregminster schleppen musste!“ „Ach, sei doch still.“ Doch Flik grinste dabei. Viktor tat es ihm gleich und trat dann zu Leona herüber. Sein Lächeln verblasste allerdings, als er leise mit ihr ein paar Worte wechselte und dann grimmig nickte, während sein Blick über einige der regungslosen Gestalten glitt, die auf dem Boden lagen. Flik sah ebenfalls betrübt aus, dann räusperte er sich jedoch und sagte: „Ihr Jungs habt euch eine Pause verdient. Warum haut ihr euch nicht aufs Ohr?“ Sehnsüchtig warf Riou dem Hauptgebäude einen Blick zu, dann schüttelte er jedoch den Kopf und erwiderte mit fester Stimme: „Nein. Ich will den Verletzten helfen.“ Jowy nickte nur, da auch sein Gewissen sich mit einem leichten Ziehen in der Brust meldete. Wie konnten sie schlafen gehen, während die Söldner hier noch immer mit dem Tod rangen? Flik betrachtete sie einen Moment lang aufmerksam, dann nickte er und lächelte schwach. „Danke.“ Sie halfen Barbara, den Eintopf, den sie gekocht hatte – wann hatte sie das geschafft? – auf Schüsseln zu verteilen und brachten sie hinaus zu den erschöpften Söldnern, die im Hof den Frauen zur Seite gingen und Verbände anbrachten, Blut stillten und über den Verstorbenen Leinendecken ausbreiteten. Irgendwann trat Viktor auf die Stufen vor dem Haupteingang und rief: „Alle mal herhören! Ich bin stolz auf euch, ihr habt alle großartige Arbeit geleistet.“ Apple, deren Ärmel hochgekrempelt und voller Blutflecken waren, schob nervös lächelnd ihre Brille zurecht und nickte. „Die Highlander sind müde und müssen sich zurückziehen und neu gruppieren. Wir werden nicht vor morgen mit einem erneuten Angriff rechnen, womöglich sogar noch später. Also ruhen wir uns aus!“ Jowy hatte das Gefühl, er hätte ein Leben lang auf diese Worte gewartet. Nanami, die sich neben Riou hatte in den Sand fallen lassen, lächelte schwach in seine Richtung, als sich ihre Blicke trafen und auch in ihren Augen erkannte er das seltsame Gefühl, das ihn noch immer nicht loslassen wollte. Was konnte es sein? Sie hatten doch gewonnen… „Ich bin todmüde“, gestand Nanami gerade und gähnte. „Am liebsten würde ich-“ „Die Highland-Armee! Sie greifen wieder an!!“ „Was?!“ Jowy war aufgesprungen und starrte ungläubig den Söldner an, der in einem der Wachtürme stand und gerade zu der Menge herumfuhr, die im Hof versammelt war. „Das ist Irrsinn!“, hallte Apples Stimme über den Platz und durchbrach die gespenstische Stille, die sich ausgebreitet hatte. „Sie können diese erschöpften Soldaten nicht wieder in den Kampf zwingen!“ „Sie kommen!“, erwiderte der Söldner im Ausguck erschlagen und schüttelte den Kopf. Jowy fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen. Wieder stieg die Übelkeit in ihm hoch, er begann zu zittern… Sie griffen wieder an? Die Söldner hatten in der ersten Welle des Angriffs schon schwere Verluste erlitten…! „Okay, wir haben keine Zeit!“ Viktor hatte sich als erster wieder gefasst. „Keiner verlässt das Fort! Verteidigt diesen Ort!“ „Wir dürfen sie nicht gewinnen lassen!“, stimmte Flik ihm zu. „Riou, Jowy, kommt her!“ „Ich komme mit!“, sagte Nanami sofort und rannte an Jowy vorbei, ihm gar keine Gelegenheit lassend, noch zu protestieren. Ein Teil der Söldner eilte bereits zu den Zäunen, um sie mit allem zu verstärken, was gerade zur Hand war, andere griffen zu den Bögen und bezogen wieder Stellung auf dem Dach. Es ging alles viel zu schnell. In der nächsten Sekunde erschütterte ein erster Treffer die massive Mauer an der Nordseite des Forts und eine Stimme rief: „Ihr habt mich das letzte Mal erniedrigt, ein zweites Mal wird euch das nicht gelingen!“ Solon Jhee! Jowy schnappte nach Luft. Als sie Viktor, Flik, Cedric und Andris erreichten, die Befehle brüllten, fluchte Viktor gerade unschön. „Aufs Dach mit euch!“, befahl Flik, als er die Jugendlichen bemerkte. „Und passt auf, dass es euch nicht erwischt!“ „Viktor!!“ Ein Söldner kam herbeigelaufen, auf seinem Gesicht ein Ausdruck puren Entsetzens. „Was ist passiert?“ „Die Feuerspeere!“, keuchte der Mann. „Sie funktionieren nicht mehr!“ Er wies zu den Zäunen, wo sich eine Truppe Söldner mit den Speeren abmühte. Jowy glaubte, Tsai unter ihnen zu erkennen, aber sicher war er sich nicht. „Was soll das heißen, sie funktionieren nicht?!“, rief Andris entsetzt. „Verdammt!“ „Viktor!“ Doch bevor sie erfuhren, was nun geschehen war, ergriff Riou Jowy und Nanami an den Händen und zog sie hinter sich her. „Wir sollten nicht herum stehen und entsetzt schauen“, sagte er ernst, während er die Leiter auf die Veranda erklomm, um von dort aus aufs Dach zu kommen, „sondern versuchen, unser Bestes zu tun.“ Jowy starrte ihm hinterher, riss sich dann aber zusammen und folgte Nanami, die ihrem Bruder bereits gefolgt war. Es ging alles so verdammt schnell! Er wusste gar nicht wohin… Oben angekommen, erkannte Jowy erst den ganzen Ernst der Lage. Die Highland-Armee schien sich verdoppelt zu haben und stürmte unbarmherzig die Mauern des Forts, obwohl Pfeile und Steine vom Himmel fielen und Zamza, der ganz in ihrer Nähe auf dem Dach stand und eine der Strohpuppen umklammerte, um nicht herunterzufallen, unermüdlich Feuerzauber auf die Highlander herabregnen ließ. „Wir… wir können das doch unmöglich…“ Nanami schnappte nach Luft und presste fassungslos eine Hand auf den Mund. „Doch, wir können!“, erwiderte Riou entschlossen. „Wir können hier nicht sterben!“ Nanami starrte ihren Bruder an, während um sie herum der Lärmpegel immer weiter stieg – die röhrende Feuerbrunst, die Schmerzenslaute, die Kampfschreie, die Flüche – dann nickte sie zögerlich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch eine Erschütterung, die so heftig war, dass Jowy kurzzeitig dachte, die Erde hätte sich aufgetan, brachte sie zum Taumeln und das Mädchen griff haltsuchend nach Rious Arm, der sie mühsam aufrecht hielt. „Was zum…?“ Jowy fuhr herum und sah, dass das Tor in die Luft geflogen war und nun eine Flut von Highland-Soldaten den Innenhof stürmte. „Bei den Runen…“ Um sie herum erstarrten auch die Bogenschützen vor Schreck und Nanami rief: „Wir müssen hier weg, sofort!“ Weglaufen? Während Pilika irgendwo im Fort war?! Ein panischer Aufschrei irgendwo unten im Hof hinderte ihn daran, lautstark zu protestieren und er sah reflexartig hinunter. „Oh, bei den Runen…!“ Es war unmöglich, den Mann, der gerade durch das zerstörte Tor trat, mit jemandem zu verwechseln, zu irre war der Blick, zu wahnsinnig das Lachen, das Jowy selbst oben auf dem Dach und durch all den Lärm hören konnte. Luca Blight. Der Kronprinz von Highland stach rechts und links Männer ab – ungeachtet dessen, dass die Hälfte der Erschlagenen seine eigenen Untergebenen waren – während er den Hof überquerte und aus Jowy Sicht verschwand. „Wir müssen abhauen“, drängte Nanami schrill, „er wird uns alle umbringen!“ „Wir können nicht!“, blaffte Jowy heftiger als gewollt, „Pilika ist noch da drin!“ Einen Augenblick lang rührte sich keiner der drei, dann sagte Riou angespannt: „Wir holen sie hier raus und verschwinden.“ Und damit war es entschieden. Während um sie herum die Söldner noch immer nicht daran dachten, ihr Fort – ihr Zuhause – einfach so dem Feind zu überlassen, klettern die drei Jugendlichen nach unten, dorthin, wo die Schlacht am stärksten tobte. Vielleicht war es Glück, dass gerade keiner darauf achtete, ob jemand die Leiter benutzte, vielleicht dachten die Highlander auch, dass drei Kinder keine Gefahr darstellten. Sie kamen unbehelligt unten an… doch sie blieben nicht lange unentdeckt. Ein Highland-Soldat stürzte auf die drei zu, doch Nanami zückte ihren Nunchaku und rammte einen der Stäbe in die ungeschützte Magengrube des Mannes, ehe sie herumwirbelte und ihr Knie hochriss. Getroffen sackte der Soldat stöhnend zu Boden und Jowy beeilte sich, seinen Stab zu ziehen. „Passt auf!“ Er hatte keine Zeit, um sich umzudrehen; im nächsten Moment wurde er zu Boden gestoßen und landete schmerzhaft auf dem Körper eines gefallenen Highland-Soldaten. Ein Ächzen entwich ihm, während Riou ihn wieder auf die Beine zog. Erst jetzt sah Jowy, dass aus heiterem Himmel Hanna neben ihnen aufgetaucht war und zwei Highlander, die es auf die Jugendlichen abgesehen hatten, niedergestreckt hatte. Während das Blut von ihrer Schwertklinge tropfte, wandte sie sich den dreien zu und zischte: „Seid ihr wahnsinnig, Kinder? Was tut ihr noch hier?!“ „Wir müssen Pilika retten!“, erklärte Jowy entschlossen und sah der Kriegerin direkt in die dunklen Augen. Sie musterte aufmerksam sein Gesicht, dann nickte sie abrupt und sagte: „Ich gebe euch Rückendeckung! Beeilen wir uns.“ Vielleicht war es die Tatsache, dass sie in Toto versagt hatte, aber Jowy war sich sicher, dass nur Hanna ihnen dieses Angebot gemacht hätte. Alle anderen – Tsai, Rikimaru, Viktor, Flik – hätten sie wenn nötig mit Gewalt herausgezerrt… Plötzlich bemerkte Jowy aus den Augenwinkeln eine Bewegung, riss seinen Stab herum und sah dann, dass er einen Highlander direkt im Gesicht getroffen hatte. Ein hässliches Knacken – war das der Kiefer gewesen…? – ertönte, dann zog Riou den älteren Jungen auch schon weiter. Das kleine Grüppchen schlug sich einen Weg durch die Horden von Highlandern – Wo kamen sie alle her? Warum waren es so viele? Wie hatten sie unbemerkt das Fort umrunden können…? – bis es an der Eingangstür ankam, die aus den Angeln gehoben worden war und jetzt halb zerborsten den Weg hinein fast versperrte. Während Hanna dafür sorgte, dass niemand sie von hinten angriff, stürmten Nanami, Riou und Jowy hinein und kamen in der Halle schlitternd zum Stehen. Alles war voller Highlander und Jowy spürte, wie Panik ihm langsam, aber sicher die Kehle zuschnürte. Wo war Pilika?! „Leona!!“ Nanami war vorangestürmt, hinein in eine Gruppe Highland-Soldaten, die Leona und zwei Söldner umkreist hatten, von denen einer offensichtlich verletzt war. Riou und Jowy zögerten nicht lange und folgten ihr und auch Hanna tauchte wieder auf. „Was macht ihr Kinder noch hier?“, rief Leona, die eine Bratpfanne in der Hand hielt und damit gerade ausholte und einen der Highlander mit einem metallischen Laut im Gesicht traf. „Verschwindet!!“ Jowy wich knapp einer Klinge aus, schwang seinen Stab und riss damit seinen Angreifer von den Beinen, der sogleich von Hanna abgestochen wurde. „Wo ist Pilika?“, fragte der junge Aristokrat über den Lärm hinweg und hob seinen Stab abwehrend vor seinen Körper. Die Schwertklinge eines weiteren Highland-Soldaten knallte gegen das Metall und er spürte, wie sein rechtes Handgelenk wegknickte und Schmerz darin explodierte, gleich dem Feuer, welches das Eingangstor des Forts gesprengt hatte. Schon sah er das Schwert auf sich zukommen, doch Riou tauchte vor ihm auf und wehrte die Klinge mit seinem rechten Tonfa ab, dann stieß er mit seinem linken gegen den ungeschützten Hals des Angreifers. „Pohl hat sie in den Konferenzraum gebracht“, japste Leona entsetzt und erstarrte so plötzlich, dass sie beinahe getroffen wurde; es war Nanami zu verdanken, dass die Barfrau aus dem Weg gezogen wurde. Jowy selbst musste gegen die bleierne Schwere ankämpfen, mit der sich das Entsetzen in seinem Körper ausbreitete. Doch die Sorge um die kleine Pilika, die er zu beschützen geschworen hatte, verlieh ihm plötzlich Kräfte. Mit einem Aufschrei rammte Jowy seinen Stab in die Magengrube eines Highlanders, fuhr herum und traf einen anderen in die Seite, dann rief er: „Ich muss sie retten!“ Und dann stürmte er auch schon los, ignorierte die Schmerzen in seinem Handgelenk und focht sich einen Weg durch die Horde von Feinden. Ein paar Söldner kamen ihm zu Hilfe und als er sich plötzlich von fünf Männern umgeben sah, die er wahrscheinlich unmöglich allein hätte besiegen können, holten Riou, Nanami und Hanna ihn ein. „Verschwinde nie wieder allein!“, schimpfte Nanami, wirbelte herum und schwang ihren Nunchaku. Vielleicht hätte er sich entschuldigen sollen, aber dazu hatte er weder die Gelegenheit noch die Nerven. Er musste hoch in den Konferenzraum und Pilika aus dieser Hölle holen…! Als er an kämpfenden Highlandern und Söldnern vorbeieilte, rutschte er beinahe auf dem Blut aus, das inzwischen den Boden benetzte, und stolperte ein, zwei Mal über Leichen, doch das konnte ihn nicht aufhalten. Es durfte ihn nicht aufhalten! „Vorsicht!!“ Hannas zog gerade Nanami aus dem Weg eines Speeres und Jowy war plötzlich froh, dass es im Inneren des Forts zu eng war, um mit Pfeil und Bogen zu hantieren. Speere, Schwerter, Dolche und Messer waren eine Sache – aber Pfeilen auszuweichen war ein Ding der Unmöglichkeit. Als sie endlich, endlich den ersten Stock erreichten, war Jowy übersäht von kleineren Verletzungen und Schnitten und inzwischen völlig sicher, dass er sich das Handgelenk verstaucht hatte. Aber Pilika war wichtiger. Viel wichtiger. „Hanna!“, rief er der Kriegerin zu, die gerade ihr Schwert in die Seite eines Highlanders stieß und dabei wie ein wütendes Tier grollte. „Pass auf, dass uns niemand von hinten angreift!“ Mit diesen Worten rannte er weiter, dicht gefolgt von Riou und Nanami. Und dann erreichten sie die Tür des Konferenzraumes und rissen sie auf; doch der Anblick, der sich ihnen bot, ließ sie mitten in der Bewegung erstarren. Luca Blight zog sein Schwert gerade aus dem Pohls blutüberströmten Körper, der viel zu unbeweglich am Boden lag, und bemerkte abfällig: „Staats-Schweine... Wie oft ich dieses Gejammer schon gehört habe…!“ Pilika, die vor ihm gestanden hatte, fiel zu Boden und begann zu weinen. Offensichtlich trugen ihre Beine sie nicht mehr. Der highlandische Kronprinz fuhr zu ihr herum und brüllte: „Halt dein Maul, du Gör! Du verdirbst mir den Spaß!!“ Er machte einen Schritt auf das kleine Mädchen zu und hob sein Schwert. Pilikas Blick folgte der Klinge und sie schrie: „Nein! Nicht!“ „Sei still!“ Im nächsten Moment fand Jowy sich Seite an Seite mit Riou und Nanami wieder, die genau wie er mit ihren Waffen die niedersausende Klinge Blights aufgehalten hatten, die Pilikas Schädel zu spalten gedroht hatte. „Du wirst ihr kein Haar krümmen!“, zischte Jowy, der unter größter Anstrengung seinen Stab festhielt. Luca Blight… Warum war er so stark?! „Seid ihr etwa gekommen, um dieses Gör zu beschützen?“, höhnte der Prinz. Er verstärkte den Druck auf seine Klinge und Jowy stellte fest, dass seine Füße auf dem Teppich zu rutschen begannen, da er keinen Halt finden konnte. Und außerdem sandte sein verletztes Handgelenk Schmerzwellen durch seinen Arm…! „Lass… sie in Ruhe…“, ächzte Riou, dem ebenfalls anzusehen war, wie viel Kraft es ihn kostete, Luca Blight zurück zu halten. „Ha!“ Blight machte eine plötzliche Bewegung, die keiner von ihnen erwartete – und dann knallte Jowy auch schon gegen eines der Bücherregale, das im Raum stand, zur Seite gewischt wie eine Fliege von der ungeheuerlichen Kraft des Highland-Prinzen. Stöhnend und mühsam richtete sich der Blonde sich auf seinen Ellenbogen auf, während ein paar Bücher auf ihn herabfielen. Von dem Aufprall tat ihm alles weh und die dicken Wälzer, die ihn trafen, während sie aus dem Regal kippten, machte es nicht besser. Und ein Blick hinüber die Riou und Nanami verriet, dass auch sie Schwierigkeiten hatten, wieder auf die Beine zu kommen. „Lasst mich euch etwas erzählen“, sagte Luca Blight und grinste mit einem wahnsinnigen Funkeln in den Augen zu ihnen herunter. „Auf dieser Welt gibt es schwache und starke Männer…“ Ein Kichern entwich ihm, das Jowy vollends davon überzeugte, dass der Prinz völlig verrückt war. „Die starken Männer bekommen alles und die schwachen sterben!“, sinnierte Blight weiter, über den Kampflärm und Pilikas Schluchzen hinweg. „So wurde diese Welt geschaffen. Und jetzt werde ich euch demonstrieren, wie es funktioniert, ihr Schwächlinge!“ „Stop!“, rief Nanami entsetzt, als der Kronprinz erneut das Schwert hob und Pilika fixierte. „Nein!“, schrie Riou, als Luca Blight nicht reagierte. Nun wandte der Highland-Prinz seinen glühenden Blick ihm zu und blaffte: „Seid still und schaut zu, ihr elenden Würmer! Überlegt euch lieber eure letzten Worte, ihr seid nämlich als nächstes dran!!“ Jowy presste ohnmächtig die Zähne aufeinander, während er sich trotz der Schmerzen in die Höhe stemmte. Er musste sich zusammenreißen und Pilika helfen, er musste einfach!! Wo war nur Hanna…? „Was ist, Balg, hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte Luca Blight derweil Pilika, die vor Schreck aufgehört hatte, zu schluchzen und den Mann nur mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Der Prinz brach in Gelächter aus und rief dann: „Keine Sorge! Ich habe Hunderte, Tausende Köpfe von Schultern geschlagen! Es wird ganz schnell gehen!“ „Aufhören!“, brüllte Jowy verzweifelt, doch Blight beachtete ihn gar nicht. Er war fixiert auf Pilikas Augen und die Tränen, die ihre blassen Wangen hinunterrannen. „Ich liebe es“, hauchte der Prinz erregt. „Diese Augen, so schwach! So voller Furcht!“ Wieder brach er in Gelächter aus. „Bei den Runen, wie ich das liebe!“ Und dann fuhr seine Klinge hinunter, Pilika kreischte schrill… und dann gab es plötzlich eine Erschütterung die so heftig war, dass er in die Knie ging. Im nächsten Moment wurde Jowy auch schon auf die Beine und zur Tür gezogen und erst, als jemand die zitternde Pilika in seine Arme drückte, erkannte er, dass Flik, Viktor und Hanna plötzlich aufgetaucht waren und ihn, Riou und Nanami zur Tür drängten. „Raus hier!“, kommandierte Viktor und scheuchte die Jugendlichen aus dem Raum. „Wir haben alle Feuerspeere in den Boiler im Keller geworfen, sie werden jeden Moment explodieren!“ „Beeilt euch und flieht nach Muse“, fügte Flik hinzu, „dort seid ihr sicher!“ „Wagt es nicht, jetzt zu sterben!“, drohte Viktor und dann erschütterte eine weitere Explosion irgendwo unter ihnen das Fort und Hanna zog die drei Jugendlichen mit sich. Und dann rannten sie, fort vom Konferenzraum, durch die Masse der taumelnden Kämpfenden, die Treppe hinunter und in den Hof hinaus, inmitten einer Herde von Flüchtenden, Freund und Feind gleichzeitig. Als hinter ihnen plötzlich Flammen aufloderten und die heiße Luft die Haut in Jowys Nacken zu rösten drohte, blieb er stehen und sah zurück zu dem lichterloh in Flammen stehenden Fort. Eine Explosion riss gerade das untere Stockwerk auseinander und um sie herum schrieen Menschen… „Komm weiter!“ Eine Stimme drang wie durch Watte zu ihm und seine Arme waren so unendlich schwer, da er Pilika noch immer trug… Aber jemand ergriff ihn am Oberarm – wobei er beinahe seinen Stab verlor, an den er sich wie ein Ertrinkender klammerte – und zog ihn einfach weiter, während hinter ihnen weitere Explosionen ertönten und das Söldnerfort, das in den letzten paar Wochen zu etwas wie einem Zuhause für ihn geworden war, in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus. Erst, als es langsam zu dämmern begann und sie in der Nähe des Dorfes Toto ein Waldstück fanden, das sie im Halbdunkel fast völlig verbarg, kamen sie zum Stehen. Jowy spürte seine Beine nicht mehr, fühlte sich erschlagen und setzte mühsam Pilika ab, die sich in sein Hemd krallte. Erst jetzt erlaubte er es sich, einen Blick auf seine Gefährten zu werfen. Er war lediglich Riou gefolgt, hatte sich auf die rote Tunika fixiert und war einfach nur gelaufen… Dabei hatte er gar nicht mitbekommen, dass Zamza und Gengen zu ihnen gestoßen waren. „Seid ihr alle in Ordnung?“, fragte Riou, der heftig atmete und so müde aussah, wie Jowy sich fühlte. Hanna rieb sich mit dem Handrücken über einen Schnitt auf ihrer Wange, um den das Blut inzwischen getrocknet war, und brummte zustimmend, Nanami nickte nur wortlos und Gengen bestätigte sein den Umständen entsprechendes Wohlbefinden mit einem leisen Bellen. Nur Zamza schien noch in der Lage zu sein, etwas zu sagen, da er in diesem Moment seinen zerlöcherten Umhang betrachtete und spitz bemerkte: „Also ich bin unverletzt, aber den Umhang werden diese Widerlinge aus Highland mir bezahlen müssen!“ Niemand beachtete das Gemecker des Magiers, teils, weil sie zu erschöpft dazu waren, und teils, weil Zamza nur dann wirklich glücklich zu sein schien, wenn er meckern konnte. Jowy atmete durch und sah zu Pilika hinunter, die das Gesicht in seinem Hemd vergraben hatte. „Pilika, ist alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte er sich sanft und strich ihr durchs Haar. Sie antwortete nicht, sondern verstärkte den Griff, mit dem sie den Stoff seines Oberteiles umklammert hielt. „Was ist los, Pilika?“, fragte Nanami besorgt und Jowy spürte, wie sich erste Spuren einer furchtbaren Ahnung in seinem Herzen breit machten. „Hey… Pilika…?“ Das kleine Mädchen hob nun endlich den Kopf und sah ihn mit diesen riesigen, braunen Augen an. „Ee… ooo…“ Leise, unverständliche Laute drangen aus Pilikas Mund, als sie ihn öffnete und offensichtlich versuchte, etwas zu sagen. Als sie die Geräusche hörte, die sie von sich gab, füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie begann zu weinen. Lautlos. „Pilika?“ Blanker Horror hatte Jowy ergriffen, als er sich auf die Knie niederließ und seinen Schützling an den Schultern ergriff. Ihr Mund öffnete und schloss sich, als sie wieder etwas sagen wollte, doch diesmal kam kein Laut über ihre Lippen. „Sie… Sie kann nicht sprechen…?“ Hannas entsetztes Flüstern schien lauter in seinen Ohren zu klingen, als es tatsächlich war. „Pilika“, flehte Jowy, „sprich mit mir. Bitte, Pilika!“ Doch das Mädchen blieb stumm. Hilflos zog er sie an sich und umarmte sie fest. Hatte Luca Blight sie doch getroffen? War sie verletzt? Er traute sich nicht, nachzusehen… „Jowy.“ Rious sanfte Stimme ließ ihn den Kopf heben und er blickte direkt ins Gesicht seines besten Freundes. Der Jüngere brachte ein schwaches Lächeln zustande und sagte leise: „Mach dir keine Sorgen. Sie… hat sicher nur einen Schock erlitten.“ „Ja…“, hörte Jowy sich selbst sagen. „Du hast Recht.“ Doch eigentlich war er sich dabei gar nicht so sicher. „Dieser Ort ist nicht sicher“, seufzte Hanna bedauernd. „Ich weiß, dass ihr alle müde seid, aber wir können nicht hier bleiben. Viktor sagte, dass wir in Muse in Sicherheit sind. Kommt schon, Kinder.“ Wortlos nickten alle und Jowy nahm Pilika wieder hoch, vermied es jedoch, sie anzusehen. Wenn Unschuld in diesem Krieg nichts zählte… konnten sie ihn dann überhaupt überleben? Kapitel 15: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn --------------------------------------------------- Als sie Toto erreichten, fühlte sich Jowy, als ob er jeden Moment umkippen würde. Inzwischen trug er Pilika nicht mehr, seine Arme hielten die Anstrengung einfach nicht mehr aus. Stattdessen hielt er ihre kleine, rechte Hand mit seiner linken umklammert und hoffte, dass sie bald stehen bleiben und rasten konnten. Das Dorf lag noch immer in Trümmern, aber wenigstens die Leichname der getöteten Dorfbewohner waren auf dem Dorfplatz begraben worden. Lediglich kleine Hügel deuteten nur darauf hin, dass hier ein Massaker statt gefunden hatte… Plötzlich ließ Pilika Jowys Hand los und lief davon. „Pilika, wo willst du hin?“, fragte Nanami. „Es ist zu gefährlich, allein zu gehen! Pilika!“, rief Jowy ihr hinterher, doch die Kleine blieb nicht stehen. „Wir müssen ihr folgen!“ Riou nickte und Hanna seufzte ergeben, dann eilten sie hinter Pilika her. Erst am anderen Ende der zerstörten Siedlung holten sie sie ein. Pilika stand vor einem kleinen, zerstörten Häuschen, das vor einem Höhleneingang gebaut worden war. „Da bist du ja, Pilika…“ Jowy trat zu ihr und ging vor ihr in die Knie. „Du darfst nicht einfach so weglaufen, es ist gefährlich“, erklärte er ihr müde und das Mädchen sah ihn an, ehe sie fordernd auf den Höhleneingang zeigte. Er runzelte die Stirn. „Was ist denn…?“ Und dann ergriff Pilika ihn und Riou an den Händen und zog sie in die kleine Höhle hinein. „Was ist das?“, fragte Riou verwirrt und sah sich im Inneren um. Jowy tat es ihm gleich. Es war nur ein kleiner Hohlraum im Fels und vor ihnen an der Wand stand eine Marmorplatte, in die etwas eingeritzt war. Davor befand sich ein kleiner Altar, mehr gab es hier nicht. „Marx, Pilikas Vater, war… Wächter des Schreins in diesem Dorf“, antwortete er leise. „Das muss der Ort sein, aber…“ Aber warum hatte Pilika sie hierher geschleppt? „Kommt da raus“, drang Hannas Stimme von außen an seine Ohren, „wir müssen hier weg.“ „Ja, einen Moment…“ Jowy hatte die Marmorplatte angesehen und die Schriftzeichen betrachtet, die darauf eingeritzt waren. Seine Augen folgten der Schrift und er runzelte die Stirn. Mein Freund und ich versiegeln unsere Gedanken hier, stand da, Wir bedauern zutiefst, dass wir sie nicht vereinen konnten. –Han, Genkaku. „Riou“, sagte Jowy und wies auf die Schrift, „sieh dir das an. Genkaku… Ist das… Könnte das…?“ Der Jüngere beugte sich vor, um im spärlichen Licht besser sehen zu können, und schüttelte dann langsam den Kopf. „Das kann doch nicht sein, oder…?“ Aber wahrscheinlich war es nur die Müdigkeit, die ihnen einen Streich spielte. Wie lange waren sie jetzt auf den Beinen? Jowy sah zu Pilika hinunter und fragte dann: „Wolltest du für deine Eltern beten, Pilika?“ Das Mädchen nickte und er spürte seine Mundwinkel in dem schwachen Versuch, ein Lächeln zustande zu kriegen, nach oben zucken. „Dann schnell“, bat Riou sie. „Wir können leider nicht lange hier bleiben. Okay?“ Pilika nickte wieder und faltete dann ihre Hände zum Gebet, ehe sie den Kopf neigte und die Augen schloss. Jowy stieß die angehaltene Luft aus seinen Lungen und betrachtete noch einmal die Marmorplatte. Genkaku… War es möglich? Konnte es Meister Genkaku sein, Rious und Nanamis Adoptivvater, sein Lehrmeister? Und Han… Wer war das? Meister Genkaku hatte nie viel über seine Vergangenheit gesprochen. Jowy erinnerte sich nur daran, wie der alte Einsiedler sie getröstet hatte, als eine Gruppe Kinder ihn und Riou wieder einmal geärgert hatte. Sohn eines Feiglings, hatten sie Riou genannt. Aber als Jowy sich getraut hatte zu fragen, was das bedeutete, hatte Genkaku ihn nur angelächelt und erwidert: „Ein Mann sollte nicht im Schatten seiner Vergangenheit leben.“ Bis heute hatte er nicht verstanden, was das eigentlich bedeuten sollte… Jowy realisierte plötzlich, dass er mit den Fingern abwesend über den Marmor gestrichen hatte. Eine behandschuhte Hand, die natürlich zu Riou gehörte, lag ebenfalls auf dem Stein; der Jüngere hatte sich noch weiter vorgelehnt, um die Schrift genauer zu inspizieren… Plötzlich spürte der Aristokrat ein leichtes Ziehen in der Brust. Ein Lichtblitz blendete ihn… und dann standen er und Riou auf einmal allein in einem engen Gang, der von zahlreichen Fackeln, die an der Wand hingen, erleuchtet wurde. Das allein war schon eigenartig genug – aber die Flammen der Fackeln waren blau. „Was…?“ Riou sah ihn erschrocken an und Jowy runzelte die Stirn, als er sich umdrehte und nur eine massive Felswand hinter sich entdeckte. Er befühlte die Steinwand, drückte dagegen, doch sie rührte sich nicht. Aber wie waren sie dann hierher gekommen? „Das muss das Innere des Schreins sein“, sagte er langsam. „Aber wie…?“ „Ich habe nicht die leiseste Ahnung…“, murmelte Riou und hob eine Hand, um die fein gearbeitete Halterung einer Fackel zu berühren. „Ihr, die ihr dem Pfad des Schicksals folgt…“ Beide zuckten zusammen, als eine Stimme ertönte. Die Jungen fuhren herum und starrten die Frau an, die wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen erschienen war. Sie war schön. Hochgewachsen und blass, das schmale Gesicht von langem, schwarzen Haar umrahmt und in fließende, weiße Gewänder und einen Überwurf mit roten und goldenen Verzierungen gekleidet, die ihr das Aussehen einer ätherischen Gestalt verliehen. Sie schien alterslos zu sein… der Ausdruck in ihren seltsam weißen Augen war der einer Greisin, die in ihrem Leben zu viel gesehen hatte, doch ihre fast weiße Haut wies keinerlei Falten auf. „Wer…?“ „Boten, die ihr die Sterne der Vorsehung anruft… Geht weiter. Um Macht zu erhalten und euer Schicksal selbst zu weben, müsst ihr sie versammeln.“ In einem bläulichen Glühen, das ihren Körper umgab, verschwand die Frau ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. „Warte!“, rief Riou verblüfft, doch der Gang lag bereits genau so ausgestorben vor ihnen, wie er gewesen war. Die Freunde tauschten einen Blick. „Sollen wir… weiter gehen?“, fragte Jowy unsicher. Riou zögerte kurz… und nickte dann. Der Aristokrat warf einen letzten Blick zurück auf die Felswand, dann setzten sie sich in Bewegung, den erleuchteten Gang hinunter. Er schwebte. Lebte er? War er tot? Er wusste es nicht. Er spürte seinen Körper nicht… Eine Stimme hallte durch seine Gedanken. Wem gehörte sie…? Macht? Suche ich nach Macht? Es war seine eigene. Und gleichzeitig nicht… Riou. Es klang nach Riou. War er hier? Hier. Wo war hier? Eine Erinnerung stieg aus den Tiefen seines Geistes nach oben und breitete sich langsam aus, fast wie ein Farbklecks in dieser weißen, ruhigen Welt. Er sah ein Dojo, das auf einer Klippe stand, umgeben von ein paar Bäumen und mit einem großen Innenhof. Er war umzäunt von einem niedrigen Lattenzaun aus dunklem Holz und vor den Stufen, die ins Haus führten, standen drei Personen. Zwei davon waren Kinder, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Die andere Person war ein Mann, dessen ehemals blondes Haar bereits langsam ergraute. Er stand mit dem Rücken zum Gartentor und korrigierte gelegentlich die Haltung der beiden Kinder, die offensichtlich trainierten. Ein anderer Junge mit aschblondem Haar stand am Zaun, umklammerte schüchtern eines der Bretter und beobachtete die drei im Innenhof mit einem sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen. Ja, richtig… Er erinnerte sich. Der Junge am Zaun war er. Er hatte gehört, dass der Einsiedler, der im Westen von Kyaro lebte, zwei Kriegswaisen adoptiert hatte, deshalb war er hingegangen, um sich die Kinder selbst anzusehen. Vom ersten Augenblick an hatte er gesehen, dass diese drei Menschen, die nicht blutsverwandt waren, herzlicher miteinander umgingen als seine Familie zu Hause. Er hatte sie ansprechen wollen, aber sich nicht getraut… „Wer bist du?“ Der kleine Junge im Hof war auf den Jungen am Zaun zugetreten und lächelte ihn breit an. Sein jüngeres Ich schien vor Schreck zu erstarren, dann stotterte er: „Ich… Ich bin Jowy.“ Das war ihr erstes Treffen gewesen. Es war so lange her…! Und dennoch… Seit dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal sah… Da war wieder die Stimme, die in seinen Gedanken erklang, ihm gehörte und doch wieder nicht. Das Bild der zwei Jungen, die sich schüchtern über den Zaun hinweg angrinsten, wich einer anderen Erinnerung. Diesmal befanden sich die Jungen auf der Straße, ganz in der Nähe der Atreides-Villa. Sie waren umringt von ein paar anderen Kindern. „Adoptiertes Weichei!“, rief eines der Kinder abfällig und stieß Rious jüngeres Ich von sich weg. „Sohn eines Feiglings! Das Dojo deines Vaters ist eine Müllhalde!“ Rious Augen füllten sich mit Tränen und er wich zurück, außer Reichweite der Jungen und Mädchen, die ihn umzingelt hatten. „Bleib bloß weg von uns, Riou!“, höhnte ein Mädchen und kicherte. „Sonst steckst du uns noch mit der Feiglingsseuche an!“ Das war ein paar Wochen nach ihrem ersten Zusammentreffen geschehen… Die Kinder hatten sie abgefangen, als Riou ihn von Zuhause abgeholt hatte. Er erinnerte sich daran, wie viel Angst er gehabt hatte… „Hört auf damit! Wenn ihr euch über Riou lustig machen wollt, müsst ihr an mir vorbei!“ Aber das hatte ihn nicht daran gehindert, sich vor seinen besten – und einzigen – Freund zu stellen, mit dem festen Vorhaben, ihn zu beschützen. Natürlich war die Aktion kläglich gescheitert… sie hatten gegen die anderen Kinder nichts ausrichten können und waren verhauen worden. „Große Klappe und nichts dahinter!“, rief ein anderes Kind. „Sohn eines Feiglings und verwöhnter Bengel!“ Die Kinder brachen in Gelächter aus. Ausgelacht hatten sie sie und noch einmal nachgetreten, während er und Riou am Boden gelegen hatten. Dann war Nanami aufgetaucht und hatte die Kinder verjagt… War das der Moment gewesen, in dem sie wirklich und wahrhaftig Freundschaft geschlossen hatten…? Er wusste es nicht. … wusste ich irgendwie, dass wir Freunde werden. Woher kamen diese Gedanken…? Eine andere Erinnerung dehnte sich in seinem Geist aus. Diesmal sah er sich selbst und Riou etwa ein Jahr später… Jowy, schon damals ein ganzes Stück größer als Riou, hatte für den Jüngeren eine Räuberleiter gemacht. Sie standen an einer Mauer, an die er sich sehr gut erinnerte. Es war die Mauer, die das Ferienhaus der Königsfamilie umgab. Er hatte ein Mädchen im Garten hinter dem riesigen, gusseisernen Tor gesehen und hatte sie Riou unbedingt zeigen wollen… „Beeil dich!“, brummte sein jüngeres Ich angestrengt, dessen Arme zitterten. „Meine Arme ermüden!“ „Nur… nur ein bisschen höher!“, bat Riou, der sich streckte und reckte, aber wohl immer noch zu klein war, um über die Mauer lugen zu können. „Kannst du sie sehen?“, fragte Jowy, während er seinen besten Freund noch etwas höher hievte. „Ist sie nicht niedlich?“ „Hey, was treibt ihr Gören da? Verschwindet!“ Ein Wachmann hatte die Jungen entdeckt und schließlich fortgejagt, quer durch die Stadt. Und das war nur eines von zahlreichen Abenteuern gewesen, die sie gemeinsam erlebt hatten. Einmal war Riou im Wald nördlich von Kyaro beim Spielen verloren gegangen und Jowy hatte sich solche Sorgen gemacht, dass er in Tränen ausgebrochen war… Ich war niemals allein, weil du bei mir warst. Und noch eine Erinnerung stieg in ihm hoch, fast wie ein Drachen im Wind. Zwangsläufig fragte er sich, warum er sich gerade jetzt an all das erinnerte. Er sollte nicht hier sein, er musste… Was musste er tun? Er wusste es nicht. Irgendetwas nagte in seinem Hinterkopf – hatte er überhaupt einen? Er wusste ja nicht einmal, ob er noch einen Körper hatte… – doch er kam einfach nicht darauf, was es war. Seine Aufmerksamkeit wandte sich dem Bild zu, dass vor seinem inneren Auge entstanden war. Die Jungen, wiederum ein oder zwei Jahre älter, knieten im halbhohen Gras hinter Rious Haus unter der Eiche, die dort stand, seit er sich erinnern konnte. Sie vergruben etwas in der Erde… „Okay!“, rief sein jüngeres Abbild, stand auf und wischte sich die dreckigen Hände an der Hose ab. „Vergiss nicht, es ist ein Geheimnis.“ Der sieben Jahre alte Riou nickte heftig und säuberte seine Hände an der viel zu großen Tunika, die er trug. Ja… er war immer klein und zierlich gewesen, sodass Genkaku Schwierigkeiten gehabt hatte, etwas Passendes zum Anziehen für seinen Adoptivsohn zu finden. „Hey, was macht ihr da?“ Eine achtjährige Nanami kam herbeigelaufen, blieb vor den Jungen stehen und stemmte die Hände in die Hüfte. „Los, sagt schon!“ Sie hatte immer diesen fordernden Ton gehabt… wahrscheinlich, weil sie als einziges Mädchen in ihrer kleinen Gruppe oft auf der Strecke blieb. Womöglich war das der Grund, warum Nanami so ein Wildfang war… „Na, weißt du…“ Vielleicht hätte Riou weitergesprochen, doch Jowy rammte ihm den Ellenbogen in die Seite. „Hey, du darfst das nicht verraten!“ Nanamis Gesichtsausdruck verdüsterte sich arg. „Was?“, fragte sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen, ergriff ihren Bruder am Kragen und schüttelte ihn durch. „Sag’s mir!“ „Nein!“, erwiderte Jowy bestimmt und sah Nanami ernst an. „Es ist ein Geheimnis zwischen Jungen!“ Nanami schnaubte beleidigt und schubste Riou so heftig von sich weg, dass er gegen Jowy prallte. „Dann eben nicht!“ Was hatten sie eigentlich vergraben? Er wusste es nicht mehr… Aber er erinnerte sich nur zu gut daran, wie beleidigt Nanami gewesen war. Es schien, als würden diese Tage nie enden… Ja, so war es gewesen… Wiederum entstand ein neues Bild. Diesmal waren er und Riou älter, seit der letzten Erinnerung waren nahezu acht Jahre vergangen. Sie standen mit zahlreichen anderen Jungen im Hof der Kaserne von Kyaro und trugen ihre Uniformen der Jugendbrigade. Das war gar nicht lange her… „Von heute an seid ihr alle ein Teil der Einhorn-Brigade der Königlichen Armee von Highland!“, schallte Rowds Stimme über den Platz, während die Jungen nacheinander vortraten und ihre Abzeichen in Empfang nahmen, die sie sich an die Uniform pinnten. „Tragt euren Kopf stets hoch erhoben und seid stolz!“ Natürlich, ja… er war auf Drängen seines Vaters in die Jugendbrigade eingetreten und Riou hatte es ihm gleich getan. Das war kurz nach Genkakus Tod gewesen und er hatte versucht, es dem Jüngeren auszureden, weil Nanami allein zurückblieb. Aber Riou hatte sich nicht überzeugen lassen. Sie hatten gemeinsam ihre Ausbildung absolviert und waren eingezogen worden… Und an diesem Tag hatten die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit ein Ende gefunden. Wir gingen den gleichen Weg, weil… Auch die nächste Erinnerung war noch gar nicht so lange her. Nur etwa anderthalb Monate waren vergangen, seit er und Riou auf der Klippe im Tenzaan-Gebirge gewesen waren… „Okay. Hör zu, wenn wir es schaffen… aber irgendwie getrennt werden…“ Er sah sich selbst Riou einen flehenden Blick zuwerfen, das Messer, mit dem er die Kerbe in den Fels geschlagen hatte, noch fest in seiner Hand. „Dann lass uns hierher zurückkehren. Dann können wir einander wiederfinden. Versprich es mir, ja?“ Ihm war schlecht vor Angst gewesen… Hinter ihnen Rowd und die Soldaten, vor ihnen der tosende Wasserfall, der in bodenlose Schwärze stürzte. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie überlebt hatten… Aber hatten sie das wirklich? Vielleicht war er auch längst tot und träumte alles nur… Er wusste es nicht. „Ich verspreche es“, sagte Riou, lächelte schwach und durchkreuzte die von Jowy in den Fels geschlagene Kerbe mit einer zweiten. Sie sahen sich an, dann nahm Jowy das Messer wieder an sich und ließ es in seinem Stiefel verschwinden. „Danke.“ Es war nicht bloß eine Floskel gewesen, als er das gesagt hatte. Tiefe, ehrliche Dankbarkeit hatte ihn durchflutet, als Riou es geschafft hatte, ihn mit ein paar Worten zu beruhigen. Natürlich hatte er trotzdem Angst gehabt, aber es war keine blinde Panik mehr gewesen… „Also los.“ Sie ergriffen einander bei der Hand und sprangen. Ja, so hatte alles angefangen… Alles. Alles was? Was ging überhaupt vor? Wo war er? Hier. Wo war hier…? Seine Gedanken schienen im Kreis zu laufen. … wir Leben und Tod gemeinsam wählten. Das hatten sie getan… „Riou! Bist du hier? Riou!“ Er hatte versucht, Riou aus dem Fort zu befreien. Damals, als sie noch gedacht hatten, dass alles in Ordnung sein würde, wenn sie nur nach Hause kommen und die Wahrheit erzählen würden… Er sah sich selbst, wie er im Keller des Forts stand und in den Zellen spähte, um seinen Freund aus den Klauen der vermeintlichen Feinde zu reißen. Aber letztendlich waren nicht die Söldner die Bösen gewesen, sondern sein eigenes Vaterland… „Jowy?!“ Riou musste aus allen Wolken gefallen sein. Viktor und Flik hatten gesagt, dass sie Jowy im Fluss verloren hatten… als er plötzlich wieder aufgetaucht war, war Riou bestimmt erstaunt gewesen sein. Mehr als das. Entsetzt, geschockt… Erleichtert? So wie er erleichtert gewesen war, Riou zu sehen? „Ich bin hier!“ Aber Riou hatte geantwortet, so wie er es immer machte, wenn Jowy mit ihm sprach. Selbst Nanami ignorierte ihn manchmal, wenn er etwas vor sich hinmurmelte, aber nicht Riou. Er schien immer ein offenes Ohr für alles zu haben, was Jowy zu sagen hatte. Ich habe an dich geglaubt… immer… Etwas Anderes war ihm gar nicht übrig geblieben. Riou und Nanami waren alles, was er hatte… Die Erinnerung, die sich jetzt vor ihm ausbreitete, war mit Abstand die schmerzhafteste. Er wollte sie nicht sehen, sträubte sich mit aller Macht dagegen, aber konnte doch nichts tun, um sie nicht wieder zu durchleben, genau wie all die anderen zuvor. Er, Riou und Nanami blickten zurück auf die Stadt Kyaro, von der nicht mehr in der Dunkelheit zu erkennen war, als kleine Lichter in der Ferne. „Meint ihr… Meint ihr, wir werden jemals zurückkommen…?“ Insgeheim hatte er sich genau so verloren gefühlt wie Nanami. Sie hatten alle drei den Boden unter den Füßen verloren und befanden sich im freien Fall, einer unsicheren Zukunft entgegen. In Kyaro war alles so einfach gewesen – selbst nachdem Meister Genkaku gestorben war, waren sie sich einig gewesen, das Dojo wieder zu eröffnen, das war ihr Plan für das weitere Leben gewesen. Aber nun, da ihr Vaterland sich gegen sie gewandt hatte… „Eines Tages kommen wir bestimmt wieder zurück.“ Und dann war da Riou gewesen, mit seiner ruhigen Selbstsicherheit, die es immer wieder schaffte, ihn zu beruhigen. Und eigentlich… ja, eigentlich war es eine Lüge gewesen, als er beschlossen hatte, dass er nicht zurück nach Hause wollte. Bei den Runen, er wollte eigentlich nichts Anderes. Und er hoffte, dass Riou Recht behalten würde… mehr als jemals zuvor. … weil wir so viel teilten. Als ihm bewusst wurde, dass er festen Boden unter den Füßen hatte, zuckte Jowy zusammen. Was war passiert? Sein Kopf fühlte sich an, als wenn er jeden Moment explodieren würde… und übel war ihm auch, als wenn jemand seine Seele, seinen Geist, sein innerstes Ich gewaltsam nach etwas durchsucht hätte und ihn dabei nach links gekehrt zurückgelassen hätte. Müde wischte Jowy sich über die Augen, blinzelte dann und bemerkte Riou neben sich, der sich an die Wand lehnte und das Gesicht in den Händen vergraben hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte Jowy besorgt und der Jüngere hob den Blick. „Ich… denke schon.“ „War das eben… eine Halluzination? Hast du es auch gesehen?“ Riou nickte langsam und rieb sich die Schläfen. Jowy massierte seine Nasenwurzel und sah sich dann im Gang um. Hatten sie dich überhaupt vom Fleck gerührt, seit sie losgegangen waren? Er wandte den Kopf und entdeckte die Felswand, vor der sie sich wiedergefunden hatten, in nicht allzu weiter Entfernung. „Ich frage mich, was das war“, murmelte Riou nachdenklich, stieß sich von der Wand ab und sah den Gang hinunter. „Ich auch.“ In stummem Einverständnis gingen sie weiter, etwas Anderes konnten sie immer nicht tun. Ziemlich bald erreichten die Jungen einen runden Raum, aus dem zwei weitere Gänge herausführten. Auch er wurde von den Fackeln mit dem geheimnisvollen, blauen Feuer erleuchtet. Aber bevor sie sich entscheiden konnten, welchen Gang sie gehen würden, erhellte ein blaues Glühen eine menschliche Silhouette und die weißgekleidete Frau, die ihnen – wann eigentlich? – begegnet war, erschien plötzlich direkt vor ihnen. „Ihr, die ihr dem Schicksal folgt…“, sagte die Frau und bedachte die Jungen mit einem Blick aus ihren weißen Augen, die Jowy irgendwie unheimlich waren. Vielleicht, weil ihr Blick direkt zwischen ihnen stehen blieb, als würde sie die beiden gar nicht sehen. „Wir haben in eure Herzen geblickt und eure Persönlichkeiten erkannt.“ „Wer bist du?“, verlangte Jowy zu wissen. Diese Frau war ihm nicht geheuer… tauchte auf und ging, wie es ihr beliebte. „Ich bin die Erbin der Tor-Rune“, antwortete die Frau und wandte den Kopf, um Jowy anzusehen. Oder eben nicht – denn ihm wurde schlagartig klar, dass sie sie wirklich nicht sehen konnte. Sie war blind. „Die Hüterin des Tores zwischen den Welten… Sie, die die Waagschale der Vorsehung beobachtet. Mein Name ist Leknaat.“ Riou und Jowy sahen einander an und blickten dann zurück zu der blinden Frau, die vor ihnen stand und sie zu beobachten schien. Wie sie das schaffte, war ihm schleierhaft… „Wir sind…“, begann er unsicher, doch Leknaat unterbrach ihn sanft: „Mir ist bekannt, wer ihr seid.“ Sie lächelte. „Denn hier beginnt die Zusammenkunft der Sterne der Vorsehung.“ Sterne der Vorsehung? „Ihr müsst verwirrt sein, verzeiht“, fuhr sie fort, neigte leicht ihr Haupt. „Aber das Schicksal ist flatterhaft und die Zukunft undurchsichtig… Eine der 27 Wahren Runen hat euch erkannt. Der Pfad hat sich nun für euch geöffnet.“ Von all den Fragen, die Jowy bei diesen Worten herumgingen, äußerte er jedoch nur eine. Er fühlte sich maßlos überfordert. „Uns erkannt…? War das diese Vision?“ War es tatsächlich eine der 27 Wahren Runen gewesen, die seinen Geist umgekrempelt hatte, eine der Runen, welche das Schicksal dieser Welt schrieben? „Ja“, bestätigte Leknaat und schenkte ihnen wiederum ein Lächeln, doch diesmal hatte es etwas Trauriges. „Die Rune des Anfangs, die an diesem Ort ruht, hat euch erkannt und wird euer Vorsehung vollenden. Diese Rune wird euch die Macht verleihen, das Schicksal selbst zu ändern.“ Jowy fuhr zusammen, als er diese Worte hörte. Das Schicksal ändern? Würde er… die Macht haben, Dinge zu verändern, die er bisher nicht hatte ändern können? „Aber ich muss euch warnen“, drang Leknaats sanfte Stimme durch das plötzlich entstandene Chaos in seinem Kopf, „denn Macht garantiert keinen Frieden. Die Stürme des Schicksals, die das Annehmen dieser Rune mit sich bringt, werden viel Unglück und Not schaffen und nur wenige sind bisher in der Lage gewesen, sie zu beruhigen, nachdem sie einmal anfingen zu toben.“ Ihr blinder Blick fixierte die Jungen durchdringend. Schweigen breitete sich aus und Jowy spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Erst jetzt bemerkte er die seltsame Aura, die von der Hüterin der Tor-Rune ausging. Sie schien nach ihm zu greifen, ihn abzutasten… Wieder stieg Übelkeit in ihm hoch. Für seinen Geschmack war sein Innerstes genug durchsucht worden. „Denkt darüber nach und entscheidet dann“, sagte Leknaat und wirkte plötzlich uralt. „Wenn ihr diese Macht nicht haben wollt, kehrt jetzt in die Außenwelt zurück.“ Macht. Er… brauchte Macht, nicht wahr? Seine Gedanken wanderten zu all den Menschen, die er nicht hatte beschützen können, weil er zu schwach gewesen war. So konnte es doch nicht weitergehen…! „Was wirst du tun, Riou?“, hörte er seine eigene, unsichere Stimme. Nachdenklich kaute der Jüngere auf seiner Lippe herum, dann murmelte er leise: „Ich… glaube nicht, dass ich diese Macht möchte. Und du, Jowy?“ Einen Moment lang starrte er noch in die braunen Augen, dann seufzte er leise. „Als… Pilika ihre Stimme verloren hat“, flüsterte er, weil seine Stimme plötzlich ihren Dienst verweigerte, „da… da habe ich begriffen, dass ich sie nicht beschützen kann. Ich habe es mir selbst und ihren Eltern versprochen, aber…“ Er brach ab und holte tief Luft. „Es gibt einige Menschen in meinem Leben, die ich beschützen möchte. Die ich beschützen muss. Du, Nanami, Pilika, Mutter…“ Jowy räusperte sich leise, um den Kloß in seinem Hals zu vertreiben und sah Riou direkt an. „Deswegen… Riou, ich brauche diese Macht.“ Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ehe sein bester Freund langsam nickte und verständnisvoll lächelte. „Dann nehmen wir die Macht“, sagte Riou und Jowy spürte, wie ihm ein ganzer Berg vom Herzen fiel. „Danke… Es tut mir leid.“ „Schon gut.“ Riou drehte sich zu Leknaat um, die das Gespräch der Jungen stumm verfolgt hatte, und sagte: „Wir haben uns entschieden. Wir wollen diese Macht… und die Rune.“ Vielleicht bildete Jowy es sich ein, aber die Erbin der Tor-Rune wirkte nicht allzu glücklich über diese Entscheidung, sondern eher traurig, als ob sie mit ihren nichts sehenden Augen in eine Zukunft blicken konnte, die wegen diesem Entschluss nicht allzu rosig aussah. „Dann geht weiter, Günstlinge der Vorsehung“, nickte Leknaat und zu den beiden Gängen, die aus dem Raum, in dem sie sich befanden, herausführten. Der Aristokrat dachte kurz nach. Wenn es zwei Gänge gab, musste er zwangsläufig einen von ihnen wählen, nicht wahr? Plötzlich wurde ihm klar, dass aus beiden Richtungen eine eigenartige Kraft ausging. Während von links eine stille, ruhige Präsenz kam, die friedlich darauf zu warten schien, dass jemand nach ihr griff, schien von rechts etwas Großes, Mächtiges die Hand nach ihm auszustrecken. Er konnte es nicht benennen, aber er spürte die Berührung der seltsamen Kraft und wusste plötzlich, dass sie nach ihm rief. „Ich nehme den rechten Gang“, hörte er sich selbst sagen. Aus den Augenwinkeln sah er Riou nicken, dann setzten sie sich wortlos in Bewegung. Je weiter Jowy in den Gang vordrang, desto stärker wurde das eigenartige Gefühl, dass ihn etwas rief, und als er schließlich eine Sackgasse erreichte, wurde die Empfindung so stark, dass sie ihn zu überwältigen drohte. An der Felswand vor ihm prangte das Mal einer Rune. Von dem schwertartigen Umriss ging eine solche Kraft aus, dass er nach Luft schnappen musste – er fühlte sich, als wenn ihn die Präsenz der Rune erdrücken würde. Aber das war es. Diese Rune würde ihm Macht geben. Die Macht, die er brauchte, um alle die, die ihm am Herzen legen, zu beschützen. „Riou!“, rief er und warf einen Blick zurück über die Schulter. „Bist du bereit?“ „Ja!“, ertönte die entschlossene Antwort und Jowy atmete tief durch. Dann hob er instinktiv seine rechte Hand – und öffnete seinen Geist der Präsenz der Rune. Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf, viel zu schnell, um etwas zu erkennen, Erinnerungen, die nicht ihm gehörten, prasselten auf ihn ein, nahmen ihm die Luft zum Atmen, blendeten, lähmten ihn… Und dann war alles genau so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Schwer atmend fand sich Jowy in dem Gang wieder, doch das Mal der Rune an der Wand war verschwunden. Stattdessen fühlte er die Macht, die ihn angezogen hatte, in seinem Inneren pulsieren und ihn bis zu den Fingerspitzen ausfüllen. Langsam ließ er die Hand sinken und starrte die dunkle Silhouette eines flammenden Schwerts an, das auf seinem Handrücken erschienen war, fast wie ein Brandmal. Seine Fingerspitzen kribbelten und er merkte, dass er zitterte. Zögernd wandte Jowy sich um und ging zurück zu dem Raum, in dem Leknaat auf sie wartete. Er wollte sie fragen, was für eine Rune das war, die er erhalten hatte – denn die Rune des Anfangs konnte es nicht sein. Nicht so. Nicht, wenn es zwei Träger gab… Oder? Doch bevor er die Trägerin der Tor-Rune fragen konnte, kam Riou, der ein wenig blass wirkte, aus dem linken Gang. „Ihr habt nun die Macht erhalten“, sprach Leknaat, „die Macht der Rune des Anfangs. Riou“, sie wandte den Kopf in die Richtung des Jungen, „du trägst nun die Rune des Hellen Schilds. Und du, Jowy“, nun wanderten ihre Augen in seine Richtung und als er ihrem Blick begegnete, wurde ihm erneut mulmig, „besitzt die Rune des Schwarzen Schwerts. Diese Runen sind die zwei Aspekte der Rune des Anfangs, ihre zwei Seiten…“ Jowy senkte den Blick auf die Rune auf seiner Hand. Die Rune des Schwarzen Schwerts… Würde sie ausreichen? „Geht nun“, fuhr Leknaat fort und wirkte erneut seltsam traurig, „geht und schreibt euer eigenes Schicksal nieder.“ Jemand berührte ihn am Arm und Jowy öffnete erschrocken die Augen. Einen Moment lang wusste er nicht, was passiert war und wo er sich befand, dann aber sah er hinunter zu Pilika, die seinen Blick fragend erwiderte. Verwirrt nahm er seine Umgebung in Augenschein und stellte fest, dass er sich noch immer in der kleinen Höhle befand, in die Pilika ihn und Riou geführt hatte, in genau der gleichen Haltung, die linke Hand auf der Marmorplatte. Ein Traum? Hatte sein völlig übermüdeter Geist ihm eine Streich gespielt? „Riou“, sagte er und sah zur Seite, zu seinem besten Freund, der erstaunt den Kopf hob, „zeig mir deine rechte Hand!“ Kurz zögerte der Jüngere noch, dann zog er den Handschuh ab und streckte dem Blonden seinen Handrücken hin, auf dem gut sichtbar das dunkle Mal der Rune des Hellen Schildes prangte. Erst dann senkte Jowy den Blick auf seine eigene Rechte, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht alles eingebildet hatte. Aber die Rune des Schwarzen Schwerts war noch immer da… und jetzt spürte er auch wieder ihre Anwesenheit in seinem Inneren, die mächtige, wärmende Präsenz, die ihn ausfüllte. Wie hatte er sie nicht bemerken können? „Es war also doch kein Traum…“ „Seid ihr in Ordnung?“ Nanami tauchte in der schmalen Öffnung des Höhleneingangs auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Führt ihr etwa Selbstgespräche hier drin?“ „Nein“, beruhigte Riou sie schnell und lächelte ihr zu, „alles okay.“ „Lasst uns gehen!“, rief Hanna von draußen. Sie klang angespannt… wer konnte es ihr verübeln? „Die Highlander könnten uns bereits im Nacken sitzen.“ Ja… Ja, das taten sie wahrscheinlich. Widerwillig wandte sich Jowy von der Marmorplatte und den hineingeritzten Worten ab und folgte Nanami, Riou und Pilika hinaus. Jetzt hatte er also Macht. Aber würde er sie auch richtig einsetzen können? Jowy blickte in den Morgenhimmel hinauf, doch der gab ihm keine Antwort. Natürlich nicht… Kapitel 16: Versperrte Wege --------------------------- Wasser, Feuer, Erde, Wind und Blitze regneten auf die Welt hinunter, Chaos tobte. Schreie, das metallische Klingen von aufeinander treffenden Schwertern füllten die Luft und Lärm, zu viel Lärm, zu laut, ließ seine Ohren klingeln. Ein Kampf tobte, Funken sprühten. Da waren zwei Kämpfer, sich ähnlich und doch wieder nicht… Schwert und Schild prallten aufeinander, jemand schrie. Schrie so laut, dass die Welt erzitterte und auseinanderbrach. Bilder und Stimmen prasselten auf ihn ein, riefen seinen Namen, zerrten an ihm, rissen ihn nach rechts und links. Sie würden ihn…! Ein widerwärtiges Geräusch ertönte, als er plötzlich entzweigerissen wurde, nichts weiter, als ein Laubblatt im Wind, Blut, so viel Blut, und er fiel, fiel, fiel… Mit einem Schrei fuhr Jowy aus dem Schlaf, schweißgebadet, mit klopfendem Herzen. Er schnappte nach Luft und griff sich an die Brust, während sich ein furchtbarer Schmerz in seinem Inneren ausbreitete. Oh, bei den Runen…! Seine rechte Hand pulsierte, brannte förmlich, und er zitterte so heftig, dass ihm schlecht wurde. Oder war ihm schon vorher schlecht gewesen? Nur langsam beruhigte er sich wieder. Ein Albtraum… nur ein Albtraum. Oder nicht? Jowy sah hinunter auf das dunkle Mal der Rune des Schwarzen Schwertes. Die Haut um das Mal war rötlich, fast so, als sei sie entzündet. War es wirklich nur ein Albtraum gewesen oder weigerte sich sein Körper einfach, sich mit der Rune zu arrangieren? Er hatte von Fällen gehört, in denen Runen und Träger nicht kompatibel gewesen waren. War das hier auch der Fall? Plötzlich wünschte er sich, dass ein professioneller Runenmeister einen Blick auf diese Rune warf. Aber andererseits… Es gab wahrscheinlich einen guten Grund, warum die Rune des Anfangs – und ihre Komponenten, die er und Riou nun trugen – versiegelt gewesen war. Abwesend rieb Jowy über die gereizte Haut auf seinem Handrücken und fuhr sich dann müde übers Gesicht. Es war späte Nacht gewesen, als er endlich, endlich ins Bett gesunken war. Sie hatten es bis nach Muse geschafft und sich am Ziel geglaubt – Viktor würde ihnen bestimmt helfen! – doch bekanntlich kam alles anders, als man dachte. Und in diesem Fall ganz besonders. Mehr tot als lebendig hatte er sich gefühlt, als sie das Tor der Stadt am Nachmittag erreicht hatten. Aber der Wachmann hatte keinerlei Interesse an ihrer Geschichte gezeigt – alles Bitten und Flehen hatte nichts genützt, ohne einen Passierschein würde er sie nicht hereinlassen. Und als Nanami die Sache in die Hand hatte nehmen wollen, war alles komplett aus dem Ruder gelaufen. Der Soldat hatte das Mädchen genervt als mopsnasigen, froschgesichtigen und weinerlichen Wildfang bezeichnet und damit ihren Zorn auf sich gelenkt. Nur mit Mühe hatte Hanna Nanami davon abgehalten, den Mann anzugreifen, und sie hatten schnell die Beine in die Hand nehmen müssen, weil der Wächter ihnen gedroht hatte, sie in den Kerker werfen zu lassen. Und dann waren sie umhergeirrt, bis sie das Gasthaus Zum Weißen Hirsch gefunden hatten, das gar nicht weit von Muse, halb versteckt am Rand eines kleines Waldes lag. Die Besitzerin war nett gewesen – trotz der späten Stunde hatte sie ihnen die Tür geöffnet, ihnen sogar noch ein Abendessen serviert und zwei Zimmer zur Verfügung gestellt. Selten war Jowy so dankbar für ein sauberes Bett gewesen. Und nun saß er hier, mit schmerzenden Gliedmaßen und Erinnerungen, die er nur zu gern verdrängt hätte. Aber ihm war bewusst, dass das unmöglich war. Langsam erhob der junge Aristokrat sich und schlüpfte in seine Stiefel – das einzige, was er noch ausgezogen hatte, bevor er kraftlos ins Bett gefallen war. Dann verließ er das kleine Zimmer im ersten Stock des Gasthauses, das er gemeinsam mit Pilika, Riou und Nanami bewohnte, um sich auf die Suche nach den anderen zu machen. Wie spät war es überhaupt? Im Zimmer war niemand gewesen und auch als er im Nebenzimmer klopfte, das sich Hanna mit Zamza und Gengen teilte, öffnete keiner die Tür. Waren sie vielleicht unten im Speisesaal, um zu frühstücken? Oder war es bereits Zeit fürs Mittagessen? Letzteres hätte Jowy gar nicht so sehr gewundert, er war nun einmal ein Langschläfer… Tatsächlich fand er seine Gefährten an einem Tisch im Speisesaal, wo sie gerade zu Mittag aßen. Dem Geruch nach zu urteilen, war es je ein Stück Braten für jeden, mit gekochten Kartoffeln und einer Sauce, die einen unheimlich guten Geruch verströmte. „Guten Morgen“, begrüßte er den Rest der Truppe leise, während er auf dem letzten freien Stuhl Platz nahm. „Guten Tag“, korrigierte Nanami ihn mit einem schwachen Lächeln. „Du alter Langschläfer.“ „Hm.“ Riou schob Jowy einen sauberen Teller zu und der Aristokrat schaufelte sich seine Mahlzeit darauf. Während er auf einer Kartoffel herumkaute, fragte er: „Seid ihr okay?“ „Den Umständen entsprechend“, nickte Hanna missmutig. „Das Bett war zu hart“, beschwerte Zamza sich. „Und keiner hat mir die Füße massiert, dabei könnte ich schwören, dass sie mir jeden Moment abfallen, sollte ich auch nur einen weiteren Schritt tun!“ Jowy seufzte leise, musste jedoch grinsen. Einmal abgesehen davon, dass er Zamzas Gemecker ohnehin nie ernst nahm, schienen seine Freunde in Ordnung zu sein. Pilika war blass, aber sie schien zumindest gute Laune zu haben… Gengen leerte in diesem Moment seinen Teller, bellte einmal laut und leckte sich dann das Fell rund um seinen Mund. „Gengen gefällt lecker Essen!“, verkündete der Kobold zufrieden. „Möchte noch jemand einen Nachschlag?“ Die Köpfe der kleinen Gruppe wandten sich der Küchentür zu, aus der in diesem Moment eine Frau von etwa dreißig Jahren trat. Sie hatte hellbraunes Haar, das sie in einem lockeren Knoten am Hinterkopf trug, und ein Muttermal unter dem linken Auge; gekleidet war sie in ein kupferfarbenes Kleid mit Puffärmeln und eine schneeweiße Schürze. Sie trug einen Topf unbekannten Inhalts in beiden Händen und lächelte die Anwesenden freundlich an. Eben dies war die Besitzerin des Gasthauses Zum Weißen Hirsch und Jowy hatte vom ersten Moment an gewusst, dass er Hilda mochte. „Nein, danke“, winkte Jowy ab, der seine Portion gerade beendet hatte, doch Gengen bediente sich mit Freuden ein zweites Mal und versicherte der Wirtin, dass ihr Essen fast so gut schmeckte wie bei ihm zu Hause. „Oh, vielen Dank“, lachte Hilda, während sie einen leeren Topf vom Tisch nahm. „Das ist sehr nett von dir.“ „Das ist ein ziemlich seltsamer Ort, um ein Gasthaus zu eröffnen, oder?“, fragte Nanami. Hilda machte ein nachdenkliches Gesicht, dann nickte sie langsam: „Hmm… das mag sein, ja. Aber du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie viele Leute hier Halt machen!“ Nanami schien gerade weiterfragen zu wollen, als die Tür der Eingangshalle aufgestoßen wurde und ein Mann hereingelaufen kam, der reichlich aufgeregt wirkte. Er hatte eine große Nase und hohe Wangenknochen, die durch das kurze braune Haar zusätzlich betont wurden, und trug ein graues Hemd mit einer orangefarbenen Weste darüber und eine blaue Hose. Alles in allem kam er Jowy wie eine ziemlich markante Persönlichkeit vor. „Hilda!“, rief der Mann überschwänglich. „Hey, Hilda!“ Er eilte auf die überraschte Wirtin zu und ergriff eine ihrer Hände, sodass sie fast den Topf fallen ließ. „W-Warum bist du denn so aufgeregt?“, stotterte Hilda überfordert. Offensichtlich kannte sie den Mann gut, da sich sofort ein sanfter Ausdruck in ihre Augen schlich. „Ich hab es geschafft, Hilda!“, jubelte der Mann begeistert. „Freu dich! Ich habe endlich den Weg zum Schatz gefunden. Es war genau so, wie ich gedacht habe – ich wusste, dass etwas an diesen Ruinen seltsam ist.“ Er sah sie an und erwartete offensichtlich, dass sie seinen Optimismus teilte, doch Hilda wirkte eher mäßig überzeugt. Lediglich ein leichtes, nervöses Lächeln schlich sich in ihre Züge. „Du solltest dich wirklich mehr freuen“, stellte der Mann etwas enttäuscht fest. „Wir können endlich von diesem erfolglosen Gasthaus Abschied nehmen!“ „W-Warte einen Augenblick, Alex…“, bat Hilda, doch dieser dachte offensichtlich nicht im Traum daran, sich bremsen zu lassen. „Ich muss Hilfe besorgen. Da drin ist es gefährlich“, murmelte er abwesend vor sich hin. „Ich werde sicher ein paar von den Städtern überzeugen können…“ Er wandte seinen glühender Blick wieder Hilda zu und rief: „Ich werde dir einen Diamanten besorgen, der so groß ist, dass du ihn nicht einmal tragen kannst. Wir werden reich sein, Hilda!“ Hilda jedoch schien von dieser Aussicht nicht ganz so glücklich zu sein wie ihr Gegenüber. „Alex, bitte“, sagte sie und sah ihn besorgt an. „Tu nichts Unüberlegtes. Der Schatz ist vielleicht nur ein Gerücht… Bitte. Ich möchte nicht, dass du…“ „Wovon redest du denn, Hilda?“, fragte Alex ungeduldig. „Ich tue das doch für dich! Ich gehe jetzt los und suche nach Leuten, die uns helfen können…“ Und mit diesen Worten ließ er sie los und eilte wieder hinaus, auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. „Dieser Mann…“, seufzte Hilda kopfschüttelnd. Dann blickte sie zu ihren Gästen und lächelte entschuldigend: „Bitte verzeiht.“ „Oh, schon gut“, sagte Jowy schnell und sah kurz zur Tür, die Alex in seinem Eifer offen gelassen hatte. „War das dein Ehemann?“ „Ja“, nickte Hilda und der liebevolle Ausdruck kehrte wieder in ihre Augen zurück. „Er ist völlig besessen von der Schatzsuche… Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ich ihn einfach in Ruhe seinen Schatz jagen lasse. Wenn es nur nicht so gefährlich wäre…“ Sie warf ihnen ein Lächeln zu. „Nun, das ist nicht eure Sorge. Bitte, fühlt euch ganz wie zu Hause und lasst mich wissen, wenn ihr etwas braucht.“ „Hmm… die Kosten…“, warf Riou vorsichtig ein und Hilda lächelte breiter. „Keine Sorge. Ich sehe, dass ihr viel durchgemacht habt… Die vergangene Nacht und den heutigen Tag werde ich euch nicht berechnen, aber wenn ihr weiter hier bleiben wollte, muss ich leider fünfzig Potch pro Kopf verlangen.“ „Vielen Dank“, sagte Riou erleichtert. Hilda nickte ihm zu und ging dann zurück in die Küche. „Sie ist so nett!“, seufzte Nanami entzückt. „Dieser Alex hat wirklich Glück gehabt, meint ihr nicht?“ „Für mich wäre so ein Leben nichts“, brummte Hanna stirnrunzelnd. „Kochen, putzen und den ganzen Tag freundlich sein… Wer auch immer beschlossen hat, dass Frauen nur für den Haushalt zuständig sind, war ein Narr.“ Nanami kicherte und Jowy runzelte die Stirn. Nachdem sich Zamza wieder ins Bett begeben hatte und Hanna mit Gengen einen Spaziergang machte – vielleicht, um ihre nächsten Schritte zu besprechen? – machte sich Nanami daran, Jowys Handgelenk zu verbinden. „Dass du nicht früher daran gedacht hast, mich zu fragen!“, rief sie, während sie einen Verband sorgfältig um sein lädiertes Gelenk wickelte. „Ich war todmüde…“, murmelte Jowy entschuldigend und sah zu Pilika, die neben ihm am Tisch saß und mit den Beinen baumelte. „Wie fühlst du dich, Pilika?“, fragte er vorsichtig. Das kleine Mädchen hob den Kopf, öffnete den Mund und – sagte nichts. Genauer gesagt bewegte sie die Lippen, doch kein Ton kam heraus… Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als wieder dicke Tränen Pilikas Wangen hinunterkullerten. „Du brauchst nichts sagen“, sagte er schnell. „Nick einfach nur, ja?“ Zögerlich nickte das Mädchen, zog die Nase hoch und schmiegte sich an ihn. Er legte den freien Arm um sie und zog sie vorsichtig an sich. „Das legt sich bestimmt“, flüsterte Nanami, ohne den Blick von seinem Handgelenk abzuwenden. „Sie ist nicht… Ich meine, sie wird wieder sprechen. Ganz bald.“ „Hmmm…“ Wieder öffnete sich die Küchentür und Hilda kam heraus. In der Hand hielt sie die Puppe, die Jowy als den kleinen Bären wiedererkannte, den Pohl Pilika geschenkt hatte. „Ich habe das hier gestern Nacht in der Eingangshalle gefunden und gewaschen“, erklärte Hilda und beugte sich zu Pilika herunter. „Das gehört doch dir, nicht wahr?“ Schüchtern nickte das Mädchen. „Das habe ich mir gedacht“, fuhr Hilda lächelnd fort. „Er ist jetzt sauber und trocken. Da hast du ihn.“ Pilika strahlte, nahm den Bären glücklich in Empfang und drückte ihn liebevoll an sich. „Danke, Hilda“, sagte Jowy mit belegter Stimme. „Das…“ „Das geht schon in Ordnung, Kinder“, beruhigte die Wirtin ihn und strich Pilika übers Haar. „Wir sehen uns dann zum Abendessen!“ Einerseits war es angenehm, sich ausruhen zu können. So nahe an der Hauptstadt des Staatenbunds brauchten sie nicht mit einem Angriff der Highland-Armee rechnen, aber dennoch stellte Jowy fast, dass er absolut rastlos war. Er hatte Pilika beim selbstvergessenen Spielen mit ihrem Bären zugesehen und sich gefragt, wie lange das noch möglich war. Nachdem er Pilika nach dem Abendessen ins Bett gebracht hatte, versammelte sich das kleine Grüppchen im Speisesaal, um eine Lagebesprechung abzuhalten. Die Gemüter waren angespannt, obwohl oder gerade weil sie den Tag über hatten ruhen können. „Wir müssen einfach nach Muse!“, rief Nanami und ballte hilflos eine Faust. „Wir müssen uns mit Viktor treffen!“ „Wir wissen nicht mal, ob er es überhaupt geschafft hat“, erwiderte Jowy kopfschüttelnd. „Viktor und Flik große Krieger“, erklärte Gengen überzeugt. „Sie geschafft, keine Sorge.“ Jowy lächelte schwach und nickte dem Kobold zu. Riou seufzte leise und murmelte dann: „Das ändert trotzdem nichts daran, dass wir nicht nach Muse kommen. Es sei denn einer von euch hat in den letzten paar Stunden einen Passierschein besorgen können.“ „Man könnte sich einschleichen…?“, schlug Nanami halbherzig vor, doch Hanna erstickte diese Idee gleich im Keim: „Das wäre das dümmste, was wir tun können. Oder möchtest du gleich im Kerker landen?“ „Also ich verstehe überhaupt nicht, warum wir dieses Problem überhaupt haben“, mischte sich Zamza ein. „Viktor sollte längst dafür gesorgt haben, dass man uns einlässt! Er ist ja so unzuverlässig, wie hat es dieser Mann geschafft, den Befehl über eine Armee diesen Ausmaßes zu bekommen?“ Er schnaubte. Insgeheim fragte sich Jowy das auch, weil Viktor seiner Erfahrung nach nicht unbedingt das größte Organisationsgenie unter der Sonne war – aber Zamza Recht zu geben, wäre ein Zeichen für den Magier, in seinem Gemecker fortzufahren… und dafür hatte er nun wirklich keinen Nerv. „Vielleicht könnte man ihm eine Nachricht zukommen lassen“, überlegte Riou laut. „Aber dann hätten wir wieder das Problem, dass wir jemanden finden müssen, der einen Passierschein hat…“ Er seufzte. „Das ist eine ganz schön blöde Situation.“ „Wenn wir jemanden finden, der einen Passierschein hat, können wir ihn auch fragen, ob er uns mit in die Stadt nimmt!“, erwiderte Nanami. „Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert gibt?“ „Wenn man jetzt Passierscheine braucht, um in die Stadt zu kommen, wird wohl kaum jemand einen Trupp heruntergekommener Reisender mitnehmen“, wandte Jowy ein. „Ich bin nicht heruntergekommen!“, schnarrte Zamza beleidigt dazwischen. „Ich komme nur nicht dazu, mich genügend um sich selbst zu kümmern.“ „Äh…“ Aus dem Konzept gerissen, sah Jowy den Magier einen Moment lang verwirrt an, doch bevor er den Faden wiederaufnehmen konnte, betrat Hilda den Saal. „Ist bei euch alles in Ordnung?“, fragte sie und betrachtete besorgt die angespannten Gesichter der Versammelten. „Sag mal, Hilda…“, begann Riou zögernd. „Wäre es möglich, jemanden mit einem Passierschein zu bitten, einem Freund von uns in Muse eine Nachricht zu überbringen?“ „Ich denke schon“, nickte die Wirtin und lächelte dann entschuldigend. „Ich würde euch ja anbieten, es selbst zu tun, aber ich fürchte, dass Alex unseren Passierschein hat. Er ist für diese Art von Dingen zuständig, wisst ihr?“ „Oh, schon gut“, winkte Riou ab. „Es ging nur ums Prinzip.“ „Ihr solltet euch morgen in der Gegend umhören“, riet Hilda ihnen. „Hier gibt es einige Händler, die regelmäßig nach Muse gehen, einer von ihnen wird eure Nachricht sicher überbringen.“ „Dann werden wir uns morgen umhören“, beschloss Jowy. „Etwas Anderes bleibt uns ja momentan nicht übrig.“ Irgendetwas störte ihn. Da war etwas, was nicht hierher gehörte. Mit einem unzufriedenen Brummen öffnete Jowy die Augen und verzog das Gesicht, als er sofort von dem viel zu grellen Licht geblendet wurde. Oh, es war bestimmt viel, viel zu früh zum Aufstehen! „Raus aus den Federn!“, ertönte Nanamis vorwurfsvolle Stimme. „Du bist furchtbar, Jowy!“ „Ich schlafe“, erwiderte er und gähnte demonstrativ. „Nicht mehr, wir haben noch einiges vor heute. Los, beweg dich!“ „Ist es etwa schon Morgen?“ „Ja, ist es“, antwortete Riou, der gemeinsam mit Nanami neben Jowys Bett stand. „Leider.“ Zu der Erleichterung des Aristokraten klang auch sein bester Freund müde… Offensichtlich hatte Nanami nicht nur ihn zu früh aus dem Bett geholt. „Ist ja gut, ich steh ja schon auf…“ Er richtete sich auf und fragte sich gerade noch, was für ein Gewicht an seinem linken Bein hing, als er auch schon die Decke zurückschlug und Pilika entdeckte, die sich an sein Bein klammerte und ihn mit zerstrubbelten Haaren angrinste. Er blinzelte, runzelte die Stirn und blickte dann zu Nanami. „Das war deine Idee, richtig?“ „Ach was“, winkte sie unschuldig ab. „Ich habe nur Riou geweckt.“ Jowy seufzte, brummte wieder und strich dann Pilika übers Haar, ehe er ihre Arme sanft von seinem Bein löste und vorschlug: „Lass uns frühstücken gehen, ja?“ Das kleine Mädchen nickte und drückte den Plüschbären an sich, dann hüpfte sie von seinem Bett und wartete geduldig darauf, dass die Jugendlichen ihr nach unten folgten. Das Frühstück war, wie alle anderen Mahlzeiten im Weißen Hirsch, absolut köstlich und fast bereute Jowy es, dass sie gehen würden. Aber es gab Dinge, die wichtiger waren… „Ich hoffe, ihr habt euren Aufenthalt genossen“, sagte Hilda, als die Freunde sich an der Rezeption einfanden, um ihre Kosten zu decken. „Wir hatten eine wunderbare Zeit“, versicherte Nanami ihr, „und das Essen war auch wundervoll.“ „Freut mich zu hören“, erwiderte Hilda mit einem glücklichen Lächeln. „Ich würde mich freuen, euch irgendwann wieder hier begrüßen zu dürfen!“ „Wir sehen, was sich machen lässt“, nickte Jowy und Nanami fügte hinzu: „Liebend gern!“ Riou zählte die Münzen aus seiner Geldbörse ab und fragte dann an seine Gefährten gewandt: „Habt ihr alles?“ „Ja“, antwortete Nanami, „lass uns los.“ Sie verabschiedeten sich von Hilda und wollten gerade das Gasthaus verlassen, als die Tür von außen geöffnet wurde und ein vor Wut sprühender Alex die Empfangshalle betrat. Überrumpelt hielt Jowy inne und sah zu, wie Hilda ihren Platz hinter dem Tresen verließ und besorgt an die Seite ihres Mannes eilte. „Alex!“, rief sie, irgendwo zwischen Überraschung über sein plötzliches Auftauchen und Sorge über seine düstere Miene. „Was ist los?“ „Diese verdammten Städter!“, knurrte Alex zurück. „Niemand hat mir geglaubt! Und sie haben mich sogar einen Lügner genannt, kannst du dir das vorstellen, Hilda?!“ Seine Frau legte ihm behutsam eine Hand auf den Oberarm und sagte sanft: „Alex… Wir brauchen doch keinen Schatz.“ Alex schien von dieser Idee eher mäßig begeistert. „Was sagst du denn da?“, verlangte er zu wissen. „Diesmal habe ich wirklich den Weg zum Schatz gefunden.“ Irgendwie hatte Jowy das Gefühl, dass Alex dies schon öfter geglaubt hatte… und auch, dass Hilda nicht das erste Mal versuchte, ihm diese Schatzsuche auszureden. Er wollte sich eigentlich abwenden – dieser kleine Ehestreit oder was auch immer es war, ging ihn nicht das Geringste an – doch Pilika hielt ihn davon ab. Mit großen Augen sah sie zu dem Ehepaar hinüber und drückte mit einer Hand ihren Stoffbären an sich, während sie mit der anderen Jowys Hand hielt. „Ich will dir doch ein gutes Leben ermöglichen…“, fuhr Alex ein wenig leiser fort. „Nicht mitten im Nirgendwo wie hier! Wir könnten dann ein Gasthaus in Muse eröffnen!“ Hilda seufzte und setzte zu einer Antwort an, doch dann ertönte plötzlich Nanamis Stimme: „Ähm… Verzeihung, aber… Als du Städter gesagt hast, meintest du damit die Bürger von Muse?“ Verwirrt drehte sich Alex zu ihr um und der Rest der Anwesenden tat es ihm gleich. Was hatte sie vor…? „Ja“, antwortete Alex stirnrunzelnd. „Na und?“ „Ähm… Das heißt doch, dass du einen Passierschein hast?“ „Ja“, nickte der Wirt eine Spur misstrauischer. „In letzter Zeit kommt man ohne nicht mehr in die Stadt.“ Nanami schien fieberhaft zu überlegen, dann setzte sie etwas auf, was sie wohl für ein charmantes Lächeln hielt, und fragte: „Also, hmm… Könntest du ihn uns vielleicht leihen? Wir müssen ganz dringend nach Muse und die Wache lässt uns einfach nicht rein…“ Jowy stöhnte. „Nanami, das ist doch nicht dein Ernst!“, rief er ungläubig. „Weißt du, wie dreist das ist?“ „Was sollen wir denn sonst machen?“, entgegnete Nanami sichtlich beleidigt. „Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass-“, wandte Riou leise ein, wurde jedoch von Alex unterbrochen: „Wartet mal.“ Er betrachtete die Gruppe eine Weile aufmerksam, inspizierte jeden einzelnen von ihnen und sagte schließlich: „Wisst ihr was, ich mache euch ein Angebot.“ „Was für ein Angebot?“ Misstrauisch zog Jowy die Brauen zusammen. „Ihr helft mir, den Schatz zu bergen, und dafür gebe ich euch meinen Passierschein“, erklärte Alex. „Was sagt ihr dazu?“ Einen Moment sagte keiner etwas, dann zuckte Riou mit den Achseln und sah seine Gefährten an. „Klingt gut. Was sagt ihr dazu?“, fragte er. „Ich bin einverstanden!“, antwortete Nanami, scheinbar zufrieden mit sich selbst. „Ist das nicht gefährlich?“, äußerte Jowy deutlich weniger enthusiastisch seine Zweifel. „Ich meine, es gibt ja wohl einen guten Grund, warum du Hilfe brauchst.“ Alex lachte auf und erwiderte: „Ach was, das sollte kein Problem für euch sein. Wahrscheinlich brauche ich ohnehin nur jemanden, der mir hilft, den Schatz zu tragen.“ „Gengen guter Krieger“, erklärte der Kobold laut und bellte, wie um seine Aussage zu unterstützen. „Gengen noch besserer Schatzsucher!“ „Meinetwegen“, meinte auch Hanna achselzuckend. „Wenn das bedeutet, dass wir nach Muse kommen, dann nur zu.“ „Wenn es unbedingt sein muss…“, bestätigte auch Zamza, doch Jowy glaubte trotzdem, etwas Vorfreude in den Augen des Magiers zu entdecken. Riou nickte, dann wandte er sich wieder zu Alex um: „Wir helfen dir.“ „Super!“, rief Nanami und klatschte in die Hände. „Wir gehen auf Schatzsuche!“ Einmal abgesehen davon, dass Jowy ihre Begeisterung kein Stück teilen konnte, war er auch von dieser ganzen Aktion kein Stück überzeugt. Irgendetwas… machte ihn bei dieser Sache stutzig. Kapitel 17: Jäger des verlorenen Schatzes ----------------------------------------- Selbst nachdem Jowy Alex durch den kleinen Wald hinter dem Gasthaus folgte, wollte sich bei ihm kein gutes Gefühl einstellen, was diese Schatzsuche anging. Beim Betrachten seiner Gefährten jedoch fiel ihm auf, dass nur Riou und Hanna leichte Zweifel ob ihrer Mission zu haben schienen. Riou hatte die braunen Augen leicht verengt, er schien sich zu konzentrieren; Hannas Gesichtszüge waren düster und nicht zu lesen. Ziemlich bald erhoben sich Ruinen aus dem Boden, eingestürzte Säulen, ein paar zerfallene Hütten. Und dann war da ein riesiges, nur leicht vom Zahn der Zeit betroffenes Gebäude, dessen gewaltige Steintür voller Schriftzeichen und eigentümlicher Malereien war. „Das ist es“, sagte Alex und blieb stehen. „Ist es nicht wunderschön? Schaut euch mal dieses Relief an!“ Er deutete vage auf die Inschriften an der Tür und Jowy sah genauer hin. Irgendwie kamen ihm diese Schriftzeichen seltsam bekannt vor… „Ist das Sindarin?“, fragte er erstaunt, als ihm einfiel, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Überrascht sah Alex ihn an und nickte dann: „Ja. Diese Ruinen wurden vom verlorenen Volk der Sindar zurückgelassen.“ Jowy sah hoch zu den kunstvoll ausgearbeiteten Reliefen auf der Steintür und fühlte sich plötzlich sehr, sehr klein. Nicht viel war über die Sindar bekannt. Man wusste nur, dass sie die Hüter der Rune des Wandels waren, ewig dazu verdammt, die Welt zu bereisen und sich niemals zur Ruhe setzen zu können. Jowy hatte viel über die verschiedenen Ruinen gelesen, die von diesem Volk zurückgelassen worden waren, und viele von ihnen waren Schätzungen zufolge älter als ganze Länder. Und doch wusste niemand Genaueres über die Sindar; es war fast so, als seien sie ein Volk von Geistern, unsichtbar für den Rest der Welt, die lediglich ihre Spuren in Form von uralten Tempeln hinterließen… „Wow, Jowy!“, drang Nanamis Stimme durch seine Gedanken und er musste blinzeln, als er in die Wirklichkeit zurückkehrte. „Du bist so schlau! Woher wusstest du das?“ Er spürte ihren bewundernden Blick auf sich, schüttelte jedoch schnell den Kopf und stellte klar: „So schlau bin ich gar nicht… Ich habe es nur einmal im Büro meines Vaters gesehen, das ist alles.“ „Oh.“ Er hatte halb erwartet, dass Nanami weiterbohren würde, doch sie bewies überraschendes Taktgefühl und ließ es dabei bewenden. Dafür warf er ihr einen dankbaren Blick zu. „Ich habe jahrelang an diesen Ruinen herumgeforscht!“, erzählte Alex, während er ein paar Stufen zur der großen Tür hinaufstieg. „Zeitweise hab ich schon geglaubt, das wäre alles nur Einbildung, aber…“ Sie sahen ihm dabei zu, wie er aufmerksam über die Inschriften strich und einzelne der Schriftzeichen zu drücken schien. Und dann spürte Jowy plötzlich, wie der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann. Alarmiert starrte er die Steintür an, die mit lautem Grollen und Knirschen langsam aufglitt, bis sie schließlich den Durchgang ins Innere der Ruinen freigab. „Das ist es“, flüsterte Alex aufgeregt. „Ich wusste, dass das keine gewöhnlichen Ruinen sind!“ Er atmete tief durch und drehte sich dann zum Rest der Gruppe um. „Hört mal… Da drin könnte es vielleicht Monster geben, also… sollten wir vorsichtig dort reingehen.“ „Hast du nicht gesagt, dass es sicher ist?“, fragte Jowy stirnrunzelnd und der Wirt grinste. „Ich habe gesagt, dass es kein Problem für euch sein wird. Da gibt es Unterschiede.“ Der Aristokrat seufzte ergeben und folgte Alex hinein ins Innere des gewaltigen Gebäudes. Zum Umkehren war es jetzt ohnehin zu spät. Die Sindar-Ruinen waren der eigenartigste Ort, an dem sich Jowy jemals befunden hatte. Da gab es eingestürzte Gänge, Sackgassen und Wege, die ins Nirgendwo führten, und eine Zeit lang waren sie sogar gezwungen, durch das kniehohe Wasser eines Kanals zu waten, da der eigentliche Weg von wuchernden Schlingpflanzen versperrt wurde. Und die ganze Zeit hatte Jowy das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Dies war allerdings schwer nachzuprüfen, da Zamza ununterbrochen darüber jammerte, dass seine Kleidung zu teuer gewesen war, um sie durch Dreck, Schlamm und Pflanzen zu schleppen, dass er sich wohl lieber gleich einen Kartoffelsack hätte anziehen sollen und warum im Namen aller Runen ihn eigentlich niemand vorgewarnt hatte. Doch Jowy beruhigte die Tatsache, dass auch Riou, Hanna und Gengen sich ebenfalls beobachtet fühlten. „Böse Dinge hier“, knurrte Gengen, als sie den Kanal endlich verlassen und auf den gepflasterten Weg zurückkehren konnten. „Gengen nicht gefällt dieser Ort!“ „Er hat Recht“, nickte Riou nachdenklich. „Es ist zu ruhig.“ „Was redet ihr denn da?“, widersprach Alex ihnen. „Es ist so ruhig, weil hier keiner ist, das ist doch offensichtlich! Diese Ruinen sind uralt, das einzige, was ihr hier noch findet, ist Staub.“ „Tu mir einen Gefallen“, brummte Hanna plötzlich düster und ergriff den aufgeregten Wirt am Oberarm. Dieser sah erschrocken zu der viel größeren Kriegerin auf und stammelte: „Ä-Äh, ja?“ „Bleib, wo ich dich sehen kann.“ Sie standen an einer von unzähligen Kreuzungen und Jowy war eigentlich ganz froh, dass Hanna von Zeit zu Zeit Markierungen in die Wände des Labyrinths schlug, durch das sie wanderten; er war sich sicher, dass er allein den Weg zurück nicht mehr gefunden hätte. „Warum?“, fragte Alex verwirrt. „Hab ich etwas Falsches gemacht? Es ist ja nicht so, als-“ Er unterbrach sich, als plötzlich etwas Dunkles und Unförmiges auf ihn zuschoss. Es ging viel zu schnell, als dass Jowy noch hätte reagieren können, da hatte Hanna den Wirt auch schon unsanft zur Seite gestoßen und in der gleichen Bewegung ihr Schwert gezogen, um den Angreifer mit einem kräftigen Hieb in zwei Teile zu trennen. Dunkles Blut traf die Kriegerin dabei im Gesicht, benetzte ihre Kleidung, ihre Waffe und den Boden, doch sie verzog keine Miene, sondern drehte sich nur zu dem verschreckten Alex um und knurrte: „Deshalb.“ „Oh“, machte dieser und schluckte schwer, heftig atmend noch einen halben Schritt zurückweichend. „Okay, verstanden.“ Während sich Riou, Gengen und Jowy über das seltsame Wesen beugten, dass da aus den Schatten gesprungen war, reichte Nanami Hanna ein Tuch, damit die Kriegerin wenigstens den Großteil des Blutes im Kanalwasser abwaschen konnte. „Wie das stinkt!“, hörte er Hanna noch sagen, ehe sich seine Aufmerksamkeit vollständig dem in zwei Hälften geteilten Wesen zuwandte. Auf den ersten Blick hielt er es für eine humanoide Echse, deren abartig pink-geschuppte Haut matt in der Sonne glänzte, die das Labyrinth erhellte, dann jedoch fiel ihm auf, dass es außer der schuppigen Haut nichts mit einer Echse gemein hatte. Das Wesen hatte drei dünne, fast lianenartige Füße, die aus einem einzigen Bein herauswuchsen und sah zumindest untenherum einer Schlingpflanze verdächtig ähnlich. Die obere Körperhälfte bestand aus zwei krallenbesetzten Händen mit je drei Fingern, einem langen, langen Hals und… einem Auge. Jowy rümpfte die Nase, als der Gestank des dunkelroten Blutes ihn erreichte, beugte sich jedoch noch weiter vor, um sich zu vergewissern, dass er wirklich ganz richtig sah. Aber tatsächlich. Das Wesen hatte keinen Kopf… jedenfalls keinen, den er als solches identifizieren konnte. Prompt schauderte der Aristokrat etwas. „Das gefällt mir ganz und gar nicht“, bemerkte Riou kopfschüttelnd. Gengen legte die Ohren an, schnupperte an dem zweigeteilten Leichnam und knurrte leise. „Mir auch nicht“, bestätigte Jowy und sah dann zurück zu Nanami und Hanna, die gerade wieder zu ihnen stießen. „Ich bin an Blut gewöhnt“, sagte die Kriegerin düster, „aber dieser Gestank macht mich wahnsinnig…“ „Lasst uns hier verschwinden“, schlug Zamza vor, dessen Mecker-Lust plötzlich verschwunden zu sein schien. „Bevor noch mehr von den Biestern auftauchen.“ Das ließen sich die anderen nicht zwei Mal sagen, also setzten sie sich schnell in Bewegung. Doch je weiter sie ins Innere der Ruinen vordrangen, desto mehr hatte Jowy das Gefühl, dass sie verfolgt wurden. Es wurde immer extremer und irgendwann hätte er schwören können, aus den Augenwinkeln heraus Bewegungen wahrzunehmen, doch wann immer er sich umdrehte, um sicherzugehen, dass dort keiner war, begegnete er nur Nanamis überraschtem Blick, die hinter ihm ging. „Stimmt etwas nicht, Jowy?“, fragte sie schließlich und er zuckte die Achseln. „Ich hab einfach ein mieses Gefühl…“ Kaum hatte er das gesagt, blieben Riou und Alex, die die Gruppe anführten, auch schon stehen. Sie hatten erneut eine Kreuzung erreicht und aus allen drei Abzweigungen vor ihnen waren einäugige Wesen aufgetaucht. Es war mindestens ein Dutzend und alle Exemplare sahen besorgniserregend blutrünstig aus… „Hanna“, sagte Nanami alarmiert und zückte ihren Nunchaku, „ich glaube nicht, dass sie über den Tod ihres kleinen Freundes sonderlich erfreut sind.“ „Hab ich mir gedacht“, erwiderte Hanna, während sie ihr Schwert zog. Jowy umklammerte seinen Stab und spürte, wie Adrenalin durch seine Adern peitschte. Mit einem Kampf hatte er zwar nicht gerechnet, doch plötzlich war er unglaublich froh, dass sie Pilika bei Hilda und ihrem kleinen Sohn Pete gelassen hatten. „Du“, kommandierte Zamza, ergriff Alex am Kragen und zog ihn aus der ersten Reihe zurück, „bleib hinter mir, verstanden?“ „S-Sicher“, nickte Alex und Jowy vergewisserte sich, dass der Wirt sich tatsächlich aus der Gefahrenzone begeben hatte. Dann tauschte er einen Blick mit Riou, der seine Tonfa bereit hielt und sich auf einen Angriff der wütenden Wesen gefasst zu machen schien. Er spürte, wie seine rechte Hand zitterte. Spürte, wie die Rune des Schwarzen Schwertes in seinen Gedanken zu flüstern schien, wie sie ihn fast schon dazu aufforderte die Macht zu nutzen, die sie ihm verlieh. Aber es war zu früh, das wusste Jowy einfach. Er konnte die Rune noch nicht benutzen… nicht, wenn sein Stab noch genug war, um den Angriff abzuwehren, der da kommen würde. Und er kam. So plötzlich, wie die schuppigen, einäugigen Wesen aufgetaucht waren, griffen sie auch an – die Hälfte von ihnen bewegte sich blitzschnell auf die kleine Gruppe zu, die langen Hälse mit dem Auge daran wie Morgensterne schwingend, während die andere Hälfte an Ort und Stelle blieb und die Gefährten mit sechs aufgerissenen Augen anstarrte. Jowy stieß mit dem Stab eher zufällig in eines der Augen, die in seine Richtung schwangen, und das getroffene Monster erzitterte am ganzen Leib, ehe es plötzlich hoch sprang und mit seinen Krallen nach ihm schlug. Geistesgegenwärtig hielt er den Stab waagerecht, sodass das Wesen dagegen prallte und wieder zurück zu Boden fiel. Sofort stieß er in das weit aufgerissene, blutunterlaufene Auge und wandte sich instinktiv ab, als es plötzlich wie eine überreife Frucht aufplatzte und alles um ihn herum – inklusive ihm selbst – mit dunkelroten Blut bekleckerte, das beim Aristokraten einen gewaltigen Würgereiz auslöste. Doch er hielt sich nicht lange mit dem getöteten Monster auf, da bereits das nächste auf ihn zusprang. Jowy fuhr herum und ergriff seinen Stab mit einer Hand am unteren Ende, während er ihn herumschwang; damit erfasste er gleich zwei der Biester, die etwa einen Meter zurückgeschleudert wurden, wo Gengen und Hanna die Chance nutzten, um ihnen den Garaus zu machen. Nanami stieß einen Schrei aus und trat nach dem Wesen, das sie angriff, wonach sie ihm den Nunchaku mit voller Wucht über den Kopf zog. Auch sein Auge zerplatzte und das Mädchen wich mit einem erschrockenen Laut zurück, als das stinkende Blut in ihre Richtung spritzte. Derweil hatte Riou seinen Gegner mit einem der Tonfa an die Wand gedrängt, dann schlug er ihm mit dem anderen gegen den Hals; der Schlag war so kräftig, dass der dünne Hals tatsächlich durchtrennt wurde und eine dunkle Fontäne die Wand rot färbte. „Die Hälfte hätten wir“, bemerkte Hanna, die ihr Schwert umklammert hielt und abwartete, ehe sie den nächsten Schritt machte. „Aber was hat der Rest vor?“ Das fragte sich Jowy allerdings auch. Die restlichen sechs Zyklopen standen nur da und starrten die sechs Menschen und den Kobold an; ihre Augen schienen immer rötlicher zu werden. Seine Anspannung wuchs mit jedem Moment, der verging. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Einerseits wollte er angreifen und so schnell es ging hier verschwinden, aber andererseits wusste er nicht, ob nicht jede seiner Bewegungen womöglich seine letzte war. Und so verharrten alle, wo sie waren, während die Spannung in der Luft fast greifbar wurde… Bis aus den Augen der Zyklopen plötzlich dunkelrote Strahlen gebündelten Lichts schossen. Einer der Strahlen streifte Jowys rechte Seite und einen Augenblicklang hatte er das Gefühl, dass seine Haut von der Hitze Blasen schlug. Dann breitete sich ein jäher, brennender Schmerz in seiner rechten Torso-Hälfte aus und er wurde von der Wucht des Strahls auf den Rücken geschleudert. „Argh!“ Er hörte Nanami kreischen und Gengen winseln, doch er konnte nichts von alledem sehen, weil die Schmerzen ihm kurzzeitig die Sicht nahmen. Und als er endlich wieder etwas sehen konnte, waren die Monster bereits auf dem Weg zu ihnen. Das Flüstern der Rune in seinem Kopf wurde lauter, stärker und fast gab er nach und nutzte die Macht, die in seinem Inneren pulsierte, doch dann spürte er eine andere Kraft, so ganz anders als seine, aber sie war ihm nicht unbekannt. Es war die stille Präsenz der Rune des Hellen Schilds. Riou. Mühsam hob er seinen schmerzenden Oberkörper an und sah seinen besten Freund auf dem Boden knien, mit schmerzverzerrtem Gesicht, die rechte Hand in die Luft gestreckt. Das Mal der Rune glühte in einem geheimnisvollen, hellgrünen Licht über ihrem Träger und umgab Rious Hand. Im nächsten Moment wurde Jowy von dem hellgrünen Licht geblendet, doch er fühlte, wie die Kraft der Rune des Hellen Schilds jäh in seinen Körper fuhr. Die Präsenz der Rune des Schwarzen Schwerts tobte plötzlich in seinem Inneren, seine Hand erzitterte unter der Wut der Rune plötzlich unkontrolliert, aber schon einen Augenblick später war alles vorbei. Die Macht von Rious Rune zog sich überraschend sanft aus seinem Bewusstein zurück und das erste, was Jowy spürte, war, wie seine eigene Rune sich wieder beruhigte. Dann merkte er, dass er keine Schmerzen mehr hatte, und als er an die Stelle sah, an welcher der Strahl, der ihn getroffen hatte, sein Oberteil angesengt hatte, stellte er fest, dass die schwere Verbrennung, die sich nur kurz vorher noch dort befunden hatte, verschwunden war. Hanna und Zamza erholten sich am schnellsten von der Überraschung; sie sprangen auf und stürzten sich auf die verbleibenden Zyklopen, die orientierungslos und schwankend auf einer Stelle standen… offensichtlich hatte das grelle Licht der Rune den Monstern schwer zugesetzt. „Nehmt das, ihr Mistviecher!“, schrie der Feuermagier wütend und sandte einen Schwall Flammen auf die wehrlosen Biester. „Ihr habt genug von meiner Kleidung zerstört!“ Jowy war sich sicher, dass die Zyklopen geschrieen hätten, wenn sie Münder gehabt hätten, als das Feuer sie traf, denn der Schmerz spiegelte sich nur allzu deutlich in deren Augen. Doch er empfand kein Mitleid – eher Genugtuung, als Gengen dem letzten Biest entschieden den Kopf abschlug. Während der Kobold, Hanna und Zamza erst einmal tief Luft holten, richtete sich Jowy überraschend schnell auf und sah wieder zu Riou. Dieser lehnte verdächtig blass an einer Wand und atmete schwer. Er wirkte erschöpft. „Riou“, rief der Aristokrat alarmiert, „ist alles in Ordnung?“ „Ja“, beruhigte sein bester Freund ihn und grinste schief. „Ich kann die Rune nur noch nicht ganz kontrollieren…“ Tatsächlich kehrte die Farbe bereits in Rious Gesicht zurück. „Wisst ihr“, hauchte Alex irgendwo hinter ihm, „ich bin richtig froh, dass ich euch mitgenommen habe…“ Er lachte nervös und Jowy seufzte leise. Fürs Erste war die Gefahr gebannt… aber das Flüstern der Rune in seinen Gedanken warnte ihn eindringlich davor, dass dies erst der Anfang gewesen war. Nachdem sie das Blut der Zyklopen so gut es ging im Kanal abgewaschen hatten, der sich glücklicherweise ganz in der Nähe befand, setzten sie sich wieder in Bewegung. Doch sie waren gar nicht weit gekommen, da ergriff Nanami Jowy und Riou auch schon am Kragen und hielt sie zurück, bis sie das Schlusslicht der Gruppe bildeten. „Was war das?“, verlangte sie zu wissen und warf ihrem Bruder wieder diesen Blick zu, mit dem sie immer sämtliche Informationen aus ihm geholt hatte, die sie hatte haben wollen. „Was war was?“, versuchte sich Riou halbherzig herauszureden, doch Nanami ging nicht darauf an. „Du weißt ganz genau, was ich meine! Ich will wissen, was für eine Rune das war und woher du sie hast, Riou!“ Dann wandte sie ihren forschenden Blick Jowy zu und ergriff ihn an dem Handgelenk, das sie gestern erst verbunden hatte. „Und du hast auch eine!“ Erst, als Nanami nicht gerade sanft sein vermeintlich geprelltes Handgelenk ergriff, wurde ihm klar, dass der Schmerz darin gemeinsam mit der Verbrennung verschwunden war. Also hatte die Rune des Hellen Schilds heilende Kräfte…? Kurz war Jowy versucht, mit der Sprache herauszurücken, entschied sich dann jedoch dagegen. Es war zwar nicht so, dass er Hanna, Zamza und Gengen nicht vertraute – Alex gar nicht erst mitgerechnet – aber irgendwie erschien ihm die Herkunftsgeschichte der Rune auf seiner rechten Hand zu intim, als dass er sie jetzt erzählen wollte. Riou schien ähnlich darüber zu denken: „Ich erzähle es dir, sobald wir einen ruhigen Moment haben. Versprochen.“ „Ich will es aber jetzt wissen!“ „Nanami, bitte.“ Jowy sah sie flehend an und nachdem sie seinen Blick einen Moment lang wütend erwidert hatte, seufzte sie und brummte: „Na gut. Aber glaubt ja nicht, ich würde es vergessen!“ „Keine Sorge“, entgegnete der Aristokrat und grinste. „Du hast das Gedächtnis eines Griffons…“ Nanami sagte daraufhin nichts, sondern beschleunigte nur ihren Schritt, um die anderen einzuholen und den Abstand nicht allzu groß werden zu lassen. Riou und Jowy wechselten einen Blick und taten es ihr gleich. Schließlich erreichte die kleine Gruppe das Ende des Gangs, dem sie gefolgt waren. Vor ihnen befand sich eine große Steintür, zu der Alex augenblicklich eilte, um sie zu öffnen, während Jowy sicherging, dass ihnen niemand mehr folgte. Als er sich wieder umdrehte, bemerkte er eine seltsame Statue, die fast direkt vor der Tür stand und halb von Hanna verdeckt wurde. Es war die kunstvoll gearbeitete Steinfigur einer zweiköpfigen Schlange, die eins ihrer Mäuler weit geöffnet hatte, und ihn bedrohlich anzustarren schien. Jowy schauderte. Eine Schlange. Musste es denn ausgerechnet eine Schlange sein?! Er hatte kein Problem mit Spinnen, Käfern, engen Räumen oder der Dunkelheit, aber Schlangen… Er erinnerte sich mit Schrecken daran, wie er als Kind einmal von einer kleinen Schlange gebissen worden war, als er Riou hatte besuchen wollen. Die Angst vor diesen Reptilien war nie ganz verschwunden und dementsprechend mulmig war ihm, als er die Statue betrachtete. „Habt ihr die Statue gesehen?“, fragte er und riss sich stark zusammen, damit seine Stimme nicht allzu panisch klang. „Wird wohl irgendeine Gottheit sein“, winkte Zamza ab. „Es ist immerhin ein altes Volk“, stimmte Nanami ihm zu, doch Jowy schüttelte den Kopf: „Die Sindar hatten keine Gottheiten… Sie haben ihre Existenz ganz der Rune des Wandels verschrieben.“ „Dann ist es eine Warnung“, sagte Hanna und klang dabei nicht gerade begeistert. „Die sie vielleicht hätten früher aufstellen sollen, jetzt, wo wir hier sind…“ In diesem Moment schaffte Alex es, die Tür zu öffnen, und sie blickte in einen langen Gang hinein, der mitten in den Fels vor ihnen zu führen schien. „Na also“, sagte der Wirt zufrieden. „Wir sind fast da!“ Kapitel 18: Woran das Herz hängt -------------------------------- Der Gang führte sie in ein zweites, tempelartiges Gebäude, in dem es angenehm kühl war. Dennoch stellte sich das mulmige Gefühl in Jowys Magengegend nicht ab… im Gegenteil, es wurde immer stärker, je weiter sie gingen. Alex blieb vor einer weiteren Tür stehen – vor dieser befand sich eine große Steintafel mit den gleichen Schriftzeichen, die auch schon in die riesige Eingangstür eingraviert waren. Aufmerksam betrachtete der Wirt die Tafel und ging anschließend leicht in die Knie, während er vor sich hinmurmelte. Dann entzifferte er langsam: „’Reisender… alles, was du dir wünschst… alles, wovon du träumst… alles, was dir lieb und teuer ist… findest du hier, wenn dein Herz rein ist’…“ „Alles, was mir lieb und teuer ist?“, wiederholte Nanami nachdenklich. „Ich frage mich, was das sein soll. Für mich wäre es wahrscheinlich Großvater Genkaku, aber er ist tot…“ Sie verstummte und seufzte leise. Jowy sagte zwar nichts, doch auch seine Gedanken wanderten in diese Richtung. Was war ihm lieb und teuer? Pilika. Riou und Nanami, keine Frage. Und dann tauchte plötzlich das Gesicht der Frau vor seinem inneren Auge auf, an die er seit Wochen nicht mehr wirklich gedacht hatte. Genauer gesagt hatte er sich verboten, an sie zu denken. Seine Mutter. Bei der Erinnerung an ihr tieftrauriges Gesicht, das er durch das Fenster ihres Zimmers gesehen hatte, zog sich sein Herz zusammen und ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Bis jetzt hatte er nicht gemerkt, wie sehr er sie eigentlich vermisste. Natürlich, er hatte sie erwähnt, als er die Personen genannt hatte, die er schützen wollte, aber wirklich an sie gedacht hatte er dabei nicht. Es war keine Zeit gewesen, keine Gelegenheit. Aber jetzt… „Ich schätze, es gibt nicht viel, was mir ‚lieb und teuer’ ist…“, hörte er sich selbst murmeln. Ob er seine Mutter jemals wiedersehen würde? Oder würde ihr enttäuschter Blick das Letzte sein, woran er sich erinnerte, wenn er an sie dachte? „Freunde, Familie… einfach alle.“ Erst Rious leise Stimme holte Jowy zurück in die Wirklichkeit und er musste blinzeln, als er so plötzlich in die Realität zurückkehrte. Er musste dringend aufhören, sich in seinen eigenen Gedanken zu verlaufen… „Ja, ich schätze, das ist das Wichtigste“, nickte er. „Wahrscheinlich.“ Hanna sagte nichts und Zamza schnaubte nur, doch Gengen murmelte etwas, das sich verdächtig nach „Fleisch“ anhörte. „Seid ihr übergeschnappt?“, fragte Alex stirnrunzelnd über die Schulter hinweg, der sich die Überlegungen seiner Begleiter schweigend angehört hatte. „Da steht teuer. Das muss doch der Schatz sein!“ „Hmm…“ Alex drehte sich wieder zu der Steintafel um und ging dann zu der Tür, wo er scheinbar nach einem Schalter suchte. Den fand er auch relativ schnell, da die Steintür mit einem Knirschen aufschwang. „Ja!“, jubelte der Wirt und sofort war sämtliche Begeisterung, die durch den Angriff der Zyklopen gedämpft worden war, wieder da. „Ich habe es geschafft! Endlich, endlich habe ich den Schatz meiner Träume gefunden!“ Er stürmte nach vorn, durch die geöffnete Tür auf einen großen Platz, der unter freiem Himmel lag. Jowy erhaschte einen Blick auf eine hohe Treppe, deren Stufen zu einer Art Schrein führten, dann wurde aus dem vagen Flüstern der Rune des Schwarzen Schwerts plötzlich eine eindringliche, laute Warnung. „Alex!“, rief er alarmiert. „Warte!!“ Der Wirt hielt inne und drehte sich verwirrt zu ihm um. „Was…?“, fragte er noch, dann brach zu seiner Rechten plötzlich ein gewaltiges Biest aus dem Unterholz, das den Platz umgab. Im ersten Moment glaubte Jowy, dass er mitten in seinen schlimmsten Albtraum gestolpert war. Das Ungeheuer, das da grollend, zischend und bösartig mit zwei Paar blutroten Augen blitzend vor ihnen zum Stehen kam, war eine mindestens vier Meter große und mindestens doppelt so lange, giftgrüne Schlange mit zwei Köpfen. Er erstarrte vor Schreck und konnte sich nicht mehr rühren. Stattdessen starrte er die Schlange nur hypnotisiert an und hoffte inständig, dass seine Beine nicht plötzlich unter ihm nachgaben. Doch die Rune des Schwarzen Schwerts schien andere Pläne zu haben. Sie schien ihn regelrecht von innen zu treten, sodass er erschrocken zusammenzuckte und sich aus seiner Starre löste. Anstatt der Panik, die ihn gerade noch beherrscht hatte, breitete sich plötzlich absolute Ruhe in seinem Kopf aus, er sah ganz klar. „Alex! Verschwinde hier, los!“, rief er und der Wirt ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Schnell verschwand er wieder im Gebäude, aus dem sie gerade gekommen waren. Sein Schrei schien auch den Rest der Gruppe aufzuwecken; er hörte, wie Gengen und Hanna ihre Schwerter zogen und sah sie nach vorne preschen, in die erste Reihe, um die Aufmerksamkeit der Schlange auf sich zu lenken. Kurz wunderte sich Jowy noch, wie es die Rune schaffte, ihm seine jahrelange Angst vor Schlangen mit einem Schlag zu nehmen – dann folgte er bereits Riou, Nanami und Zamza, die ebenfalls mit gezückten Waffen auf das Ungeheuer zuliefen, Alex in der Sicherheit des Tempels hinter ihnen zurück lassend. Die Schlange beobachtete die kleine Gruppe einen Moment lang nur leise zischend, dann schoss ihr rechter Kopf auf Gengen zu und der Kobold jaulte erschrocken auf, als ihre armlangen Reißzähne nur knapp neben ihm vorbeischnellten. Jowy nutzte die Chance und ließ seinen Stab mit voller Kraft auf den Kopf hinunterknallen und biss die Zähne zusammen, da sich der Schädel der Bestie als robuster erwies, als er gedacht hatte. Der gesamte Körper des Reptils zuckte vor Schmerz zusammen und der zweite Kopf stieß ein tiefes Grollen aus, das in Jowys Magengrube vibrierte. Dann war der Aristokrat auch schon dazu gezwungen, auszuweichen, da beide Mäuler nach ihm schnappten. Aus dem Nichts tauchte Zamza neben ihm auf und sandte einen Schwall Feuer genau in den weit geöffneten linken Schlund, bevor er geistesgegenwärtig die Beine in die Hand nahm und die Gelegenheit nutzte, um sich erst einmal außer Gefahr zu bringen. Brüllend und wütend zischend erhoben sich beide Köpfe, dann wandte sich der Blick der rotglühenden Augen Nanami zu, welche leise knurrte und rief: „Riou! Los, wie es Großvater Genkaku uns gelehrt hat!“ Ihr Bruder nickte und im nächsten Moment schienen die Geschwister zu einer Person zu verschmelzen, so synchron wurden ihre Bewegungen. Fast so, als würden sie die Gedanken des jeweils anderen lesen, näherten sich Riou und Nanami ungewöhnlich schnell ihrem übergroßen Gegner, wichen gekonnt den beiden Köpfen aus, die nach ihnen schnappten, und schlugen gleichzeitig zu; die Schläge der eigentlich stumpfen Waffen der beiden schienen vereint sogar stark genug zu sein, um dauerhaften Schaden zu hinterlassen – es knackte unangenehm laut und Jowy fragte sich, ob die Geschwister es geschafft hatten, einen der Halswirbel ihres Gegners zu brechen. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Von Schmerzen geplagt, fuhr die Schlange herum und ließ keinem ihrer Angreifer genug Zeit um zu reagieren, als sie die kleine Gruppe mit einem Streich ihres Schwanzes gegen die Wände des Tempels hinter ihnen warf. Von dem Aufprall wurde Jowy kurzzeitig schwarz vor Augen und sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst; dann prallte er schmerzhaft wieder auf dem Boden auf und rappelte sich mühsam wieder auf, bevor das Biest die Chance nutzte und sie alle umbrachte. Dumpfer Schmerz in seinem Hinterkopf, von dem sein gesamter Kopf zu dröhnen schien, sagte ihm, das dort eine nicht unbedingt kleine Beule entstand. Aber das war zweitrangig. Das Wichtigste momentan war, dass Hanna sich bereits wieder in die Schlacht stürzte, und er beeilte sich, die Kriegerin nicht allein zu lassen. Einen lauten Kampfschrei ausstoßend, bohrte Hanna ihre Klinge in den schuppigen Körper ihres Gegners und als einer der Köpfe zu ihr herumfuhr – der zweite war vollauf mit Riou und Zamza beschäftigt, die Tonfa und Flammen zu einem Angriff vereinten – blockte Jowy gerade noch rechtzeitig die gewaltigen Giftzähne der Schlange, um zu verhindern, dass sich selbige in Hannas Körper schlugen. Es war die Zunge des Biests, die er unterschätzt hatte; zwischen ihren Zähnen schnellte der gräuliche, zweigeteilte Muskel hervor und wickelte sich um eins seiner Beine. Jowy schrie erschrocken auf, als er das Gleichgewicht verlor und in die Luft gezogen wurde, ehe der Druck um sein Bein plötzlich erschlaffte und er realisierte, dass er sich mehrere Meter über dem Boden befand. Dann spürte er, wie er fiel. Panik breitete sich wieder in ihm aus, er fiel, unter ihm befand sich das weit geöffnete Maul der Riesenschlange, diese riesigen Zähne würden über ihm zusammenschlagen, er würde bei lebendigem Leib…! Doch er landete viel weicher und vor allem ungefährlicher, als er gefürchtet hatte; er wurde halb von Hanna aufgefangen und riss sie mit sich zu Boden. Er murmelte seinen Dank, während sie beide sich wieder aufrichteten, und sah, dass Nanami und Gengen sich des Kopfes angenommen hatten. „Sie ist schlauer, als wir denken“, knurrte Hanna. „Das verdammte Biest spielt mit uns!“ Der Gedanke schnürte Jowy die Kehle zu. Wenn die Schlange tatsächlich nur mit ihnen spielte und noch nicht ernst machte… dann hatten sie keine Chance. Überhaupt keine. „Gengen großer Kobold-Krieger!“, bellte der Kobold vor ihnen, während er mit erhobenem Schwert auf das linke Maul zuhüpfte. „Gengen nicht verliert gegen große Schlange!“ Die große Schlange schien anders darüber zu denken – mit einem einfachen Schlag ihres Schwanzes wischte sie den Kobold beiseite, als sei er nichts weiter als ein Fellball. Mit einem lauten Jaulen brach Gengen durch das Unterholz des Gestrüpps, das den Platz umgab, und verschwand außer Sicht. „Gengen!!“, schrie Nanami entsetzt und war den Bruchteil einer Sekunde zu lange abgelenkt; der Kopf, gegen den sie eben noch gekämpft hatte, schoss nach vorn, genau auf sie zu, und Jowy stürzte zu ihr, um sie außer Gefahr zu bringen. Er hechtete auf das Mädchen zu und stieß sie gerade noch rechtzeitig aus dem Weg, um zu verhindern, dass die Schlange sie beide zwischen die Zähne bekam. Während sie jedoch zu Boden stürzten, hörte Jowy ein übelkeitserregendes Knacken und Nanamis schmerzerfülltes Japsen. „Bist du okay?!“, fragte er besorgt, sobald er sich wieder aufrichten konnte. Nanami warf einen Blick nach unten und er tat es ihr gleich – was er jedoch sofort wieder bereute. Ihr rechter Arm war unnatürlich verdreht. „Mein Arm ist gebrochen“, ächzte Nanami mit zusammengebissenen Zähnen. „Aber… Aber ich kann immer noch kämpfen, keine Sorge!“ Sie erhob sich schwankend, ihren Nunchaku mit der linken Hand umklammernd, doch Jowy entgegnete: „Was für ein Schwachsinn! Bring dich in Sicherheit, bevor-“ Er wurde jäh unterbrochen, als die Schlange erneut herumfuhr. Ihr Schwanz erwischte dabei auch Zamza, Riou und Hanna und im nächsten Augenblick knallte Jowy so heftig mit dem Hinterkopf gegen eine Steinwand, dass er glaubte, sein Kopf würde vor Schmerz platzen wie eine überreife Frucht. Vor Schmerz leise stöhnend griff er sich mit beiden Händen an den Kopf und musste sich arg zusammenreißen, um nicht ohnmächtig zu werden. Runen, war ihm schwindlig! Unter seinen Fingern spürte er, wie Blut aus einer Platzwunde an seinem Hinterkopf quoll und seine Haare verklebte, aus den Augenwinkeln sah er – reichlich unscharf – die bewegungslosen Körper von Nanami und Zamza. „Verdammt…“, entfuhr es ihm verzweifelt. Gengen war verschwunden, Nanami und Zamza bewusstlos… Jowy presste die Zähne aufeinander und bemühte sich, den Schmerz in seinem Schädel so gut es ging auszublenden, während er nach Hanna und Riou Ausschau hielt. Die Kriegerin war halb begraben worden unter einer eingestürzten Steinwand, jedoch bei Bewusstsein. Das half ihr jedoch auch nicht viel – ihre Beine schienen unter einem Felsbrocken eingeklemmt worden zu sein, sie saß in der Falle. Und Riou? Sein bester Freund lag unweit von Jowy auf dem Rücken und blutete aus einer viel zu großen Wunde quer über seiner Brust. Aber vielleicht war die Wunde selbst auch gar nicht groß… vielleicht war es nur der Stoff der roten Tunika, die sich mit dem Blut vollgesogen hatte… Mit einem Grollen sah die Schlange aus ihren vier Augen auf ihre geschlagenen Gegner hinab, ehe sie leise zischend beide Köpfe neigte und ihre Mäuler auf den orientierungslosen Riou zuschossen, der sich gerade mit sichtbarer Mühe auf seine Unterarme stütze. „Nein!!“ Die Zeit stand still. Zumindest kam es Jowy so vor, da die Schlange mitten in der Bewegung erstarrt war und sich auch sonst keiner bewegte. Und dann war da diese Stimme in seinen Gedanken… Benutze mich. Die Rune des Schwarzen Schwerts. Sie sprach zu ihm. Nicht zum ersten Mal, nein… Seit sie hier in den Sindar-Ruinen waren und sich plötzlich Gegnern gegenübersahen, die mächtiger waren als alles, was Jowy bisher gesehen hatte, sprach seine Rune ständig zu ihm, forderte ihn dazu auf, ihre Macht zu nutzen und ihr freie Hand zu lassen. Dennoch zögerte er. Konnte er diese Rune wirklich kontrollieren? Er wusste nicht einmal, was für Kräfte sie innehatte. Alles, was er wusste, war, dass sie Teil der Rune des Anfangs war. Etwas, womit er sein eigenes Schicksal schreiben konnte… Benutze mich. Sie hatten keine Chance gegen die zweiköpfige Schlange. Verletzt, wie sie waren, konnten sie unmöglich gewinnen. Benutze mich. Was würde aus Pilika werden, wenn er nicht zurückkehrte? Riou und Nanami würden sterben, wenn er nicht sofort handelte. Er würde seine Mutter wirklich nie wieder sehen. Benutze mich!! Die Macht in seinem Inneren schien zu explodieren; rotes Licht füllte seine gesamte Welt. Vor seinem inneren Auge tauchten aus dem Nichts Hunderte Schwerter auf, die auf einen einzigen Befehl der Rune hin alle auf die Schlange zuschossen und sie durchbohrten. Nun kam doch Leben in das riesige Reptil – es brüllte auf, wand sich. Jowy starrte es an, während seine gesamte Energie seinen Körper durch seine rechte Hand zu verlassen schien. Er sah noch, wie die Schlange den Kampf gegen die Rune des Schwarzen Schwerts verlor und wie in Zeitlupe zu Boden fiel, doch noch bevor die beiden Köpfe aufkamen, verlor der Aristokrat das Bewusstsein. Er kam nur langsam wieder zu sich. Er blinzelte ein paar Mal, bis sich seine Sicht klärte, dann erkannte er langsam den Platz wieder, auf dem sie gegen die Schlange gekämpft hatten. Nur, dass da keine Schlange mehr war – lediglich ein völlig demolierter Platz, eingefallene Wände und eine Schneise im Gestrüpp zu seiner Rechten zeugten davon, dass das Reptil überhaupt existiert hatte. Verwirrt setzte Jowy sich auf und entdeckte Riou ganz in seiner Nähe. Sein bester Freund schien zu bemerken, dass er aufgewacht war, denn er drehte sich um und sah den Blonden besorgt an. „Bist du in Ordnung?“, erkundigte sich der Jüngere, während er näher kam. Jowys Blick fuhr über die Brust des anderen, doch da schien keine Wunde mehr zu sein. Was…? Irritiert griff er sich an den Kopf, dahin, wo er verletzt gewesen war, doch dort war keine Platzwunde, an die er sich klar erinnern konnte, lediglich von getrocknetem Blut verklebte Haare. Er sah hoch zu Riou und kniff die Augen zusammen. „Du hast die Rune wieder benutzt, nicht wahr?“ „Ich konnte nicht anders“, erwiderte Riou achselzuckend. Er wirkte müde. „Du bist ohnmächtig geworden, nachdem du deine Rune benutzt hast, und alle anderen waren entweder auch bewusstlos oder kurz davor.“ „Du darfst sie nicht so oft benutzen!“, entgegnete Jowy kopfschüttelnd. „Ich habe niemals Runen gesehen, die die Energie ihrer Träger so schnell verbrauchen… Es ist gefährlich, wenn du sie mehrmals hintereinander einsetzt!“ „Ich weiß“, nickte Riou. „Aber ich werde es tun müssen, wenn es sich nicht vermeiden lässt…“ Mit dieser Lösung war Jowy nicht glücklich… aber ihm war klar, dass es wahrscheinlich wirklich nicht anders ging. „Wo sind die anderen?“, wechselte er das Thema. „Und die Schlange?“ „Die Schlange ist verschwunden, nachdem du deine Rune benutzt hast“, erklärte Riou. „Und die anderen sind unterwegs, um Feuerholz zu sammeln… sie sollten bald zurück sein.“ „Wir schlagen ein Lager auf? Im Ernst?“ Jetzt war Jowy wirklich verblüfft. „Und Alex hat nichts dagegen?“ „Es war seine Idee“, sagte Riou achselzuckend. „Er hat sich so sehr beeilt, um so schnell es geht zum Schatz zu kommen, dass er ganz vergessen hatte, dass Hilda ihm Proviant mitgegeben hat. Wir werden hier erst mal eine Pause einlegen… und dann können wir uns den Schatz immer noch holen.“ Nach und nach kam der Rest der Gruppe zurück und das Lager war schnell errichtet, schon bald prasselte mit Zamzas Hilfe ein Feuer in der Mitte des Platzes. Alex hatte einen Tee aufgekocht, den Hilda ihm mitgegeben hatte, und ließ Brot und getrocknetes Fleisch herumgehen. „Ich bin wirklich froh, dass ich euch mitgenommen habe“, murmelte der Wirt und sah schaudernd zu der Stelle, an der die Schlange zu Boden gegangen war, bevor sie sich aufgelöst hatte. „Alleine wäre ich wohl schon längst…“ „Es ist ein Geschäft“, erwiderte Nanami locker. „Wir helfen dir, du hilfst uns.“ Jowy war erstaunt von ihrer Kaltschnäuzigkeit, was Geschäfte anging – hatte sie in der Zeit, in der er und Riou in der Jugendbrigade gedient hatten, zu viel Zeit auf dem Markt von Kyaro verbracht…? Als Antwort darauf brummte Alex nur etwas Unverständliches. Stattdessen hörte man Zamza laut und deutlich meckern: „Ich hoffe nur, dass dieser Schatz all die Strapazen wirklich wert ist! Schaut euch meine Kleidung an! Völlig zerstört… ich werde eine völlig neue Garnitur kaufen müssen, sobald wir in Muse sind!“ Jowy lauschte schweigend den Gesprächen und war froh, dass ihn keiner danach fragte, was für eine Rune das gewesen war, die er benutzt hatte. Einzig Nanami durchbohrte ihn und Riou mit eisigen Blicken, doch das konnte er ignorieren. Jedenfalls ein bisschen. Früher oder später würde er es ihr sagen müssen… Aber wollte er das überhaupt? Ihm wurde plötzlich klar, dass er eigentlich nichts über die Rune des Anfangs wusste. Sicher, sie war eine der 27 Wahren Runen, aber… Den Bildern nach zu urteilen, die vor seinen Augen aufgeblitzt waren, als er die Rune des Schwarzen Schwerts angenommen hatte, hatte es schon viele Träger vor ihm gegeben. Aber warum war nichts über sie bekannt? Er wusste absolut nichts darüber. Konnte er sich überhaupt sicher sein, dass die Rune, die er trug, auch wirklich das war, was sie zu sein vorgab? Und wer war diese Leknaat gewesen? Konnten sie ihr wirklich trauen…? Du und ich sind eins, flüsterte die Rune in seinen Gedanken. Zerbrich diese Verbindung nicht durch Zweifel. „… Wer bist du?“ Ich bin Ordnung. Das, was sich niemals verändert. Die dunkle Seite des Anfangs. Das Schwarze Schwert. Jowy spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten und er eine Gänsehaut bekam. Er nahm sich fest vor, in nächster Zeit eine Bibliothek aufzusuchen und sie nicht eher zu verlassen, bis er nicht genau wusste, was das zu bedeuten hatte. Das kleine Lager wurde wieder abgebrochen, das Feuer schnell ausgetreten. Keinen von ihnen hielt es noch hier; die einen – insbesondere Alex, dessen ganzer Enthusiasmus mit einem Mal zurückgekehrt war – wollte so schnell es eben ging zum Schatz und die anderen – zu denen Jowy gehörte – wollten diese Ruinen lediglich weit, weit hinter sich zurücklassen. Es gab einen guten Grund, warum die Sindar diese Ruinen versiegelt hatten. Sie stiegen die gefühlt endlosen Stufen eines riesigen Tempels hinauf, an dessen Spitze ein überdachter Altar mit einem kleinen Kästchen darauf stand. Jowys Blick glitt über Malereien, Reliefs, Mosaiken und Fresken, welche die Sindar überall an den Wänden, den Säulen und an der Decke zurückgelassen hatten. Sie erzählten Geschichten längst vergangener Zeiten und er hörte die Rune des Schwarzen Schwerts eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage flüstern. Spuren des Wandels. Der Veränderung. Chaos. Er wusste nicht, was die Rune ihm damit sagen wollte, doch er ahnte, dass sie die Rune des Wandels in all dem wiedererkannte, die sich womöglich einmal an diesem Ort befunden hatte. Alex war vor dem Altar stehen geblieben und als Jowy neben ihm zum Stehen kam, sah er das Glitzern in den Augen des Wirts. Er war am Ziel. … Oder? „Das ist er“, flüsterte Alex bedächtig. „Der Schatz. Endlich.“ „Was? Was?“, ertönte Nanamis Stimme irgendwo hinter ihnen. „Lasst mich durch, ich kann nichts sehen!“ Doch keiner reagierte, weil sie alle gebannt auf das kleine, reich verzierte Kästchen hinunterblickten, das in all den Jahren, die es hier gestanden hatte, keinen einzigen Kratzer abbekommen hatte. „Ich kann Hilda endlich ein paar schöne Kleider kaufen“, fuhr Alex fort und Jowy sah, wie sehr er zitterte. „Und gutes Essen und Spielsachen für Pete…“ „Na los doch!“, rief Nanami von hinten. „Mach es auf!“ „Okay. Los geht’s…“ Mit zitternden Händen berührte Alex vorsichtig die Schatulle und öffnete sie. Jowy merkte plötzlich, dass er den Atem angehalten hatte, und stieß ihn wieder aus. Dann senkte er seinen Blick auf den Inhalt der Schatulle hinunter und konnte seine Überraschung bei bestem Willen nicht verbergen. „Was…?“ „Was zum Henker…?“ Er runzelte die Stirn. „Was denn? Was ist da? Jetzt sagt doch! Ich kann nichts sehen!“ Nanamis Forderungen blieben wieder ungehört, da jeder, der etwas sehen konnte, den Inhalt der Schatulle anstarrte und dabei wahrscheinlich aussah wie eine Kuh, wenn es donnerte. In dem kleinen Kästchen befand sich nichts weiter als ein Bündel Kräuter. Die leicht rötlichen Blätter wirkten zwar so frisch, als hätte man sie gerade erst geerntet, doch Jowy konnte nicht umhin, verwirrt zu sein. Das war der Schatz der Sindar? Das war der Schatz, den sie so dringend hatten beschützen wollen, dass man ihnen Zyklopen und eine zweiköpfige Riesenschlange auf den Hals gejagt hatte? „Ist… das ein Scherz?“, fragte Alex ungläubig. „Das… das soll der Schatz sein? Was soll daran ‚lieb und teuer’ sein?!“ Er stieß einen Fluch aus. „Ich kann es nicht glauben!“ Jowy seufzte leise, während Zamza nun ebenfalls wieder zu meckern begann: „Ist das euer Ernst? Ich bin fast gestorben, nur für ein paar Suppenkräuter?!“ „Es sind Heilkräuter“, korrigierte Hanna leise. „Und zwar wirklich seltene. Die sollte es hierzulande gar nicht geben…“ Das machte es nur geringfügig besser, fand Jowy. Die Enttäuschung war Alex nur allzu deutlich anzusehen und der Aristokrat kam nicht umhin, unglaubliches Mitleid für ihn zu verspüren. War das der Preis dafür, wenn man seinen Träumen nachjagte? Blanke Enttäuschung? „Lass uns zurück gehen, Alex“, schlug er vor. „Vielleicht gab es nie einen Schatz, wer weiß. Vergiss es einfach.“ „Genau“, stimmte Nanami ihm zu, die sich nun offensichtlich nach vorn gedrängt und sich selbst von dem Inhalt des Kästchens überzeugt hatte. „Kopf hoch! Hilda wartet doch auf dich.“ „… Ja, ihr habt wohl Recht…“ Alex seufzte schwer und grinste ein schwaches und sehr schiefes Grinsen. „Na ja… Immerhin wird das eine gute Geschichte abgeben.“ Er lachte freudlos und wandte sich ab, um mit hängenden Schultern die Treppe wieder hinabzusteigen. Der Rest der Gruppe folgte ihm und Jowy sah aus den Augenwinkeln, wie Riou das Bündel Heilkräuter einsteckte. Nun… immerhin würden sie die Kräuter vielleicht benutzen können, um ihn und die Rune des Hellen Schilds entlasten zu können… Den Weg zurück durch die Ruinen legten sie schweigend zurück, in gedrückter Stimmung, und deutlich schneller als sie auf dem Hinweg gewesen waren, Hannas Markierungen sei Dank. Als sie die Ruinen wieder verließen, blieb Alex stehen, um sie Türen wieder zu schließen. Nachdem die Steintüren wieder eingerastet waren und der Weg in die Ruinen wieder versperrt war, seufzte der Wirt wieder. „Ich habe Hilda all diese Dinge versprochen“, murmelte er deprimiert und fuhr sich durchs Haar. „Und alles, was ich gefunden habe, waren Heilkräuter… Ich schäme mich, zurückzugehen und ihr in die Augen zu sehen. Sie wird bestimmt wütend sein…“ „Ach was“, erwiderte Nanami bestimmt, „das glaube ich nicht. Du wirst schon sehen!“ Alex nickte nur und führte sie durch den Wald zurück zum Gasthaus Zum Weißen Hirsch. „Ich gebe euch den Passierschein am besten gleich“, sagte er, während er die Tür öffnete. „Und für die Mühen erlasse ich euch alle Kosten, die anfallen, wenn ihr noch etwas hier bleibt…“ Das erste, was Jowy bemerkte, als sie die Empfangshalle des Gasthauses betraten, war, dass Hilda nicht am Empfang stand. Das an sich war nicht besorgniserregend, es war Mittagszeit und wahrscheinlich befand sie sich in der Küche, um möglichen Gästen etwas auftischen zu können… Weitaus besorgniserregender war der kleine Junge, der mit tränenüberströmten Wangen und rotgeheulten Augen auf Alex zurannte und rief: „Papa! Papa!“ Auch ohne diesen Ausruf hätte Jowy den Jungen problemlos als Alex’ Sohn erkannt – der Kleine hatte die Wangenknochen und die Nase seines Vaters geerbt. Dem Jungen folgte Pilika, die fast so panisch aussah wie damals, als er sie in den Trümmern von Toto gefunden hatte; in ihren Augen standen Tränen. „Pete“, sagte Alex alarmiert und ging vor seinem Sohn in die Knie, „was ist denn passiert?“ Pilika ergriff derweil Jowy an der Hand und schien ihn in Richtung Küche ziehen zu wollen. „Mama!“, schluchzte Pete in diesem Moment. „Mama ist…!“ Alex sprang auf und folgte dem Jungen, der seinen Vater in Richtung der Küchen führte. Pilika zerrte Jowy ebenfalls hinter sich her und schnell hatte der Rest der Gruppe Alex eingeholt. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Wirt neben seiner regungslosen Frau auf die Knie fiel. „Hilda!!“ Kapitel 19: Bemühungen ---------------------- Das Gefühl, als habe man ihm einen Vorschlaghammer in den Magen gerammt, hatte ihn das letzte Mal ereilt, als er hatte mit ansehen müssen, wie das Tor des Söldnerforts in die Luft flog. Es war eine Empfindung, die irgendwo zwischen Verzweiflung und purer Hilflosigkeit rangierte und damit zu den schlimmsten gehörte, die Jowy kannte. Er konnte nur dastehen und die bewegungslose Hilda anstarren, die tödlich blass im Gesicht war. Eine Strähne hatte sich aus ihrem Haarknoten gelöst und fiel ihr ins Gesicht, was ihr ein unglaublich schwaches und zerbrechliches Äußeres verlieh, so ganz anders als die fröhliche, herzensgute Frau, als die er sie kennen gelernt hatte… „Lasst mich durch!“ Er wurde unsanft von Nanami zur Seite gestoßen, die zielstrebig auf Hilda und Alex zueilte und jeden, der ihr im Weg stand, wegstieß. Sie ließ sich neben Hilda auf die Knie sinken, fühlte ihren Puls und berührte dann ihre Stirn, zog ihre Finger aber fast sofort wieder zurück. „Im Namen aller Runen…“, hörte er sie murmeln, dann rief sie laut: „Bereitet ein Bett vor, sofort! Alex“, sie sah den panischen Wirt an, „bring Hilda irgendwohin, wo sie gemütlich liegen kann! Riou“, sie fuhr herum und fixierte ihren Bruder, „hol etwas Wasser, los! Und Jowy, geh und such einen Arzt! Beeil dich!“ Einen Moment lang starrte er sie nur überrumpelt an. „Ich… äh?“, entwich es ihm hilflos, dann riss er sich zusammen. „Verstanden!“ Er drehte sich auf dem Absatz um und lief hinaus, es den anderen überlassend, sich um Hilda zu kümmern. Wenn er sich beeilte, konnten sie Hilda retten. Sie war nicht tot, sie lebte noch, er war noch nicht zu spät. Was auch immer mit ihr passiert war – sie konnten noch etwas tun. Wohin genau Jowy rannte, wusste er nicht. Er erinnerte sich vage an ein paar kleinere Dörfer rund um Muse, die sie auf ihrem Weg zur Hauptstadt durchquert hatten, und hoffte bloß, dass er in die richtige Richtung lief. Bei dem Gedanken daran, was passieren würde, wenn Hilda seinetwegen starb, wurde ihm ganz übel. Als der Aristokrat die kleine Spelunke am Wegesrand betrat, die sich auf halbem Weg nach Muse befand, schlug ihm ein Geruchsgemisch aus Alkohol und Schweiß entgegen. Unter normalen Umständen hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre nie wieder zurückgekehrt, aber das hier waren keine normalen Umstände – wenn er sich nicht beeilte, würde Hilda womöglich sterben! In der Kneipe befand sich nur eine Hand voll Menschen – und mit Ausnahme des Wirts, der missmutig hinter dem Tresen stand und ein paar Gläser spülte, waren alle hoffnungslos betrunken. Jowy atmete schwer; er war fast den gesamten Weg vom Weißen Hirsch bis hierher gerannt, verzweifelt nach einer kleinen Siedlung oder einem anderen Gasthaus suchend, in dem sich womöglich ein Arzt aufhalten konnte. Als er an den Tresen trat, fixierte der dünne, schmierige Wirt ihn und rief: „Kein Ausschank an Kinder!“ „Ich suche einen Arzt. Es ist wirklich dringend!“, erwiderte Jowy, doch das schien den Mann nicht weiter zu interessieren. „Hier gibt es keine Ärzte, Junge“, brummte der Wirt und stellte das Glas, das er geputzt hatte, klirrend zu den anderen. „Verschwinde!“ „Aber-“, begann er verzweifelt, wurde jedoch von einem der Betrunkenen, die am Tresen saßen, dadurch unterbrochen, dass der Mann, der eine dicke Plattenrüstung trug, seinen riesigen Humpen Bier mit Wucht auf dem Tisch abstellte und blaffte: „Verschwinde, Bengel, und hör auf, mir auf die Nerven zu gehen!“ Erschrocken fuhr Jowy zu dem Mann herum und starrte ihn an, doch der Krieger schien mit dieser Meinung nicht allein zu sein – ein anderer Gast rief: „Genau, oder ich werde dir Beine machen, du halbe Portion!“ Der Rest der Meute brach in röhrendes Gelächter aus. Hilflos ballte der Aristokrat die Fäuste und sah sich in der Kneipe um, dann nickte er langsam und beeilte sich, den Schankraum zu verlassen, bevor die Männer ihre Drohung noch wahr machten. Als die Tür hinter ihm wieder ins Schloss fiel, hörte er noch jemanden murren: „Verdammte Drecksbälger, vermiesen einem den ganzen Tag!“ Jowy biss sich auf die Lippe und lief weiter, die Straße nach Muse entlang. Er hatte nicht viel Zeit… Die Straße führte ihn zu einem kleinen Dorf, das aus kaum mehr als ein paar Häusern bestand und diese Bezeichnung wohl gar nicht verdiente. Er eilte zum erstbesten Gebäude, klopfte an die Tür und hoffte inständig, dass die Bewohner hier freundlicher waren als die Besucher in der Kneipe. Ein kleines Mädchen öffnete ihm die Tür und im ersten Moment glaubte er, Pilika gegenüber zu stehen, bis ihm auffiel dass das Kind nichts mit ihr gemein hatte. „Sind deine Eltern da?“, fragte er völlig außer Atem und das Mädchen kniff die Augen zusammen. „Mama und Papa haben mir gesagt, dass ich nicht mit Fremden reden soll!“, rief es. „Ich will nur…“, keuchte er, da wurde ihm die Tür auch schon vor der Nase zugeschlagen und er blieb mit offenem Mund davor stehen. „Das ist nicht dein Ernst…“, murmelte er, ehe er sich zerrüttet abwandte und zum nächsten Haus ging, um dort anzuklopfen. Diesmal öffnete ihm eine alte Frau, die ihn stirnrunzelnd fixierte. „Was ist denn mit dir passiert, Jungchen?“, fragte sie. „Ich suche einen Arzt“, erklärte Jowy unglücklich. „Sie ist zusammengebrochen und wenn ich nicht schnell einen Arzt hole, wird sie sterben, und es wird meine Schuld sein und ich kann einfach nicht mehr…“ Er redete völlig zusammenhangloses Zeug, das wusste er. Aber vor lauter Stress, Panik und Anspannung war in seinem Kopf kein klarer Gedanke mehr vorhanden. „Oh, aber hier gibt es keine Ärzte, Jungchen“, entgegnete die Frau und sah ihn mitleidig an. „Warum versuchst du es nicht in Muse?“ Beinahe brach er bei diesen Worten in Tränen aus, aber er wusste, dass ihm das auch nicht weiterhelfen würde. „Gibt… gibt es denn niemanden hier, der sich mit Medizin auskennt?“ Er sah sie flehend an, während die Frau überlegte. „Nicht, dass ich wüsste, nein“, sagte sie schließlich. „Aber ich glaube, in den Wäldern hier in der Nähe soll eine Kräuterfrau wohnen, vielleicht kann sie dir helfen?“ Er murmelte seinen Dank, aber ob die Frau es noch hörte, wusste er nicht; es kam ihm vor, als wäre er schon auf halbem Weg aus dem Dorf hinaus. Wälder. Wälder. Was für Wälder?! Die einzigen Wälder, die er gesehen hatte, waren die hinter dem Weißen Hirsch gewesen und die konnte die alte Frau ja unmöglich meinen… Wie viel Zeit war inzwischen vergangen, zehn Minuten, eine halbe Stunde? Er wusste es nicht, er wusste nur, dass er völlig außer Atem war und wenn er so weiter machte, würde er nicht nur kraftlos irgendwo zusammenbrechen, sondern auch jede Chance zunichte machen, noch jemanden zu finden, der Hilda retten konnte. Jowy wünschte sich plötzlich, Tuta bei sich zu haben, aber das brachte ihn kein Stück weiter… Er sah hoch zum Himmel und stellte fest, dass es bereits später Nachmittag war. Wenn das so weiterging… Etwa eine halbe Stunde später hatte er die Tore von Muse erreicht und betete zu den 27 Wahren Runen, dass die Wachleute Verständnis zeigen würden. Vielleicht hatte er ja Glück… „Passierschein“, forderte ihn einer der Soldaten gelangweilt auf. „Ich habe keinen, aber-“ „Kein Passierschein, kein Eintritt“, unterbrach ihn der Mann entnervt. „Wir stehen hier doch nicht, weil uns langweilig ist!“ „Aber ich brauche dringend einen Arzt und-“ „Und ich brauche dringend Urlaub“, sagte der andere Soldat augenverdrehend. „Aber wir kriegen lange nicht alles das, was wir brauchen oder wollen. Also verschwinde, Junge!“ Er wartete nicht erst, bis sie Verstärkung holten, um ihn zu vertreiben, sondern wandte sich ab und beeilte sich, einigen Abstand zwischen die Wachleute und sich zu bringen. Jowy wusste, dass er versagt hatte – im Umkreis von mehreren Meilen würde er keinen Arzt finden und sich auf die Suche nach dieser ominösen Kräuterfrau zu machen würde wahrscheinlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als er zur Verfügung hatte. Aber hatte er überhaupt noch Zeit? Ein Blick in den Himmel verriet ihm, dass die Sonne bereits unterging. War er tatsächlich so lange unterwegs gewesen? Aber vielleicht konnte er Alex’ Passierschein holen und wenn er sich beeilte, konnte er einen Arzt aus Muse holen… Getrieben von diesem Gedanken – seinem letzten Hoffnungsschimmer, an der er sich verzweifelt klammerte – setzte er sich in Bewegung und zwang seinen erschöpften Körper einfach dazu, weiterzulaufen. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er – nun wirklich endgütig erschöpft – wieder beim Gasthaus Zum Weißen Hirsch ankam. Vor seinen Augen tanzten bunte Sterne, aber er durfte nicht so einfach aufgeben. Er würde nicht hilflos mit ansehen, wie ein netter Mensch wie Hilda starb – nicht mehr. Kaum, dass er die Tür aufgestoßen hatte, wurde er fast von Pilika umgerannt, die auf ihn zugelaufen kam und ihn so fest umarmte, dass er beinahe umfiel. „P-Pilika!“, rief Jowy überrascht aus und sah auf das Mädchen hinunter. „Ich habe keine Zeit, ich muss ganz dringend-“ Pilika blickte auf und lächelte ihn an, dann schüttelte sie vehement den Kopf und öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen. Doch als wieder kein Laut daraus hervorkam, zögerte sie kurz, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her. „Pilika, bitte…“, protestierte er. „Wir haben wirklich keine Zeit…“ Er brach ab, als er sah, dass das Mädchen ihn zielstrebig zu einem Zimmer jenseits der Küche brachte. Sie öffnete die Tür und er erkannte Alex, Nanami, Riou und den kleinen Pete, die um ein Bett herumstanden. Alle sahen erstaunt zur Tür und Jowy zuckte zusammen, dann setzte er zu einer Erklärung an: „Es… es tut mir so leid! Ich habe überall gesucht, aber es gibt hier keine Ärzte und sie haben mich nicht nach Muse gelassen, also…“ Er verstummte, als er bemerkte, dass Nanami grinste und Riou ihn irgendwie mitleidig lächelnd betrachtete. „Was…?“ Die Geschwister traten etwas zur Seite und gaben den Blick auf Hilda frei, die zwar blass aussah, ansonsten aber kerngesund wirkte. Sie lächelte. Schlagartig fiel alle Anspannung von ihm ab und er spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben, sodass er sich an den Türrahmen lehnen musste, um nicht umzufallen. „Es geht dir besser“, stellte er fest, irgendwo zwischen schierer Erleichterung und Verwirrung, weil er nicht verstand, was passiert war. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und die Welt kippte aus den Fugen. Er war eindeutig zu oft ohnmächtig, beschloss Jowy, während er langsam wieder zu sich kam. Sein Kopf dröhnte, aber immerhin fühlte er sich wieder mehr oder weniger lebendig. „Willkommen zurück“, begrüßte Rious Stimme ihn und er sah auf. Sein bester Freund lehnte am Türrahmen des Zimmers und hielt Pilika an der Hand, die ihn in diesem Moment losließ und zu Jowy hinüberlief. Es war hell im Zimmer… Offensichtlich war er die ganze Nacht über bewusstlos gewesen. „Mir geht es gut“, beruhigte der Aristokrat das Mädchen mit einem Lächeln und sie kletterte erleichtert zu ihm hinauf und umarmte ihn fest. „Jowy!“ Nanami hatte das Zimmer betreten und blieb neben seinem Bett stehen. „Oh, es tut mir so leid… Du hast dich völlig verausgabt…“ „Schon in Ordnung“, winkte Jowy ab. „Aber was ist passiert? Sagt nicht, ihr habt einen Arzt gefunden?“ Riou schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein, das nicht. Aber dafür wissen wir jetzt, dass Hilda lieb und teuer für Alex ist.“ Er grinste. Da dämmerte es dem Blonden. „… Die Heilkräuter?“ „Genau“, nickte Nanami. „Ich hatte sie völlig vergessen…“ Sie lief rot an. Jowy seufzte leise. Natürlich, an das Naheliegendste hatten sie nicht gedacht… „Ich habe mich nur durch einen glücklichen Zufall daran erinnert“, sagte Riou achselzuckend und trat näher. „Aber es hat offensichtlich geholfen.“ „Wisst ihr denn, was eigentlich mit ihr los war?“, erkundigte Jowy sich ehrlich interessiert. Nanami schnaubte und verdrehte die Augen. „Alex glaubt fest an einen Fluch der Sindar und ist der festen Überzeugung, dass es seine Gier war, wegen der Hilda krank geworden ist“, erklärte sie und schüttelte den Kopf. „Aber wenn ihr mich fragt, hat sie sich einfach so viele Sorgen gemacht, dass sie vergessen hat, sich um sich selbst zu kümmern!“ Das sah Jowy zwar nicht so, aber er verzichtete darauf, es ihr zu sagen. Stattdessen nickte er nur und strich Pilika übers Haar. „Na ja“, sagte Nanami schließlich und strich sich ein paar verirrte Ponyfransen aus dem Gesicht, „ich denke, ich gehe nach unten und helfe Hilda mit dem Essen. Sie meint zwar, es würde ihr wieder gut gehen, aber das glaube ich ihr nicht…“ Jowy und Riou tauschten einen alarmierten Blick – wenn Nanami kochte, bedeutete das meistens nichts Gutes für den Magen eines jeden, der davon aß. „Äh“, machte Riou und schien fieberhaft nach einem Grund zu suchen, um seine Schwester von ihrem Vorhaben abzubringen. „Ich glaube, ich habe Gengen vorhin sagen hören, dass er unglaublich gern das Rezept für deine Karottensuppe haben möchte…“ „Huh?“ Nanami blinzelte ihn erstaunt an, dann erhellte sich ihr Gesicht und sie rief: „Ha! Und ihr sagt immer, ich könnte nicht kochen! Banausen!“ „Warum gehst du nicht gleich zu ihm und gibst ihm das Rezept?“, schlug Jowy schnell vor, bevor sie sich nur noch bekräftigt in ihrem Entschluss fühlte. „Ich bin mir sicher, dass er es kaum erwarten kann.“ „Eine wirklich gute Idee“, stimmte Riou ihm zu und nickte bestätigend. Nanami schien kurz zu überlegen, dann grinste sie und rief: „Ja, das ist es wohl wirklich!“ Zufrieden mit sich selbst marschierte sie hinaus und die beiden Jungen hörten sie noch laut nach dem Kobold rufen. „Ich glaube, wir müssen uns später bei Gengen entschuldigen“, murmelte Jowy und schwang die Beine aus dem Bett, ehe er Pilika hinunterhalf. „Und wir sollten Hilda warnen, bevor es noch nicht zu spät ist… Nur für den Fall.“ Riou wollte bereits den Raum verlassen, als der Aristokrat ihn zurückrief: „Riou… Was sagst du zu diesem Fluch, von dem Nanami gesprochen hat?“ Der Jüngere drehte sich halb zu ihm um und zuckte dann leicht die Achseln. „Weiß du“, sagte er langsam. „Ich glaube nicht, dass es ein Zufall war, dass der Schatz der Sindar aus Heilkräutern bestand und Hilda zusammengebrochen ist. Aber wir werden es wohl nicht erfahren…“ Irgendwie glaubte Jowy das auch. „Vielen Dank für eure Hilfe“, sagte Hilda, nachdem sich alle im Speisesaal versammelt und sich etwas von dem köstlichen Eintopf aufgetan hatten, den sie – glücklicherweise ohne Nanamis Hilfe – zubereitet hatte. „Ich weiß nicht, was ich ohne euch gemacht hätte“, fuhr Alex fort, der noch immer so aussah, als könne er nicht fassen, dass alles glimpflich ausgegangen war. „Wahrscheinlich hätten mich diese Wesen in den Ruinen erledigt…“ Er schauderte und beruhigte sich erst, als Hilda ihm lächelnd eine Hand auf die Schulter legte. „Keine Ursache“, erwiderte Riou. „Ihr habt ja auch viel für uns getan.“ „Nein, nein“, widersprach Alex. „Wir können gar nicht genug für euch tun.“ Er kramte in der Tasche seiner Weste und holte eine kleine, zusammengerollte Schriftrolle hervor. „Das ist der Passierschein, wie versprochen. Und ihr seid jederzeit wieder hier willkommen. Kostenlos, versteht sich.“ Er überreichte die Rolle an Riou, der sie behutsam einsteckte. „Immerhin“, brummte Zamza neben Jowy leise. Der Aristokrat verdrehte die Augen und wandte sich dann an Hilda: „Dann geht es dir also wieder gut?“ „Ja, ich fühle mich wunderbar“, bestätigte die Wirtin strahlend. „Dann solltet ihr zusehen, dass ihr nicht allzu lange hier bleibt“, ergriff Hanna mürrisch das Wort, die ihren Teller bereits geleert hatte. Nachdem alle zu ihr schauten, holte sie weiter aus: „Die Highland-Armee wird nicht ewig jenseits des Flusses bleiben, geschweige denn hinter der Grenze. Sie werden kommen und Muse angreifen… Und zu diesem Zeitpunkt solltet ihr drei nicht mehr hier sein.“ Hilda und Alex sahen einander an, dann nickte der Wirt betrübt: „Ja, du hast wahrscheinlich Recht…“ Jowy starrte in seinen Teller hinunter und stellte fest, dass er keinen Hunger mehr hatte. Während der Zeit, die sie hier im Weißen Hirsch verbracht hatten, war die Bedrohung durch Highland irgendwie in den Hintergrund geraten. Ihr nächstes Ziel war es gewesen, nach Muse zu kommen, und er war völlig darauf fixiert gewesen. Dann war Hilda zusammengebrochen und er hatte gar nicht mehr an sein Heimatland gedacht… „Wir sollten gehen“, durchbrach Rious Stimme irgendwann seine Gedanken und Jowy zuckte zusammen. Er war mal wieder völlig weggetreten gewesen… „Bitte passt gut auf euch auf!“, bat Hilda besorgt, während sich die Freunde vom Tisch erhoben und auf die Eingangstür zuhielten. „Wir tun, was wir können“, antwortete Zamza, „aber man weiß ja nie, was diese Wahnsinnigen aus Highland planen…“ Er seufzte. Gengen schnaufte zustimmend und bemerkte: „Highlander böse Menschen. Ihr aufpassen, ja?“ „Wir versuchen es.“ Alex fuhr sich durchs Haar. „Und ich höre wohl besser mit der Schatzsuche auf.“ „Gute Idee“, nickte Nanami und zwinkerte dem Wirt zu. „Nimm es mir nicht übel, aber du bist ein furchtbarer Schatzsucher.“ Alex grinste gequält, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Sie verabschiedeten sich von der kleinen Familie – Pilika schien Pete inzwischen richtig gern zu haben – und machten sich endgültig auf den Weg nach Muse. Und Jowy hoffte inständig, dass Alex und Hilda nicht genau so enden würden wie Marx und Joanna… Denn irgendwie erinnerte ihn dieser Abschied viel zu sehr daran, dass Pilikas Eltern nicht mehr am Leben waren. „Okay“, sagte Nanami, als die Tore von Muse gegen Mittag in Sicht kamen, „hört mal alle zu.“ Die Gruppe blieb stehen und sah sie erwartungsvoll an, doch irgendwie hatte Jowy ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Riou hatte beim Gehen den Passierschein studiert, den Alex ihnen gegeben hatte, und Nanami zog es ihm ohne viel Federlesen aus der Hand. „Mit diesem Passierschein kommen wir alle nach Muse!“, verkündete sie und hielt ihn den Gefährten hin. „Das ist auch Sinn der Sache“, bemerkte Zamza spitz. Nanami knurrte feindselig und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, das mit Sicherheit kein Lob war, doch Jowy fragte schnell: „Bist du dir ganz sicher, dass das so funktionieren wird? Immerhin ist der Schein doch auf Alex ausgestellt, oder?“ „Wir werden es nicht wissen, bis wir es nicht probiert haben!“, rief Nanami. „Ich werde Hilda sein, Riou ist Alex und… Jowy, du spielst Pete. Und der Rest von euch verhält sich einfach ruhig, dann passt das schon.“ „Oh, bei den Runen…“, stöhnte Hanna und massierte ihre Nasenwurzel. Gengen bedeckte seine Augen mit einer Pfote und jaulte leise und auch Riou schien von dieser Idee eher mäßig begeistert zu sein. „Warte mal“, zügelte Jowy Nanamis Eifer. „Pete ist Alex und Hildas Sohn. Wie soll ich denn…?“ Er schüttelte den Kopf. „Warum macht Pilika es nicht?“ Nanami schnalzte genervt mit der Zunge und entgegnete: „Pilika ist ein Mädchen, du Ei. Etwas unglaubwürdig, meinst du nicht?“ „Oh ja, es ist natürlich sehr viel glaubwürdiger, dass ich dein Sohn bin“, erwiderte Jowy sarkastisch. „Genau.“ „Wird schon schief gehen!“ Offensichtlich war Nanami nicht in der Laune, weiter darüber zu diskutieren, denn sie wandte sich ab und marschierte zielstrebig auf die Stadttore von Muse zu. „Genau das befürchte ich auch“, seufzte Hanna. „Das kann doch nur in einer Katastrophe enden…“ „Riou“, sagte Jowy empört und sah zu seinem Freund. „Sag doch auch mal etwas!“ Riou würde ihn natürlich unterstützen und sie würden Nanami diesen schwachsinnigen Plan ausreden. Natürlich! „Lass uns gehen… Pete“, forderte Riou ihn jedoch ergeben mit den Schultern zuckend auf und beeilte sich, seine Schwester einzuholen. Mit offenem Mund starrte Jowy den Geschwistern hinterher, bis Hanna ihm nicht gerade motiviert auf die Schulter schlug und brummte: „Na los… bevor sie sich noch irgendetwas ausdenkt.“ Widerwillig tat er wie geheißen und rechnete schon mit dem Schlimmsten, als sie den einsamen Wächter erreichten, der gelangweilt vor den Toren stand, rief: „Was wollt ihr? Kein Eintritt ohne Passierschein!“ Immerhin hatten sie genug Glück und der Mann gehörte nicht zu den drei Wachleuten, die Jowy bereits kennen gelernt hatte. Nanami lachte sehr laut und sehr schrill auf und schaffte es irgendwie, den Mann von oben herab anzuschauen, obwohl sie einen ganzen Kopf kleiner war als er. „Unseren Passierschein?“, fragte sie in einer sehr, sehr schlechten Imitation von Hildas Stimme. „Wie lustig… Schau dir das an!“ Sie hielt ihm triumphierend die kleine Schriftrolle hin und erntete dafür den skeptischen Blick des Soldaten. Jowy widerstand nur schwer dem Bedürfnis, sofort umzudrehen und sich nie wieder blicken zu lassen. Er hatte sich in seinem Leben noch nie so sehr für jemanden geschämt wie für Nanami, deren Schauspielkünste praktisch nicht vorhanden waren. „Dann schauen wir mal…“, murmelte der Wächter, nahm dem Mädchen den Passierschein ab und entrollte ihn. Seine Augen glitten über das Geschriebene, dann hob er den Blick und fixierte die kleine Gruppe. „Also gut, wer von euch ist Alex?“ Einen Moment lang sagte keiner etwas, dann räusperte sich Riou leise und hob mit einem völlig neutralen Gesichtsausdruck eine Hand. „Ich.“ Nun, immerhin hatte Riou etwas Talent als Schauspieler… das den Wachmann nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. „Na dann“, bemerkte er mit hochgezogener Augenbraue. „Und wer ist Hilda?“ Seine Augen wanderten bereits in Hannas Richtung – die Jowy gemeinsam mit Zamza irgendwie geeigneter für die Rolle eines Ehepaars vorkam, da sie wenigstens entfernt das richtige Alter hatte – da lachte Nanami wieder schrill auf: „Ich bin Hilda, junger Mann.“ Der Aristokrat biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzustöhnen. Konnte man es überhaupt noch mehr übertreiben?! Im Gesicht des Wachmanns zuckte ein Muskel bei dieser Behauptung. Dann fragte er: „Und wo ist Pete?“ Er wirkte in etwa genau so überzeugt von Nanamis Auftritt wie Jowy es war. Oh, das würde ganz schlecht enden, vielleicht war es besser, wenn sie einfach die Wahrheit sagten und… Er schrie auf, als Nanami ihm unsanft auf den Fuß trat, und stammelte, völlig aus dem Konzept gebracht: „Äh, ähm… Ich, äh… Ich bin Pete.“ Oh, verdammt… „Und ich bin der Hohepriester von Harmonia!“, schnauzte der Wächter wütend. „Ihr glaubt ja wohl nicht, dass ich euch diesen Schwachsinn abkaufe? Wache!!“ Eine kleine Tür neben den Toren öffnete sich und ein Dutzend Soldaten stürzte hinaus, die die Gruppe sofort umstellten. „Nehmt sie fest!“, befahl der Soldat. „A-Aber wieso?!“, rief Nanami ungläubig, als man sie unsanft am Oberarm ergriff und nicht gerade sanft mit sich zerrte. Jowy verdrehte nur die Augen und nahm Pilika eilig auf den Arm, bevor auch er mitgeschleppt wurde. Nun… immerhin waren sie jetzt in der Stadt. Kapitel 20: Mondnacht --------------------- „Kühlt euch die Nacht über hier drin ab! Der Hauptmann wird sich morgen um euch kümmern!“, rief einer der Soldaten durch das kleine Fenster der massiven und verriegelten Tür herein, die der einzige Eingang in die kleine Zelle waren, in die man Jowy, Nanami, Riou und Pilika gesperrt hatte. Dann wurde es auf dem Gang draußen still, wenn man einmal von einem leisen Gemurmel absah – Zamza, der sich in der Nachbarzelle leise darüber beschwerte, dass er mit diesem ganzen Unfug ja wohl nichts zu tun hatte. Er verstummte jedoch, nachdem entweder Gengen oder Hanna – Jowy tippte auf Letztere – ihm einen hörbaren Schlag verpasste. Die Waffen hatte man ihnen abgenommen. „Also, ich verstehe das nicht!“, schnaufte Nanami, während sie die Arme vor der Brust verschränkte. „Ich hatte doch alles durchgeplant… wir waren wirklich überzeugend…“ „Überzeugend schlecht vielleicht“, knurrte Jowy und wischte sich entnervt mit einer Hand übers Gesicht, bevor er Pilika auf den Boden stellte. „Was?!“, schrie Nanami aufgebracht. „Sie hätten es uns abgekauft, wenn du dich ein bisschen mehr angestrengt hättest!“ „Immerhin habe ich nicht völlig übertrieben.“ Nanami schnappte beleidigt nach Luft und kniff die Augen zusammen. „Was soll das denn heißen? Ich habe mich wie eine achtundzwanzigjährige Frau benommen!“ Der Aristokrat schnaubte verächtlich. „Welcher Teil war bitte eine achtundzwanzigjährige Frau?“ „Alles!“, zischte Nanami und stampfte mit dem Fuß auf. Jowy erwiderte ihren wütenden Blick einen Moment, dann warf er entnervt die Arme in die Luft und rief: „Na schön, dann fragen wir doch Riou!“ „W-Was?!“ Riou wich verunsichert zurück, als sowohl der Aristokrat als auch seine Schwester mit zusammengekniffenen Augen zu ihm herumfuhren. „Fein!“, deklarierte Nanami. „Sag schon, wer war besser?“ „Wer war glaubwürdiger, Nanami oder ich?“ Jowy sah seinen besten Freund erwartungsvoll an. Oh, wenn er jetzt sagen würde, dass seine Schwester eine bessere Schauspielerin war, würde er… „Ähm…“, gab Riou unsicher von sich und machte noch einen Schritt nach hinten. „Um ehrlich zu sein… wart ihr beide grauenhaft.“ „Du Lügner!“ „Riou!“, hielt Jowy empört dagegen. „Stell meine Schauspielkunst nicht auf eine Stufe mit Nanamis!“ „Aber es stimmt…“, verteidigte sich Riou leise. Gerne hätte Jowy noch etwas zu diesem Thema hinzugefügt, doch da schlug jemand von außen gegen die Zellentür und blaffte: „Ruhe da drin!“ Die drei Jugendlichen zuckten zusammen, dann seufzte Riou und schlug vor: „Lasst uns doch das Beste aus der Situation machen… Ruhen wir uns aus.“ „Ich habe eine bessere Idee“, entgegnete Nanami. „Oh bitte… nicht schon wieder!“, murmelte Jowy , doch sie ignorierte ihn und stemmte beide Hände in die Hüften. „Ihr könntet mir jetzt erzählen, was es mit diesen Runen auf sich hat!“ Immerhin bewies sie genug Geistesgegenwart, um zu flüstern, bemerkte Jowy. Dann tauschte er einen Blick mit Riou und biss sich auf die Lippe. Vielleicht war es besser, ihr nichts davon zu erzählen… Irgendwie hatte er das Gefühl, als sei das eine Sache zwischen ihm und Riou. Allein schon, weil nur sie beide das Innere des Schreins gesehen hatten. Aber ihm war klar, dass sie es wohl nicht ewig für sich würden behalten können. Schließlich fuhr sich Riou durchs Haar und ließ sich auf einer der vier schmalen Holzpritschen nieder, die in dieser Nacht wohl ihr Lager sein würden. „Erinnerst du dich an den Schrein in Toto?“ „Natürlich“, bestätigte Nanami. „Ihr wart so lange da drin, dass wir schon dachten, ihr wollt dort vielleicht übernachten!“ Sie und Pilika nahmen auf der Pritsche ihm gegenüber Platz, während Jowy sich auf die neben Rious setzte. Dieses Gespräch würde wahrscheinlich länger dauern… Da konnten sie sich wohl genau so gut hinsetzen. Vor dem morgigen Tag würden sie ja ohnehin nicht aus dieser Zelle kommen. „Es gibt einen guten Grund, warum wir so lange da drin waren“, seufzte der Aristokrat. „Wir sind irgendwie ins Innere des Schreins gelangt, jenseits der Höhle.“ „Was für ein Blödsinn.“ Nanami rümpfte die Nase. „Ihr habt euch keinen Schritt von der Stelle gerührt, wir haben euch doch die ganze Zeit gesehen!“ „Ich kann es auch nicht wirklich erklären“, ächzte Riou sichtlich resigniert. „Aber wir waren plötzlich ganz woanders…“ Nach und nach berichteten die Jungen, sich gegenseitig ergänzend, wie sie Leknaat begegnet waren und was die Hüterin der Torrune ihnen erzählt hatte. Dass sie eine Art Vision gehabt hatten, verschwiegen jedoch beide, ohne sich abzusprechen – dieser Teil der Geschichte ging wohl wirklich nur sie beide etwas an. „Ihr habt also Runen angenommen, von denen eine blinde Frau, die aus dem Nichts aufgetaucht ist, behauptet hat, sie wären die zwei Seiten der Rune des Anfangs, von der man nicht einmal weiß, ob sie überhaupt existiert, verstehe ich das richtig?“, fasste Nanami schließlich zusammen. Ihr Blick war undurchdringlich, aber dieser Unterton… „Ähm“, sagte Jowy und kratzte sich am Hinterkopf, etwas irritiert über diese Art der Zusammenfassung. „Ich denke schon.“ Nanami stieß mit einem verächtlichen Geräusch Luft aus ihren Lungen und zischte: „Seid ihr zwei eigentlich völlig übergeschnappt? Ihr vertraut einfach irgendeiner Frau, die ihr vorher noch nie gesehen habt, nur, weil sie euch sagt, dass sie euch die Macht geben kann, das Schicksal neu zu schreiben?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Wisst ihr eigentlich, wie gefährlich das ist? Diese Runen können… sie können alles sein! Was, wenn es eine Falle ist?“ „Nanami…“, begann Riou beschwichtigend, doch sie ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen: „Ich meine es völlig ernst! Ich habe diesen wahnsinnigen Prinzen gesehen, was ist, wenn er das alles inszeniert hat?!“ Mit Entsetzen bemerkte Jowy die Tränen in ihren Augen. „So ist das nicht“, sagte er ernst und sah sie direkt an. „Ich bin mir sicher, dass… diese Runen genau das sind, was Leknaat uns erzählt hat.“ „Woher willst du das wissen?“, schluchzte Nanami, die jetzt wirklich weinte. „Ich fühle es einfach“, erklärte er schlicht und strich abwesend über seinen rechten Handrücken. Pilika, die besorgt zu Nanami aufsah, nahm das ältere Mädchen behutsam in den Arm und lächelte es aufmunternd an, bis Nanami schniefte, die Tränen abwischte und sehr leise sagte: „Aber dann bedeutet es immer noch, dass ihr endgültig in diesen Krieg verwickelt seid…“ Dieser Gedanke ließ Jowy nicht los. Stunden später, nachdem der Wachmann ihnen ein Abendessen gebracht hatte, das aus einer erstaunlich wohlschmeckenden Suppe – ohne Karrotten! – und einem Stück frischen Brots bestand, und die Sonne, die sie durch ein kleines Fenster sehen konnten, längst untergegangen war, lag er hellwach in der Dunkelheit und starrte die Decke an. Durch das kleine Fenster, das nicht einmal groß genug dafür war, dass Pilika durchgepasst hätte, fiel ein Strahl Mondlicht. Die Pritsche war viel zu hart – er hatte eindeutig zu lange in seinem Bett im Weißen Hirsch geschlafen – und er fand einfach keine Ruhe. Schließlich stöhnte er leise, setzte sich auf und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht. Das konnte doch wohl nicht wahr sein… „Kannst du auch nicht schlafen?“ Rious Frage war kaum mehr als ein Wispern, aber der unerwartete Laut seiner Stimme erschreckte Jowy trotzdem. Er fuhr zusammen und erkannte im Halbdunkel Rious Silhouette, der, die Beine an die Brust gezogen, auf seiner Pritsche saß und zu ihm sah. „Nein“, seufzte der Aristokrat und fuhr sich durchs Haar. „Ich muss die ganze Zeit daran denken, was Nanami gesagt hat…“, murmelte Riou hörbar betrübt. „Meinst du, sie hat Recht damit?“ „… Ich weiß es nicht“, entgegnete Jowy ausweichend. Er wusste nicht einmal, ob er es überhaupt wissen wollte. „Hmm…“ Sie schwiegen eine ganze Weile dann sah der Aristokrat hoch zu dem kleinen Fenster, durch das der einsame Strahl Mondlicht fiel, und betrachtete nachdenklich den Vollmond, den er gerade so sehen konnte. „Es ist Vollmond“, bemerkte er überflüssigerweise „Ja…“ „Es… ist eine Menge passiert, seit wir Highland verlassen haben.“ Es war wieder einer dieser seltenen Momente, in denen Jowy das dringende Bedürfnis verspürte, sich auszusprechen. So richtig geredet hatten sie nie über all das, was seit ihrer halsbrecherischen Flucht aus Kyaro passiert war; irgendwie hatte er gerade das unangenehme Gefühl, als würden die Erinnerungen an das Geschehene in seinem Kopf einen so wilden Tanz aufführen, dass ihm ganz schlecht davon wurde. „Zu viel?“ Jowy suchte im Halbdunkel den Blick seines besten Freundes, im ersten Moment erstaunt über diese Frage. Aber eigentlich war es gar nicht so ungewöhnlich – es war nun einmal Riou, der ihn besser verstand als jeder Andere. „Ja, vielleicht…“ Sie schwiegen eine Zeit lang und Jowy lauschte gedankenverloren den leisen, gleichmäßigen Atemzügen von Pilika und Nanami. Dann schluckte er und sagte zögernd: „Diese Vision, die wir gehabt haben…“ Als er wieder verstummte, half Riou leise nach: „Was ist damit?“ „Damals, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben, da…“ Er räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals zu vertreiben. „Ich habe dich beneidet.“ Selbst nach diesem Geständnis sagte der Jüngere nichts, sondern wartete einfach nur ab. „Wir hatten zu Hause alles. Egal, was wir wollten, wir haben es bekommen…“ Das war für Riou nichts Neues, das wusste Jowy selbst – es war nie ein Geheimnis zwischen ihnen gewesen, dass Marcel Atreides dazu tendierte, seinen Söhnen alles zu kaufen, was sie sich wünschten, nur damit sie ihn nicht weiter belästigten. Aber zwischen all den Bergen von Spielzeug hatte sich ein kleiner, blonder Junge, der seinen richtigen Vater niemals kennen gelernt hatte, immer etwas ganz Anderes gewünscht… „Aber du und Nanami und Meister Genkaku… Obwohl ihr nicht blutsverwandt seid, war eure Verbindung immer so stark. Das war die eine Sache, die ich immer wollte, aber niemals bekommen habe – weil man sie nicht für Geld kaufen kann“, fuhr er gedankenverloren fort und strich ein paar Haarfransen zur Seite, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten. Riou sagte nichts, sondern betrachtete ihn nur stumm. Wahrscheinlich war es besser so – Jowy war sich nicht sicher, ob er wollte, dass sein Freund etwas dazu sagte. Mitleid wollte er jedenfalls keines… oder? „Ich habe euch damals ganz schön lange beobachtet“, erzählte er weiter und dachte an den Tag, an dem er sich endlich getraut hatte, den Einsiedler von Kyaro zu besuchen. Er war seinem Kindermädchen davongelaufen und sie war daraufhin entlassen worden… um durch einen Hauslehrer ersetzt zu werden, an den er keinerlei gute Erinnerungen hatte. „Ich wollte euch unbedingt kennen lernen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich euch ansprechen soll.“ Er musste bei der Erinnerung daran plötzlich grinsen. „Und dann hast du mir die Entscheidung abgenommen und mich zuerst angesprochen.“ Riou lachte leise in sich hinein, schwieg jedoch weiterhin. Jowy schwieg ebenfalls und versuchte, die Gedanken in seinem Kopf endlich zu ordnen. Dann fragte er leise: „Glaubst du wirklich, dass wir eines Tages nach Kyaro zurückkehren werden?“ Er erinnerte sich daran, dass Riou noch in der Nacht ihrer Flucht Nanami beruhigt hatte. Aber hatte er das wirklich so gemeint…? „Keine Sorge“, antwortete Riou. „Das werden wir bestimmt.“ Jowy warf ihm einen Blick zu und nickte dann. „Ja, du hast Recht“, sagte er. „Wenn dieser blöde Krieg endet und sich alles wieder beruhigt hat, gehen wir zurück. Nur wir vier – du, Nanami, Pilika und ich. Wir könnten Genkakus Dojo reparieren und unser Geld verdienen, indem wir seinen Kampfstil unterrichten.“ Er seufzte. „Wir werden einfach… leben. Und ich gehe auf gar keinen Fall noch einmal zur Armee zurück.“ Aus den Augenwinkeln sah er Riou nicken – zumindest glaubte er das. Vielleicht bildete er es sich auch einfach nur ein. Nachdenklich betrachtete Jowy den Mond und überlegte, wie realistisch dieser Traum war. Er musste wieder daran denken, was Nanami gesagt hatte – dass er und Riou wegen den Runen endgültig in den Krieg verwickelt waren. Aber stimmte das? Er hatte die Rune des Schwarzen Schwerts nicht angenommen, weil er sie unbedingt im Krieg benutzen wollte, aber wenn es keine andere Möglichkeit gab… dann würde er sie einsetzen. Auf jeden Fall. „Ich glaube, Nanami hat Recht“, gab er dann leise zu. „Wie meinst du das?“ „Ich kann nur für mich sprechen, aber… während der Zeit, die ich mit Pilika, Marx und Joana in Toto verbracht habe… Ich habe damals zum ersten Mal verstanden, was mir wichtig ist. Ich…“ Jowy hielt inne und schluckte. „Obwohl Pilika mich Onkel nennt und mir bedingungslos vertraut… konnte ich sie trotzdem nicht beschützen.“ „Das ist nicht deine Schuld, Jowy. Das weißt du“, warf Riou sanft ein und der Aristokrat nickte zögernd. Ja, er wusste das… jedenfalls tat es der rational denkende Teil seines Gehirns. Aber der andere konnte einfach nicht umhin, sich die Schuld daran zu geben, dass Pilika zuerst ihre Eltern verloren hatte und dann auch noch ihre Stimme. „Ich habe einen Traum“, flüsterte Jowy nach einer gefühlten Ewigkeit. „Ich möchte dieses Land wieder sicher machen. Damit Kinder wie Pilika umgeben von den Menschen aufwachsen können, die sie lieben. Damit sie ein glückliches Leben führen können, ohne all die Schrecken, die der Krieg mit sich bringt, wohlbehütet an einem Ort, den sie Zuhause nennen können.“ Der Aristokrat sah zu Riou und stellte fest, dass sein Freund ihn mit einem Blick betrachtete, der im Halbdunkel sehr, sehr schwer zu deuten war. „Um das zu gewährleisten, werde ich alles tun, zur Not auch im Krieg… Ich werde kämpfen, mit jedem Bisschen Kraft in meinem Körper.“ Eine Zeit lang sahen sie einander an, dann spürte Jowy eher, dass sein bester Freund lächelte, als dass er es sah, als dieser sagte: „Das ist ein sehr schöner Traum… Ich-“ Riou unterbrach sich, als Pilika plötzlich ein leises Wimmern von sich gab und sich aufrichtete. Den Stoffbären an sich gedrückt, rieb sich das Mädchen müde über die Augen und sah in Jowys Richtung. „Oh“, machte der Aristokrat, „haben wir dich geweckt, Pilika?“ Sie sagte nichts – natürlich nicht und alles war seine Schuld, er hätte sie beschützen müssen, es war seine Pflicht, er hatte versagt – und nickte nur. Die Gewissensbisse wurden stärker. „Es ist spät“, sagte er sanft, während er sich zu dem kleinen Mädchen setzte und ihr übers Haar strich. „Schlaf weiter, ja?“ Pilika tat zögernd wie geheißen, aber nicht, ohne seine Beine als Kissen zu benutzen. Jowy strich ihr sanft über den Rücken und es dauerte gar nicht lange, bis sie tatsächlich wieder eingeschlafen war. Behutsam hob er Pilikas Oberkörper leicht an, um aufzustehen – dabei schob er seine Tasche, auf der sie vorher geschlafen hatte, wieder vorsichtig unter ihren Kopf. „Wir sollten auch schlafen gehen“, flüsterte er anschließend an Riou gewandt, jedoch ohne ihn anzusehen. „Wer weiß, was morgen auf uns wartet…“ In den letzten Wochen hatte er gelernt, dass die einzige Sache, bei der man sich im Bezug auf die Zukunft verlassen konnte, ihre Ungewissheit war. Kapitel 21: Zwei glorreiche Halunken ------------------------------------ Der Morgen kam für Jowys Geschmack ein wenig zu schnell; er fühlte sich, als hätte er kaum die Augen zugemacht, da riss ihn die Stimme des Wachmanns auch schon aus dem Schlaf: „Hey, ihr da! Aufstehen, ihr habt Besuch.“ Er fuhr hoch, mit klopfendem Herzen, und rieb sich erst einmal müde über die Augen, ehe er zu Pilika sah, die, den Stoffbären an sich gedrückt, sich zögernd aufrichtete. Irgendwie glänzten ihre Augen verdächtig feucht… Ohne weiter darüber nachzudenken, stand er auf und ging zu ihr, nahm sie auf den Arm und flüsterte ihr beruhigende Banalitäten ins Ohr. Das Mädchen schlang die Arme um seinen Hals und barg das Gesicht an seiner Brust. Erst dann wandte Jowy den Blick zu Riou und Nanami, die so müde aussahen, wie er sich fühlte, sich jedoch bemühten, einen wachen Eindruck zu machen. In diesem Moment klackte das Schloss der Zellentür ein paar Mal, sie öffnete sich – und Viktor und Flik traten ein, gefolgt von dem Wachsoldaten. „Da seid ihr ja!“, rief Viktor, irgendwo zwischen Erleichterung und Belustigung. „Hab mir schon Sorgen gemacht, ihr würdet es nicht reinschaffen.“ „Vielleicht hättest du die Torwache darauf hinweisen sollen, dass wir noch auf Flüchtlinge warten“, brummte Flik. „Dann wären sie gar nicht erst hier drin gelandet.“ Viktor lachte auf, doch Jowy fand das irgendwie weniger lustig. Er war übermüdet, hungrig und deprimiert – sein Sinn für Humor hatte sich fürs Erste verabschiedet. „Na, schaut nicht so grimmig drein, ihr drei“, gluckste Viktor, nicht im Geringsten schuldbewusst. Aber so war er wohl… Trotz des leichten Ärgers, den Jowy verspürte, wusste er, dass er dem Bären nicht lange böse sein konnte, einfach, weil er so war wie er war. „Lass uns hier raus, alter Mann!“, forderte Nanami. „Los, los!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah vorwurfsvoll zu Viktor auf. Flik seufzte und wandte sich an den Wächter: „Ihr wisst, wer sie sind, also lasst sie raus. Und die anderen drei auch, sie gehören zu uns.“ „Ja, Sir“, nickt der Soldat und beeilte sich, die Tür der Nachbarzelle zu öffnen. „Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!“, hörte Jowy Zamza stöhnen. „Schlafen kannst du noch genug, wenn du tot bist“, brummte Hannas Stimme zurück und gegen seinen Willen musste der Aristokrat grinsen. „Aber euch geht’s gut, ja?“, fragte Viktor und betrachtete die drei Jugendlichen genau. „Ich hab mir wirklich Sorgen gemacht…“ „Wir haben einen kleinen Umweg gemacht“, erwiderte Jowy, „aber uns geht’s gut.“ Pilika drückte sich ein bisschen enger an ihn und er strich über beruhigend über den Rücken. „Irgendwie… seht ihr alle älter aus“, bemerkte Flik stirnrunzelnd. „Stärker.“ „Kann sein“, sagte Riou ausweichend und zuckte die Achseln. Also erst einmal keine Gespräche mehr über Runen, Fallen und Luca Blight… Gut. Jowy bemühte sich, seine rechte Hand irgendwie so zu halten, dass man seinen Handrücken nicht gut erkennen konnte. Er musste sich dringend irgendwo Verbände besorgen, um die Rune zu verdecken. „Na ja“, ergriff Viktor wieder das Wort, „warum geht ihr nicht erst mal zu Leonas neuer Taverne? Da könnt ihr euch ausruhen und frühstücken, eure Zimmer gehen aufs Haus. Und alle anderen sind auch da.“ Jowy runzelte die Stirn und fragte: „Wir werden also nicht bestraft?“ „Quatsch!“, lachte der Söldneranführer dröhnend. „Ihr seid doch nur Kinder. Und außerdem gehört ihr zu mir, also geht das schon in Ordnung.“ Irgendwie hatte Jowy eine Ahnung, dass der Bär sich des Öfteren auf eher unorthodoxe Weisen Zutritt verschaffte… „Na dann…“ Riou schien ebenfalls etwas verwirrt, aber das störte Viktor wohl nicht weiter. „Ihr könnt die Taverne gar nicht verfehlen, sie ist ganz in der Nähe. Oh, und Riou, Jowy, kommt heute Nachmittag zum Rathaus. Da gibt es jemanden, den ich euch vorstellen will.“ „Nur Riou und ich?“, wunderte sich Jowy, doch bevor Viktor oder Flik noch irgendetwas sagen konnten, rief Nanami dazwischen: „Das ist ja so unfair! Warum nur die beiden? Ich will auch mitkommen!“ Die beiden Söldner wechselten einen Blick, dann hob Viktor abwehrend beide Hände und sagte: „Okay, okay, du kleiner Quälgeist. Dann komm halt auch mit. Wir sehen uns dann heute Nachmittag.“ Er hob zum Abschied eine Hand und grinste, Flik murmelte ein paar Abschiedsworte und folgte dem Bären hinaus. Der Wachmann kam zurück und wies auf die Tür: „Los, Kinder, verschwindet.“ Die Jugendlichen ließen sich das kein zweites Mal sagen und verließen eilig die Zelle, auf dem Gang draußen schlossen sie sich Gengen, Zamza und Hanna an. „Ist mit euch alles in Ordnung?“, fragte Riou besorgt und Gengen nickte. „Gengen nur hungrig“, erklärte der Kobold. „Sehr, sehr hungrig.“ „Ich hoffe für diesen Kerl, dass die Betten in dieser Taverne bequem sind“, schnaubte Zamza und warf sich ein paar Haarlocken aus der Stirn. „Und ich hoffe, dass es in dieser Taverne Bier gibt“, knurrte Hanna, die nicht nur müde, sondern auch noch genervt aussah – was Jowy ihr nicht verdenken konnte, immerhin hatte sie die Nacht in einer Zelle mit Zamza verbracht! „Viel Bier.“ Nanami kicherte, dann nahmen sie ihre Waffen wieder in Empfang und die kleine Gruppe begab sich nach draußen. Im ersten Augenblick wurde Jowy von dem grellen Sonnenlicht geblendet, doch dann erkannte er, dass er mitten in einer belebten Straße der Stadt stand. Das Gefängnis hinter ihnen sah ziemlich klein aus und er vermutete, dass es nicht das einzige war. Menschen hasteten geschäftig an ihnen vorbei und keiner kümmerte sich um die Gefährten. „Und wohin gehen wir jetzt?“, fragte Nanami und sah sich verwirrt um. Hannas aufmerksamer Blick glitt über ein paar ältere Passanten, die sich lauthals darüber unterhielten, dass die Tauben jedes Jahr unverschämter wurden und die Statuen im Stadtpark völlig verunstaltet hatten, zu einem Schild, das an dem großen Gebäude schräg gegenüber von ihnen hing. „Taverne Zum Eichenblatt scheint ein guter Anfang zu sein“, sagte die Kriegerin trocken. Sie setzten sich in Bewegung und betraten das schöne, große Haus, das aus weißem Stein gebaut worden war. Kaum, dass sie die Eingangshalle betreten hatten, stieg Jowy sofort der Duft von Frühstück in die Nase – es roch nach Tee und Rührei, wenn er sich nicht stark irrte. Pilika bewegte sich etwas in seinen Armen und er sah sie an, während sein Magen leise knurrte. „Möchtest du wieder runter, Pilika?“ Das Mädchen nickte und er stellte sie vorsichtig zurück auf den Boden. Zu ihrer Linken standen mehrere Tische, die fast alle besetzt waren, zu ihrer Rechten befand sich ein unbesetzter Empfangstisch und am anderen Ende des Raumes erkannte Jowy Leona hinter einem Tresen, die sich angeregt mit einer jungen Frau unterhielt, die ein violettes Kleid mit weißer Schürze darüber trug. Unschlüssig blieb die Gruppe stehen, da bemerkte Leona sie auch schon und eilte zu ihnen herüber. „Da seid ihr ja“, seufzte sie erleichtert. „Viktor hat mir erzählt, was passiert ist. Geht es euch allen gut?“ Pilika schüttelte den Kopf und deutete demonstrativ zu einem Gast hinüber, der gerade in eine dick mit Honig beschmierte Scheibe Brot biss. Leona folgte dieser Bewegung etwas verwirrt, dann lachte sie und sagte: „Ach, ich verstehe. Ihr habt bestimmt Hunger.“ Pilika nickte zufrieden und nahm ergriff Jowys Hand. „Sucht euch einen Tisch und setzt euch“, forderte die Barfrau die Gefährten auf, „ich bringe euch euer Frühstück sofort.“ Nach dem Frühstück zog sich jeder auf sein Zimmer zurück und Jowy war es ganz recht so – er war noch immer in dieser seltsamen Laune, die ihn in der Nacht befallen hatte, und wusste nicht recht, ob er schon bereit war für den Besuch der Einkaufsstraße, den Nanami mit Pilika plante. „Pilika braucht ein neues Kleid“, hatte sie gesagt, während sie und das kleine Mädchen vor Riou und Jowy die Treppe in den ersten Stock hinaufgegangen waren. „Ihr altes ist völlig verdreckt!“ Jowy hatte beim besten Willen nicht sagen können, dass er das genau so sah – immerhin war Pilika weder durch schlammige Kanäle gewatet, noch war sie von Kopf bis Fuß mit Zyklopenblut bespritzt gewesen. Wie dreckig konnte ein Kleid schon werden? Aber wahrscheinlich hatte er von diesen Dingen einfach keine Ahnung. Er selbst sehnte sich nur nach einem Bad, um endlich den Dreck von sich abzuwaschen, den er seit dem Fall des Söldnerforts mit sich herum schleppte. Sie hatten Hilda und Alex nicht noch weiter belästigen wollen und abgewinkt, als die beiden ihnen vorgeschlagen hatten, ein Bad zu nehmen. Aber jetzt, wo der eingetrocknete Schmutz seine Hosenbeine unangenehm steif machte, wünschte er sich sehnlichst einen Stapel frische Kleidung und eine Möglichkeit, sich zu waschen. Glücklicherweise hatte Leona an dieses Problem gedacht und den Jungen zwei Garnituren der Ersatzwäsche der Söldner mitgegeben. So war die Hose, in die Jowy etwa eine Stunde später schlüpfte, zwar etwas zu lang und das Hemd an den Handgelenken etwas zu kurz, aber wenigstens war beides sauber, genau wie die Bandagen, die er sich von Hanna erbeten hatte, um damit seine rechte Hand zu verbinden. Er krempelte die Ärmel hoch und stieg in seine Stiefel, dann drehte er sich zu Riou um, mit dem er sich das Zimmer teilte. „Und was jetzt?“, fragte er zögernd. Einerseits wollte er nicht den ganzen Tag im Zimmer hocken – warum war er plötzlich so aufgekratzt? – und andererseits waren es noch ein paar Stunden, bis sie Viktor im Rathaus treffen sollten. Riou, der auf seinem Bett gesessen und aus dem Fenster geschaut hatte, während Jowy sich umgezogen hatte, zuckte die Achseln. Auch ihm passte die neue Kleidung nicht perfekt, aber der Aristokrat fand, dass es hätte schlimmer kommen können – zum Beispiel, wenn er so groß wie Rikimaru gewesen wäre und ihm nur Viktors Ersatzhemden gepasst hätten. „Nanami will mit Pilika einkaufen gehen“, überlegte Riou laut, „aber ehrlich gesagt… möchte ich mir lieber die Stadt ansehen. Was sagst du?“ „Ich auch“, nickte Jowy. Allein beim Gedanken daran, mit Nanami von Laden zu Laden zu ziehen, wurde ihm unwohl. Das hatte er schon als Kind mit seiner Mutter verabscheut… es aber trotzdem immer brav mitgemacht, weil er sie sonst kaum gesehen hatte. „Aber können wir die beiden einfach allein lassen?“ Wer wusste schon, was Nanami noch alles einfiel… „Ich denke schon“, erwiderte Riou lächelnd. „Sie wird schon nichts anstellen. Hoffe ich.“ Die Jungen lachten und dann wurde die Tür plötzlich unsanft aufgestoßen. Es war Nanami, die Pilika an der Hand hielt und irgendwie wild entschlossen aussah. Plötzlich hoffte Jowy wirklich, dass sie nichts anstellen würde… „Los, los!“, rief Nanami, die sich offensichtlich ein Kleid von den Bedienungen des Gasthauses geliehen hatte. Es stand ihr zwar, war aber so ungewohnt, dass Jowy sie überrascht anstarrte. Nanami bemerkte seinen Blick und hob fragend die Brauen, schien dann jedoch zu verstehen und sah an sich hinunter. „Es gab nichts Anderes“, erklärte sie achselzuckend und errötete leicht. „Ich weiß, dass es komisch aussieht!“ Sie zupfte am Saum des Kleides herum. „Egal, lasst uns gehen. Sonst kommen wir nachher noch zu spät zum Rathaus.“ „Warum teilen wir uns nicht auf?“, schlug Jowy schnell vor. „Dann kannst du mit Pilika einkaufen gehen… Es reicht doch, wenn wir uns in zwei Stunden wieder hier treffen, dann sind wir immer noch pünktlich da.“ „Hm“, machte Nanami nachdenklich, grinste dann jedoch und nickte. „Das ist eine gute Idee. Du bist wirklich ganz schön clever, Jowy!“ Er verzichtete darauf, ihr zu sagen, warum er diese Idee überhaupt äußerte. Stattdessen wandte er sich an Pilika und fragte: „Ist das okay, wenn du mit Nanami einkaufen gehst?“ Das Mädchen schien kurz hin- und hergerissen zu sein, nickte dann jedoch und sah dabei so fröhlich aus, dass er fast schon erwartete, dass sie anfing zu lachen. Aber nur fast. Sie verließen die Taverne zwar gemeinsam, trennten sich jedoch auf der Straße. „Also, in zwei Stunden wieder hier!“, rief Nanami und winkte den Jungen enthusiastisch zu, ehe sie mit Pilika in der Menschenmenge verschwand. Jowy und Riou sahen ihnen noch einen Moment nach, dann setzten auch sie sich in Bewegung, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Sie spazierten durch den Park, dessen Statuen tatsächlich etwas in Mitleidenschaft gezogen worden waren, und Jowy stellte fest, dass sie bei ihrem letzten Besuch in Muse kaum etwas von der Stadt gesehen hatte. Sie war riesig, noch mehr als er gedacht hatte. Eine Weile hörten sie einem Mädchen zu, das auf einem großen Platz stand und ein paar Lieder sang, während sie von zwei Männern musikalisch begleitet wurde. Jowy verstand nicht unbedingt etwas von Musik, aber er musste dem Mädchen zugestehen, dass sie eine sehr schöne Stimme hatte. Nachdem sie den Park verlassen hatten, betraten sie das Handelsviertel von Muse. Jowy fiel auf, dass die Händler, die noch vor wenigen Wochen teure Stoffe, antike Vasen und erlesenes Essen angepriesen hatten, jetzt Rüstungen und Waffen zu verkaufen schienen. Das war wohl der letzte Beweis, dass der Krieg wieder tobte… Nicht, dass Jowy noch einen Beweis gebraucht hatte; er wusste es, seit das Dorf Toto gefallen war. Sie bogen in eine Seitenstraße ein, um einem besonders aufdringlichen Händler zu entkommen, und waren gerade wieder unterwegs zurück , als jemand hinter ihnen zischte: „Hey, Jungs. Kann ich euch um einen Gefallen bitten?“ Erschrocken fuhr Jowy herum und erkannte eine große, blonde Frau hinter sich, die halb im Schatten stand. Ihre Haare berührten kaum ihre Schultern und verdeckten das linke Auge halb, aber die gewaltige Narbe, die quer über ihre Gesicht zog, konnten sie nicht verbergen. Sie trug einen weiten, weißen Umhang, der einen Großteil ihrer Kleidung bedeckte, aber er erhaschte einen Blick auf ein blaues Oberteil mit tiefem Ausschnitt und eine schwarze Hose. „Äh, was?“, stotterte der Aristokrat irritiert. Wo war sie so plötzlich hergekommen? „Worum geht es?“, fragte Riou stirnrunzelnd, der sich irgendwie schneller fasste als Jowy. Die Frau stieß ein Seufzen aus, dann sah sie sich irgendwie gehetzt um und sagte gepresst: „Ein sehr, sehr böser Mann ist hinter mir her und ich will nicht wissen, was er mir antut, wenn er mich in die Finger bekommt. Könntet ihr auf das hier aufpassen?“ Sie holte zwei verschnürte Päckchen hervor und sah die Jungen flehend an. Riou und Jowy tauschten einen verwirrten Blick, dann nickte der Jüngere und erwiderte: „Natürlich.“ „Vielen Dank“, wisperte die Frau, nun eindeutig erleichtert, und übergab ihnen die beiden Päckchen. „Trefft mich in einer halben Stunde vor den Stadttoren.“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich auf dem Absatz um und verschwand mit wehendem Umhang in der Dunkelheit der Gässchen von Muse. „Was war das?“ Jowy betrachtete die zwei Pakete in Rious Armen und runzelte die Stirn. Sein bester Freund zuckte die Achseln und entgegnete: „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber wir sollten uns beeilen, wenn wir sie in einer halben Stunde treffen sollen…“ Sie setzten sich wieder in Bewegung und kehrten zurück auf die große Straße, wo Jowy die Pakete in seiner Tasche verstaute. Er traute der Frau kein Stück, aber wenn sie Recht hatte und sie wirklich von einem Mann verfolgt wurde, dann gab es wohl einen guten Grund dafür. Waren vielleicht die Pakete…? In jedem Fall fühlte er sich sicherer dabei, wenn er die Päckchen nicht der ganzen Welt zur Schau stellte und sie so schnell wie möglich wieder los wurde. Als sie das Handelsviertel fast wieder verlassen hatten, kam ihnen ein hochgewachsener Mann in einem auffälligen, schwarzen Umhang entgegen. Unter seiner Kapuze blitzten ein paar blonde Haarsträhnen hervor und der Blick seiner braunen Augen war jenseits von grimmig. „Wo sind sie?“, hörte Jowy ihn murmeln, als die Jungen ihn passierten. „Sturm spürt sie, Mond und Stern sind hier irgendwo…“ Der Aristokrat schauderte und wollte gerade seinen Schritt beschleunigen, als der Mann plötzlich rief: „Hey, ihr da!“ Sie hielten inne und wandten sich zögernd zu ihm um. Er kam ihnen unangenehm nah und fragte fordernd: „Habt ihr hier eine große, blonde Frau gesehen?“ Jowy lief es kalt den Rücken runter. War das der Mann, von dem die Fremde gesprochen hatte? Nun, da er ihn selbst gesehen hatte, glaubte er irgendwie sofort, dass er böse war… „Nein, tut mir leid“, antwortete Riou ohne mit der Wimper zu zucken. Die Miene des Mannes verdüsterte sich noch etwas, dann brummte er mehr zu sich selbst denn zu den Jungen: „Nein, wahrscheinlich nicht… Aber diesmal entkommt sie mir nicht!“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich wieder um und eilte durch die Menschenmassen weiter. „Ich kann verstehen, dass sie wegläuft“, bemerkte Jowy kopfschüttelnd. „Lass uns gehen.“ Als sie etwa eine halbe Stunde später die Stadttore erreichten, entdeckten sie die blonde Frau sofort. Sie suchte mit den Augen aufmerksam die Menge ab und als sie die Jungen entdeckte, ging sie zielstrebig auf sie zu. „Danke“, sagte die Fremde, als Jowy ihr die Päckchen übergab. „Ich kann euch nicht viel geben, aber nehmt das.“ Sie reichte ihnen einen kleinen Beutel, in dem Münzen klimperten, und wollte anscheinend gerade gehen, als jemand laut rief: „Ich habe dich gefunden… Elza!“ Riou und Jowy fuhren herum und entdeckten zwischen all den Menschen auf der Hauptstraße den Mann mit dem schwarzen Umhang. Um ihn herum war die Menge zum Stehen gekommen und tuschelte aufgeregt. „Clive…“ All die Gehetztheit fiel schlagartig von der Frau ab. Fast schon gelangweilt sah sie zu dem Mann hinüber und schien abzuwarten, was er als Nächstes tun würde. „Habe ich dich endlich eingeholt“, sagte der Mann, kam jedoch nicht näher; er schien unter seinem Umhang etwas zu umklammern. „Als Offizier der Gilde der Heulenden Stimmen werde ich zusehen, dass du für dein Verbrechen zahlst!“ Und dann wurde Jowy plötzlich zur Seite gestoßen und landete schmerzhaft auf den Pflastersteinen. Als er aufsah, stellte er jedoch entsetzt fest, dass sie Frau die beiden Päckchen aufgerissen hatte und zwei Waffen zutage gefördert hatte, mit denen sie direkt an Rious erstarrtem Körper vorbei auf den Mann zielte. Vor Schreck konnte sich Jowy nicht einmal aufrichten. Gilde der Heulenden Stimmen? Jene geheimnisvolle Organisation aus dem fernen Harmonia, über die es mehr Gerüchte als wahre Geschichten gab? Er wusste selbst auch nicht viel darüber, nur dass es sich um eine Gilde von Scharfschützen handelte… Aber dann bedeutete das ja…! „Kannst du schießen, Schütze?!“, schrie die Frau mit einem gefährlichen Funkeln in ihren Augen. Riou war zu einer Säule erstarrt, während die beiden Pistolen viel zu dicht an seinem Körper lagen und auf den Mann zielten. Diese Elza benutzte ihn als lebenden Schutzschild! Denn ihr Verfolger hatte ebenfalls eine Waffe hervorgeholt und zielte damit direkt auf ihren Kopf, knapp oberhalb von Rious. „Aus dem Weg, Junge!“, brüllte er ihm zu, doch die Frau zischte: „Keine Bewegung, Kleiner.“ Später hätte Jowy nicht mehr sagen können, ob Clive geschossen hatte – Elza hatte es auf jeden Fall getan, da seine Ohren noch Minuten später von dem Geräusch klingelten. Die Menge schrie auf, als der Mann sich zur Seite warf und abrollte, während die Frau triumphierend herumfuhr und durch das Tor schlüpfte, das sich gerade für einen Bauern auf einem Pferdekarren geöffnet hatte. „Diesmal entkommst du mir nicht!“, rief Clive Elza hinterher, sprang auf die Beine und folgte ihr, dann verschwanden beide außer Sicht – gefolgt von einer Gruppe Wachmänner, die die beiden Störenfriede offensichtlich hinter Schloss und Riegel bringen sollte. „Weißt du“, sagte Jowy leise, während er sich aufrichtete und versuchte, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen, „manchmal bin ich wirklich froh, auf dem Land großgeworden zu sein.“ Der zu Recht käsebleiche Riou nickte nur. Kapitel 22: Anabelle -------------------- Sie beeilten sich, zurück zu Leonas Taverne zu kommen. Zu Jowys Erstaunen waren die zwei Stunden schon vergangen und außerdem hatte er nicht unbedingt das Bedürfnis, wegen des Vorfalls mit den beiden Schützen verhört zu werden. Nicht, dass sich nachher noch herausstellte, dass sie einer steckbrieflich gesuchten Verbrecherin geholfen hatten… „Ist mir dir alles in Ordnung?“, erkundigte er sich bei Riou, während sie in die Straße einbogen, die zum Eichenblatt führte. „Ich denke schon“, antwortete dieser. Nur langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. „Aber ich glaube, es ist besser, wenn wir Nanami nichts davon erzählen…“ Damit war Jowy völlig einverstanden. Als sie die Taverne betraten, hörten sie auch schon Leonas Stimme, die aus irgendeinem Grund irgendwo zwischen genervt und ungläubig rangierte: „… und ich will dich nie wieder da drin sehen, hast du mich verstanden?“ „Ja…“ Leona, Nanami und Pilika standen neben einem der Tische im linken Teil des großen Raumes und die Barfrau fixierte das ältere Mädchen mit verschränkten Armen. „Ich kann nicht glauben, dass man dich in die Küche gelassen hat…“, seufzte Leona und schüttelte den Kopf. Dann kehrte sie leise murmelnd hinter ihren Tresen zurück, eine zerknirschte Nanami und Pilika zurücklassend. Jowy fiel auf, dass Nanami eine Schürze trug. Riou schnupperte und fragte dann laut: „Hast du etwa Eintopf gekocht, Nanami?“ Seine Schwester wandte sich schmollend zu ihm um und rief: „Ja, habe ich! Und? Ich kann kochen!“ „Das habe ich gesehen“, brummte Leona jenseits des Tresens. „Der arme Mann ist deinetwegen ohnmächtig umgefallen!“ „Du hast es geschafft, jemanden mit deinem Essen außer Gefecht zu setzen?“, wiederholte Jowy weniger ungläubig als eher fasziniert. Er hatte ja gewusst, dass man Nanami lieber nicht in die Nähe einer Küche ließ – obwohl Riou schwor, dass zumindest ihr Eintopf essbar war (wenn man einen starken Magen hatte) – aber bisher war noch niemand davon umgefallen. „Da kann ich nichts für!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich demonstrativ beleidigt ab. Riou unterdrückte ein Lachen und zog es vor, das Thema zu wechseln. Er sah zu Pilika und fragte: „Hattest du Spaß beim Einkaufen?“ Das kleine Mädchen nickte, doch diesmal öffnete sie nicht einmal mehr den Mund, um zu probieren, ob ein Ton hervorkommen würde. Stattdessen drehte sie sich einmal im Kreis und präsentierte stolz das Kleid, das sie trug. Erst jetzt fiel Jowy auf, dass es ein anderes war – der Schnitt unterschied sich vom alten und es hatte auch eine etwas andere Farbe. „Sehr hübsch“, kommentierte er und lächelte Pilika zu. Sie strahlte ihn an, als wenn einzig seine Meinung gezählt hätte, dann lachte sie lautlos. Jowy ignorierte den Stich in seinem Herzen und blickte zu Leona. „Wir sollen Viktor im Rathaus treffen. Kannst du vielleicht solange auf Pilika aufpassen?“ Die Barfrau sah ihn einen Moment lang skeptisch an, nickte dann jedoch und erwiderte: „Kein Problem. Aber ihr solltet euch jetzt beeilen… Ihr wollt den Kerl nicht warten lassen, oder?“ Sie verabschiedeten sich von Pilika und versicherten ihr, dass sie bald wieder kommen würden, dann ließen sie sich von Leona den Weg beschreiben. Anschließend verließen sie die Taverne und gingen im Eilschritt die Hauptstraße hinunter, die sie Leona zufolge direkt zum Rathaus führen würde. Und tatsächlich – schon bald hob sich das riesige Gebäude aus weißem Stein deutlich von den anderen Häusern der Stadt ab. Eine Treppe führte hinauf zu der großen Eingangstür, die von Marmorsäulen flankiert und erstaunlicherweise unbewacht war. Beeindruckt betraten die drei das Rathaus und fanden sich in einer gewaltigen Eingangshalle wieder, deren Marmorboden so sauber war, dass Jowy sein Spiegelbild darin erkennen konnte. Durch die Halle hetzten wichtig aussehende Menschen und die Jugendlichen beeilten sich, einem Mann auszuweichen, der sie in seiner Eile beinahe umrannte. Er hatte kurzes, dunkles Haar, das von einem roten Stirnband eher nachlässig aus seiner Stirn gehalten wurde, einen Dreitagebart und trug ein kurzärmeliges, hellgrünes Hemd mit einer dunkelgrünen Überwurf darüber, den er um die Hüfte mit einem roten Stoffgürtel fixiert hatte, und eine graue Leinenhose. „Oh, tut mir leid, Kinder“, entschuldigte der Mann sich hastig und fuhr sich durch das ohnehin zu allen Seiten abstehende Haar. „Aber ich bin leider etwas spät dran. Oh, er wird mich umbringen…“ Mit diesen Worten lief er auch schon davon, die gewaltige Marmortreppe am anderen Ende des Raumes hoch, und verschwand aus ihrer Sicht. „Vorgesetzte scheinen überall gleich zu sein“, murmelte Nanami nachdenklich, doch bevor Riou oder Jowy etwas dazu sagen konnten, ertönte auch schon Viktors Bass neben ihnen: „Da seid ihr ja!“ Jowy sah zur Seite und entdeckte den Söldneranführer sofort. Selbst wenn die Halle zum Bersten gefüllt gewesen wäre, hätte man ihn wohl immer noch über allen anderen erkannt… Er kannte keinen anderen Mann, der so groß war. „Ihr seid ein bisschen spät, aber das macht nichts“, fuhr Viktor ungerührt fort, nachdem er bei ihnen angekommen war und bedeutete, ihm zu folgen. „Sie ist immerhin eine sehr beschäftigte Lady.“ Diese Erklärung erschloss sich dem Aristokraten nicht unbedingt. „Wen werden wir denn treffen?“, fragte er verblüfft. „Das seht ihr noch früh genug!“, lautete Viktors kryptische Antwort. „Gehen wir.“ Er führte sie die Treppe hinauf und einen langen Gang entlang, in dem ein teuer aussehender, langer Teppich den Marmorboden vor Dreck schützte. Insgeheim wunderte sich Jowy ja, woher jemand wie Viktor jemanden kennen konnte, der im Rathaus von Muse arbeitete. Sicher, der Bär konnte charmant sein, wenn er wollte – auf eine eigentümliche Art zwar, aber immerhin – aber eine wichtige politische Bekanntschaft traute er ihm irgendwie nicht zu. Denn politisch musste diese Bekanntschaft auf jeden Fall sein, da sicher nur Beamte in der Regierung von Muse tätig waren… Oder? War es letztendlich vielleicht Flik gewesen, der diese Beziehung gepflegt hatte? Der Blaue Blitz erschien Jowy auf jeden Fall geeigneter für so etwas und außerdem… „Da sind wir auch schon!“, verkündete Viktor plötzlich und Jowy verfluchte sich wieder einmal dafür, dass er sich zu sehr von seinen Gedanken hatte ablenken lassen. Er sah sich um und stellte fest, dass sie vor einem etwas gelangweilt aussehenden Soldaten angehalten hatten, der sie eher milde interessiert fixierte. „Viktor, nicht wahr?“, sagte er und wies dann hinter sich. „Geht durch.“ Der Söldneranführer ließ sich das nicht zwei Mal sagen und ging an dem Soldaten vorbei, geradewegs auf eine Tür zu, durch die er ohne anzuklopfen trat. Die Jugendlichen tauschten einen Blick und folgten ihm schnell. Sie fanden sich in einem Vorzimmer wieder, das durch teuer aussehende Vorhänge von dem eigentlichen Raum getrennt wurde. An der rechten Wand stand ein Sofa, auf das sich Wartende wahrscheinlich setzen sollten, an der gegenüberliegenden hing das Portrait eines grimmigen Mannes. Die Gravur darunter wies ihn als Bürgermeister Darrel von Muse aus. Jenseits der Vorhänge ertönte eine leicht genervt klingende, tiefe Frauenstimme: „Dann sagt ihnen, dass sie sich mit der Entscheidung beeilen sollen. Diese Leute aus Tinto sind doch alle gleich…“ Ein Seufzen. „Entsendet Fitcher als Boten, er wird uns nicht enttäuschen.“ „J-Ja, natürlich“, erwiderte eine Männerstimme, die Jowy auf Anhieb als unsympathisch empfand. „Wie immer ist Euer Urteil über alles Andere erhaben, Lady A-“ „Ich habe keinerlei Lust, mir dieses Geschleime weiter anzuhören!“, unterbrach die Frauenstimme den Sprecher. „Geht jetzt. Ich habe keine Zeit für Menschen, deren Mund schneller ist als ihre Füße.“ „Na-Natürlich, Mylady!“ Schritte, dann schob ein Mann der Marke Beamter die Vorhänge beiseite und eilte an ihnen vorbei durch die Tür. Viktor lachte und rief, noch während er durch die Vorhänge trat: „Ich habe dich schon Hunderte Male bei der Arbeit gesehen, aber du erstaunst mich immer wieder!“ Als Jowy, Riou und Nanami ebenfalls ins eigentliche Büro getreten waren, sahen sie eine große, rothaarige Frau hinter dem robusten Eichentisch, der direkt vor einem der riesigen Fenster stand, die den Raum in ein angenehm warmes Licht tauchten. Die Frau wandte den Kopf und schien drauf und dran zu sein, eine unfreundliche Antwort zu geben, doch als sie Viktor erkannte, schlich sich ein sanfter Ausdruck in ihre grün-braunen Augen. „Viktor“, sagte sie lächelnd und erhob sich, „du bist ja wirklich gekommen!“ Damit ihr die langen, gelockten Haare nicht ins Gesicht fielen, hatte sie ein blaues Tuch als Bandana umgebunden. Sie trug ein ebenso blaues Oberteil ohne Ärmel mit einer orangen Weste mit Fellbesatz am Kragen und eine enganliegende, sandfarbene Hose, die gemeinsam mit den Stiefeln auf hohem Absatz ihre langen Beine noch mehr betonte. Die Frau kam hinter ihrem Tisch hervor und umarmte Viktor unter dem grimmigen Blick des Mannes, der noch immer neben ihrem Schreibtisch stand. Jowy fiel auf, dass sie fast so groß wie Viktor war. „Dann ist es also wahr?“, fragte die Frau, während sie den Söldner wieder losließ. „Ich habe gehört, dass du dein Fort verloren hast…“ „Das und einiges mehr“, nickte der Bär ein bisschen düster, grinste sie dann jedoch aufmunternd an. Die Frau seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich halb von ihren Besuchern ab. „Sie haben ja nicht lange gebraucht, um den Friedensvertrag zu brechen. Dieser Luca Blight ist ein wahres Monster…“ Sie schüttelte den Kopf und warf Viktor ein bitteres Lächeln zu. „Ich fürchte, dieser Krieg wird erst dann endgültig vorbei sein, wenn entweder der Staatenbund oder das Königreich Highland in Schutt und Asche liegen.“ „Er ist völlig wahnsinnig“, stimmte Viktor ihr zu. „Ein Wolf, der mit dem Geruch von Feuer und dem Geschmack von Blut großgeworden ist… Dass man ihm nicht trauen kann, steht außer Frage.“ Die Frau seufzte erneut, diesmal schwerer, dann lehnte sie sich gegen die Kante ihres Schreibtisches und ließ ihren Blick über die Jugendlichen schweifen. Der sanfte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden. „Was sind das für Kinder?“, fragte sie interessiert. Irgendwie konnte Jowy diese Frau gut leiden, obwohl er sie gerade erst getroffen hatte – aber irgendwie schienen Freunde von Viktor automatisch sympathisch zu sein. „Das sind Riou und Jowy“, stellte der Bär die Jungen vor. Dann grinste er etwas und fuhr fort: „Und dieser kleine Wildfang hier ist-“ „Ich heiße Nanami!“, unterbrach Nanami ihn empört und Viktor lachte. „Ja, ja. Das ist Nanami.“ Die Frau grinste breit und nickte ihnen zu. „Mein Name ist Anabelle“, sagte sie. „Freut mich, euch kennen zu lernen.“ Jowy hatte nicht gedacht, dass eine Frau so wenig mütterlich sein konnte. Sogar Hanna hatte eine Schwäche für Kinder, von Leona, Hilda und Joanna ganz zu schweigen. Aber… Anabelle? Wie die Bürgermeisterin von Muse? Das Oberhaupt des Stadt-Staatenbunds von Jowston?! Oh. Er schluckte und zwang sich, sich zusammenzureißen und die Bürgermeisterin nicht mit offenem Mund anzustarren. „Gleichfalls“, sagte Riou indes und lächelte. „Diese drei und noch ein kleines Mädchen namens Pilika“, erzählte Viktor weiter. „Kannst du noch vier unterbringen? Ich würde sie ja bei mir behalten, aber du weißt wie das ist – man weiß nicht, wann der Krieg ruft…“ „Du kannst sie schlecht mit dir nehmen, ja…“, nickte Anabelle abwesend. Sie betrachtete Jowy nachdenklich und er spürte, wie er unter ihrem Blick etwas zusammenschrumpfte. „Jowy… Atreides?“, fragte sie dann und beim Klang seines Nachnamens zuckte er zusammen. Das hatte er nicht erwartet. „Woher kennt Ihr meinen Namen…?“ „Es gibt einen Landadligen in Highland, der so heißt“, erklärte die Bürgermeisterin. „Und so weit ich weiß, hat er einen Sohn mit diesem Namen. Nicht wahr, Jess?“ Sie blickte zu dem grimmig dreinblickenden Mann herüber, der sofort ein freundlicheres Gesicht machte, als Anabelle ihn ansah. Er hatte dunkelbraunes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und braune Augen, doch im Gegensatz zu Rious suchte man dort vergebens nach Wärme. Er trug ein weißes Hemd mit einer grauen Weste mit dunklen Nadelstreifen darauf, eine beige Krawatte und eine sandgelbe Hose – und selbst ohne den etwas feindseligen Ausdruck in den Augen, mit denen er die Jugendlichen bedachte, wusste Jowy, dass er diesen Kerl nicht ein bisschen leiden konnte. „Der ältere von zwei Söhnen“, bestätigte Jess mit einem leichten Nicken in Anabelles Richtung. „Momentan ist er ein Flüchtiger, der in Highland des Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt ist. Es heißt, Marcel Atreides habe ihn enterbt.“ Einen Moment lang bekam Jowy keine Luft mehr. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus und er ballte hilflos die rechte Hand zur Faust. Jedes Wort hatte ihm einen weiteren Stich ins Herz versetzt… „Jess“, tadelte Anabelle ihren Assistenten halblaut und Jowy spürte ihren mitleidigen Blick auf sich. Seine Fingernägel gruben sich tief ins Fleisch seiner Hand und er spürte, wie er zitterte. Seine Hand tat weh. Er sah wieder das Gesicht seiner Mutter vor sich, die Enttäuschung in ihren Augen. „Ab heute bist du kein Atreides mehr“, klang die Stimme seines Stiefvaters in seinen Ohren und er bemerkte plötzlich, dass ihm unglaublich schlecht war. Oh, bei den Runen… wenn er sich nicht sofort zusammenriss, würde er sich hier und jetzt übergeben! Mühsam zwang sich Jowy, in die Gegenwart zurückzukehren. Meister Genkaku hatte Recht – ein Mann sollte nicht im Schatten seiner Vergangenheit leben. Er durfte sich nicht davon beherrschen lassen… sondern musste nach vorn sehen. Anabelle hatte inzwischen ihre Aufmerksamkeit den Geschwistern zugewandt und konzentriert die Stirn gerunzelt. „Ihr beiden… Heißt euer Adoptivvater Genkaku?“, fragte sie. Jowy vertrieb sein eigenes Unwohlsein aus seinem Kopf und sah zwischen der Bürgermeisterin und seinen Freunden hin und her. Viktor gab ein seltsames Geräusch von sich, als ob er sich verschluckt hätte. Was im Namen der 27 Wahren Runen war hier los…? „Woher wisst Ihr das?“, fragte Nanami verblüfft. „Kennt Ihr Großvater?“ „So würde ich das nicht sagen“, entgegnete Anabelle ausweichend. „Aber ich habe gehört, dass Meister Genkaku zwei Kinder adoptiert hat… und wenn ich mich richtig erinnere, waren ihre Namen Riou und Nanami. Also stimmt es?“ „Nun, ja…“, nickte Riou verwirrt. „Aber was…?“ „’Meister’ Genkaku?“, wurde er von Nanami unterbrochen. Sie warf Jowy einen Blick zu; nur er hatte ihren verstorbenen Lehrmeister so genannt. „Du meinst doch nicht…“, begann Viktor, ließ die Frage jedoch offen. Er betrachtete die Jugendlichen ungläubig. Anabelle sah zu ihm und schüttelte den Kopf, kurz blitzte wieder der sanfte Ausdruck in ihren Augen auf. „Nicht, Viktor. Ich erzähle es ihnen selbst, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Bis dahin…“ Sie unterbrach sich und lächelte. „Geht es Meister Genkaku gut?“ Jowy biss sich auf die Lippe. Noch eine unerfreuliche Erinnerung… Allmählich verspürte er das Bedürfnis, in sein Bett in Leonas Taverne zu kriechen und die nächsten paar Tage nicht mehr rauszukommen. „Großvater Genkaku… ist letztes Jahr gestorben…“, flüsterte Nanami betrübt. „Das tut mir leid“, sagte Anabelle leise und seufzte. „Dann konnten wir also die Verbrechen gegen ihn nicht wieder gut machen…“ „Verbrechen wieder gut machen?“ Riou hatte die Stirn gerunzelt und sah die Bürgermeisterin durchdringend an. Eines musste Jowy ihr lassen – sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen. Er hätte unter diesem Blick längst nachgegeben und seinem Freund alles erzählt, was dieser hören wollte… Aber wahrscheinlich war es die tägliche Arbeit mit Politikern, die Anabelle abgehärtet hatte. „Lasst uns darüber reden, wenn wir mehr Zeit haben“, schlug sie vor. „Momentan muss ich mich um die Highland-Armee kümmern, die direkt vor unserer Grenze campiert…“ Sie atmete durch und blickte zu ihrem Assistenten herüber. „Jess, ich lasse die drei in deiner Obhut.“ Irgendwie hatte Jowy das Gefühl, dass Jess jeden anderen, der ihm befohlen hätte, auf sie aufzupassen, wohl nur mit einem herablassenden Blick bedacht hätte. So jedoch neigte er den Kopf und erwiderte: „Wie Ihr wünscht, Mylady.“ Er ging zu den Jugendlichen herüber und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Widerwillig tat Jowy wie geheißen; viel lieber wäre er hier bei Anabelle geblieben. Er wollte wissen, wovon sie und Viktor gesprochen hatten… beziehungsweise was sie ihnen verschwiegen. Jess führte sie hinaus in den Gang vor Anabelles Büro und Jowy fiel auf, dass sich sein Gesichtsausdruck verdüsterte, als er an Viktor vorbei ging. Da hatte er Söldner anscheinend keinen Freund in dem Beamten gefunden… Doch als sie draußen auf dem Gang standen, wirkte Jess nicht mehr ganz so feindselig – was nicht hieß, dass Jowy ihn dadurch lieber mochte. „Ihr habt völlige Bewegungsfreiheit hier im Rathaus“, erklärte der Assistent. „Das heißt, ihr könnt in die Stadtbibliothek und auch hier ins Museum. Solange ihr niemanden bei der Arbeit behindert, geht das völlig in Ordnung. Aber bitte stört Lady Anabelle nicht, sie hat zurzeit viel um die Ohren…“ Er warf einen Blick zurück zu der Tür, durch die sie soeben getreten waren, und schüttelte irgendwie missbilligend den Kopf. Dann sah er wieder zu den Jugendlichen. „Wenn ihr etwas braucht, fragt einfach. Entschuldigt mich jetzt, ich muss noch ein paar Dinge erledigen.“ Jess entfernte sich schnell und an der Art, wie er ging, erkannte Jowy ohne Mühe, dass er froh war, sie losgeworden zu sein. Warum auch nicht, sie waren ja nur Kinder, die man nicht mit in den Krieg nahm… Noch im Söldnerfort hatte Viktor ganz anders geklungen. Aber andererseits war das Fort gefallen und mit ihm alles, was der Bär sich aufgebaut hatte… „Was für ein unfreundlicher Kerl“, schnaufte Nanami und streckte Jess’ Rücken, der soeben hinter einer Biegung verschwand, demonstrativ die Zunge raus. Riou wandte sich besorgt zu Jowy um und fragte: „Ist mit dir alles in Ordnung?“ In Ordnung? Wohl kaum. Aber wenn er sich seinen verdrängten unangenehmen Erinnerungen jetzt hingab, würde er hier und jetzt einen Heulkrampf bekommen… „Mhh…“ Seine Antwort war in dem Sinne keine, aber Riou ließ es dabei bewenden. „Und was jetzt?“, fragte der braunhaarige Junge stattdessen. „Warum schauen wir uns nicht etwas um?“, schlug Nanami vor, die der Richtung, in der Jess verschwunden war, noch einmal einen bösen Blick zuwarf. „Umschauen? Du bringst uns doch nur wieder in Schwierigkeiten…“, bemerkte Jowy stirnrunzelnd. „Überhaupt nicht! Und außerdem hat er doch gesagt, dass wir völlige Bewegungsfreiheit haben.“ Riou unterbrach das Geplänkel, indem er lachte und dann erwiderte: „Er hat doch etwas von einer Bibliothek gesagt. Ehrlich gesagt, gibt es da ein paar Dinge, die ich nachlesen möchte…“ Er begegnete Jowys Blick und der Aristokrat verstand. Sie gingen auf direktem Weg zur riesigen Bibliothek, die sich mit im Rathausgebäude befand, ohne auf Nanamis Proteste zu hören, dass Bücher langweilig waren und es sicher zehntausend andere Dinge gab, die man sich hätte anschauen können. Aber es ging nicht darum, ob ein Besuch in der Stadtbibliothek von Muse langweilig war – sondern viel eher darum, dass sie noch immer nicht wussten, was es wirklich mit den Runen auf sich hatte. Irgendwie wünschte sich Jowy sehr, sehr dringend Leknaat herbei, um sie darüber ausfragen zu können… aber natürlich würde die Hüterin der Torrune nicht einfach so erscheinen, nicht wahr? Als sie die Bücherei betraten, blieb Jowy der Mund offen stehen; eine so riesige Ansammlung von Büchern hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Sicher, die Atreides-Familie verfügte selbst über eine ganz passable Sammlung an antiken Schriften und seltenen Büchern, aber damit konnte sie sich beileibe nicht messen. Selbst Nanami schien es die Sprache verschlagen zu haben! „Kann ich euch helfen?“ Eine junge Frau war an sie herangetreten und lächelte die drei freundlich an. Sie hatte strahlendrotes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, trug ein dunkles Kleid und eine Brille, die ihre blauen Augen irgendwie größer erscheinen ließ. „Äh“, begann Jowy etwas überrumpelt von ihrem plötzlichen Erscheinen. „Wir suchen ein paar Bücher…“ „Das habe ich mir schon fast gedacht“, lachte die Frau vergnügt. „Irgendetwas Bestimmtes?“ „Hier gibt es nicht zufällig Bücher über… Wahre Runen?“, fragte Riou zögernd, als ob er fürchtete, dass die Bibliothekarin ihnen sofort auf die Schliche kam. Diese machte zuerst ein überraschtes Gesicht, grinste dann jedoch. „Oh, seid ihr Studenten aus Greenhill?“ „Was?“ Nanami hob irritiert eine Augenbraue. „Was für Studenten?“ „Ach, tut mir leid“, entschuldigte sich die junge Frau. „Es kommen oft Studenten aus der Akademie von Greenhill hierher, um sich über alles Mögliche zu informieren. Ihr habt das richtige Alter, da dachte ich, ihr wärt auch welche…“ „Nein, wir… sind nur neugierig“, winkte Jowy ab. „Dann sucht euch einen freien Tisch, ich schaue, was ich finden kann!“, rief ihnen die Bibliothekarin über die Schulter hinweg zu, während sie schon auf dem Weg zu einem der unzähligen Bücherregale war. „Setzen wir uns“, nickte Riou, nachdem die junge Frau außer Sicht verschwunden und die Jugendlichen allein zurückgeblieben waren, umgeben von Tischen, an denen über dicke Wälzer gebeugte Personen saßen, und hohen Bücherregalen. „Scheint, als könnte das eine Weile dauern.“ „Das ist so öde!“ Aber Nanamis Proteste blieben unbeachtet und sie nahmen an einem leeren Tisch Platz. Vielleicht war es ja doch möglich einen Nutzen daraus zu schlagen, dass man sie wie kleine Kinder zurücklassen wollte… Kapitel 23: Der Anfang vom Ende ------------------------------- Die Bibliothekarin kehrte erstaunlich schnell zurück, mit nur drei Büchern und einer sehr unglücklichen Miene. „Es tut mir wirklich leid“, sagte sie, während sie Jowy die Folianten überreichte, „aber das ist alles. Ich kann nicht glauben, dass wir nicht mehr Bücher zu diesem Thema haben! Und das, obwohl man hier sonst wirklich alles finden kann! Oh, ich muss mich wirklich dringend mit meinen Vorgesetzten darüber unterhalten…“ „Das ist schon in Ordnung“, erwiderte Riou beruhigend. „Ich bin froh, dass es hier überhaupt Bücher dazu gibt.“ Nachdem sie sich noch ein paar Dutzend Mal entschuldigt hatte, eilte die junge Frau davon, wahrscheinlich um herauszufinden, warum die Stadtbibliothek nicht mehr Bücher über Wahre Runen führte. „Na ja“, murmelte Jowy, schob je ein Buch zu den Geschwistern herüber und nahm sich das dritte, „immerhin werden wir jetzt nicht ganz so lange damit beschäftigt sein.“ „Das macht es nicht besser!“ Trotz ihres Murrens vergrub sich Nanami bereits hinter dem teuer aussehenden, doch irgendwie dünnen Buch mit Ledereinband, auf dem in dicken Lettern Die 27 Wahren Runen – Entstehung und Bedeutung stand. Riou vertiefte sich in die Lektüre eines Folianten namens Antike Lehren und Jowy selbst blieb nichts Anderes übrig, als sich mit Der Torrunenkrieg zu befassen. Dieses Buch, so stellte er fest, konzentrierte sich mehr auf die geschichtlichen Ereignisse des Krieges, der vor drei Jahren darin gegipfelt hatte, dass das Reich des Scharlachroten Mondes zerfiel und stattdessen die Republik Toran gegründet worden war. Und obwohl Jowy eine vage Ahnung von dem hatte, was im Nachbarreich passiert war – seinem Hauslehrer sei Dank – fand er, dass das Buch durchaus lehrreich war. Es beschrieb komplizierte Strategien von Mathiu Silverberg, wie etwa die bei der Schlacht um Pannu Yakuta oder beim Fall von Gregminster, und behandelte sogar die Geschichte des jungen Rebellenanführers der Befreiungsarmee, einem gewissen Tir McDohl, Sohn eines der sechs Generäle des Scharlachroten Mondes. Freilich wurde die Torrune, die dem Krieg ihren Namen verliehen hatte, nur am Rande erwähnt, fast so, als ob jemand hatte vertuschen wollen, worum es wirklich gegangen war. Offiziell war der Torrunenkrieg ausgebrochen, weil die Befreiungsarmee unter der Führung von Odessa Silverberg und später von Tir McDohl selbst gegen das Kaiserreich rebelliert und schlussendlich Kaiser Barbarossa gestürzt hatte. Aber jetzt, nachdem er Leknaat kennen gelernt hatte, fragte sich Jowy zwangsläufig, ob sie nicht etwas damit zu tun gehabt hatte. Sie war doch die Hüterin der Torrune, nicht wahr…? Aber offensichtlich war die Torrune nicht die einzige Wahre Rune gewesen, die in den Krieg verwickelt gewesen war. In dem Buch wurden Gerüchte erwähnt, denen zufolge der junge McDohl auch eine gehabt haben sollte – und allein der Name Souleater war genug, um Jowy einen Schauer über den Rücken zu jagen. Was genau die Rune des Lebens und des Todes, der man diesen Spitznamen verpasst hatte, auch tun mochte, er war sich sicher, dass er das gar nicht so genau wissen wollte. Und außerdem war das alles zwar hochinteressant, aber momentan kein bisschen relevant für seine Suche nach der Bedeutung der Rune des Anfangs… „Was für ein öder Schinken…“ Jowy hob den Kopf und sah, dass Nanami ihr Buch genervt zuschlug und es zurück auf den Tisch fallen ließ. „Nichts gefunden?“, fragte er. Nanami schnaubte und entgegnete: „Dieses Buch ist völlige Zeitverschwendung! Den Schöpfungsmythos kennt jedes Kind auswendig, man braucht ihn nicht auch noch aufschreiben…“ „Aber auf dem Einband steht doch etwas von der Bedeutung der Wahren Runen…?“ Riou sah stirnrunzelnd von seinem Buch auf, doch seine Schwester schüttelte nur den Kopf. „Wer auch immer dieses Buch verfasst hat, hat nur Papier verbraucht“, brummte sie. „Schaut es euch an, na los!“ Jowy zog das Buch zu sich herüber und überflog seinen Inhalt. Auf den ersten Seiten war in großen, schönen Buchstaben der Schöpfungsmythos niedergeschrieben, illustriert mit Holzdrucken von Ivanov, dem weltberühmten Maler. Wirklich etwas Neues lernte er dadurch jedoch nicht… Nanami hatte Recht, den Mythos von der Erschaffung der Welt kannte jedes Kind. Die letzten paar Seiten beinhalteten eine Auflistung der 27 Wahren Runen – und eine kurze Definition. „’Die Rune des Anfangs verkörpert den Anfang’“, las Riou vor und rümpfte irritiert die Nase. „Das ist alles?“ „Ich sage doch, dass es lächerlich ist!“ Nanami warf sich die Haare aus dem Gesicht und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. Enttäuscht ließ auch Jowy das Buch sinken und kratzte sich abwesend an seinem rechten Handrücken. „Was ist mit dir?“, fragte er und sah zu Riou. Dieser grinste schwach und antwortete: „Ich würde gern sagen, dass ich eine Menge rausgefunden habe, aber…“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist das komplizierteste Buch, das ich je gelesen habe!“ Er schob den Wälzer, in dem er gelesen hatte, von sich und erklärte: „Wer auch immer dieser Levi ist… Ich verstehe kaum ein Wort von dem, was er hier schreibt!“ Da Nanami keinerlei Interesse zeigte, beugte sich nur Jowy über die dicht mit Winzschrift beschriebenen Seiten. Von dem, was er da las, verstand er mit viel Fantasie zumindest die Hälfte – der Autor teilte die 27 Wahren Runen in drei Klassen auf, die er als Ethos, Logos und Pathos bezeichnete, welche für Ethik, Logik und Gefühl standen. Seitenlang ließ sich Levi darüber aus, dass die Runen bloß Symbole waren, welche Gestalt angenommen und einen Verstand entwickelt hatten, wobei er sich in solche wissenschaftlichen Höhen schraubte, dass Jowy der Kopf rauchte. Das einzige, was sich ihm wenigstens ein kleines Bisschen erschloss, waren Levis Ausführungen darüber, dass die Rune des Anfangs niemals in ihrer ursprünglichen Form auftrat, sondern immer zweigeteilt blieb – in Schild und Schwert. Damit symbolisierte diese Wahre Rune die zwei Seiten der Realität. Was das jedoch genau heißen sollte, war ihm schleierhaft. Zweifellos war der Autor ein Genie auf dem Gebiet der Runenmagie – aber Jowy war es nicht, da er letztendlich nur erfahren hatte, dass die Rune des Schwarzen Schwerts und die des Hellen Schilds genau das waren, was Leknaat gesagt hatte: die zwei Seiten der Rune des Anfangs. „Das war wohl nichts“, stellte er deprimiert fest. Er hatte sich zwar gedacht, dass sie keine bahnbrechenden Entdeckungen machen würden, aber dass sie so wenig finden würden, enttäuschte ihn doch sehr. Ausgerechnet die Stadtbibliothek von Muse hätte eigentlich mehr zu diesem Thema enthalten müssen… „Wir können immer noch Jess fragen“, bemerkte Riou nach einer Weile sichtlich widerwillig. Jowy verzog das Gesicht. Gerade das war das Letzte, was er wollte – sicher, der Beamte hatte gesagt, dass sie jederzeit fragen konnten, wenn sie etwas brauchten, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass Jess das nur gesagte, damit sie ihn für den Moment in Ruhe ließen und er in Frieden die Flucht ergreifen konnte. Es beruhigte ihn nur geringfügig, dass auch die Geschwister nicht wirklich begeistert von dieser Lösung waren. Nachdem sie jedoch noch eine halbe Stunde überlegt hatten, ob es nicht noch einen anderen Weg gab, an Informationen über Wahre Runen heranzukommmen, beschlossen sie schließlich, doch Jess aufzusuchen. Jetzt hoffte Jowy nur, dass sie sich nicht hoffnungslos in diesem Rathaus verirrten und irgendwo landeten, wo sie nie wieder herauskommen würden… Sie erfragten sich den Weg zu Jess’ Büro und als sie es endlich fanden, stellten sie fest, dass die Tür nur angelehnt war; von innen erklangen Stimmen. „… aber das ist die einzige Größe, die wir haben!“ „Und was nützt uns das?“ Zweifellos Jess, der gereizte Unterton war unverkennbar. „Das sind Uniformen der Jugendbrigade! Keiner unserer Männer würde auch nur entfernt als einer von ihnen durchgehen.“ Allein schon bei dieser Tonlage verging Jowy sämtliche Lust, den Beamten nach irgendetwas zu fragen. Er hatte irgendwie im Gefühl, dass man ihn anschnauzen würde, sobald er auch nur einen Schritt in dieses Büro machte… Und was waren das für Jugendbrigadeuniformen, um die es ging? „Na ja, wir können es immer noch versuchen…“ „Und riskieren, durch reine geistige Umnachtung einen guten Mann zu verlieren? Nein, danke.“ Jess schnaubte gut hörbar. Riou seufzte leise, murmelte etwas, das sich nach „Jetzt oder nie“, anhörte und klopfte an. Die Reaktion von Anabelles Assistent kam sofort – missmutig wie erwartet: „Ach, verflucht… Worum geht es?“ Unsicher schob Riou die Tür auf und gab damit den Blick frei auf Jess und einen zweiten, wichtig aussehenden Mann, die sich über eine Kiste gebeugt hatten und sich nun wieder aufrichteten. Das Büro war bei weitem nicht so geräumig wie das von Anabelle – dafür hätte Jowy schwören können, dass er in seinem Leben kein Arbeitszimmer gesehen hatte, dass aufgeräumter aussah. Fast so, als hätte der Besitzer einen Ordnungswahn. Als Jess die Jugendlichen erkannte, wurde sein ohnehin missmutiger Gesichtsausdruck noch ein wenig saurer, wenn das überhaupt möglich war. Ob der Mann wohl konstant gestresst war, dass er ständig so miesepetrig drein sah? „Lord Jess, kennt Ihr diese Kinder?“ Der zweite Beamte runzelte die Stirn, während sein Blick über die drei glitt. „Viktor hat sie mitgebracht“, erwiderte Jess entnervt mit den Augen rollend, als ob das alles erklären würde. „Dieser Hornochse belästigt mich schon die ganze Woche mit allerlei Nonsens. Vielleicht sollte er seine faulen Söldner endlich dazu bewegen, zu unseren Truppen zu stoßen… Wozu zahlen wir ihnen denn das ganze Geld?“ Er massierte sich kurz die Nasenwurzel – während sein Kollege eher irritiert aussah – dann atmete er tief durch und schien sich dazu durchzuringen, etwas freundlicher zu sein. „Kann ich etwas für euch tun?“, erkundigte er sich, jedoch nicht ohne den leicht gereizten Unterton, den er wohl nur im Gespräch mit Anabelle ablegte. Jowy zögerte – wollte er diesen Mann wirklich noch um etwas bitten? Der Beamte zog schamlos über Viktor her, jemanden, den der Aristokrat eigentlich als etwas wie einen Freund betrachtete. Seine ohnehin nicht besonders hohe Meinung von Jess sank mit jedem Augenblick. „Äh“, machte auch Riou nicht sonderlich entschlossen, aber die Entscheidung wurde ihnen von Nanami abgenommen. „Habt Ihr gestritten? Wir haben Stimmen gehört.“ Hätte Jowy sie nicht schon fast sein ganzes Leben lang gekannt, hätte er sich wahrscheinlich gefragt, wie ein Mensch so wenig diskret sein konnte. Aber so war Nanami nun einmal… Jess schien im ersten Moment wütend zu werden, dann blitzte jedoch etwas in seinen Augen auf und er betrachtete die Jugendlichen mit einem nachdenklichen Blick, der seltsamerweise eine gesunde Portion Argwohn mit sich trug. Schließlich verschränkte er die Arme vor der Brust und fragte: „Was haltet ihr davon, Muse und dem Staatenbund einen Gefallen zu tun?“ Skeptisch verengte Jowy die Augen und entgegnete: „Was für eine Art Gefallen?“ Wo jeder Andere vielleicht noch gezögert hatte, bevor er ihnen seinen Plan vorstellte, war Jess erstaunlich entschlossen und selbstsicher. „Luca Blights Truppen campieren nah an der Grenze zwischen Muse und Highland – sie werden uns hier in Muse als nächstes angreifen, so viel steht fest.“ Jowy schauderte, doch Jess fuhr ungerührt fort: „Wir müssen unbedingt wissen, wie viel Proviant sie dabei haben. Aber wir haben nur Jugendbrigadeuniformen stehlen können und keiner unserer Männer ist jung genug dafür – ihre Tarnung würde sofort auffliegen.“ Es war fast schon abartig, wie ruhig Jess klang, während er ihnen all das erzählte. Aber mehr noch schockte Jowy die folgende Frage: „Riou, Jowy – ihr beide wart doch in der Jugendbrigade, nicht wahr?“ Der junge Aristokrat konnte nicht fassen, wie taktlos dieser Mann war; seine Abscheu wuchs und wuchs. Die Bilder aus jener Nacht mühsam unterdrückend, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor: „Ja, waren wir…“ „Sehr gut“, nickte Jess. „Könnt ihr sie dann nehmen?“ „Ihr wollt, dass wir uns ins Highland-Camp schleichen und herausfinden, wie viel Proviant sie dabei haben?“, fragte Riou skeptisch nach. „Was?!“, rief Nanami dazwischen. „Das ist doch furchtbar gefährlich!“ Jess bedachte sie mit einem gleichgültigen Blick und zuckte dann mit den Achseln. „Nun, vielleicht ein bisschen“, räumte er ein. „Aber es wäre eine große Hilfe für Muse. Wenn wir wissen, wie viel Proviant sie dabei haben, können wir uns darauf einstellen, ob sie eine lange Belagerung oder einen Blitzangriff planen. Also, macht ihr es?“ Jowy starrte den Mann ungläubig an. Schlug er ihnen gerade ernsthaft vor, sich in Lebensgefahr zu begeben und eine Arbeit zu erledigen, für die Muse sicher massenhaft Spione hatte?! Er wollte gerade vehement widersprechen – allein schon, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, diese Uniform wieder anzuziehen – als er sich plötzlich daran erinnerte, was Viktor vorhin zu Anabelle gesagt hatte. Dass sie Kinder seien. Dass man nie sicher sein konnte, wohin der Krieg einen bringen würde. Aber er war kein Kind. Er war kein Kind! Er hatte Dinge gesehen, die mancher Erwachsener nicht ertragen hätte, hatte Schlachten überlebt, in denen erfahrenere Männer gescheitert waren. Nach all dem hatte niemand mehr das Recht, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln! Der junge Aristokrat ballte die bandagierte rechte Hand zur Faust. Er hatte es ernst gemeint, als er gesagt hatte, dass er kämpfen würde. Lange genug hatte er tatenlos zusehen müssen, wie alles um ihn herum in Chaos versank… Aber jetzt, wo Jowy die Rune des Schwarzen Schwertes besaß, konnte er endlich etwas tun. Entschlossen sah er zu Riou hinüber und sagte leise: „Ich mache es. Was ist mit dir?“ Der Jüngere sah ihn überrascht an, dann runzelte er die Stirn. Jowy sah die vielen Fragen, die seinem besten Freund auf der Zunge lagen, förmlich, ein Sturm tobte in Rious dunklen Augen, während er angestrengt zu überlegen schien. Einen endlosen Augenblick lang blickten sie einander in die Augen, bis Riou schließlich zu Jess sah. „Wir machen es“, erklärte er entschlossen und Jowy atmete befreit aus. Nanami jedoch dachte ganz anders darüber: „Was?! Das ist gefährlich! Seid ihr beide jetzt völlig übergeschnappt?“ Jess überging ihren Einwand völlig und nickte den Jungen zu. „Danke“, sagte er ohne eine Spur von Dankbarkeit in der Stimme. „Ihr seid uns eine große Hilfe.“ Er beugte sich über die Kiste und förderte zwei Garnituren der Jugendbrigadeuniformen zutage, die er Jowy in die Hand drückte. „Eure Uniformen. Ich nehme an, ihr wisst, wie ihr sie anziehen müsst?“ Irrte Jowy sich oder betrachtete der Beamte sie tatsächlich mit einem süffisanten Lächeln? „Keine Sorge“, knurrte er zur Antwort. „Wir kommen klar.“ „Wunderbar“, erwiderte Jess mit dezent gehobener Augenbraue. „Ich werde veranlassen, dass euch morgen früh jemand zur Grenze begleitet, damit die Wachen dort Bescheid wissen.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch seine Augen strahlten noch immer nichts als Kälte aus. „Viel Glück.“ „Vielen Dank“, entgegnete Riou höflich, doch Jowy bemerkte den reservierten Unterton. Er selbst sagte nichts, sondern drückte die verhassten Uniformen an sich und wandte sich zum Gehen. Dieser Mann war ihm so derart unsympathisch, dass er sich wirklich stark zusammenreißen musste, um nicht etwas zu tun, das er später mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereuen würde. Die Geschwister folgten ihm auf dem Fuße und bevor die Tür zu Jess’ Büro ins Schloss fiel, hörten sie noch den anderen Mann unsicher fragen: „Lord Jess, war das wirklich eine gute Idee?“ Natürlich wusste Jowy, dass dieser Auftrag in erster Linie dazu diente, der Stadt Muse zu helfen – aber er kam einfach nicht umhin, noch andere Gründe hinter Jess’ Bitte zu finden. Auf jeden Fall wurde er somit seine drei unerwünschten Schützlinge los. Und gleichzeitig war dies ein eindeutiger Seitenhieb auf Viktor, indem Jess dessen Autorität einfach untergrub und sie eben doch an Kriegshandlungen teilnehmen ließ. Und dennoch… er konnte nicht mehr einfach nur tatenlos daneben sitzen. „Dann habe ich wohl keine Wahl“, brummte Nanami, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte beide Jungen mit einem strafenden Blick. „Ich würde die Wände hochgehen vor Sorge… also komme ich mit.“ „Völlig ausgeschlossen“, widersprach Jowy sofort. „Es reicht, wenn wir uns in Gefahr begeben. Und außerdem muss auch noch jemand auf Pilika aufpassen.“ „Das kann Leona machen“, sagte das Mädchen grimmig. „Du kannst mich nicht einfach zurücklassen, Jowy!“ Sie wandte sich schwungvoll zu ihrem Bruder um. „Sag etwas, Riou!“ „Du kannst uns ja bis zur Grenze begleiten“, schlug Riou vor, diplomatisch wie eh und je. „Und ehrlich gesagt, mir ist wohler, wenn noch ein paar andere mit bis zu diesem Punkt kommen. Nur für alle Fälle…“ Er sah ehrlich besorgt aus; das konnte man ihm aber auch nicht verübeln. „Na gut“, seufzte Jowy. „Dann lasst uns in Leonas Taverne zusehen, ob wir noch ein paar Leute auftreiben können, die mitkommen.“ Sie setzten sich in Bewegung und verließen das Rathaus schnell, sich einen Weg durch die vielen beschäftigten Leute bahnend, die sich trotz der späten Stunde noch immer in der Eingangshalle befanden. „Vielleicht können wir ja auch endlich etwas tun…“ „Was redest du denn da?“, fuhr Nanami ihn an. „Wenn es gefährlich wird, musst du um dein Leben rennen, Jowy!“ Nun… inzwischen hatte er darin ja genug Übung… „Riou! Jowy, Nanami! Euch geht’s gut! Was für ein Glück!!“ Sie waren kaum über die Türschwelle zu Leonas Taverne getreten, als sie auch schon in eine feste Umarmung gezogen wurden. Jowy ächzte, da er mit dem Kopf schmerzhaft gegen Rious gestoßen wurde, und brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es Millie war, die ihnen da um den Hals gefallen war. Er war so verdutzt, dass er sich nicht einmal aus ihrer Umklammerung lösen konnte, bis sie die drei Freunde von sich aus losließ und sie anstrahlte. „Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht!“, rief sie. „Nachdem das Fort gefallen ist, haben wir euch aus den Augen verloren und keiner hatte euch gesehen… Runen, bin ich froh, dass ihr drei in Ordnung seid! Das seid ihr doch, oder?“ „Äh“, machte Jowy und grinste dann unbeholfen. „Ja, uns geht es gut.“ Millie klatschte begeistert in die Hände und hob den dösenden Bonaparte von seinem angestammten Platz auf ihrer Ballonmütze. „Seht ihr?“, fragte sie und hielt ihnen das hässliche Tier direkt unter die Nasen. „Bonaparte hat sich auch Sorgen gemacht. Nicht wahr, mein Kleiner?“ „Was soll denn die ganze Aufregung, Millie? Ist etwas passiert?“ Jowy hob den Kopf, noch bevor er das Bellen hörte, das diese Frage nur einen Moment später begleitete. Es waren Kinnison und Shiro, die gerade die Treppe, die in den ersten Stock führte, hinunterkamen. Als der Jäger die drei Jugendlichen erkannte, breitete sich ein erfreutes Lächeln auf seinen Zügen aus und er eilte auf sie zu. Dabei wurde er von seinem Wolfshund überholt, der an Riou hochsprang und ihm, wild mit dem Schwanz wedelnd, das Gesicht abschleckte. Kinnison lachte über diesen Anblick und sagte dann: „Den Runen sei Dank, dass ihr es geschafft habt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Vorwürfe sich Rikimaru und Tsai gemacht haben…“ „Sie sind auch hier?“, fragte Nanami erleichtert und der Jäger nickte. „Ich habe Tsai vorhin in die Küche gehen sehen und Rikimaru…“ „Da seid ihr ja!“ Die Stimme war unmöglich zu verwechseln. Und tatsächlich, als Jowy an Millie und Kinnison vorbei sah, entdeckte er Tsai und Rikimaru, die aus dem Kellergewölbe neben Leonas Tresen – der im Übrigen unbesetzt war; wo war sie? – die Treppe hochkamen, beladen mit zwei kleinen Fässern und einer Kiste. Allerdings stellten beide Männer ihre Last auf dem nächstbesten Tisch ab, um zu den Versammelten zu stoßen. „Den Runen sei Dank, es geht euch gut“, seufzte Tsai. „Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn euch etwas zugestoßen wäre.“ Riou, der die ganze Zeit Shiro gestreichelt hatte, richtete sich auf und lächelte. „Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Wir haben nur ein paar Probleme damit gehabt, in die Stadt zu kommen.“ „Ach, so ist das?“ Rikimaru runzelte die Stirn. „Wir hatten keinen Ärger damit.“ „Wir waren ja auch in Begleitung einiger Söldner“, erwiderte Kinnison. „Aber ich schätze, ihr wart allein?“ „Zamza, Gengen und Hanna waren noch bei uns“, erklärte Jowy. „Aber das hat auch nicht viel geholfen, fürchte ich.“ Millie kicherte. „Das kann ich mir bei Zamza gut vorstellen!“, rief sie, womit sie einen Heiterkeitsausbruch bei Rikimaru auslöste. „Setzen wir uns hin und ihr erzählt uns, was ihr angestellt habt, um hineinzukommen. Ich rieche eine gute Geschichte!“ Der Schwertkämpfer lachte und schlug Riou auf die Schultern – wovon dieser beinahe in die Knie ging. Jowy sah ein wenig sehnsüchtig zur Treppe in den ersten Stock hinüber, doch bevor er Proteste äußern konnte, saß er bereits mit den anderen an einem Tisch und nahm am Gespräch teil. Dass er dabei abwesend schien, fiel auch Tsai irgendwann auf – Millie war bereits zu Bett gegangen und auch Rikimaru hatte sich verabschiedet. Einzig Kinnison saß noch bei ihnen, während Shiro unter dem Tisch lag und döste. „Ist… etwas passiert?“, fragte Tsai stirnrunzelnd und sah die drei Jugendlichen nacheinander an. Jowy und Riou wechselten einen Blick, dann legte der Aristokrat die zwei Uniformen der Jugendbrigade von Highland auf die Tischplatte vor sich und erwiderte leise: „Es… gibt da schon etwas…“ Tsai und Kinnison schwiegen sehr lange, nachdem Jowy geendet hatte. Dann schüttelte der Speerträger den Kopf und brummte: „Das gefällt mir ganz und gar nicht.“ „Mir auch nicht“, stimmte der Jäger ihm zu, der offenkundig besorgt drein sah. Nanami schnaubte und brummte: „Mir auch nicht, aber mich fragt ja keiner!“ „Darum geht es nicht“, entgegnete Riou. „Es ist wichtig, dass wir das machen. Allein schon, weil wir Anabelle, Viktor und Flik etwas schulden.“ „Ich wette, die drei sind absolut nicht damit einverstanden“, murmelte Nanami und Jowy nickte düster. „Gerade deshalb werden wir ihnen auch nichts davon sagen. Ich kann nicht mehr einfach nur tatenlos daneben sitzen, Nanami, ich will helfen!“ Sie begegnete seinem Blick, hielt ihm jedoch nicht stand und sah zur Seite. Tsai wählte diesen Moment, um die Spannung zu lockern: „Da ihr schon zugestimmt habt, es zu tun, ist es ohnehin zu spät… Was soll’s, dann werde ich euch begleiten. Der Gedanke, euch drei allein nach Highland wandern zu lassen, behagt mir nicht im geringsten.“ „Ich komme auch mit“, sagte Kinnison. „Vier Augen sehen mehr als zwei… Und außerdem ist Shiro auch dabei.“ Jowy sah von einem der beiden Männer zum anderen und seufzte schließlich ergeben. Aber vielleicht… war es gar nicht so schlecht, dass jemand ihnen auf dem Weg zur Grenze Gesellschaft leisten würde. Denn allein beim Gedanken daran, die Uniform anzuziehen und die Grenze nach Highland zu überschreiten, verknoteten sich seine inneren Organe schmerzhaft. Entweder würde er bei dieser Mission sterben oder zurückkehren und wirklich und wahrhaftig Hochverrat begangen haben. Und irgendwie war er sich nicht sicher, was davon die bessere Lösung war. Kapitel 24: Mission "Unmöglich" ------------------------------- Leona war alles andere als begeistert, als sie ihr von ihrem Auftrag berichteten. Sie drohte sogar damit, es Viktor zu erzählen, bis Riou sie inständig anflehte, es nicht zu tun. Es schien tatsächlich zu wirken – die Barfrau seufzte irgendwann leise und versprach, Viktor nichts zu sagen, wenn sie innerhalb eines Tages wieder kamen. Und irgendwie hatte Jowy das seltsame Gefühl, dass es nur Riou zu verdanken war, dass Leona ihnen dieses Versprechen gegeben hatte… Sich von Pilika zu verabschieden, fiel ihm diesmal besonders schwer. Etwas in seinem Inneren hinterließ einen bitteren Beigeschmack in seinem Mund – und das kam nicht nur daher, dass er sich seit dem Aufwachen fühlte, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Es war mehr eine schlechte Ahnung, als wäre all das die schlechteste Idee seit Anbeginn der Zeit. Und wenn er genauer darüber nachdachte, war es das wohl auch… deshalb dachte er lieber nicht weiter darüber nach. „Ich verspreche dir, dass wir ganz schnell wieder zurückkommen“, versicherte er Pilika und zwang sich, sie aufmunternd anzulächeln. Das kleine Mädchen betrachtete ihn wenig überzeugt und schob dann schmollend eine Unterlippe vor, ehe sie die Arme vor der Brust verschränkte und ihn finster ansah. „Du wirst sehen“, sagte Riou und legte ihr eine Hand auf die Schulter, „wir sind zurück, bevor du merkst, dass wir weg sind.“ Pilika sah zu ihm auf und schüttelte heftig den Kopf, dann ergriff sie Jowys Hand mit ihren beiden und machte einen Moment lang tatsächlich den Eindruck, als wolle sie ihn nicht gehen lassen. „Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass Tasha mir eine Puppe für dich gegeben hat?“, kam Leona ihnen zu Hilfe, die nun hinter ihrem Tresen hervorkam und zu der aufbruchbereiten Gruppe trat. Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf und sah fragend auf zu der Barfrau, die nach einer ihrer Hände griff und lächelte. „Ja“, erzählte sie und bedeutete dem Dienstmädchen, das hinter Pilika stand, mit dem Kopf, sich schnell etwas zu überlegen. „Es ist eine wirklich schöne Puppe!“ Jowy beobachtete, wie das Dienstmädchen ein ratloses Gesicht machte und dann die Treppe in den ersten Stock hinaufhastete. Pilika warf einen Blick zurück zu Jowy und sah ihn traurig an, doch er zwang sich, sie anzugrinsen und meinte: „Schon okay, Pilika. Wir sind bald wieder da, versprochen.“ Das kleine Mädchen nickte endlich und folgte Leona, die ihnen noch zuwinkte und dann auf der Treppe stehen blieb, da ein junger Mann mit blonden Haaren sie dort ansprach. Jowy warf Pilikas Rücken noch einen schnellen Blick zu, dann wandte er sich an seine Gefährten: „Lasst uns gehen, bevor sie es sich doch anders überlegt…“ Das ließen sich Riou, Nanami, Tsai und Kinnison nicht zwei Mal sagen und beeilten sich, die Taverne zu verlassen, gefolgt von Shiro, der seinem Herrchen hechelnd hinterher lief. Die dreckige Kleidung, die sie Leona am Vortag zum Waschen gegeben hatten, hatte ihnen die Barfrau am Morgen in die Zimmer gebracht; bei dieser Gelegenheit hatten sie ihr gleich von ihrem Plan erzählt. In seinen eigenen Kleidern fühlte sich Jowy gleich viel besser und immerhin rutschte ihm die Hose nicht mehr von den Hüften. Aber die Uniform, die in seinem Rucksack lag, lag ihm irgendwie schwer im Magen… Er wollte sie nicht wieder anziehen, wollte sich nicht erinnern an die gehetzten Gesichter seiner Kameraden, an ihre Schreie, an das Feuer, die Angst… Und er tat es doch, je krampfhafter er versuchte, es nicht zu tun. Erst, als sie das Stadttor erreichten und ein junger Mann in Uniform – der des Staates, mit dem Emblem der Stadt Muse auf der Brust – auf sie zukam, schaffte Jowy es, sich von den düsteren Bildern seiner Vergangenheit loszureißen. „Lord Jess hat mir aufgetragen, euch zur Grenze zu geleiten“, sagte der Mann, kaum, dass sie bei ihm ankamen. Er ließ seinen Blick über die kleine Gruppe gleiten und runzelte dann die Stirn. „Ihr seid ja fast nur Kinder…“ Tatsächlich war nur Tsai eindeutig ein Erwachsener, da auch Kinnison nur etwa ein Jahr älter als Jowy war… „Wir arbeiten für Muse“, entgegnete der Aristokrat kalt und tat sein Bestes, um eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. „Dass wir Kinder sind, spielt für Jess keine Rolle, warum interessiert es Euch?“ Der junge Soldat – selbst nur eine Hand voll Jahre älter als Jowy – sah ihn überrascht an, zuckte dann jedoch mit den Achseln und meinte: „Was soll’s. Ich soll euch nur zur Grenze bringen, alles Andere ist nicht meine Sorge.“ Dass er so gleichgültig reagierte, verunsicherte Jowy etwas. Waren sie wirklich nicht mehr wert als diese Ignoranz? War es Jess und seinen Leuten tatsächlich so egal, was mit ihnen passierte? Er schauderte, riss sich jedoch zusammen und beeilte sich, dem jungen Soldaten zu folgen. Um den Kopf des jungen Mannes lag ein orangebraunes Stirnband, das ihm die halblangen, schwarzen Haare aus der Stirn hielt – es war Teil der Uniform des Staates, die aus einem ledernen Brustharnisch mit einem orange-grünem Überwurf, einheitlichen schwarzen Hosen und hohen Lederstiefeln bestand. Unter dem Brustharnisch trug der Mann, wie alle anderen auch, ein schwarzes Hemd und, wie Jowy wusste, auch ein Kettenhemd. Dennoch fragte er sich ehrlich, ob diese Uniform gegen die massiven Rüstungen der Highlander ankommen konnte. Selbst ein Mitglied der Jugendbrigade war besser gepanzert als ein durchschnittlicher Soldat des Staates… Aber andererseits hatte er die Armee des Staates noch nicht in Aktion gesehen. Im östlichen Teil des Fürstentums von Muse waren nur Viktors Söldner stationiert gewesen, sie hatten über die kleinen Dörfer dort gewacht und einen Puffer zwischen Kyaro, dem Hoheitsgebiet von Highland, und Muse selbst gebildet. Jetzt, wo das Söldnerfort gefallen war und die Söldner sich gezwungen sahen, zu der Hauptstreitmacht von Muse zu stoßen, sah die Sache schon ganz anders aus. Und außerdem erwartete das Fürstentum Muse doch sicher Verstärkung aus den anderen Staaten des Bunds von Jowston – allein schon das Rittertum Matilda im Norden verfügte doch bestimmt über eine ernstzunehmende Streitmacht… Die Reise zur Grenze verlief größtenteils schweigend. Jedes Mitglied der kleinen Gruppe hing seinen eigenen Gedanken nach und der Soldat, der sie führte, schien auch nicht sonderlich gesprächig zu sein. Anhand der Satteltaschen, die der junge Mann aber an den Sattel seines Pferdes gebunden hatte, schloss Jowy jedoch, dass der Soldat mit einem Botengang zu den an der Grenze stationierten Männern unterwegs war. Ob er ihnen wohl Befehle von Anabelle persönlich brachte? Oder war es Jess, der seine Augen überall hatte und eigentlich regierte? Irgendwie hätte es Jowy nicht einmal überrascht, wenn der Beamte heimlich die Fäden in der Hand gehalten hätte. Aber andererseits schien Jess Anabelle in mehr als einer Hinsicht ergeben zu sein, sodass diese Möglichkeit wohl eher unwahrscheinlich war. „In etwa einer Stunde sind wir da“, sagte der Soldat, dessen Namen sie immer noch nicht kannten, irgendwann. Jowy hob den Blick von der Straße, die er in den letzten paar Stunden angestarrt hatte – als ob sie ihm eine Antwort auf viel zu viele Fragen geben konnte! – und nahm zum ersten Mal bewusst seine Umgebung war. Zu beiden Seiten der gepflasterten Straße türmten sich dunkle Wälder auf, welche sich einige Meilen in beide Richtungen zu ziehen schienen. Hinter ihnen lag in einiger Entfernung die Stadt Muse am Fuße eines großen Hügels und eine weite Grasebene, auf der sich nur vereinzelt kleine Siedlungen fanden. Trotz des grauen Wetters und des leichten Nieselregens konnte man immer noch meilenweit sehen und Jowy kam nicht umhin, sich ein bisschen auf dem Präsentierteller zu fühlen. „Wenn man von hier aus nach Nordwesten geht, kommt man an die Grenze zum Rittertum Matilda“, erzählte der Soldat unerwarteterweise, als er Jowys Blick bemerkte, und wies in die angegebene Richtung. „Ist das weit von hier entfernt?“, fragte Riou, dessen Gedanken anscheinend auch um die bevorstehende Schlacht um Muse gekreist hatten. Der junge Mann machte ein nachdenkliches Gesicht und zuckte dann die Achseln. „Es ist etwa ein Tagesritt“, antwortete er dann. „Aber wenn alles gut läuft, werden wir die Verstärkung aus Matilda nicht einmal brauchen.“ Jowy, der immerhin dabei zugesehen hatte, wie Luca Blight rechts und links Männer abgeschlachtet hatte, ohne sich darum zu kümmern, ob sie Freund oder Feind waren, war anderer Meinung, aber er verzichtete darauf, das laut zu auszusprechen. „Hmm“, machte Tsai nachdenklich, sagte jedoch nichts weiter zu diesem Thema und das Grüppchen setzte seinen Marsch fort. Jowy wickelte sich ein bisschen enger in den Umhang, den er sich übergeworfen hatte, als der Nieselregen eingesetzt hatte; er fröstelte plötzlich. Der Gedanke an Luca Blight und das wahnsinnige Funkeln in seinen Augen, als er das Schwert erhoben hatte, um Pilikas Kopf von ihrem Hals zu trennen, gehörten zu den Sachen, die er am liebsten vergessen würde… Die Grenze kam schnell in Sicht – es war aber auch schwer, die massive Steinmauer, die zwei Mannsgrößen hoch und bestimmt eine halbe breit war, zu übersehen. Jowy wusste, dass sich diese Mauer bis zu den Tenzaan-Bergen zog, die eine natürliche Grenze zwischen dem Staatenbund und dem Königreich bildete. Die Straße führte die Reisenden direkt an das große Tor, welches von mehreren Soldaten des Staates bewacht wurde. Zwei von ihnen standen im inzwischen strömenden Regen und sahen unter den Kapuzen ihrer Umhänge grimmig in die Ferne, drei weitere hatten sich unter das Vordach des Wachhäuschens gestellt und unterhielten sich leise. Neben der Wachstube, angebunden an die Latten eines halbherzig errichteten Zaunes, standen drei bemitleidenswerte Pferde im Regen und schauten die kleine Gruppe irgendwie deprimiert an, als sie näher kam. „Jenseits von hier beginnt das Hoheitsgebiet des Königreichs Highland“, rief einer der Soldaten am Tor, als die Reisenden in Hörweite kamen. „Unbefugten ist der Zutritt verboten!“ „Wir sind auf Befehl von Kanzler Jess hier“, erwiderte Jowy und der junge Soldat, der sie hergeführt hatte, nickte bekräftigend. „Ich habe hier einen Brief mit seinen Befehlen, Sir“, erklärte er, kramte in einer der Satteltaschen und eilte, die großen Pfützen umgehend, zu den beiden Männern am Tor. Diese vertieften sich, den strömenden Regen so gut es ging ignorierend, in das Schriftstück und Stille kehrte ein. Jowy fröstelte wieder, während ihm die Feuchtigkeit in alle Glieder kroch, und sah sich mit einem unguten Gefühl im Bauch um. Die drei Männer neben der Wachstube fixierten die kleine Gruppe misstrauisch. „Wisst ihr, ich bin ganz aufgeregt“, flüsterte Nanami plötzlich und er sah sie irritiert an. Verlegen blickte das Mädchen von ihm zu ihrem Bruder und erklärte: „Ich fühle mich wie ein Spion oder etwas ähnlich Romantisches!“ Romantisch? In welcher Welt waren Spione etwas Romantisches? Jowy seufzte nur schwer und verzichtete auf einen Kommentar. Es brachte ja doch nichts, mit Nanami zu diskutieren… Und außerdem, wenn sie ihre Mission als romantisch erachtete, dann konnte sie sich ja nicht allzu viele Sorgen machen. Oder verbarg es zumindest sehr gut. „Alles klar, ihr könnt durchgehen“, verkündete der junge Mann schließlich, der sie hergeführt hatte. „Von hier aus geht ihr allein, meine Arbeit ist beendet.“ „Oh“, machte Riou stirnrunzelnd. „Trotzdem danke.“ „Befehl ist Befehl“, erwiderte der Soldat achselzuckend. „Jedenfalls… viel Glück. Ihr könnt das bestimmt brauchen.“ „Danke…“ Wenig motiviert nickte Jowy dem Mann zu, dann setzte er sich als erstes in Bewegung, durch das Tor, das einen Spalt breit geöffnet worden war, gerade breit genug, um hindurchzuschlüpfen. Auf der anderen Seite des Tores fanden sie sich in einem Wald wieder und einen Moment lang sah sich Jowy irritiert um. Wohin sollten sie gehen? „Wenn ihr nach Osten durch den Wald geht, ist das eine Abkürzung bis zum Highland-Camp“, erklärte einer der Muse-Soldaten durch den Torspalt. „Außerdem ist es ein sicherer Weg, ihr solltet unbemerkt bis zu ihrem Lager gelangen können.“ „Vielen Dank“, bedankte sich Riou und lächelte schwach, dann schloss sich das Tor und sie waren endgültig allein. Allein auf feindlichem Territorium. Territorium, das Jowy einmal als Heimat betrachtet hatte… „Wir sollten uns hier trennen“, sagte er schnell und warf Nanami, Tsai und Kinnison einen Blick zu. „Vergiss es!“, brummte Nanami und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich lasse euch beide doch nicht allein durch diesen Wald irren!“ „Sie hat Recht“, nickte Tsai. „Wir werden euch bis zum Lager des Feindes begleiten, keine Sorge.“ Jowy seufzte und protestierte nicht weiter. Wenn er ehrlich war, war er eigentlich ganz froh darüber, dass sich Tsai und Kinnison bereit erklärt hatten, sie zu begleiten… Bei Nanami war es etwas Anderes. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre sie bei Pilika in Muse geblieben, in Sicherheit. Aber er wusste, dass es ein vergebliches Unterfangen war, Nanami von etwas zu überzeugen… Kinnison ließ Shiro etwas vorauslaufen und den Weg klären, sodass der Pfad, den sie entlanggingen, sehr bald von den zerbissenen Überresten großer, roter Blumen gesäumt war. Es waren Baumgeister, die der Wolfshund da bekämpft hatte, die dafür bekannt waren, unachtsame Wanderer bei lebendigem Leib zu verspeisen, nachdem sie sie mit ihren Sporen außer Gefecht gesetzt hatten. Jowy, der niemals mehr Zeit als unbedingt nötig in einem Wald verbracht hatte, seit Riou damals als Kind in einem verloren gegangen war, war nun wirklich erleichtert darüber, dass der Jäger sie begleitete. Er kannte sich in den Wälder aus und wusste um ihre Gefahren… Nach einer weiteren Stunde Marsch erschien plötzlich ein mannshoher Zaun zwischen den Bäumen, wie aus dem Nichts, und sie sahen, wie Shiro unruhig davor hin- und herlief. „Das ist es“, stellte Tsai düster fest und umklammerte seinen Speer etwas fester. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Das war aber auch nur ein geringer Trost… „Von hier aus gehen Riou und ich alleine“, beschloss Jowy und warf Nanami einen grimmigen Blick zu, als sie erneut Anstalten machte, ihm zu widersprechen. „Ihr wartet am besten hier…“ Kinnison und Tsai nickten, Nanami tat es ihnen sichtlich ungern gleich. Mit einem Ächzen ließ Jowy seinen Rucksack auf den Boden sinken und holte die Jugendbrigadeuniform hervor. Gegen die Übelkeit, die diese Kleidung in ihm auslöste, mühsam ankämpfend, drehte sich der Aristokrat noch einmal zu seinen Gefährten um und spürte dann plötzlich, wie er leicht errötete. „Wir ziehen uns dann um, also…“ Nanami stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn verwirrt an. „Na und?“ „Könntet ihr uns bitte nicht dabei zusehen?“ Seine Wangen brannten vor Verlegenheit, doch er war nicht der einzige: Nanami lief so knallrot an, wie er selbst mit Sicherheit war, und drehte sich ruckartig um, angestrengt in den Wald hinter ihnen starrend. Tsai und Kinnison wandten sich ebenfalls ab und Jowy beeilte sich, die verhasste Uniform überzuziehen. Es war nicht so, dass er sich ganz hätte ausziehen müssen, um die Uniform anzuziehen – sie war groß genug, dass er sie über seiner eigenen Kleidung tragen konnte – aber es gab einen guten Grund dafür, dass er nicht gewollt hatte, dass man ihnen beim Umziehen zusah. Nämlich die Tatsache, dass er glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Ihm war klar, dass sich sein Unwohlsein auf seinem Gesicht widerspiegelte, als die Bilder aus jener Nacht doch wieder ans Licht kamen. Piet, Michael und all die anderen. Ihre Todesschreie, das Feuer, das Blut… Er wollte sich nicht an all das erinnern, er wollte es nicht, er wollte… „Jowy…?“ Er zuckte zusammen, als er Rious Hand auf seiner Schulter spürte und hob den Blick. Sein bester Freund sah ihn besorgt an – und wahrscheinlich völlig zurecht. Jowy wollte nicht wissen, wie er gerade aussah. Er schüttelte den Kopf und hob die Mundwinkel in der schwachen Parodie eines Lächelns, bis Riou zögernd nickte und sich wieder abwandte, um die graue Hose seiner Uniform überzuziehen. Jowy warf ihm noch einen Blick zu und registrierte, dass der andere Junge das gelbe Tuch, das Meister Genkaku ihm geschenkt hatte, abgelegt und in seinen Rucksack gestopft hatte; lediglich ein gelber Stoffzipfel ragte noch heraus. Seine Tunika stopfte er unzeremoniell in die graue Hose, dann griff er nach dem kurzärmeligen, grauen Hemd und dem ärmellosen, türkisen Überwurf. Seufzend machte sich Jowy selbst daran, das Hemd über sein Oberteil zu ziehen und knöpfte es mit zitternden Händen zu. Das letzte Mal, als er diese Uniform getragen hatte, schien eine Ewigkeit her zu sein, ein ganzes Leben. Damals war er nichts weiter als ein Junge im Dienste seines Heimatlandes gewesen, aber jetzt… Was war er jetzt? Zu Hause war er ein Vaterlandsverräter, hier im Staat war er den Leuten nur ein Klotz am Bein. Es gab kein Zurück mehr, aber gab es ein Vorwärts? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr. Widerwillig schloss der Aristokrat die letzten Schnallen des Brustpanzers, dann legte er das gelbe Tuch, das ihm als Gürtel diente, in seinen Rucksack und zog sich die dunkelgrauen Handschuhe über, die ebenfalls zur Uniform gehörten. Und obwohl jedes Teil saß, wie es sitzen sollte, fühlte sich Jowy in der Uniform nicht wohl – und das lag nicht nur daran, dass er negative Erinnerungen damit verband. „Sie ist zu groß…“, brummte er kritisch, während er an dem türkisen Überwurf und dem Kragen herumzupfte. „Seid ihr fertig?“, fragte Nanami ungeduldig und drehte sich um. Jowy zuckte unbestimmt mit den Schultern und antwortete: „Mehr oder weniger, aber…“ „Sie steht euch kein Stück“, stellte sie stirnrunzelnd fest und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr beiden seht einfach nicht richtig aus in diesen Uniformen.“ „Wirklich?“, fragte Riou besorgt. Bei ihm sah man noch deutlicher, dass die gestohlene Uniform zu groß war – der türkise Überwurf, der eigentlich hätte nah am Körper liegen sollen, hing trotz der Tatsache, dass er seine Tunika darunter trug, eher sackartig an seinem schlanken Körper. „Es könnte schlimmer sein“, winkte Tsai ab. „Aber ihr müsst trotzdem vorsichtig sein.“ Jowy nickte und warf einen schnellen Blick zurück zum Holzzaun, der das Highlanderlager umgab. Es musste schon ein Wunder geschehen, damit sie heil und unbeschadet wieder in Muse ankamen… „Seid vorsichtig“, bat Nanami, die nun wieder besorgt klang. „Wenn… wenn es gefährlich für euch wird, dann lauft einfach weg, ja? Vergesst den blöden Auftrag.“ Jowy sah sie an, registrierte die Angst in ihren brauen Augen und die Angespanntheit ihrer Gesichtszüge. Aber was sollte er darauf erwidern? Was konnte er sagen? Es war nicht so, dass er nicht an seinem Leben hing, aber dieser Auftrag… Natürlich, Jess hatte ihn ihnen nur gegeben, um sie loszuwerden, aber… Aber er wollte endlich beweisen, dass er auch zu etwas nütze war. „Keine Sorge“, sagte Riou an seiner Stelle und lächelte ihre Gefährten und vor allem seine Schwester aufmunternd an. „Wir kommen zurück. Und ihr haltet euch bedeckt, okay?“ „Wir passen auf“, versprach Tsai. „Und ihr solltet euch auch in acht nehmen.“ „Machen wir.“ Riou atmete tief durch und verschnürte seinen Rucksack, ehe er ihn Kinnison übergab. Jowy tat es ihm gleich, dann hob Tsai zum Abschied eine Hand, ehe die drei Menschen und der Wolfshund wieder im Walddickicht verschwanden… doch zweifellos in Sichtweite, nur für den Fall. Die Jungen tauschten einen Blick, dann gingen sie zum Zaun und schlugen mit vereinten Kräften und so leise wie möglich einen der Baumstämme aus der Erde, aus der er gezimmert worden war – der entstandene Durchgang war gerade breit genug, um hindurchzuschlüpfen… wenn man den Bauch einzog. Es war ihr Glück, dass niemand in diesem Teil des Lagers patrouillierte. Tatsächlich lagen die ersten Zelte in einiger Entfernung vom Zaun, inmitten vereinzelter Bäume. Offensichtlich hatten die Highlander ihr Camp direkt am Waldrand aufgeschlagen – und beängstigend nah an der Grenze zu Muse. Sie stellten den dünnen Baumstamm wieder an seinen angestammten Platz und Jowy beeilte sich, mit seinem Messer eine kleine Markierung in das Holz zu ritzen, damit sie ihn später auch wieder erkannten. Dann sahen sie einander noch einmal an. Das war es… jetzt waren sie wirklich Spione des Staates geworden. Kapitel 25: Vom Regen in die Traufe ----------------------------------- Sie marschierten zielstrebig ins Lager hinein und fanden sich sofort inmitten unzähliger Highland-Soldaten wieder. Es war wirklich ein Wunder, dass niemand beobachtet hatte, wie sie durch den Zaun gekommen waren… Aber andererseits hatten die Männer im Camp eindeutig andere Sorgen als dass jemand sich in ihre Mitte schleichen konnte – sie wirkten müde, abgekämpft und lustlos. In kleinen Gruppen saßen die Männer vor ihren Zelten und unterhielten sich leise, während andere durch die Gegend liefen, vielleicht, um sich vor einem nächsten Unwetter in das sichere und vor allem trockene Innere ihres Zeltes zu begeben. Jowy setzte sein gleichgültigstes Gesicht auf und marschierte zielstrebig drauflos, durch die zahlreichen Pfützen und über den matschigen und vom Regen aufgeweichten Waldboden. „Wir sollten versuchen, das Zelt mit dem Proviant so schnell es geht ausfindig zu machen“, wisperte er Riou zu, während die beiden Jungen an einem Grüppchen Soldaten vorbeigingen, die vor einem aufgeschichteten Haufen Holz hockten und offensichtlich gerade versuchten, ein Lagerfeuer zu entzünden, um sich etwas aufzuwärmen. „Es wird wahrscheinlich irgendwo zentral sein, wo es alle gut erreichen können und keiner unbeaufsichtigt hinkommt“, nickte Riou und sah aus den Augenwinkeln zu einem älteren Highlander, der bei ihrem Näherkommen den Kopf hob. Doch der Mann machte keine Anstalten, sie anzuhalten oder zurückzurufen, also setzten die Jungen ihren Weg zur Mitte des Camps zielstrebig fort. Jowy schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte nicht nur Angst, er hatte Panik. Jeden Augenblick erwartete er, dass ihn jemand am Arm ergriff, dass ihn jemand erkannte, dass ihm jemand ohne zu zögern den Kopf von den Schultern schlug. Aber niemand reagierte auf die zwei Mitglieder der Jugendbrigade, die sich den Weg durch die Unmengen von Männern bahnten, die sich im Lager befanden, und Jowy war sich nicht sicher, ob nicht die Erwartung des schlimmsten Falls unangenehmer war als die Erfahrung desselbigen. Weiter im Zentrum des Camps – das viel, viel zu groß war, wann hatten die Highlander es geschafft, so viele Männer herzubeordern?! – standen größere Zelte, wahrscheinlich gehörten sie den ranghöheren Offizieren. In diesem Teil des Lagers liefen weniger Männer umher, nur vereinzelte, grimmig dreinblickende Soldaten eilten zwischen den Zelten hin und her. „Verdammt, wo ist es…?“, brummte Jowy nervös in seinen nicht vorhandenen Bart, ehe er sich zögernd umsah und unsicher stehen blieb. Riou schüttelte ebenso ratlos den Kopf, aber bevor sie sich für eine Richtung entscheiden konnten, ertönte hinter ihnen plötzlich eine Stimme: „Hey, ihr da! Wer seid ihr?!“ Jowy zuckte zusammen und alle möglichen Schreckensszenarien blitzten vor seinem inneren Auge auf. Das war es. Sie waren tot. „Äh, S-Sir?“ Zögernd drehte sich Riou nun zu dem Mann um, der sie angehalten hatte, und salutierte langsam. Jowy tat es ihm gleich und sah den bärtigen Soldaten panisch an. „Das sind doch Uniformen der Jugendbrigade…“, knurrte der Mann misstrauisch. Er trug die Rüstung der Highland-Soldaten, doch auf seinen Schultern prangte das Abzeichen eines Generalleutnants. Na klasse. Sie hatten mit traumwandlerischer Sicherheit einen der ranghöchsten Offiziere des gesamten Lagers ausfindig gemacht… „Was macht ihr hier?“, fragte der Generalleutnant und kniff die Augen zusammen. Jowy biss sich kurz auf die Lippen, dann stammelte er: „Äh, Sir, wir… ähm… Wir waren in der Einhornbrigade.“ Vielleicht konnten sie doch noch eine Lösung finden… jedenfalls wenn er eine glaubwürdige Lüge würde auftischen können. Wenn doch nur seine Panik nicht gewesen wäre, er war ein grauenhafter Schauspieler, das würde alles den Bach runtergehen, sie würden Nanami und Pilika nie wieder wiedersehen…! „Die Armee des Staates hat uns überraschend angegriffen und alle anderen…“ Sprach er selbst da? Waren das seine Worte? Er schluckte. „Wir haben es irgendwie geschafft, zu überleben, aber der Rest der Truppe…“ Jowy spürte Rious Blick auf sich, doch er sah mit blankem Gesicht auf zu dem Generalleutnant, in dessen blauen Augen ein Sturm tobte. „So ist das also“, sagte der Mann langsam und betrachtete die Gesichter der beiden Jungen. Mitleid schlich sich in seine harten Züge. „Ihr Jungs seid verdammt mutig, dass ihr noch hier seid. Dieser Staats-Abschaum!“ Er ballte die Hände zu Fäusten und spuckte abfällig zu Boden. „Sie sind das personifizierte Böse!“ „Das stimmt“, flüsterte Riou und neigte den Kopf, wahrscheinlich um zu verbergen, dass sein Gesicht ihn Lügen strafte. „Sie sind furchtbar…“ „Verdammt richtig!“ Das Mitleid mit den gefallenen Mitgliedern der Jugendbrigade wechselte zu Zorn; der Generalleutnant bebte regelrecht vor Wut. „Wie können sie es wagen, unschuldige Kinder abzuschlachten! Ihr Jungs habt ihnen nichts getan… Wir werden sie bluten lassen für ihre Verbrechen, verlasst euch drauf!“ Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen und fuhr sich fahrig durchs Haar. „Keine Sorge, Jungs. Wir werden uns für das, was sie euch angetan haben, rächen.“ „D-Danke…“ Jowy schluckte erneut hart, während die Präsenz der Rune des Schwarzen Schwerts in seinem Inneren Amok zu laufen schien, als sie seine Wut spürte, die langsam in ihm hochstieg. Es war nicht die Armee des Staates gewesen, die die Jugendbrigade wie Vieh abgeschlachtet hatte, es war nicht Anabelle gewesen, die den Befehl dazu gegeben hatte, es gab keine Verbrechen heimzuzahlen… Nicht, ohne sich gegen Luca Blight höchstpersönlich zu stellen. Benutze mich!, flüsterte die Rune eindringlich in seinen Gedanken, doch er unterdrückte den Drang, ihr zu gehorchen und sagte schnell: „Unser… unser Captain hat uns befohlen, ihm etwas Butter zu bringen, aber wir… wir sind erst seit kurzem hier und…“ Er brach ab und sah hoch in die blauen Augen des Generalleutnants, der sich langsam wieder beruhigte. „Butter, hm?“, wiederholte der Mann und Riou nickte. „Okay, Jungs, dann folgt mir. Ich bringe euch zum Proviantzelt.“ Ein Stein von der Größe des gesamten Tenzaan-Gebirges fiel Jowy in diesem Moment vom Herzen. Konnte es sein? Hatten sie sich tatsächlich aus dieser prekären Situation herausgewunden, ohne Verdacht zu erregen? Oh, bei den Runen, das musste ein Wunder sein! Sie beeilten sich, dem Generalleutnant durch das Camp zu folgen, bis sie an einem Zelt ankamen, das größer war als alle anderen. Mehrere Kisten stapelten sich vor dem Eingang und ein etwas verloren dreinblickender junger Mann mit halblangem, blonden Haar hielt davor Wache. Jowy hätte schwören können, dass er den Mann schon irgendwo gesehen hatte, aber er konnte nicht sagen wo. Vielleicht bildete er sich das auch einfach nur ein, aber die graugrünen Augen des Mannes schienen sich um einige Millimeter zu weiten, als sie sich ihm näherten. Doch wahrscheinlich galt es nur dem Generalleutnant. „Sir!“, rief der Mann aus und salutierte steif. Ein Blick auf die Abzeichen an seinen Schultern verriet dem jungen Aristokraten, dass der Soldat lediglich ein einfacher Gefreiter war. „Rühren“, entgegnete der Generalleutnant, nachdem er den Gruß erwidert hatte. „Diese Jungs sind hier, um ein bisschen Butter zu holen, also lasst sie rein, Soldat.“ „Ja, Sir“, nickte der Gefreite und trat zur Seite, um den Eingang ins Proviantzelt freizugeben. Dann fügte er an die beiden Jungen gewandt hinzu: „Aber beeilt euch, meine Schicht ist fast vorbei…“ Riou nickte und setzte sich als erster in Bewegung, Jowy folgte ihm schnell. Sie waren gerade auf Höhe des Gefreiten, der selbst nur einige Jahre älter aussah als die beiden Freunde, als der Generalleutnant plötzlich rief: „Hey… wartet mal!“ „Huh?!“ Jowy fuhr zu dem Offizier herum und registrierte nur beiläufig, dass auch der Soldat neben ihm seinen Befehlshaber erschrocken anstarrte. „Sir?“, erwiderte Riou vorsichtig. Für jemanden, der ihn nicht gut kannte, klang er völlig ruhig und selbstsicher, aber Jowy hörte ihm die Nervosität an. Oh, hoffentlich tat es der Generalleutnant nicht auch! „… War wohl nur Einbildung“, brummte der Mann jedoch. „Mit euren Gesichtern könnt ihr unmöglich Spione sein.“ Irrte Jowy sich oder atmete der Gefreite neben ihm auch erleichtert aus? „Lasst die Köpfe nicht sinken, Jungs“, sagte der Generalleutnant aufmunternd. „Es wird alles gut werden.“ Er salutierte und sie taten es ihm gleich, dann wandte sich der Mann ab und verschwand wieder zwischen den Zelten. „… Los, beeilt euch“, seufzte der Gefreite seltsam erleichtert auf, nachdem sie dem Offizier einen Moment lang noch nachgeblickt hatten. „Wie gesagt, meine Schicht ist fast vorüber und ich muss noch etwas erledigen.“ „Äh. Ja. Sofort!“ Riou nickte eilig und ergriff Jowy am Arm, ehe er das Stück Leinen, das den Zelteingang verdeckte, zur Seite schob und vorbeischlüpfte. Sie fanden sich im Halbdunkel des Zeltinneren wieder; um sie herum standen viele Kisten und Fässer, Säcke und Bündel lagen auf den freien Plätzen – außer ein paar schmalen Durchgängen war das Zelt voll. „Das war knapp“, wisperte Riou und atmete durch, nach dem er sich vergewissert hatte, dass der Gefreite vor dem Zelteingang sie nicht beobachtete. „Das war verdammt gefährlich“, stimmte Jowy ihm ebenso leise zu, dann wischte er sich mit dem Handrücken einen Schweißtropfen von der Stirn und sah sich im Halbdunkel um. „Beeilen wir uns, bevor er doch noch nach uns schaut.“ Mit einem letzten Blick auf den Stoffstreifen, der sie vor Blicken verbarg, setzte sich der Aristokrat in Bewegung und beugte sich über eine Kiste. Etwa zehn Minuten später hatten sie alles genau in Augenschein genommen und Jowy erwartete bereits, dass der Gefreite sich genervt danach erkundigen würde, was im Namen aller Runen sie so lange im Proviantzelt trieben, doch draußen war es absolut ruhig. Die einzigen Geräusche, die an seine Ohren drangen, waren die weit entfernten Stimmen der versammelten Highlander, die sich im äußeren Ring des Camps aufhielten. Auf den ersten Blick hatte es nach viel ausgesehen, was die Highland-Armee da an Proviant mit sich herumschleppte, aber dann rief sich Jowy die Größe der Ersten Kompanie in Erinnerung – die Armee des Königreiches Highland bestand aus vier Kompanien, wovon die erste ganze 10.000 Mann zählte und der Rest je etwa 5.000, wobei die Zahlen der Rekruten wahrscheinlich stetig stiegen. „Es ist genug für etwa zwei Wochen“, murmelte Riou, nachdem er einen Sack mit Kartoffeln wieder fest verschnürt hatte. „Sie planen wohl, das ganze schnell zu beenden…“, nickte Jowy düster. „Lass uns abhauen, bevor sie uns schnappen.“ Riou sagte nichts, sondern spähte nur vorsichtig am Leinenstreifen vorbei nach draußen. „Der Wachmann ist weg“, flüsterte er erstaunt und runzelte die Stirn. „… Beeilen wir uns. Ich traue der Sache nicht.“ „Hmm…“ Sie verließen das Zelt und vergewisserten sich, dass niemand in der Nähe war, dann eilten sie schnellen Schrittes in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren. Wieder spürte Jowy, wie das Adrenalin durch seine Blutbahnen peitschte, wie sein Herz vor Panik zu zerspringen drohte. Sie mussten hier weg, hier raus, möglichst viel Entfernung zwischen sich und die Highlander bringen, bevor irgendjemand sie erwischte… „Wenn das nicht Riou und Jowy sind!“ Wenn es möglich war, vor Schreck zu sterben, dann war Jowy in diesem Moment so kurz davor wie noch nie in seinem Leben. Er hatte fast vergessen, wie diese Stimme klang, hatte sie verdrängt, genau wie alles, was mit seiner Vergangenheit als Highlander zusammenhing. Aber er hatte nicht vergessen, wem sie gehörte oder was dieser Mann ihm angetan hatte. Er fuhr herum und starrte Rowd an, hin- und hergerissen zwischen Panik und Wut, die in ihm aufflammte und sich gleich einem Lauffeuer in seinem ganzen Körper auszubreiten schien. „Captain…“ Das Wort entkam ihm, bevor er es aufhalten konnte. Dieser Mann war nicht mehr sein befehlshabender Offizier, nicht mehr für ihn verantwortlich, niemand mehr, den er respektierte. Und dennoch… „Nun seid ihr also wirklich Spione des Staates geworden?“, zischte Rowd mit verengten Augen, die Hand auf dem Heft des Schwerts, das an seinem Gürtel hing. „Das muss Vorsehung sein! Aber diesmal entkommt ihr nicht. Eindringl-!!“ Ein Knacken ertönte, als aus dem Nichts Rious Faust hervorschoss und auf Rowds Nase traf. Ihr ehemaliger Captain gab ein schmerzerfülltes Ächzen von sich und ging in die Knie, dann ergriff Jowy auch schon das Handgelenk seines besten Freundes und rief: „Lass uns abhauen!“ Sie waren zwischen den Zelten verschwunden, noch bevor Rowd sich wieder aufgerappelt und nach Verstärkung gerufen hatte. Ab jetzt war diese Mission ein Kampf um Leben und Tod. Sie rannten so schnell sie konnten, weg, nur weg von dem Mann, der sie und alle anderen verraten hatte, der ihre Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um auf der Karriereleiter eine Stufe aufzusteigen, weg von ihm und den anderen Soldaten, die sie ohne zu zögern umbringen würden, wenn sie sie jemals in die Finger bekamen. Ein großes Zelt kam in Sicht, das prunkvoller als die anderen aussah. Hinter sich konnte Jowy ihre Verfolger hören, ihre Schreie, ihre Schritte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das ganze Camp ihnen auf den Fersen sein würde, nur eine Frage der Zeit, bis… „Riou! Hierher!“ Ohne weiter darüber nachzudenken, ergriff er Riou am Arm und zog ihn hinein in das prunkvolle Zelt, das sich so sehr von den anderen um es herum unterschied. Jowy brauchte einen Moment, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen, doch da ertönte bereits eine Stimme, die ihm vage bekannt vorkam. „Wer… seid ihr? … Das ist das Zelt der Königlichen Familie.“ Er blinzelte und starrte die junge Frau – eher noch ein Mädchen – erstaunt an. Oh, Runen. Was tat sie hier…? Große, blaue Augen sahen überrascht zwischen den beiden Jungen hin und her, das schwarze Haar fiel in einer fließenden Kaskade elegant ihren Rücken hinab. Das schulterfreie, rote Kleid mit der grün-blauen Korsage darüber betonte ihre schlanke Figur und sie passte so überhaupt nicht in das Bild des Militär-Camps, dass er völlig überrumpelt war. Er wusste nicht, wie viel Zeit er damit verbracht hatte, Jillia Blight anzustarren, doch er kehrte mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück, als die Schreie von draußen plötzlich viel zu nahe waren. „Wer seid ihr?“, wiederholte die Prinzessin und hob dezent ihre linke Augenbraue. Jowy warf einen nervösen Blick über seine Schulter und sagte dann sehr, sehr leise: „Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.“ Er hielt den Atem an, als er die schweren Schritte hörte, spürte, wie ein einzelner Schweißtropfen seine Schläfe herunterrann. Ihm war unangenehm heiß und dennoch fühlte er, wie ein kalter Schauer seinen Rücken hinunterlief. Das Mal der Rune des Schwarzes Schwerts prickelte auf seiner Haut… „Verzeiht mein Eindringen, Prinzessin – mein Name ist Rowd, ich bin zu Eurem Schutz eingeteilt worden. Zwei Spione des Staates haben sich hier im Camp Zutritt verschafft. Vergebt meine Dreistigkeit, aber wenn Ihr mir erlauben würdet, Euer Zelt zu durchsuchen, nur zur Sicherheit…?“ Er näselte. War seine Nase gebrochen? „Das ist nicht nötig. Bitte geht.“ „Ich versichere Euch, es wird nur einen kurzen Moment…“ „Ich sagte doch, es ist nicht nötig. Danke für Eure Sorge… Aber ich möchte nun allein sein.“ „A-Aber… was, wenn… auf irgendeine Weise…?“ „Ich habe Euch gebeten zu gehen! Oder habt Ihr vor, Euch dem ausdrücklichen Willen einer Lady – und Eurer Prinzessin – zu widersetzen und meine privaten Schlafgemächer zu durchsuchen?“ „N-Nein, Mylady… Natürlich nicht… B-Bitte vergebt mir, Prinzessin.“ Schritte, ein paar gerufene Befehle. Dann… „War das in Ordnung so… Herr Spion?“ Jowy öffnete die Augen und stieß den angehaltenen Atem aus, dann kam er langsam hinter der riesigen Truhe hervor, hinter der er sich verborgen gehalten hatte, zwischen der Zeltwand und dem Lager der Prinzessin. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Riou ihm folgte, dann richtete sich sein Blick auf Jillia, welche die beiden Jungen mit ernstem Gesichtsausdruck beobachtete. Einen Moment lang sagte keiner etwas und die Stille schien unerträglich laut, dann räusperte Jowy sich und sagte: „Vergebt uns… Wir haben Euch überrascht.“ Und bedroht, fügte er in Gedanken hinzu. An der Art, wie sie wieder nur ganz leicht ihre linke Augenbraue hob, erkannte er, dass sie das gleiche gedacht hatte. „Oh, das macht nichts“, erwiderte sie jedoch nach einigem Zögern und schenkte ihnen ein Lächeln. Riou runzelte die Stirn. „Was… meint Ihr?“ Das hätte Jowy auch gern gewusst. Was war hier los? Erst hatte Jillia Rowd hinauskomplimentiert, um ihn und Riou zu decken, nun nahm sie es ihnen nicht einmal übel? „Habt keine Angst“, sagte die Prinzessin mit einem freundlichen Lächeln, ehe sie zu einer kleinen Truhe hinüberging, sie öffnete und ein Teeservice hervorholte. Unter den verblüfften Blicken der beiden Jungen schritt sie dann zu einer Kanne hinüber, die auf dem Tisch in der Mitte des Zeltes stand, und sah zu ihnen herüber. „Ich dachte, ich serviere euch etwas Tee… Immerhin sieht es ganz so aus, als müsstet ihr eine Weile hier bleiben.“ „T-Tee…?“ „Nach Highlander Art gebrüht“, bestätigte Jillia, die seelenruhig die drei Porzellantassen auf den Tisch stellte und die Teekanne in die Hand nahm. „Es ist bei uns üblich, dass man Gästen Tee serviert. Und außerdem…“ Sie warf Jowy einen fast schon kühlen Blick zu. „Würdet Ihr bitte das Messer in Eurer Hand weglegen? Oder ist es in Jowston ein akzeptables Verhalten, dass man seinen Gastgeber bedroht?“ Der Aristokrat zuckte zusammen und starrte das Messer an, das er noch immer fest umklammert hielt. Die Situation fühlte sich absurd, fast schon lächerlich an. Das hier war die Prinzessin von Highland, die Schwester von Luca Blight, und er war… was war er denn? Ein Spion. Ein Landes- und Blutsverräter. Und dennoch servierte ihm dieses Mädchen gerade Tee?! Langsam steckte er das Messer zurück in seinen Stiefel und sah langsam wieder auf in die blauen Augen der Prinzessin. Diese lächelte zufrieden und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, näher zu kommen. „Bitte setzt euch.“ Zögernd tat Jowy wie ihm geheißen und nahm Platz, Riou tat es ihm gleich. Sie vermieden es, sich anzuschauen – beiden war klar, wie abstrus das alles war. Und entweder sie beide waren nun endgültig übergeschnappt, dass sie hier saßen und sich Tee servieren ließen… oder die Prinzessin war es. Nachdem Jillia ihnen die Teetassen zugeschoben hatte, setzte sie sich ebenfalls, ihnen gegenüber mit dem Rücken zum Zelteingang. Wieder sagte keiner etwas. Jowy sah hinunter in seine Tasse, betrachtete die dunkle Flüssigkeit und fragte sich insgeheim, ob Rowd sie vielleicht doch erwischt hatte und das alles nicht lediglich ein Traum war. „Wir haben uns doch schon einmal gesehen, nicht wahr?“, drang dann plötzlich Jillias Stimme an seine Ohren und er hob verwirrt den Kopf. Sie… erinnerte sich? „In Kyaro.“ „Ja…“ Riou räusperte sich und trank einen Schluck Tee. „Ihr erinnert Euch daran?“ „Natürlich“, entgegnete die Prinzessin fast schon ein bisschen empört, wurde aber sofort wieder ernst und sah Jowy an. „Ihr habt etwas gesagt, das mich zum Nachdenken gebracht habt. … Dieses Land hat uns verraten. Ich werde das nie verzeihen. Oder etwas in der Art. Richtig?“ Er sagte nichts, sondern senkte den Kopf. Was sollte er dazu auch sagen? Er wollte nicht einmal mehr daran denken… „Ich…“, begann er, brach jedoch ab und beließ es dabei. „Das letzte Mal, als wir uns trafen, wart Ihr gesprächiger“, bemerkte Jillia nach einer Weile und er sah gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sie ihm über den Rand ihrer Teetasse hinweg einen eigenartigen Blick zuwarf. Erneut breitete sich Schweigen aus und Jowy rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Er hasste diese Art von Stille! Immerzu hatte er das Gefühl, er müsste irgendetwas sagen. Als die Ruhe unerträglich wurde, räusperte er sich. „Jillia…“ Ah, nein. Das konnte er nicht sagen. „Ich meine – Prinzessin. Was tut Ihr an einem Ort wie diesem?“ Das interessierte ihn wirklich. Allein schon, dass sie sich hier ganz allein aufhielt, in einem Camp voller Soldaten, ohne irgendwelche Hofdamen oder… „Mein Bruder…“, durchdrang Jillias Stimme seine Gedanken. „Luca. Kennt ihr ihn?“ „Er ist ein Monster“, brummte Riou undeutlich und sah demonstrativ nicht in die Richtung der Prinzessin. Entsetzt wandte sich Jowy ihm zu und zischte: „Riou!“ Es war nicht so, dass er nicht derselben Meinung war, ganz im Gegenteil, aber das konnte man doch Jillia Blight nicht ins Gesicht sagen! Sein Freund schnaubte, doch bevor er etwas sagen konnte, erwiderte die Prinzessin: „Nein… Ihr habt wahrscheinlich Recht.“ Sie blickte hinab in ihre Teetasse, die sie mit beiden Händen fest umklammert hielt. „Ich bin seine jüngere Schwester und sogar ich denke manchmal so von ihm. Ich verstehe ihn einfach nicht… Niemand tut es.“ Sie seufzte schwer und schüttelte den Kopf. „Mein Bruder versucht, den Krieg auszuweiten. Am liebsten würde er wahrscheinlich die ganze Welt darin verwickelt sehen… und das, obwohl ein Großteil des Volkes von Highland schon so erschöpft von diesem endlosen Kampf ist…“ Jowy betrachtete sie mitleidig, unschlüssig, was er sagen konnte, um sie aufzumuntern. Sie sah traurig aus und er fragte sich zwangsläufig, wie schwer es die Prinzessin haben musste, ausgerechnet mit Luca Blight verwandt zu sein. Und dann waren da noch die Gerüchte um die Umstände ihrer Geburt… Von seinem Stiefvater hatte er nicht selten ein schlechtes Wort über Jillia Blight gehört. Und es hatte so viele Gespräche im Haus gegeben, darüber, dass sie ein uneheliches Kind der Königin war, dass sie in Schande empfangen worden war… Natürlich war das alles hinter vorgehaltener Hand gesprochen worden, aber dennoch… Wie viel hatte diese junge Frau in ihrem Leben schon ertragen müssen? „Ich glaube langsam, dass er etwas wirklich Böses plant…“, fuhr die Prinzessin mit unsteter Stimme fort. „Bis jetzt habe ich eigentlich immer gedacht, dass ich ihn irgendwie aufhalten könnte, dass ich ihn zur Vernunft bringen könnte, aber… ich glaube nicht, dass das überhaupt möglich ist. Nicht, nachdem ich dieses Armeelager gesehen habe. Er würde mir niemals zuhören…“ Sie schluckte. „Für meinen Bruder bin ich nur ein weiterer Feind, fürchte ich.“ Vielleicht… war ja doch etwas Wahres an den Gerüchten… „Als Prinzessin – und vor allem als Frau – bin ich in meinen Möglichkeiten sehr eingeschränkt“, murmelte Jillia. „Das ist…“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dann zuckte sie zusammen und sah nervös zwischen den Jungen hin und her. „Oh, bitte verzeiht mir – ich… hätte nicht so viel sagen dürfen. D-Der Tee ist bestimmt schon ganz kalt…“ Riou reagierte schneller als Jowy und versicherte der völlig aufgelösten Prinzessin, die scheinbar angestrengt die Tränen wegblinzelte, dass der Tee noch völlig in Ordnung war, während der Aristokrat ihre Worte noch verarbeiten musste. Sein Mitleid für sie regte sich wieder. Es konnte doch nicht sein, dass sie niemanden hatte, der ihr zuhörte… und sie dazu gezwungen war, sich zwei völlig Fremden anzuvertrauen. „Es scheint, als hätte sich der Tumult draußen fürs Erste gelegt“, sagte Jillia irgendwann zögerlich. „Vielleicht solltet ihr jetzt gehen…?“ „Oh“, machte Jowy etwas perplex. „Ja.“ Er hatte fast vergessen, dass sie ja eigentlich auf der Flucht waren. „Danke für den Tee.“ Riou erhob sich und lächelte die Prinzessin aufmunternd an. „Und… tut uns leid, dass wir Euch gestört haben.“ „Es war… angenehm“, entgegnete Jillia und lächelte ebenfalls etwas, ehe der Blick ihrer blauen Augen sich Jowy zuwandte. „Lebt wohl. Ich denke nicht, dass wir uns wiedersehen werden…“ „Passt auf Euch auf“, erwiderte der Aristokrat und neigte den Kopf in einer Art Verbeugung. Es fühlte sich seltsam und unwirklich an, jetzt zu gehen, sie hier zu lassen, bei ihrem wahnsinnigen Bruder und all den Männern, die ihm folgten… Während Riou vorsichtig nach draußen spähte, um sich zu vergewissern, dass ihnen keiner auflauerte, warf Jowy einen letzten Blick zurück zur Prinzessin, die irgendwie verloren in dem großen Zelt zurückblieb. Er hoffte inständig, dass ihr nichts geschehen würde. Als sie nach draußen traten, stellten sie fest, dass es wieder zu regnen begonnen hatte. Sie sahen ein paar Männer hin- und herlaufen und Jowy atmete tief durch. „Lass uns abhauen“, raunte er Riou zu. Dieser nickte und sie setzten sich in Bewegung, zielstrebig, nur weg von diesem Ort. Sie mussten es schaffen, sie mussten einfach. So weit war es gar nicht und außerdem… „Ich wusste es… die Prinzessin hat also doch gelogen.“ Rowd. Kapitel 26: In der Höhle des Löwen ---------------------------------- Jowy fuhr herum und starrte seinen ehemaligen Befehlshaber geschockt an, doch dieser betrachtete die Jungen mit einem fast schon sadistischen Lächeln. Seine Nase sah seltsam eingedellt aus und auf seiner Oberlippe entdeckte man bei genauem Hinsehen noch eine Spur getrockneten Blutes. „Ich habe schon geahnt, dass die Prinzessin alles tun würde, um Lord Luca zu sabotieren“, sagte er, während er langsam auf sie zuschritt, die Hand auf dem Heft seines Schwerts. „Deshalb habe ich mich auf die Lauer gelegt… Und wer taucht auf? Ihr Jungs.“ Rowd zog das Schwert mit einer einzigen, schnellen Bewegung und bellte: „Ergreift sie!“ Natürlich hatten sie keine Waffen dabei, natürlich nicht! Wie dämlich konnte man eigentlich sein?! Gehetzt sah Jowy sich um, als um sie herum Highlander auftauchten und sie umstellten. Wenn er sich nicht irgendetwas einfallen ließ, würde man sie beide gefangen nehmen und Nanami und Pilika würden ganz allein sein. Das konnte er nicht zulassen. Er musste etwas tun, er musste… „Diesmal entkommt ihr mir nicht“, zischte Rowd und Jowy sah die Wut in seinen Augen. In diesem Moment wusste Jowy, was er tun musste. Er rammte einem der Männer, der versuchte, ihn von hinten zu packen, den Ellenbogen in den Magen, fuhr herum und schlug ihm ins Gesicht, ehe er Riou zurief: „Ich will, dass du verschwindest!“ „Was?!“ Riou tauchte unter einem Schwert hinweg, das auf ihn zusauste, entriss es dem Besitzer und trat ihm zwischen die Beine, dann nutzte er die Klinge dazu, um eine weitere abzuwehren. „Bist du völlig übergeschnappt?“ „Riou, wenn sie uns beide kriegen, geraten Nanami und die anderen vielleicht auch in Schwierigkeiten!“ Jowy rammte einen seiner Angreifer mit der Schulter und nutzte dessen kurzzeitige Verwirrung, um ihm den Speer abzunehmen. Er ließ die Waffe kreisen, parierte zwei Schwertklingen und stieß das stumpfe Ende mit voller Kraft einem Soldaten in den Rücken, der Riou von hinten attackieren wollte. „Ich werde dich hier nicht alleine zurücklassen!“, erwiderte sein bester Freund fast schon wütend, ehe er das Heft des entwendeten Schwerts unsanft gegen den Kiefer eines Highlanders krachen ließ. Der Mann stolperte zurück, doch an seine Stelle sprangen sofort zwei neue. Sie konnten nicht so weiter machen… „Wir haben keine Zeit für lange Diskussionen!“, raunzte Jowy, riss den Speer hoch und wehrte eine hinuntersausende Schwertklinge nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht ab. „Hau schon ab, ich komme nach, versprochen!“ Ihre Blicke trafen sich, nur für den Bruchteil einer Sekunde – dann nickte Riou ruckartig, biss sich auf die Lippe und stieß das Schwert dem erstbesten Soldaten in die Seite, ehe er den Tumult ausnutzte und die Beine in die Hand nahm. „Hinterher!“, blaffte Rowd und ein paar der Männer folgten dem flüchtenden Jungen. Der Captain selbst stürzte nun mit gezogenem Schwert auf Jowy zu, der dem Angriff nur mühsam ausweichen konnte. „Versuchst du etwa, deinen kleinen Freunden etwas mehr Zeit zu verschaffen? Das ist sehr niedlich“, ätzte Rowd. „Aber auch sehr, sehr sinnlos.“ „Sei still!“, rief Jowy wütend und schlug eine weitere Schwertklinge zur Seite. „Ich sehe sogar sehr viel Sinn darin, meine Freunde zu retten!“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da traf ihn etwas schmerzhaft im Rücken und er schnappte geschockt nach Luft – der Speer rutschte ihm aus den Fingern und er selbst fiel auf die Knie, während sich der Schmerz wellenartig in seinem gesamten Körper ausbreitete. „Was für ein leeres Geschwätz“, hörte er Rowd verächtlich murmeln. „Keine Sorge, Junge – deinen Freund Riou kriegen wir auch noch.“ Grob wurde Jowy von mehreren Händen gepackt, jemand ergriff ihn an den Haaren und riss seinen Kopf gewaltsam nach hinten, damit er zu Rowd aufsah; ein Ächzen entwich dem Aristokraten und er starrte hasserfüllt in das Gesicht seines ehemaligen Kommandanten. Runen, wie er diesen Mann verabscheute…! Benutze mich!, flüsterte die Rune des Schwarzen Schwerts eindringlich in seinen Gedanken und diesmal protestierte er nicht. Wenn du wirklich eine der 27 Wahren Runen bist, dann… gib mir die Kraft, die ich…! Er hatte keine Möglichkeit, den Gedanken zu Ende zu formulieren, da er von etwas Schwerem am Hinterkopf getroffen wurde. Vielfarbige Sterne explodierten vor seinen Augen, dann spürte er, wie sein Bewusstsein ihm entglitt. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er als erstes den dröhnenden Schmerz in seinem Kopf. Dann wurde ihm klar, dass man seinen regungslosen Körper einfach so hinter sich herschleppte… wohin auch immer es ging. Die zwei Soldaten, die ihn wie einen nassen Mehlsack hinter sich hergeschleift hatten, blieben stehen und Jowy entkam ein leises Stöhnen. Oh, verdammt, er hatte nicht aufgepasst… Er zwang sich dazu, die Kopfschmerzen zu ignorieren und konzentrierte sich darauf, herauszufinden, wo er sich befand. Zwar verschwamm seine Sicht alle paar Augenblicke – der Schlag war wohl sehr hart gewesen… – aber dennoch kam ihm seine Umgebung bekannt vor. Aber andererseits sah alles in diesem Camp irgendwie gleich aus, daher… „Bringt ihn rein!“, ertönte in diesem Moment nur eine allzu vertraute und vor allem verhasste Stimme. Jowy wurde auf die Beine gezogen und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass man ihm die Hände auf dem Rücken festgebunden hatte – und das nicht zu locker. Die Stricke schnitten in seine Handgelenke, trotz der Handschuhe, die er trug, und er unterdrückte ein Ächzen, als die Soldaten ihn in das Innere eines Zeltes schleiften. Er hörte jemanden aufjapsen und sah auf, realisierte jedoch im selben Moment, dass es unter Umständen besser gewesen wäre, wenn er sich weiter bewusstlos gestellt hätte. Rowd und seine Männer hatten ihn geradewegs in das Zelt der Blights gebracht – und diesmal war nicht nur Jillia anwesend, sondern auch ihr Monster von einem Bruder. „Das ist er, Lord Luca“, teilte ihm Rowd, der direkt neben dem Kronprinzen stand, mit. „Der Spion, von dem ich Euch berichtet habe.“ Jowy entwich ein wütendes Knurren, dann bemerkte er plötzlich den blonden Gefreiten, der sie vorhin in das Vorratszelt gelassen hatte. Was im Namen aller Runen tat er hier? Und warum starrte der junge Mann ihn genau so entsetzt an, wie Jowy selbst war? „Wenn das so ist“, brummte Luca Blight unzufrieden, dann wandte sich der bohrende Blick seiner fast schwarzen Augen dem jungen Aristokraten zu. „Wer bist du, Bengel? Oder zittern dir zu sehr die Knie, um dich an deinen Namen zu erinnern?“ Jowy presste die Zähne aufeinander und stieß ein hasserfülltes Geräusch aus, dann stieß er unwillig hervor: „… Jowy.“ „Der kleine Bastard kommt aus der gleichen Stadt wie ich“, spie Rowd verächtlich aus. „Sein voller Name ist Jowy Atreides!“ „Atreides?“, wiederholte Luca eher milde überrascht. „Das ist doch diese Adelsfamilie aus Kyaro… Oder nicht, Jillia?“ Er wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu, einen überheblich-höhnischen Ausdruck im Gesicht. Die Prinzessin zuckte zusammen und starrte ihren Bruder mit riesigen, erschrockenen Augen an. Dann räusperte sie sich, sah zur Seite und erwiderte leise: „Ich fürchte, ich erinnere mich nicht.“ Eine Lüge. Natürlich wusste Jillia, wer die Atreides-Familie war, sie hatte immerhin ihr halbes Leben in Kyaro gelebt. Und als Mitglied der Königsfamilie kannte sie die Adligen aus ganz Highland… Aber Rowd durchschaute diesen kläglichen Versuch, Jowys Leben zu retten, und sagte: „Es stimmt, Lord Luca – er ist der älteste Sohn der Atreides-Familie… auch, wenn er enterbt wurde.“ Der Aristokrat biss sich auf die Lippe, um sich nicht noch weiter in Schwierigkeiten zu bringen, um nicht noch mehr zu riskieren, um nicht vollends die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Er musste die Nerven bewahren, sonst würde er seine Versprechen gegenüber Riou, Nanami und Pilika brechen. „Bringt ihn näher zu mir, ich will mir sein Gesicht ansehen.“ Einer der Soldaten gab ihm einen Tritt und Jowy stolperte nach vorne, genau vor die Füße des Kronprinzen von Highland. Dieser ergriff den Jungen am Kragen und zog ihn wieder auf die Beine, ehe er knurrte: „Wo habe ich dieses Gesicht schon einmal…?“ Ein undefinierbares Geräusch entwich Jowys Kehle, als Luca Blight ihm einen verächtlichen Blick von oben herab zuwarf. Und dann brach der Prinz plötzlich unerwartet in das abscheulich hohe, fast schon hysterische Gelächter aus, das dem Aristokraten einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. „Du bist doch eine der Gören aus dem Söldnerfort!“, rief der Kronprinz mit einem wahnsinnigen Funkeln in den Augen aus, nachdem er sich beruhigt hatte. „Sohn einer angesehenen Familie und dennoch Spion für Jowston, hm?“ „Was gibt dir das Recht, darüber zu urteilen?!“, rutschte es Jowy heraus, der inzwischen so wütend war, dass er weder auf Umgangsformen noch auf seinen gesunden Menschenverstand achtete. „Es ist deine Schuld, dass Pilika nicht mehr sprechen kann!“ Er machte Anstalten, sich auf sein Gegenüber zu stürzen – es war egal, dass er gefesselt war, egal, dass er sowieso keine Chance hatte – aber die Soldaten, die ihn hierher geschleppt hatten, ergriffen ihn gerade noch rechtzeitig an den Oberarmen, um ihn zurückzuziehen. „Heh“, machte Luca, den Jowys Ausbruch regelrecht amüsiert zu haben schien. „Du bist ja richtig lebendig, Kleiner.“ Scharf explodierte die Wut in Jowys Innern, der Hass, die Abscheu. Die Rune des Schwarzen Schwerts schien aufzubrüllen, ein dunkelrotes Licht schien das kleine Zelt auszufüllen… Und dann hörte es plötzlich auf, als hätte die Rune es sich anders überlegt. Er war so perplex, dass er jeglichen Widerstand gegen die Männer, die ihn festhielten, aufgab. „Dieses rote Licht… Warst du das etwa, Junge?“ Jowy knurrte zur Antwort, während er verzweifelt versuchte, mental seine Rune zu rufen. Warum reagierte sie nicht? Für gewöhnlich bot sie sich ihm selbst an, drängte ihn geradezu dazu, sie zu nutzen… „Natürlich war er es“, brummte Rowd. „Es muss eine Rune oder etwas in der Art sein, er hat vorhin auch versucht, sie gegen uns einzusetzen…“ Luca spuckte abfällig zu Boden und schnaubte: „Jetzt schicken sie schon Kinder! Das Mutterschwein von Muse steht jetzt wohl endgültig mit dem Rücken zur Wand.“ „Wag es nicht, so über Anabelle zu sprechen!“, schnappte Jowy hasserfüllt. „Sie ist mehr wert als du jemals sein wirst!“ Hätte er auch nur einen klaren Gedanken fassen können, zwischen all der Angst, der Panik, der Wut, dem Hass, wäre ihm bewusst gewesen, dass er wahrscheinlich keinen größeren Fehler begehen konnte als den, Luca Blight zu beleidigen, aber in diesem Augenblick war es ihm egal, so egal. Einen Moment lang verzerrte sich das Gesicht des Prinzen von Highland zu einer wütenden Grimasse, Jillia schlug die Hände vor den Mund und der Gefreite, der hinter ihr stand, biss sich auf die Lippe, doch dann schlich sich plötzlich ein listiger Ausdruck in Luca Blights Gesicht, der fast beängstigender war als seine Wut. „Du kennst Anabelle?“, fragte der Prinz nach und sein Mund verzog sich zu einem blutrünstigen Grinsen. „Ich wusste, dass da noch etwas ist!“ Er kicherte leise, dann zückte er ein Messer und kam damit direkt auf Jowy zu. Gerne hätte er in diesem Moment einen Schritt zurückgemacht, wäre geflohen, aber die Griffe der Soldaten um seine Oberarme waren fester als Granit. „Ich gebe dir dieses Messer“, sagte der Kronprinz langsam, während er Jowys Kinn ergriff und ihn zwang, ihm in die Augen zu sehen. „Damit wirst du Anabelle umbringen und uns den Weg nach Muse ebnen – es ist ein passendes Ende für ein Weib wie sie.“ Ungläubig starrte Jowy hoch in das verhasste Gesicht, während Luca Blight das Messer in den Gürtel des Aristokraten gleiten ließ. „Du… du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das tun werde?!“, zischte der Junge wütend. Wieder schnaubte Luca amüsiert und ließ Jowys Kinn los. „Kleiner… Du hast das Land verraten, in dem du geboren bist, die Stadt, in der du aufgewachsen bist, und die Familie, die dich großgezogen hat. Gegen all das ist dieser Mord gar nichts mehr!“, rief der Kronprinz aus und lachte – alle Anwesenden außer dem blonden Gefreiten, Jillia und Jowy selbst fielen in das Gelächter ein. „Nur über meine Leiche“, zischte der Aristokrat und Luca hielt abrupt in seinem Lachen inne. „Ist das so?“, vergewisserte sich der Kronprinz, wieder das wahnsinnige, wütende Funkeln in den dunklen Augen. Dann grinste er wieder. „Wenn das deine endgültige Entscheidung ist, dann werden du und alle anderen Mitglieder der Atreides-Familie des Hochverrats am Königshaus der Blights bezichtigt. Und du darfst natürlich dabei zusehen, wie einer nach dem anderen gehängt wird, ehe du an der Reihe bist!“ „Ich bin kein Atreides mehr!“, rief Jowy. Seine gesamte Wut schlug schlagartig in blanke Panik um. „Sie haben nichts damit zu tun! Ich habe den Namen abgelegt!“ „Heh“, machte Luca Blight abfällig. „Du kannst vielleicht deinen Namen verneinen, aber nicht das Blut, das durch deine Adern fließt!“ Jowy sah zu Boden. Runen, was sollte er tun? Er konnte Anabelle nicht einfach umbringen, sie war die Hoffnungsträgerin einer ganzen Nation, er würde keinen Mord begehen – aber er konnte es seiner Mutter nicht antun, dass sie sich unter solchen Umständen wiedersahen. Sie war eine gute Frau, sie hatte den Tod nicht verdient, sie hatte schon genug daran zu leiden, dass er… „Bringt ihn in das Vorratszelt und lasst ihn sich die Nacht über abkühlen“, brach Luca Blights geschnarrter Befehl durch seine rasenden Gedanken. „Vielleicht ändert er seine Meinung morgen früh…“ „Aber… L-Lord Luca…“ „Was?“ Lucas genervter Blick wandte sich Rowd zu, der nun regelrecht zu schrumpfen schien. „N-Nichts, Mylord!“, stammelte der Captain. „Z-Zu Befehl. Los, ihr habt es gehört!“ Die letzten Worte galten den zwei Männern, die Jowy noch immer eisern festhielten – doch inzwischen wehrte er sich gar nicht. Seine gesamte Energie schien ihn mit einem Schlag verlassen zu haben, er fühlte sich schlapp und hilflos. Als man ihn wieder nach draußen zerrte, hinaus in den strömenden Regen, sah er noch die großen, schreckgeweiteten blauen Augen von Jillia Blight… und die ernsten graugrünen Augen des jungen, blonden Soldaten, der ihm so furchtbar bekannt vorkam. Dann verschwand all das hinter dem Regenvorhang. Kalt. Einsam. Grau. Seine Glieder waren steif, sein Kopf und sein Rücken taten noch weh von den Schlägen, doch er merkte nichts davon. Sein Unwohlsein war nur eine vage Ahnung am Rande seines Bewusstseins – seine Gedanken waren ganz woanders. Was sollte er nur tun? Er konnte doch nicht einfach einen Mord begehen! Das hatten Anabelle und die Stadt-Staaten nicht verdient. Aber genauso wenig konnte er einfach riskieren, dass seine Mutter seinetwegen hingerichtet wurde. Sie war seine Mutter. Er liebte sie! Auch wenn… Auch wenn er wohl nicht mehr als ihr Sohn galt, nach allem, was passiert war. Er konnte nichts dagegen tun, wieder tauchte das Bild ihres traurigen Gesichtes vor seinem inneren Auge auf. Oh, warum, warum wusste Luca Blight genau, was er sagen musste, um Jowy vor ein auswegloses Dilemma zu stellen?! Er hatte sich zwar verboten, vor lauter Verzweiflung in Tränen auszubrechen, konnte aber nicht verhindern, dass seine Augen trotzdem feucht wurden. Oh, Runen, was sollte er denn nur tun? Man hatte ihn in das gleiche Vorratszelt gebracht, in das er vor nur wenigen Stunden zusammen mit Riou eingebrochen war. Seine Hände hatte man ihm hinter dem Hauptmast des Zeltes zusammengebunden, sodass er unmöglich entkommen konnte, obwohl er noch immer ein Messer in seinem rechten Stiefel hatte und der Dolch, den Luca Blight ihm zugesteckt hatte, noch immer in seinem Gürtel steckte. Aber so sehr sich Jowy auch verbog und wand, er kam an keine der Waffen und überhaupt, wie sollte er denn entkommen, wenn das Zelt sowieso bewacht wurde…? Sein Magen knurrte leise in der Dunkelheit und er dachte daran, dass er den ganzen Tag fast nichts gegessen hatte. Aber andererseits war es sowieso egal. Er wusste nicht, wie spät es war, aber die Nacht war wohl schon hereingebrochen. Wie lange saß er schon hier in der Finsternis des Vorratszeltes und lauschte den immer leiser werdenden Geräuschen des Militärlagers? Als er ganz in seiner Nähe Schritte hörte, dachte er zunächst, er hätte sie sich eingebildet. Dann jedoch tauchte ein Licht in seinem Sichtfeld auf und er hob verwirrt den Kopf. Vielleicht spielte ihm sein gemarterter Körper einen Streich – er wusste es nicht. Denn dort, direkt vor ihm, mit einer Laterne in der Hand und einem mitleidigen Ausdruck im Gesicht, stand Jillia Blight höchstpersönlich. „Was…?“ „Es tut mir so leid“, flüsterte die Prinzessin, ehe sie sich auf die Knie sinken ließ und die Laterne neben sich abstellte. „Ich hätte so gern etwas gesagt oder getan, aber…“ „Warum seid Ihr hier?“, unterbrach er sie verwirrt. Jillia blinzelte überrascht und antwortete dann: „Weil es nicht richtig ist, wozu mein Bruder Euch zwingen will!“ Das wusste Jowy auch selbst, aber er verkniff sich jeden sarkastischen Kommentar, als er in ihre Augen sah. Ihr Mitleid war aufrichtig. „Mein Bruder ist ein blutrünstiges Monster“, wisperte Jillia. „Ihr dürft auf gar keinen Fall tun, was er von Euch verlangt! Ich werde Euch…“ „… Prinzessin.“ Sie zuckte überrascht zusammen und starrte ihn an. „Ich bin ein Spion. Euer Feind. Warum…?“ „Weil ich noch weiß, was richtig und was falsch ist!“ Jillia war etwas zu laut geworden und schlug sich schnell eine Hand vor den Mund, ehe sie sich gehetzt zum Zelteingang umsah. Als jedoch nichts geschah, ließ sie die Hand wieder sinken und sah ihn ernst an. „Ich weiß, wer Ihr seid“, sagte sie leise, „und ich weiß auch, was Euch nach Jowston getrieben hat. Ich kann verstehen, warum Ihr auf der Seite des Staates steht, obwohl Ihr als Highlander geboren wurdet.“ Tat er das? War es so? War er zum Staat übergelaufen? Er wusste es nicht, er wusste gar nichts mehr, er war völlig überfordert… „Ihr und ich, wir wünschen uns beide wahrscheinlich nichts sehnlicher, als dass dieser Krieg endlich endet“, fuhr die Prinzessin fort. „Und deshalb bitte ich Euch, tötet Lady Anabelle nicht! Gebt meinem Bruder keine Gelegenheit, dieses Land brennen zu sehen, bitte!“ Er starrte sie wortlos an und wusste nicht, was er sagen konnte. Jowy war ja selbst klar, dass er die Bürgermeisterin unmöglich umbringen konnte, aber… seine Mutter… „Ich werde Euch gehen lassen“, erklärte Jillia ihm ernst. „Und dann könnt Ihr nach Kyaro zurückkehren und Eure Familie warnen!“ Ungläubig suchte er ihr Gesicht nach einer Lüge ab, doch da war keine. Sie war absolut ehrlich. „Prinzessin…“ „Wartet einen Moment.“ „P-Prinzessin?“ Sie zuckte entsetzt zusammen und fuhr herum zum Eingang. Im schwachen Licht der Laterne war es schwer, sich sicher zu sein, aber Jowy hätte trotzdem schwören können, dass dort der junge Soldat stand, dem er schon mehrmals begegnet war. „Was wollt Ihr?“, fragte Jillia abweisend und erhob sich. „Ich dachte, ich hätte gesagt, dass ich nicht gestört werden will?“ „Äh… Verzeiht, Prinzessin, aber… aber… mir wurde befohlen, den Gefangenen zu füttern…“ Der junge Mann kam näher und entpuppte sich tatsächlich als der blonde Gefreite, der allmählich etwas zu oft in Jowys Nähe auftauchte. Jillia sah schnell zwischen dem Soldaten und dem Aristokraten hin und her, dann neigte sie ruckartig den Kopf und sagte: „Dann tut das, wofür Ihr gekommen seid, Soldat.“ Sie ließ die Laterne stehen und ging eiligen Schrittes zum Zelteingang, wo sie neben dem jungen Mann stehen blieb und zischte: „Ihr habt mich nicht gesehen!“ „Z-Zu Befehl, Prinzessin.“ Jillia warf Jowy noch einen letzten, traurigen Blick zu, dann verschwand sie. „Habe ich etwas unterbrochen?“, fragte der Soldat nach einem Moment des Schweigens in einem schwachen Versuch, die Spannung etwas zu lockern. „Nein…“ Jowy seufzte leise und sah zu Boden. Er wusste nicht einmal, ob er gewollt hatte, dass Jillia ihn laufen ließ – dadurch hätte sie sich doch nur selbst in Gefahr gebracht und außerdem konnte er nicht einfach nach Hause zurückgehen und seine Mutter warnen… Ihm würde ja doch keiner glauben… „Die Suppe ist kalt“, murmelte der Gefreite, „und sieht ein bisschen wässrig aus, aber ich glaube, es ist besser als gar nichts…“ Der junge Mann kniete sich dort hin, wo Jillia noch wenige Minuten zuvor gesessen hatte, und Jowy bemerkte die Schüssel und den Löffel, den der Soldat ihm hinhielt. „Ich will nichts essen“, sagte der Aristokrat und ignorierte das Brummen seines Magens. Er wollte nicht der Gnade der Highland-Armee ausgeliefert sein… „Ich denke, du solltest es trotzdem tun“, erwiderte der Soldat. „Woher willst du sonst die Kraft zur Flucht nehmen?“ ----------------- A/N: Bevor einer fragt: Der Dialog mit Luca stammt mehr oder weniger direkt aus Suikogaiden Vol.1 - bei Ramsus-kun findet sich eine größtenteils vollständige Übersetzung der Szene, also entschuldige ich mich im Voraus für eventuelle Unlogik :D Kapitel 27: Ein Ort zum Zurückkehren ------------------------------------ Jowy sah so abrupt zu dem Mann auf, dass seine Halswirbel unangenehm knackten, aber das kümmerte ihn in diesem Augenblick eher wenig. Was hatte er gesagt? „Jetzt schau mich nicht an wie ein Flughörnchen, wenn’s donnert, und iss“, grinste der Soldat etwas unbeholfen und steckte dem verblüfften Jowy demonstrativ den Löffel mit der kalten Suppe in den Mund. „Danach lasse ich dich laufen…“ „Warum?“, verlangte der Aristokrat zu wissen, nachdem er die Flüssigkeit geschluckt hatte. „Ihr seid…“ „Nicht hier, um lange zu diskutieren“, unterbrach der Mann ihn und gab ihm den nächsten Löffel. „Sei still und iss!“ „Aber…“ „Willst du vielleicht doch hier bei diesem Wahnsinnigen bleiben?“ Jowy schüttelte den Kopf und ließ sich eine Weile schweigend füttern, dann fragte er: „Ihr seid kein Highlander, nicht wahr?“ Die graugrünen Augen schienen kurz sein Gesicht zu studieren, dann zuckte der junge Mann mit den Schultern und antwortete mit einem leichten Grinsen: „Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“ Also ja. Während der Soldat ihn weiter mit der kalten und nicht unbedingt wohlschmeckenden Suppe fütterte, betrachtete Jowy das Gesicht seines Wohltäters. Nein, er hatte wirklich keine highlandischen Gesichtszüge – seine Wangenknochen waren etwas zu hoch für einen Highlander und der Kiefer zu kräftig. War er aus den Graslanden? Aber dazu war seine Haut nicht braungebrannt genug. Ganz im Gegenteil, der Mann war eher ziemlich blass. Und die blonden Haare… Kam er vielleicht aus Harmonia? Egal, woher der junge Mann stammte, er stand jedenfalls nicht hinter Luca Blight. Und irgendwie beruhigte es Jowy, dass es hier an diesem furchtbaren Ort noch jemand anderen außer der Prinzessin gab, der auf seiner Seite war. „So“, stellte der Soldat fest, nachdem die Schüssel leer und Jowy wenigstens etwas gesättigt war. „Ich werde dich jetzt losmachen… und dann bringe ich dich aus dem Lager raus, das ist sicherer, als wenn du allein gehst.“ „… Schöpft denn keiner Verdacht, wenn…?“ „Nein“, erwiderte der junge Mann und grinste wieder. „Weißt du, das ist das gute daran, wenn die Armee von einem Psychopathen angeführt wird… Keiner denkt sich etwas dabei, wenn jemand anfängt, irgendetwas völlig Irrationales zu tun.“ Er stellte die Schüssel auf den Boden und ergriff das Messer, das Luca Blight Jowy zugesteckt hatte, um damit vorsichtig die Stricke zu durchschneiden, die dem Aristokraten noch immer in die Handgelenke schnitten. Kaum, dass er seine Hände wieder bewegen konnte, zog sich Jowy eilig die Handschuhe aus und strich über die schmerzende Haut. Ein leises Zischen entwich ihm, als der Schmerz kurz immer schlimmer zu werden schien – und zu allem Überfluss begannen die aufgeschürften Stellen zu jucken. Aber er ignorierte diese Tatsache so gut es ging und ergriff seinen Retter beim Handgelenk. „Warum tut Ihr das?“, verlangte er zu wissen und sah dem Mann in die überrascht geweiteten graugrünen Augen. „Ich kann dich ja schlecht hier zurücklassen, während ich selbst von hier verschwinde, nicht wahr?“ Der Soldat zwinkerte ihm zu und zog den verblüfften Jungen auf die Beine, dann verschwand der verschmitzte Ausdruck von seinem Gesicht und er raunte: „Hör zu, da draußen ist die Hölle los, seit du und dein Freund euch hier eingeschlichen habt. Die Wachen haben sich verdreifacht, also…“ Er ließ den Satz offen und seufzte. „Lass uns verschwinden, bevor noch jemand bemerkt, dass niemand dieses Zelt bewacht…“ Jowy nickte und beeilte sich, dem jungen Mann zum Zelteingang zu folgen, nachdem er das Messer wieder im Empfang genommen hatte. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie lebend hier herauskamen? Er konnte noch immer nicht fassen, was für ein verdammtes Glück er hatte. Nicht nur, dass die Prinzessin ihm hatte helfen wollen, er hatte auch noch jemanden gefunden, der gegen Highland arbeitete! Das war einfach ein zu großer Zufall, es konnte einfach nicht sein. Fast erwartete er, dass jeden Moment Rowd auftauchte, um ihm ins Gesicht zu lachen und ihn zurück zu Luca Blight zu schleppen… Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen ergriff ihn sein Retter am Oberarm und schleppte ihn mit sanfter Gewalt nach draußen, hinaus in den noch immer strömenden Regen. Jowy stolperte durch eine Pfütze und wäre beinahe hingefallen, wenn sein Gefährte ihn nicht aufgefangen hätte. „Lass dir nichts anmerken“, zischte er, dann wurde Jowy auch schon weitergezerrt, weiter durch die Dunkelheit des Lagers, vorbei an Highland-Soldaten und Zelten. Er wusste nicht, wohin es ging, da er sich hier nicht nur nicht auskannte, sondern es im Dunkeln und vor allem bei Regen auch noch recht schwer war, sich zurechtzufinden. Wie durch ein Wunder hielt keiner sie auf. Keiner der patrouillierenden Männer schien sich für den Gefreiten und das Mitglied der Jugendbrigade zu interessieren und nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich den Holzzaun, der um das Lager herum errichten worden war. „Da ist es ja. Pass auf, dass uns keiner überrascht…“, murmelte der junge Soldat ihm zu, dann machte er sich daran, an ein paar Zaunpfählen zu rütteln. Die aufgeweichte Walderde gab nach und es entstand ein schmaler Durchgang, fast genau so eng wie der, den Riou und Jowy bei ihrem Einbruch ins Camp geschaffen hatten. „Geh“, sagte sein Retter schließlich. „Nimm den Weg durch den Wald und…“ „Ich bin nicht von hier gekommen“, unterbrach Jowy ihn und biss sich auf die Lippe. „Ich weiß nicht, wie ich zur Grenze komme!“ Der junge Mann fluchte unterdrückt und seufzte dann schwer, ehe er sich durchs klatschnasse Haar fuhr und erklärte: „Wenn du immer geradeaus gehst, kommst du in etwa einer Stunde an der Grenze an. Da steht irgendwo ein Baum, auf den du klettern kannst, um über die Mauer zu kommen – danach gehst du streng nach Süden, bis du Muse erreichst! Verstanden?“ „J-Ja…“ Jowy beeilte sich, durch den Durchgang zu schlüpfen und drehte sich anschließend zu seinem Gefährten um, doch der machte sich bereits wieder daran, die Zaunpfähle zurück in ihre ursprüngliche Situation zu bringen, während er immer wieder gehetzte Blicke über die Schulter warf. „Warte!“, bat der Aristokrat. „Kommt Ihr denn nicht mit?“ „Nein“, entgegnete der Soldat kopfschüttelnd. „Ich hab hier… noch etwas zu erledigen. Geh schon, bevor sie uns erwischen!“ „Aber…“ „Los, geh!“ Jowy ballte hilflos eine Hand zur Faust und nickte widerwillig. Dann, bevor das Gesicht seines Retters hinter den Zaunpfählen verschwand, fasste er sich doch ein Herz. „Sagt mir wenigstens Euren Namen!“ Trotz der Dunkelheit sah er, wie sich die graugrünen Augen weiteten, dann grinste der andere Spion. „Den brauchst du wirklich nicht, Junge.“ „Bitte!“ Der blonde Mann verdrehte die Augen und seufzte. „Also schön“, sagte er ergeben. „Ich bin Nash. Und jetzt geh endlich!“ „Nash… Danke.“ „Viel Glück, Kleiner.“ „Ja… Dir auch.“ Nashs Gesicht verschwand aus Jowys Sichtfeld und der Junge fröstelte in der nächtlichen Kälte. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand im Dickicht der Bäume. Jetzt konnte er nur hoffen, dass er sich bei diesem Wetter nicht den Tod holte… Im Morgengrauen ließ Jowy sich völlig erschöpft – und hustend, er hatte sich bei dem Regen hoffnungslos verkühlt – in einem kleinen Wäldchen neben einem Baum sinken. Er war müde und hungrig und er hatte keine Ahnung, wie weit Muse noch entfernt war. Inzwischen hatte es wenigstens aufgehört zu regnen und er war diese furchtbare Uniform los… Er lehnte den Kopf an den Baumstamm und schloss die Augen. Er war so, so müde… Sicher konnte er es sich erlauben, wenigstens ein bisschen zu schlafen, nicht wahr? Nur ein paar Minuten, das würde ja nicht… „Seinen Feinden kann man nicht aus dem Weg gehen“, ertönte plötzlich eine Stimme viel zu nah an seinem Ohr und Jowy fuhr aus dem Schlaf. Er starrte direkt in durchdringende, eisblaue Augen, die halb von dunkelbraunen, fast schwarzen Haarsträhnen verdeckt wurden. Oh, Runen. Wer…? Man konnte unmöglich sagen, wie alt der Mann war, der dort vor Jowy kniete und ihm – zu seinem großen Entsetzen – das Messer an die Kehle hielt, das der Aristokrat von Luca Blight zugesteckt bekommen hatte. Ein Lederband hielt ihm die gröbsten, dunklen Strähnen aus dem Gesicht, von dem man kaum etwas sah; er hatte ein dunkles Tuch bis über die Nase gezogen, wodurch es schwer war, seine Gesichtszüge zu erahnen. Er trug einen leichten Harnisch aus dunklen Leder, ein schwarzes, enganliegendes Hemd mit langen Ärmeln und eine Hose aus ebenso dunklem Stoff. Irgendwie zweifelte Jowy nicht daran, dass dieser Mann unsichtbar werden konnte, wenn er es wollte. „W-Wer seid Ihr?“, flüsterte der Aristokrat mit trockener Kehle und starrte in die kalten, hellblauen Augen. „Namen sind Schall und Rauch“, knurrte der Mann zur Antwort, „und tun nichts zur Sache. Ich wurde nicht geschickt, um mich zu unterhalten.“ Geschickt? Er war… von jemandem hergesandt worden, um…? „Ihr seid hier, um mich umzubringen.“ Eine Feststellung, aber die Antwort war ohnehin offensichtlich genug. Jowy spürte die Klinge des Messers an seiner Haut schaben. Doch entgegen all seiner Erwartungen schnaubte der Mann nur. „Wenn Luca Blight das wollte, wärst du schon lange tot, Junge.“ „Aber…“ „Du hast einen Auftrag. Luca Blight will eine Antwort.“ Ungläubig starrte Jowy den Mann an. Das war doch wohl nicht sein Ernst? Er erwartete wirklich eine Antwort auf die erpresserische Frage, die der Kronprinz dem Jungen gestellt hatte?! Scharf blitzte die Wut wieder in Jowys Innern auf, trotz seiner Erschöpfung noch hellwach. „Er glaubt doch wohl nicht wirklich, dass ich…?!“ „Dein Problem ist, dass du glaubst, du hättest Zeit“, unterbrach der Mann ihn kalt. „Aber die hast du nicht. Luca Blight hat seine Männer bereits nach Kyaro geschickt.“ Ein eiskalter Schauer lief Jowy über den Rücken, als er dies hörte. „Ihr lügt“, entgegnete er und hasste sich für die Verzweiflung, die in seiner Stimme mitschwang. „Ich bin hier, um deine Antwort zu hören“, knurrte der Mann. „Anabelle oder deine Familie.“ „Ich…!“ Er machte Anstalten, sich aus dem Griff seines Angreifers herauszuwinden, doch dieser packte nur noch fester zu und sagte, während die eisblauen Augen sich zu Schlitzen verengten: „Sprich schnell, Junge, oder ich nehme dir die Entscheidung ab. Luca Blight wartet nicht gern.“ Tränen schossen aus Jowys Augen, ehe er es verhindern konnte, und ein Schluchzen entwich ihm, für das er sich selbst verabscheute. Er konnte seine Mutter nicht Luca Blight ausliefern, er konnte nicht tatenlos bleiben, wohlwissend, dass sie leiden würde… „Anabelle“, flüsterte er kraftlos, während die Tränen in Strömen seine Wangen hinunterrannen. „Ich… ich werde Anabelle…“ Er wollte es nicht sagen. Er wollte es nicht tun. Er wollte nichts davon wissen, nichts davon hören! Aber er hatte keine Wahl. Er konnte nicht zulassen, dass seiner Mutter etwas zustieß. Er dachte an ihr Lächeln, an ihre gütigen, grauen Augen, an die Art, wie sie ihn immer angesehen hatte – als wäre sie unglaublich stolz auf ihn. Immer… bis auf das letzte Mal, als er sie gesehen hatte. Diese Enttäuschung in ihren Augen…! „Sehr gut.“ Der Griff um seinen Hals ließ nach, die Klinge verschwand von seiner Haut und er hörte, wie das Messer mit einem dumpfen Geräusch ins Gras fiel. „Ich werde Luca Blight davon in Kenntnis setzen.“ Jowy sah nicht auf, als der Mann aufstand und ein paar Schritte zurücktrat – dabei machte er kein einziges Geräusch. Wie er das schaffte, wusste der Aristokrat nicht… aber es interessierte ihn auch nicht. Er wollte aus diesem Albtraum aufwachen. Nur noch… aufwachen. Aber vielleicht… vielleicht konnte er…? „Denk nicht einmal daran, wegzulaufen“, ertönte die Stimme des Mannes plötzlich, als hätte er seine Gedanken gelesen, und Jowy zuckte zusammen. „Ich werde dich finden, egal, wohin du gehst, Junge.“ Nun blickte er doch hoch in die gefühllosen, eisblauen Augen, die ihn gleichgültig fixierten. „Geh zurück nach Muse und warte auf deine Befehle. Ich werde dich kontaktieren, wenn die Zeit gekommen ist. … Hast du das verstanden, Junge?“ Jowy war sich der morgendlichen Kälte, seiner Erschöpfung und der heißen Tränen auf seinen Wangen nur zu sehr bewusst. Es war zu viel. Er konnte einfach nicht mehr. Warum konnte das nicht alles ein schlechter Traum sein? Warum… Warum…? „Ob du verstanden hast, will ich wissen!“ „Ich… Ja. Ja, ich habe verstanden…“ Der Mann verschwand. Er ging nicht – sondern verschwand einfach im Zwielicht des Morgens. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sich Jowy vielleicht noch darüber gewundert, doch in diesem Moment war es ihm egal. So, so egal. Der Weg zurück nach Muse blieb ihm nicht im Gedächtnis. Wie er es geschafft hatte, wusste er nicht, aber es machte auch keinen Unterschied, weil jeder Schritt so schwer wog wie Tausende. Es fühlte sich an, als würde er zum zweiten Mal den Weg zum Galgen gehen, doch diesmal würde es niemanden geben, der ihn davor retten konnte, niemanden, der ihm helfen konnte. Die Sonne ging unter, als er die Mauern von Muse erreichte. Blutrot war das Gestirn, genau so blutrot wie seine Hände sein würden, sobald er… „Jowy!!“ Er sah auf und dachte einen Moment lang, sein überforderter Verstand würde ihm einen Streich spielen. Waren das wirklich Nanami und Riou, die da auf ihn zurannten? Oder waren sie eine Illusion, genau wie das Bild seiner Mutter, das ihn heimsuchte, seit er zugestimmt hatte, Anabelle umzubringen? Aber die schraubstockartige Umarmung, in der er sich wiederfand, war keine Illusion, genau so wenig wie der so vertraute Geruch nach der Blume, deren Name er vergessen hatte, und der Duft von Waffenpolitur, der ihm in die Nase stieg. Nanami. Aber… Aber was…? Er starrte an ihr vorbei, registrierte nur beiläufig, wie ihr Körper von erleichterten Schluchzern geschüttelt wurde. Nur am Rande bekam er mit, wie sich kurze Ärmchen, die mit Sicherheit Pilika gehörten, um seine Hüfte schlossen. Seine Aufmerksamkeit galt Riou, der wie völlig selbstverständlich neben seiner Schwester stand und erleichtert lächelte. „Ihr…“, hörte er sich sagen, so furchtbar heiser und nicht er selbst. „Ihr habt auf mich gewartet…“ „Du bist zurück!“, rief Nanami, hin- und hergerissen zwischen einem Lachen und einem Schluchzen. „Du bist wirklich zurück!!“ Ohne sein aktives Zutun hob sich eine seiner Hände, um sie ungeschickt an sich zu drücken, während die andere zu Pilikas Rücken wanderte, um das gleiche zu tun. „Ja, ich…“, murmelte er undeutlich, „… ich habe mein Versprechen gehalten…“ „Willkommen zu Hause.“ Jowy starrte seinen besten Freund an, der ihn seinerseits so sehr anstrahlte, dass er der Sonne selbst Konkurrenz machte. Willkommen zu Hause, hatte er gesagt. Aber… Aber Muse war nicht sein Zuhause… Vielleicht war es das gewesen, bevor er zum Highland-Camp aufgebrochen war, aber jetzt… Nein, er war hier nicht mehr zu Hause. Genau so wenig wie er bei seinen Freunden eigentlich nicht mehr zu Hause war. Bis jetzt waren sie immer der Ort gewesen, zu dem er immer wieder zurückkehren konnte, aber diesmal hatte er es sich endgültig verscherzt. Und er konnte, konnte es ihnen einfach nicht erzählen. Er wollte in ihren Augen nicht die gleiche Enttäuschung sehen wie in denen seiner Mutter. „D-Danke“, krächzte er mit verachtenswert feuchten Augen. „Ich… Es ist schön, wenn… jemand auf dich wartet…“ Klangen die Worte nur in seinen Ohren so furchtbar leer und unwirklich? Runen, sie würden ihn jeden Moment durchschauen, keiner kannte ihn besser als Riou und Nanami. Besonders Riou… Und er hatte sie durch seine Entscheidung bereits jetzt verraten, schon jetzt war er nichts weiter als ein dreckiger, nichtsnutziger Verräter. Pilika zupfte an seiner Hose und er sah nichts sehend zu ihr hinunter und zwang sich, zu lächeln. Er konnte, durfte sie nicht merken lassen, dass etwas nicht in Ordnung war. Das war er diesem unschuldigen kleinen Mädchen doch schuldig, nach allem was sie bereits durchgemacht hatte… Er ließ Nanami los, die sich weinend und lachend Riou an den Hals warf – der nur lachte – und bückte sich zu Pilika hinunter, um sie zu umarmen. „Danke, Pilika“, flüsterte Jowy. „Du hast auch auf mich gewartet…“ Sie schlang die Arme um seinen Hals und ließ sich von ihm hochheben, während sie geräuschlos lachte. Eher zufällig streifte sein Blick die offenen Tore der Stadt Muse, vor denen außer den Wachleuten noch ein einziger Mann stand. Er hatte blonde Haare, die sein Gesicht in zwei Strähnen umrahmten, und betrachtete das Wiedersehen wohlwollend. Selbst auf die Entfernung gab es keinen Zweifel – auch Nash war nach Muse zurückgekehrt. Nash hob eine Hand, als er bemerkte, dass Jowy ihn gesehen hatte, und salutierte grinsend, ehe er sich umdrehte und mit wehendem Mantel im Inneren der Stadt verschwand. Der Aristokrat starrte ihm hinterher und fragte sich, ob vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn Nash ihn nicht vorgeschickt hätte. „Jowy? Was ist denn?“ Er spürte Nanamis fragenden Blick auf sich, konnte ihr jedoch nicht in die Augen sehen. Nicht so. „Nichts“, antwortete er, noch immer so furchtbar heiser. „Es ist nichts…“ Die erste Lüge. Und wie viele mehr würden folgen…? Kapitel 28: Die Hilltop-Konferenz --------------------------------- In der folgenden Woche vermied es Jowy tunlichst, aus seinem Bett zu kommen. Er hatte sich am Abend nach seiner Rückkehr freundliche Worte angehört, bis ihm schlecht davon geworden war, und nun konnte er einfach keine weiteren mehr ertragen. Viktor, Flik und Leona waren noch wach gewesen, als die drei Jugendlichen mit Pilika im Schlepptau zurück in die Taverne gekommen waren, und auch am nächsten Morgen war er beim Frühstück nicht vor Menschen verschont geblieben, die ihn glücklich ansahen und ihn willkommen hießen. Oh, wenn sie nur gewusst hätten, welch teuflischem Plan er zugestimmt hatte! Wenn sie nur gewusst hätten, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit dafür verantwortlich sein würde, dass sie alle Highland in die Hände fallen würden… Aber sie wussten es nicht. Und so blieb ihm nichts Anderes übrig, als den freundlichen Gesichtern und den guten Worten so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Zum Glück ließen sie ihn einfach sein – vielleicht hatte Riou die anderen darum gebeten, vielleicht waren sie selbst zu dem Schluss gekommen, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen, damit er mit sich ins Reine kommen konnte nach der grässlichen Gefangenschaft. Aber was wirklich grässlich war, war er selbst. Er und die furchtbare Entscheidung, die er getroffen hatte. Seit seiner Rückkehr hatte er Anabelle nicht mehr gesehen und das war auch gut so. Irgendwie vertraute er sich selbst nicht genug, um bei ihrem Anblick nicht in Tränen auszubrechen und alles zu gestehen… Auch Jess war ihm erspart geblieben. Als Riou und Nanami gemeinsam mit den anderen und ohne Jowy zurückgekehrt waren, hatte Viktor getobt und gespuckt, nachdem sie ihm von dem Auftrag erzählt hatten. Und dann hatte er sie alle mit ins Rathaus geschleppt, wo er sich mit Gewalt Zutritt zu Anabelles Büro verschafft hatte, weil man ihn nicht hatte einlassen wollen. Bei dieser Gelegenheit hatte Jess natürlich gleich nach den Ergebnissen der Spionage gefragt und so musste Jowy es nicht auch noch auf sich nehmen, dem Mann in die Augen zu sehen. Er lag in seinem Bett, im abgedunkelten Zimmer, und hatte nicht vor, sich überhaupt zu bewegen. Hier war er allein mit seinen Gedanken und der Tat, die schon jetzt so groß und schwer auf ihm lastete, als habe er sich bereit erklärt, das Tenzaan-Gebirge auf seinen Schultern zu tragen. Außer ihm befand sich nur Riou in ihrem gemeinsamen Zimmer, doch der schlief tief und fest, wie Jowy an den gleichmäßigen, ruhigen Atemzügen erkannte. Gerne hätte er selbst auch geschlafen, nachdem er die ganze Nacht wach gelegen hatte, doch wann immer er die Augen schloss, sah er wieder die eisblauen Augen vor sich, deren Besitzer ihn zum Antworten gezwungen hatte, Anabelles ernstes Gesicht, die enttäuschte und tieftraurige Miene seiner Mutter, das sadistische Grinsen von Luca Blight. Jowy kniff die Augen zusammen und ballte unter der Decke die Fäuste. Die Rune des Schwarzen Schwertes wisperte in seinen Gedanken, doch er schirmte sich selbst von ihr ab. Er wollte ihr nicht zuhören, nicht nachdem sie ihn aus heiterem Himmel im Stich gelassen hatte… „Sagt mal, wie lange wollt ihr eigentlich noch schlafen?!“ Ein erschrockener, hoher Laut entwich ihm, als man ihm die Decke entriss und er von der plötzlichen Helligkeit – wer hatte die Fensterläden aufgerissen?! – geblendet wurde. Es war Nanami – natürlich, wer sonst? – die da neben seinem Bett stand, die Hände in die Hüften gestemmt und mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. „Nanami“, flehte Jowy und hoffte, dass die Verzweiflung in seiner Stimme genug war, damit sie ihn auch weiterhin in Ruhe ließ. „Kannst du nicht…? Nur ein bisschen länger… Du weißt doch, früh morgens…“ „Früh morgens!“, weiderholte das Mädchen schnaubend. „Von wegen früh morgens, Pilika und ich hatten schon Mittag!“ Von Rious Bett – dem auch die Decke fehlte – kam nur ein unzufriedenes Brummen, ehe sich der brünette Junge gähnend aufrichtete und murmelte: „Du stehst ja auch bei Sonnenaufgang auf…“ Jowy seufzte und sah zwischen dem völlig zerstrubbelten Riou und seiner hellwachen Schwester hin und her. Er wollte sich nicht unterhalten. Er wollte… allein sein… „Hör mal“, sagte Nanami und warf ihm einen Blick zu, der irgendwo zwischen Mitleid und Rüge rangierte. „Ich weiß, dass es schwer war, aber es ist jetzt eine Woche her! Reiß dich ein bisschen zusammen, ja?“ Jowy gab ein undefinierbares Geräusch von sich und setzte sich widerwillig auf. „Los, lasst uns gehen!“, fuhr Nanami fort, nachdem sie ihre Erfolge, die beiden Jungen aus dem Bett zu bekommen, zufrieden betrachtet hatte. „Gehen?“, echote Jowy verwirrt und unglücklich, während er sich ein sauberes Hemd anzog. „Wohin?“ Er wollte nirgendwohin gehen! „Irgendwas scheint oben am Jowston Hill los zu sein“, erklärte Nanami, die zu den offenen Fenstern schritt und auf die belebte Straße blickte. „Die Stadt platzt vor lauter Reisenden fast aus den Nähten! Es sind so viele Menschen gekommen…“ Menschen? Davon hatte Jowy nichts mitbekommen. Aber das war auch kein Wunder, immerhin hatte er hier in seinem Zimmer wie ein Bär in seiner Höhle gelegen, lethargisch und fernab der Welt. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er auch noch immer in diesem Zustand verbleiben… „Vielleicht ist es ein Fest oder so etwas in der Art“, überlegte Nanami weiter. „Ich meine, wir kennen uns ja mit den Feiertagen im Staat nicht aus… Es könnte etwas Wichtiges sein! Los, lasst uns gehen!“ Sie drehte sich schwungvoll zu den Jungen um und überraschte den noch verschlafenen Riou so sehr, dass er zusammenzuckte und rücklings zurück aufs Bett fiel. „Nun macht schon!“, forderte Nanami. „Leona hat noch ein bisschen was vom Frühstück für euch aufgehoben, also… Los!“ Sie wuselte in ihrer üblichen, aufgeregten Art wieder hinaus, wahrscheinlich, um vor der Tür auf sie zu warten. „Oh je…“, seufzte Riou auf, fuhr sich durchs Haar und gähnte, dann stand er wieder auf und zog sich weiter an. Jowy beobachtete ihn und fragte dann: „… Was meinst, sollen wir gehen?“ Insgeheim hoffte er, dass auch sein bester Freund nicht allzu wild darauf war, sich von Nanami durch die Stadt schleifen zu lassen. Riou sah ihn lange und mit einem sehr seltsamen Blick an, dann lächelte er und antwortete: „Du wirst dich besser fühlen, wenn du etwas frische Luft schnappst. Du wirst schon sehen!“ „Hmm…“ Nanami hatte Recht gehabt – die Stadt war wirklich voller Menschen. Nicht, dass Muse nicht schon vorher fast aus allen Nähten geplatzt war wegen der Flüchtlinge aus dem östlichen Teil des Fürstentums… Sie hatten sogar Probleme gehabt, aus Leonas Taverne zu kommen, weil die Eingangshalle voller Reisender gewesen war, die nach einem Zimmer verlangt hatten. Spontan war Jowy mehr als nur froh, dass er die letzten Tage in seinem Bett verbracht hatte. „Ich frage mich wirklich, warum sie alle herkommen“, murmelte Nanami, während sie sich durch die Menschenmassen drängelten, die scheinbar ebenfalls alle zum Gipfel des Als Jowston Hill bekannten Hügels wollten. „Man könnte meinen, es würde da oben etwas umsonst geben…“ Riou lachte leise und unter normalen Umständen wäre Jowy wohl ebenfalls in das Gelächter eingefallen. Aber er schaffte nur ein müdes Lächeln, während sie sich weiter durch die Menge kämpften. Am Gipfel des Berges angekommen, sahen sie ein großes Gebäude, das noch größer war als das Rathaus. Jowy hatte es bisher nicht sonderlich beachtet, da der gepflasterte Weg, der hier hinauf führte, für gewöhnlich abgesperrt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war, doch heute war es wohl anders. „Wo ist eigentlich Pilika?“, fragte er dumpf, während sie von einer der Aussichtsplattformen hinunter auf die Stadt blickten. „Bei Hanna und Millie“, antwortete Nanami. „Sie haben mir angeboten, heute auf sie aufzupassen… damit du mal wieder an die frische Luft kommst!“ Sie warf ihm einen gespielt strengen Blick zu, doch er ignorierte es und starrte hinunter aufs Dach des Rathauses. Da, wo er Anabelles Büro vermutete, waren unter dem Fenster Blumenbeete angelegt. Ob sie sie wohl selbst pflegte? Er versuchte, sich Anabelle bei der Gartenarbeit vorzustellen, schaffte es aber nicht. Sie wirkte nicht wie der Typ Frau, der sich um Blumen kümmerte. Aber was wusste er schon von ihr? Vielleicht mochte sie kein Fleisch, vielleicht hasste sie Gemüse. Vielleicht konnte sie nicht schwimmen, vielleicht hatte sie panische Angst vor Schnecken… Er hatte keine Ahnung. Und wahrscheinlich würde er es auch nie erfahren, weil er sie vorher umbringen würde. Er dachte an das Messer, das Luca Blight ihm gegeben hatte; es lag, eingewickelt in ein Stück Stoff, ganz unten in seinem Rucksack. Aber selbst ohne diese stetige Erinnerung würde er wohl nicht vergessen, wozu er zurückgekehrt war… „Ihr seid doch wohl nicht wegen der schönen Aussicht hier raufgekommen, oder?“ Jowy zuckte zusammen und hob den Blick, nur, um einen grinsenden Viktor neben sich vorzufinden, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und die Jugendlichen amüsiert betrachtete. „Äh“, machte Nanami ratlos. „Nein, wir…“ „Was ist hier los, Viktor?“, fragte Jowy, nachdem er sich dazu gezwungen hatte, sich zusammenzureißen. Gerade vor Viktor durfte er sich auf gar keinen Fall verdächtig verhalten… „Ach, ihr wisst das gar nicht?“, entgegnete der Bär verblüfft und lachte dann. „Heute treffen sich die Oberhäupter der Stadt-Staaten von Jowston. Der Hügel hier wird Jowston Hill genannt… daher nennt man die Sitzung Hilltop-Konferenz.“ „Dann ist aus allen fünf Staaten jemand Wichtiges gekommen?“, stellte Riou klar und Viktor nickte. „Genau. Aus Muse, South Window, Greenhill, Matilda und… was war es? … Hm, ich hab’s vergessen. Egal.“ Er lachte auf. „Jedenfalls sind alle da. Es sollte interessant werden.“ Jowy wusste zwar, dass es sich um das Fürstentum Tinto handelte, dass der Söldner da vergessen hatte, aber er verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen. „Interessant?“, wiederholte Nanami mäßig überzeugt. „In deiner Welt oder in unserer?“ Viktor brach in lautes Gelächter aus, welches mehrere Menschen in ihrer Umgebung dazu veranlasste, sich zu ihm umzudrehen, dann zwinkerte er ihr zu und erwiderte: „Keine Sorge, ihr findet das sicher auch spannend. Wenn ihr mit mir kommt, kommt ihr bestimmt rein, die stellen sich dieses Mal ganz schön an mit den Sicherheitsbestimmungen. Als ob ein Highlander sich hier reinschleichen könnte… Nichts für ungut.“ „Schon gut“, winkte Riou ab und grinste. „Wissen wir doch.“ „Fein“, rief Viktor. „Das hier werdet ihr später noch euren Enkeln erzählen, da bin ich mir sicher.“ Irgendwie glaubte Jowy nicht, dass er lang genug leben würde, um seinen Enkeln auch nur irgendetwas zu erzählen, geschweige denn, dass er überhaupt welche haben würde. Aber er sagte nichts und folgte stumm Viktor, der sich bereits wieder in Bewegung setzte und einen Keil in die Menge trieb. „Da bin ich ja gespannt!“, hörte er Nanami noch sagen, dann ließen sie sich schweigend von dem Söldner bis zu einem der Eingänge des großen Ratsgebäudes führen. In der Türöffnung stand eine etwas gestresst wirkende Frau mit streng zurückgebundenen Haaren und einer harten Miene, die einen der Besucher nach dem anderen verscheuchte. „Nur Beteiligte dürfen jetzt noch hier durch“, erklärte sie ihnen gelangweilt über den Lärm der Menge hinweg, als sie endlich bei ihr angekommen waren. „Ich bin Viktor“, erklärte der Bär grinsend. „Söldneranführer und unter Vertrag mit der Stadt Muse. Die Kinder gehören zu mir, also lass uns rein.“ Die Frau seufzte und pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatte, dann entgegnete sie, als er Anstalten machte, sich an ihr vorbei zu drängen: „Einen Moment mal. Zeigt mir einen Beweis für Eure Identität.“ „Hä?“, gab Viktor irritiert von sich. „Schau dir mein Gesicht an, Schätzchen! Mein Gesicht ist ja wohl genug Beweis für meine Identität!“ Er deutete auf die Narbe unter seinem rechten Auge, doch die Frau zuckte nur die Achseln und sagte: „Tut mir leid, aber das genügt nicht. Bitte geht.“ „Was?!“ Jowy sah zwischen der Frau und dem wütenden Söldneranführer hin und her und öffnete bereits den Mund, um Viktor davon abzuhalten, irgendeinen Fehler zu machen, doch dann ertönte hinter ihnen Fliks Stimme: „Ich hoffe, dass du nicht schon wieder vorhast, deinen guten Trick zu benutzen, Viktor! Das hatten wir alles schon einmal.“ „Wer zum-?!“ Viktor fuhr schnaufend wie ein Stier zu dem anderen Söldner herum, doch als er ihn erkannte, milderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht zu einem beleidigten Schmollmund. „Ach, geh doch dahin, wo die Griffins leben, Flik!“ Flik legte den Kopf in den Nacken und lachte, doch bevor er etwas darauf erwidern konnte, rief die Frau vor dem Eingang: „Oh! Oh… Ist das… Seid Ihr wirklich…? S-Sir Flik?!“ Der Blaue Blitz runzelte die Stirn und antwortete: „Hm? Ja, aber was…?“ „Ihr… Ihr seid dieser Söldner!“, fuhr die Frau mit irgendwie leuchtenden Augen fort und trat einen Schritt näher. „Der, den sie… den Blauen Blitz nennen!“ Flik legte den Kopf schief und hob irritiert eine Augenbraue, dann ergriff ihn die Frau plötzlich an der Hand und erklärte: „Oh, ich habe ja schon so viel von Euch gehört! Ihr seid… Oh!“ Sie ließ ihn los und schlug sich stattdessen beide Hände vors Gesicht, während sie – wenn Jowy sich nicht sehr irrte – knallrot anlief. Sie brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen, dann gab sie den Eingang frei und sah Flik an, als wäre er die personifizierte Schönheit auf Erden. „Bitte“, hauchte sie. „Lasst Euch nicht aufhalten, Sir Flik… Ihr und Eure Freunde könnt natürlich durchgehen!“ Sie lachte seltsam hoch und nervös und winkte die kleine Gruppe durch. Nachdem sie einen langen Flur betreten hatten, der vollständig mit blankpoliertem Marmor ausgekleidet war, sodass man Angst haben musste, etwas dreckig zu machen, drehte sich Viktor halb zu der Tür um, die sich hinter ihnen geschlossen hatte, und warf dann Flik einen misstrauischen Blick zu. „Sag mal“, brummte der Bär missmutig, „wie kommt es, dass sie mich nicht erkennt, aber dir beinahe einen Heiratsantrag gemacht hätte?“ „Woher soll ich das wissen?!“, entgegnete Flik entrüstet. „Als ob ich etwas dafür könnte!“ „Das kaufe ich dir nicht mehr ab“, sagte Viktor. „Jedes Mal, wenn wir irgendwohin kommen…“ Jowy lauschte dem Geplänkel der beiden – denn mehr war es nicht und er nahm ihre harmlosen Streitereien schon lange nicht mehr ernst – nur mit halbem Ohr. Seine Gedanken waren schon wieder ganz woanders. Was würde mit den beiden Söldnern passieren, wenn Muse fiel? Und überhaupt, wohin würden all die anderen gehen… wenn sie rechtzeitig entkamen? „Amtierende Bürgermeisterin von Muse – Lady Anabelle! Oberster Kanzler von Muse, Lord Jess!“ Er zuckte zusammen und starrte die rothaarige Bürgermeisterin und ihren Assistenten an, die gerade den großen Saal betraten, in dem er sich wiederfand. Die beiden traten durch die Tür gegenüber und gingen, ohne sich umzusehen, ans Kopfende eines langen Tisches, um sich dort niederzulassen. Jowy blinzelte und sah sich verwirrt um. Der Saal war riesig und auf den Rängen, die ein Stockwerk höher angebracht waren, saßen bestimmt Hunderte von Menschen. In der Mitte des Saals stand der große Tisch, an dem sich Anabelle und Jess niedergelassen hatten, und ihm gegenüber, halb unter den Rängen mit den anderen Zuschauern verborgen, befanden sich ein paar Stühle, auf denen kaum mehr Plätze frei waren. „Wir sollten unsere Besichtigung da hinten fortführen“, sagte Viktor und machte sich auf den Weg zu den Stühlen, um fünf nebeneinanderliegende zu besetzen; Flik folgte ihm und auch Riou und Jowy setzten sich in Bewegung, doch dann ertönte ein dumpfer Laut und Nanamis Aufschrei. Der Aristokrat fuhr zu ihr herum und sah, dass sie von einem beleibten älteren Mann zur Seite gestoßen war. Der Mann hatte kinnlanges, weißes Haar und einen Vollbart – und eine äußerst saure Miene. Er war in eine Rüstung gekleidet, über der er eine weiße Tunika mit einem Wappen und besticktem Saum trug; an dem dicken Ledergürtel hing ein großes Breitschwert. „Aus dem Weg, Mädchen!“, raunzte der Mann und schob sich an ihr vorbei, um zu Anabelles Rechten Platz zu nehmen. „Alter Widerling!“, zischte Nanami wütend, rieb sich den Ellenbogen und streckte dem Ritter die Zunge raus. „Pass doch auf, wo du hinläufst!“ „Verzeiht, Mylady“, meldete sich in diesem Moment ein junger Mann mit kurzen, rostroten Haaren zu Wort, der dem älteren Ritter gefolgt war, verbeugte sich tief vor der überrumpelten Nanami und gab ihr einen Handkuss. „Ich fürchte, mein Lord hat es etwas eilig. Vergebt uns bitte die Unannehmlichkeit.“ Er trug einen kurzen, roten Mantel über einem weißen Hemd, einen kurzen, violetten Umhang, der über einer Schulter festgemacht war, und eine weiße Hose; auch an seinem Gürtel hing ein Schwert, doch dieses war viel dünner und filigraner als das Breitschwert des weißen Ritters. „N-Nein“, stammelte Nanami und lief so rot an, dass sie seinem Mantel Konkurrenz machte. „Äh, i-ich meine… J-Ja! Natürlich…“ „Camus, was soll denn das?“ Ein zweiter junger Mann trat neben den ersten und seufzte schwer. Er hatte kurzgeschorenes, dunkelbraunes Haar und trug einen langen, blauen Mantel über einem weißen Hemd und einer weißen Hose – seine Hand lag auf dem Heft eines Langschwertes. Der rothaarige Mann – Camus – drehte sich amüsiert lächelnd zu seinem Kameraden um und erwiderte: „Ich erledige meine Pflicht als Ritter, Miklotov. Hast du etwas dagegen?“ „Oh“, wandte Nanami nervös und noch immer völlig rot im Gesicht ein. „Es… es ist schon gut, wirklich…“ „Das freut mich“, nickte Camus und schenkte ihr ein Lächeln. „Und jetzt entschuldigt mich bitte.“ „Beeil dich, Camus“, seufzte Miklotov erneut. „Es ist auch die Pflicht eines Ritters, pünktlich zu sein…“ Er verdrehte die Augen, als sein Gefährte Nanami noch zuzwinkerte, dann folgten die beiden dem missmutigen, weißgekleideten Ritter und ließen sich neben ihm nieder. Nanami drehte sich schwungvoll zu Riou und Jowy um und strahlte sie an. „Habt ihr das gehört?“, rief sie aufgeregt. „Er hat mich eine Lady genannt!“ Riou grinste und meinte: „Na los, komm schon. Setzen wir uns.“ Jowy nickte nur, dann beeilten sich die drei Jugendlichen, sich auf die freien Stühle neben Viktor und Flik zu setzen. „Gleich geht’s los“, flüsterte der Bär ihnen zu, „das gerade waren Gorudo, der Anführer der Matildaritter und Befehlshaber der Einheit der Weißen Ritter, und seine beiden Generäle Camus und Miklotov, die Befehlshaber der Roten und der Blauen Ritter.“ Gedankenverloren betrachtete Jowy das Profil der drei Männer, die beinahe desinteressiert auf ihren Plätzen saßen. Das also waren die Vertreter des Rittertums Matilda…“ „Generalbevollmächtigter der Stadt Two River, Lord Makai!“, ertönte wieder die Stimme des Ansagers und ein Mann von etwa 30 Jahren betrat den Saal. Er sah irgendwie unsicher aus. Die kurzen, blonden Haare waren nach hinten gebürstet und er trug ein weißes Gewand mit allerlei Verzierungen am Saum; es sah ein bisschen so aus, als wäre ihm die Kleidung zu groß… oder als wolle er sich darin verstecken. Der Mann nahm zu Anabelles Linken Platz und sah sich nervös um. „Amtierende Bürgermeisterin der Stadt Greenhill, Lady Teresa Wisemail!“ Eine junge Frau betrat den Saal; sie ging betont aufrecht, mit durchgedrücktem Rücken. Die langen, blonden Haare fielen seidig glänzend ihren Rücken hinab und sie trug einen langen, dunkelgrünen Rock und ein hellgrünes Oberteil mit kurzen Ärmeln, das vom Kragen abwärts mit grauen Verzierungen bestickt war. Ihre Hände steckten in langen, weißen Handschuhen. Ihr dicht auf den Fersen folgte ein grimmig dreinblickender Mann, dessen dunkle Augen den Saal scheinbar nach potentiellen Angreifern absuchten. Auf dem Kopf trug er einen gelben Turban, der seine Haare völlig bedeckte, und er war in einen orangen, ärmellosen Kampfanzug gekleidet, auf dessen Rücken eine stilisierte Spinne abgebildet war. An seiner Hüfte hing ein monströses Schwert, in dessen Heft ebenfalls eine Spinne eingelassen war. Jowy schauderte und dachte daran, dass Millie nun sicher schreiend die Flucht ergriffen hätte… Teresa warf den Zuschauern auf den Rängen ein Lächeln zu, dann setzte sie sich neben Miklotov; ihr Leibwächter oder was auch immer der Mann war, blieb mit verschränkten Armen hinter ihrem Stuhl stehen. „Bürgermeister der Stadt Tinto, Lord Gustav!“ Der Mann, der nun den Saal betrat, blieb Jowy am meisten wegen seiner dunklen, buschigen Augenbrauen in Erinnerungen. Seine kurzen, braunen Haare fielen ihm in ein paar Strähnen ins Gesicht und er trug einen hellblauen, offenen Mantel über einem weißen Hemd, das er in eine schwarze Hose gestopft hatte. Hoch erhobenen Hauptes und irgendwie arrogant wirkend marschierte er zu dem Platz neben Makai und ließ sich dort nieder. „Aufgeblasener Sandsack“, glaubte Jowy Viktor murmeln hören, aber er wusste nicht genau, ob er es sich nicht nur einbildete. „Bürgermeister der Stadt South Window, Lord Granmeyer!“ Das zweifellos älteste Mitglied des Senats von Jowston betrat den Saal und lächelte den Zuschauern freundlich zu. Granmeyer war weit über sechzig, ging jedoch noch immer aufrecht und durchaus selbstsicher. Das halblange, bereits ergraute Haar lag erstaunlich ordentlich und er trug eine sandfarbene Uniform unter einem kurzen, hellblauen Umhang. Deutlich besorgt setzte sich der ältere Herr neben Teresa und legte ihr eine Hand auf die Schultern, ehe er leise mit ihr zu reden begann. „Kommandant der Streitkräfte von Muse, Lord Hauser!“, rief der Ansager und an ihm vorbei hastete ein dunkelhäutiger Mann mit kurzen, schwarzen Locken, der eine blaue Militäruniform trug. Ohne lange zu zögern oder jemanden zu beachten, setzte sich der Mann neben Gustav und sah erwartungsvoll zu Anabelle und Jess hinüber. Damit waren alle Plätze der Tafel belegt. Anabelle erhob sich von ihrem Platz, sah sich um und rief dann laut: „In Übereinstimmung mit der Vereinbarung des Stadt-Staatenbunds von Jowston erkläre ich die Hilltop-Konferenz hiermit für eröffnet!“ Kapitel 29: Der edle und altehrwürdige Bund von Jowston ------------------------------------------------------- A/N: Ungebetat! Der Tumult im Ratssaal erstarb sofort und Ruhe kehrte ein. Jowys Blick wanderte von einem Gesicht der versammelten Staatsoberhäupter zum anderen, dann stand Jess auf und sagte, gut hörbar in der Stille: „Die Highland-Armee hat sich an unserer Nordgrenze versammelt. Sie haben nur Proviant für etwa eine Woche dabei und wir glauben, dass sie bald angreifen werden.“ Makai räusperte sich und entgegnete: „Einen Moment mal. Ich dachte, die Bedingungen des Friedensvertrags würden noch gelten?“ „Die Highland-Armee ist bereits in den östlichen Teil des Fürstentums Muse eingefallen und hat dort zahlreiche Dörfer niedergebrannt. Ich glaube nicht, dass das noch innerhalb der Bedingungen des Vertrags liegt“, antwortete Jess kühl. „Haben die Highlander dazu nicht gesagt, es handele sich um einen Angriff von Bergbanditen?“, meldete sich Gorudo unbeeindruckt zu Wort. „Solche Vorfälle passieren doch ständig in dieser Gegend.“ Neben Jowy ballte Viktor die Hand zur Faust und knurrte unterdrückt, sagte jedoch nichts. „Lord Gorudo, Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass Viktors Söldner von einem Haufen Bergbanditen in die Flucht geschlagen worden sind?“, wandte Granmeyer ruhig ein. Gorudo warf ihm einen düsteren Blick zu und schnappte: „Es sind Söldner! Wer weiß, wo ihre Loyalität liegt!“ Viktor zuckte zusammen, doch Fliks Hand, die sich urplötzlich auf den Unterarm des Bären legte, schien ihn zu beruhigen – zumindest so weit, dass er nicht nach vorne stürmte und Gorudo womöglich noch erwürgte. Hauser schüttelte den Kopf und erwiderte: „Ihr könnt nicht abstreiten, dass ein Aufgebot von Highlandern an unseren Grenzen aufmarschiert ist. Das ist ein Fakt und eine ernstzunehmende Bedrohung für die Stadt-Staaten.“ Gustav neben ihm schnaubte, verschränkte die Arme vor der Brust und rief: „Die Highland-Armee ist schon früher an unseren Grenzen erschienen und sie haben noch nie zuvor angegriffen. Warum sollte es diesmal anders sein?“ „Weil der Befehlshaber der Armee von Highland gewechselt hat“, sagte Teresa ernst. „Wir haben es nicht mehr mit Agares Blight zu tun, sondern mit seinem Sohn Luca. Deshalb stehen die Dinge diesmal anders.“ „Oh?“, machte Gorudo und sah die junge Frau von der Seite an. „Deine Reissteuern kannst du seit drei Jahren nicht bezahlen, aber dein Mundwerk funktioniert ja noch wunderbar, wie ich sehe.“ „Wie könnt Ihr es wagen?!“, zischte Teresa wütend und Jowy glaubte fast, die Blitze zu sehen, die aus ihren Augen schossen. Auf den Rängen explodierte das bisher verhaltene Getuschel zu ein paar empörten Aufschreien, die höchstwahrscheinlich von Städtern aus Greenhill stammten. Teresas Leibwächter legte eine Hand auf das Heft seines riesigen Schwerts, doch obwohl er vor Wut deutlich zitterte, zog er es nicht. Ein Raunen ging durch die Menge, das immer lauter wurde, bis Jess rief: „Ruhe!“ Widerwillig fügte sich die Menge dem Befehl, dann sagte Gorudo, als sei nichts gewesen: „Ich denke, dass es genau so ist, wie Lord Gustav gesagt hat. Beim ersten Anzeichen eines Kampfes werden die Highlander bereits laufen!“ Er schnaubte abfällig. „Ich jedenfalls werde meine Ritter wegen einer solchen Lappalie nicht einberufen!“ Seine Ritter – namentlich Miklotov und Camus – sahen nicht so aus, als wären sie mit dieser Entscheidung besonders glücklich, doch keiner von ihnen sagte auch nur ein Wort. Irgendwie hatte Jowy das Gefühl, dass das wohl auch besser so für sie war… „Was für ein altes Ekel!“, murrte Nanami zu seiner anderen Seite und schnaufte. „Und so was nennt sich Ritter!“ Wieder brach die Zuschauermenge in Getöse aus, sodass Jess sie zur Ordnung rufen musste. Diesmal dauerte es länger, bis Ruhe einkehrte – offensichtlich machte sich der Befehlshaber der Matilda-Ritter nicht unbedingt Freunde. „Auch die Menschen von Two River sind von den vielen Kämpfen müde… Was, wenn es wirklich nur falscher Alarm ist?“, seufzte Makai, nachdem er den Rängen einen schnellen Blick zugeworfen hatte. Er erntete dafür ein paar zustimmende Ausrufe, doch Teresa sprang auf und rief: „Das kann doch nicht Euer Ernst sein! Ihr habt doch genau die gleichen Berichte erhalten wie wir alle – Ihr könnt nicht ignorieren, dass die Highland-Armee vor unseren Toren steht!“ „Setz dich, Teresa“, brummte Gustav spöttisch, „und spar dir deinen Atem. Das alles ist die Mühe nun wirklich nicht wert.“ Die Bürgermeisterin von Greenhill warf dem Staatsoberhaupt von Tinto einen ungläubigen Blick zu, schüttelte dann den Kopf und erwiderte: „Es hätte mir klar sein müssen, dass es Euch am allerwenigsten interessiert, ob der Staat in Gefahr ist oder nicht, Lord Gustav.“ Ein bisschen fühlte sich Jowy, als hätte er etwas verpasst. Warum stritten sich diese Menschen hier wie kleine Kinder? Sie waren doch Politiker. Anführer. Die Hoffnungen ihrer Nationen lagen auf ihnen. Wie kam es dann, dass sie, anstatt zu bereden, ob und wie sie die Highland-Armee aufhalten sollten, hier saßen und sich gegenseitig niedermachten? „Bitte beruhigt Euch, meine Liebe“, riet Granmeyer sanft und legte seine Hand auf ihre. Widerwillig tat Teresa wie ihr geheißen, warf jedoch sowohl Gorudo als auch Gustav noch grimmige Blicke zu. „Ich werde meine Männer auch nicht einberufen“, verkündete Letzterer und zuckte die Achseln. „Highland will uns nur wieder Angst einjagen! Das hatten wir doch alles schon einmal.“ Scheinbar hatte Anabelle nun genug gehört. Während der Diskussion hatte sie sich wieder auf ihrem Platz niedergelassen, doch nun schlug sie mit der flachen Hand auf die Tischplatte und stand auf. „Luca Blight“, sagte sie und Jowy war erstaunt zu hören, dass ihre Stimme zitterte; ob nun vor Wut oder Enttäuschung konnte er nicht sagen, „ist mehr Dämon als Mensch. Wenn er und seine Armee durch die Verteidigung von Muse brechen, wird der Staat in Schutt und Asche liegen! Im Namen des Eides, den wir alle geleistet haben, befehle ich euch allen, eure Truppen zum Schutz von Muse abzukommandieren!“ „Ihr macht mir keine Angst mit Euren Drohungen, Anabelle“, entgegnete Gustav spöttisch. „Welchen Sinn hat es, wenn ich meine Männer und Güter aussende, um Muse zu unterstützen, und meine eigenen Leute in Tinto verhungern?“ „Das ist ein Befehl im Namen des Staates, Gustav“, versetzte Granmeyer scharf. „Ihr solltet aufpassen, was Ihr da sagt!“ „Lord Granmeyer hat Recht“, stimmte Hauser dem alten Bürgermeister zu und warf Gustav einen grimmigen Blick zu. „Ihr habt einen Eid geleistet.“ „Vielleicht interessiert mich der Eid nicht mehr?“, gab Gustav gelassen Kontra. „Tinto verdient inzwischen genug durch den Handel mit den Graslanden, um ein souveräner Staat zu sein!“ „Das werden wir ein anderes Mal diskutieren, Gustav“, erwiderte Makai grimmig. „Es tut jetzt nichts zur Sache!“ „Mir scheint, Tintos Souveränität ist weitaus reeller als die angebliche Bedrohung durch Highland!“, mischte Gorudo sich ein. „Warum reden wir nicht darüber, wenn wir ohnehin nur hier herumsitzen und uns über Nonsens unterhalten?“ Diesmal war der Lärm im Saal so laut und so langanhaltend, dass ein paar Soldaten in die Menge eilten, um sie zu beruhigen. Während alle anderen sich umsahen, bemerkte Jowy, wie ein junger Soldat, der völlig gehetzt und panisch wirkte, den Saal durch eine der Seitentüren betrat und zu Jess eilte, der die Unruhe im Saal missmutig beobachtete. Der Kanzler beugte sich zu dem Soldaten hinunter, als dieser ihm etwas ins Ohr flüsterte und selbst von seinem Platz aus konnte Jowy erkennen, wie blass Jess plötzlich wurde. Anabelle warf ihm einen alarmierten Blick zu und der Beamte nickte düster – die Bürgermeisterin ballte eine Hand zur Faust und starrte die Tischplatte an. Was…? „Ruhe!“, brüllte einer der Ordnungshüter auf einen Wink des Obersten Kanzlers hin und die Zuschauer hielten abrupt inne. „Ich habe Neuigkeiten“, sagte Jess und seine Stimme erzitterte deutlich hörbar. Die Blicke aller im Saal wandten sich ihm zu, besonders Teresa und Makai sahen besorgt aus. Der Kanzler schluckte und fuhr dann fort: „Die Armee von Highland hat unsere Wachen an der Grenze ermordet und ist den neusten Berichten zufolge auf direktem Weg nach Muse.“ Ein Aufschrei ging durch die Versammelten, Granmeyer sprang auf und rief: „Was?!“ Oben auf den Rängen brach Panik aus, Jowy hörte die Menschen schreien… und zu den Ausgängen drängen. Er selbst rührte sich nicht, sondern starrte nur Anabelles blasses, angespanntes Gesicht an. Dann hatte es also begonnen. Die Highlander waren auf dem Weg hierher und bald würde es so weit sein: Er würde Anabelle… „Ruhe!“, schrie Jess in den Lärm hinein, doch er kam nicht gegen die Menschen an, die nach draußen hasteten. Erst, als sich der Saal fast völlig gelehrt hatte und nur noch einige wenige Zuschauer auf ihren Plätzen verharrten, um die endgültige Entscheidung der Hilltop-Konferenz zu hören, hörte man Gorudo murmeln: „Dann meinten sie es diesmal wohl doch ernst…“ Er vertiefte sich ein geflüstertes Gespräch mit seinen beiden Generälen, die beide auf ihn einzureden schienen. „Ihr habt es alle gehört“, sagte Anabelle, nachdem sie den drei Männern einen missbilligenden Blick zugeworfen hatte. „Hiermit ist der Befehl, Eure Armeen zum Schutze von Muse einzuberufen, offiziell und gültig! Diejenigen, die sich noch immer weigern, uns zu unterstützen…“ Sie holte tief Luft. „… werden auch keine Unterstützung von uns erhalten, sollte es zum Äußersten kommen. Damit ist die Konferenz beendet!“ Die Staatsoberhäupter schienen nach diesen Worten regelrecht die Flucht zu ergreifen; sie waren schneller verschwunden als die meisten Zuschauer. Jowy fühlte sich, als könne er keinen Muskel rühren. Es konnte nicht sein, dass der Krieg sie wirklich erreicht hatte, er wollte nicht, dass es so weit war, er wollte nicht zum Mörder werden, er wollte nicht… „Lasst uns gehen, bevor sie uns noch hier oben einschließen“, brach Viktors Stimme durch seine Gedanken und der Aristokrat zuckte zusammen, ehe er sich beeilte, seinen Freunden und den beiden Söldnern nach draußen zu folgen. Als sie nach draußen an die frische Luft und in den strahlenden Sonnenschein traten, wagte Jowy es, nach Atem zu schnappen. Seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mann mit den eisblauen Augen auftauchte, um ihm weitere Befehle zu überbringen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das Messer aus seinem Rucksack holen würde, um… Nein. Nein, er würde nicht mehr daran denken. Er würde sich nicht weiter verrückt machen! Er hatte eine Entscheidung getroffen. Seine Mutter oder Anabelle – und die Wahl war auf Anabelle gefallen. So einfach war das. Nicht wahr…? „Also, was sagt ihr?“, fragte Viktor, während sie ihm und Flik hinunter in die Stadt folgten. „Das war doch interessant.“ „Das ist nicht ganz das Wort, das ich benutzen würde“, brummte Nanami. „Das war doch nur ein Haufen alter Männer, die sich gegenseitig beleidigt haben! … Mit Ausnahme von Teresa, sie fand ich toll!“ Ihre Antwort brachte den Söldner zum Lachen, doch dann warf er einen schnellen Blick zurück zum Hilltop-Ratssaal und nickte. „Ja“, sagte er langsam und irgendwie nachdenklich, „da magst du Recht haben…“ Flik sah zwischen dem Bären und den drei Jugendlichen hin und her, schwieg jedoch und richtete den Blick stur geradeaus, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Zurück in Leonas Taverne stellten sie fest, dass diese erschreckend voll war. Nur mit Mühe schafften es Viktor und Flik, sich zu einem leeren Tisch vorzuarbeiten und bestellten jeder sofort einen Krug Bier. „Da seid ihr ja wieder“, begrüßte Leona die fünf, als sie mehr zufällig an ihrem Tisch vorbeiging. „Die nächste Portion Gulasch ist erst in etwa einer Stunde fertig. Wartet ihr so lange oder…?“ „Wir warten“, verkündete Viktor. „Den Fraß aus den Kasernen kann doch wirklich keiner essen…“ Leona lachte. „Lass deine Männer das nicht hören, Bär!“, rief sie ihm noch über die Schulter zu, dann verschwand sie auch schon wieder in der Menschenmenge. Jowy sah ihr einen Moment nach und erhob sich dann von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte. „Wo willst du hin?“, fragte Nanami und kniff etwas die Augen zusammen. Innerlich stöhnte er – wenn er gehofft hatte, dass sie ihn nun, da sie ihn aus dem Bett bekommen hatte, in Ruhe lassen würde, so hatte er sich gründlich getäuscht. „Ich… Ich wollte nach Pilika sehen“, log er. „Sie freut sich sicher, mich zu sehen.“ Nanamis Blick wurde sofort milder und sie lächelte. „Das ist eine gute Idee“, lobte sie ihn. „Sie hat nach dir gefragt… Also, du weißt schon.“ Sie lief rot an und senkte den Blick, aber es genügte; der scharfe Stich seiner Schuldgefühle rief all jene verdrängten Gedanken wieder auf, die seit seiner Rückkehr in seinem Kopf einen düsteren und chaotischen Tanz aufführten. „Ja“, sagte er dumpf. „Ich weiß. Wir… Wir sehen uns später.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich um und eilte durch den vollen Schankraum zur Treppe in den ersten Stock. Kurz überlegte er, ob er nicht wirklich nach Pilika sehen sollte, doch er entschied sich dagegen. Nach allem, was passiert war, konnte er sie einfach nicht mehr ansehen. Er ertrug die Bewunderung in ihren Augen nicht mehr und die stumme Liebe, die sie ihm entgegen brachte… Stattdessen machte er kehrt und ging schnurstracks zurück zu dem Zimmer, das er sich mit Riou teilte. Er wollte jetzt niemanden sehen. Er musste… musste allein sein und seine Gedanken ordnen. Jowy schloss die Tür so leise es ging, lehnte dann die Stirn an das kühle Holz und schloss die Augen. Ein leises, beinahe verzweifeltes Seufzen entwich ihm. Die Highland-Armee war auf dem Weg hierher. Der Staat war innerlich zerstritten. Tinto und Matilda wollten keine Männer zur Unterstützung schicken. Seine Mutter würde sterben, wenn er Anabelle am Leben ließ. Und er, er war ein Verräter, würde sie alle auf dem Gewissen haben, wenn er nichts tat… „Drehe einem Feind niemals den Rücken zu, Junge.“ Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus und er fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf geschüttet. Obwohl er sich sicher war, dass er sich noch niemals in seinem Leben so schnell umgedreht hatte, kam es ihm vor, als würde er sich in Zeitlupe bewegen. An die Wand neben seinem Bett gelehnt, stand mit verschränkten Armen der Mann mit des eisblauen Augen. „I-Ihr… W-Wie seid Ihr hierher gekommen?“, stammelte Jowy. „Wenn Euch jemand gesehen hätte…“ „Ich kann verhindern, dass ich gesehen werde, wenn ich es wünsche“, erwiderte der Mann kühl. „Ich bin hier, um dich an deine Abmachung mit Luca Blight zu erinnern.“ Der Aristokrat ballte ohnmächtig die rechte Hand zur Faust. „Als ob ich das vergessen könnte…“ In seinen Gedanken wisperte die Rune des Schwarzen Schwerts Worte, die er nicht hören wollte, aber dagegen tun konnte er nichts. Es sei Schicksal, flüsterte sie. Er könne sich nicht dagegen wehren. Dies wäre der einzige Weg für ihn… „Morgen früh werden die highlandischen Truppen vor den Toren von Muse stehen“, informierte ihn der Mann beinahe desinteressiert. „Warte einen passenden Moment ab und errege kein Aufsehen.“ Jowy sah auf und stellte fest, dass sein Verfolger sich bereits wieder zum Gehen wandte. „Wartet!“, rief der Junge und der Mann warf einen kühlen Blick zurück über seine Schulter. „Das… das ist alles?“ „Was hast du erwartet, dass man dich an der Hand nimmt und dich führt?“ „N-Nein… Aber…“ Jowy zitterte. Er hasste, hasste, hasste es, aber er konnte nichts dagegen tun. Dies war der einzige Weg, seine Mutter zu retten. „…V-Verratet mir wenigstens, wie ich Euch kontaktieren kann, wenn… sich etwas ergibt.“ Einen viel zu langen Augenblick geschah nichts. Dann sagte der Mann ein Wort: „Kage.“ „Was…?“ „Mein Name. Du wirst mich rufen können.“ Mit diesen Worten fuhr der Mann herum – und sprang aus dem geöffneten Fenster. Jowy stürzte ans Fensterbrett, doch da war keiner mehr. Entweder war der Mann in der Menschenmenge unten auf der Straße verschwunden, oder… Er wandte sich ab und starrte die Tür an, doch eigentlich sah er sie gar nicht. Vor seinen Augen verschwamm alles und wieder waren da die Tränen, die er nicht aufhalten konnte. Angestrengt blinzelte er sie weg und holte gerade tief Luft, als sich die Tür öffnete und Pilika in der Türöffnung erschien. Das kleine Mädchen strahlte ihn an und lief auf ihn zu, dann umarmte sie ihn heftig, doch Jowy konnte sich nicht rühren. Er stand nur da und ließ es geschehen, dass sich an ihn drückte. Irgendwann jedoch, schob er sie etwas von sich, sank unter ihrem erstaunten Blick auf die Knie und zog sie wieder an sich, damit sie die Tränen nicht sah, die nun doch wieder in seinen Augen schwammen. Aber er würde nicht weinen, nicht mehr, er würde stark sein, weil… weil er ihr das schuldig war. „Es… Es wird alles gut, Pilika“, flüsterte er. „Das verspreche ich dir.“ Wahrscheinlich wollte er mehr sich selbst beruhigen als das kleine Mädchen in seinen Armen, wurde ihm klar. Aber er wusste auch, dass alle Worte dieser Welt ihn nicht mehr würden überzeugen können, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Dazu war es zu spät. Als Riou wenig später vorbeikam, um den Aristokraten und Pilika zum Essen abzuholen, hatte Jowy sich weitgehend erholt, jedenfalls soweit es möglich war. Er setzte das falsche Lächeln auf, an das er sich inzwischen fast schon gewöhnt hatte, und versicherte, dass er sich wundervoll fühlte, als sein Freund sich besorgt nach seinem Wohl erkundigte. Riou wirkte nicht unbedingt überzeugt, aber er beließ es dabei. Wie immer, eigentlich. Jowy konnte sich nicht daran erinnern, dass der Jüngere jemals nachgebohrt hatte, wenn er selbst über etwas nicht reden wollte. Diesmal erwischte sich der Aristokrat jedoch dabei, dass er sich beinahe wünschte, dass Riou ihn ausfragen würde. Dass er mit der Sprache herausrücken durfte, dass die Last von seinen Schultern genommen wurde. Dass sie vielleicht eine andere Lösung fanden… Aber er bekam den Mund nicht auf. Es wäre eine Überwindung gewesen, Riou alles zu erzählen – eine, die zu schlichtweg zu groß war. Und außerdem war da noch dieser Kage, der kam und verschwand, als wäre er ein Geist… Nein, er konnte Riou nichts sagen. Dies war eine Bürde, die Jowy allein tragen musste, egal, wie schwer es ihm fiel. Und wenn er daran zerbrach… er würde niemand anderen mit einem Mord belasten. Lustlos stocherte Jowy gerade in seinem Rindergulasch herum, als Viktor, der neben ihm saß, ein überraschtes Geräusch von sich gab und zur Eingangstür schaute. Er hob den Kopf und folgte dem Blick des Söldners, der auf das Gesicht einer großen, rothaarigen Frau geheftet war, die sich suchend im Raum umsah. Anabelle. Sie fiel im vollen Schankraum kaum auf, doch Viktor schien einen Instinkt für ihre Anwesenheit zu haben. Er winkte ihr grinsend zu und die Bürgermeisterin strahlte ihn an, als sie ihn entdeckte. Als sie den Tisch erreichte, an dem die beiden Söldner gemeinsam mit Jowy, Riou, Nanami und Pilika saßen, zog sie schnell einen freien Stuhl herbei und ließ sich neben Flik nieder. „Was für eine Überraschung“, begrüßte Viktor sie und rückte etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen. „Ich habe heute gar nicht mehr mit dir gerechnet.“ „Nicht?“ Anabelles Augenbrauen hoben sich und der Bär grinste. „Na“, sagte er, „ich habe mir die Konferenz angesehen, weißt du. Du hast dich wirklich gut geschlagen, dafür, dass Gustav und Gorudo so feige Hunde sind.“ Die Mundwinkel der Bürgermeisterin zuckten amüsiert, doch sie blieb ernst und zuckte mit den Schultern. „Das ist immerhin Teil meiner Arbeit“, winkte sie ab. „Inzwischen haben sich alle wieder beruhigt… Natürlich will uns keiner volle Unterstützung geben, aber gleichzeitig will auch keiner von ihnen riskieren, dass jemand anders den Highlandern zum Opfer fällt.“ Sie schnaubte und Jowy schluckte. Sie saß fast neben ihm. Nur ein bisschen… Nur ein Meter trennte ihn von ihr. War das die angeblich passende Gelegenheit, von der Kage gesprochen hatte? Das Stück Fleisch, auf dem er herumgekaut hatte, schien ihm quer im Hals stecken zu bleiben. Er konnte doch nicht einfach…! Nein. Nein, nein, nein. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen nackten Armen aus und er schluckte schwer. Er wollte das nicht. Seine Hände zitterten… „Aber du bist doch sicher nicht hergekommen, um dich zu unterhalten?“, drang Viktors Stimme durch Jowys Gedanken und er riss sich mühsam zusammen. Er durfte nicht wieder durchdrehen, er musste bei der Sache bleiben! „Leider nicht“, nickte Anabelle und kurz flackerte in ihren Augen ehrliches Bedauern auf. „Ich bin hier, um dich um etwas zu bitten.“ „Jetzt ist es wohl vorbei mit dem Spaß, hm?“ Mit einem Seufzen legte Flik sein Besteck beiseite und lehnte sich vor. Doch bevor die Bürgermeisterin auch nur den Mund aufmachen konnte, ertönte hinter ihnen plötzlich eine wohlbekannte Stimme: „Hier seid ihr! Ich habe euch schon überall gesucht!“ Jowy warf einen Blick über die Schulter und entdeckte Apple, die hinter ihm stand und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. „Oh, hey, App“, rief Viktor mit einem besonders unschuldigen Grinsen auf den Lippen. „Überall schon? So was!“ „Du bist so anstrengend“, seufzte Apple kopfschüttelnd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin eigentlich hier, um dir zu sagen, dass Anabelle dich gesucht hat… aber offensichtlich hat sie dich schon gefunden.“ Anabelle lachte und erwiderte: „Trotzdem danke, Apple, ich weiß deine Bemühungen zu schätzen.“ Die junge Strategin errötete leicht und nickte, dann ließ sie ihren Blick über den Schankraum schweifen, auf der Suche nach einem freien Stuhl. Als sie keinen fand, machte sie Anstalten, sich schon zu verabschieden, doch da wandte sich Nanami an Pilika und fragte laut: „Willst du auf meinen Schoß, Pilika? Dann kann Tante Apple auch sitzen.“ Das kleine Mädchen warf der Strategin einen schnellen Blick zu, nickte dann lächelnd und ließ sich von Nanami auf deren Schoß heben. „Problem gelöst“, verkündete Nanami und Apple grinste. „Danke.“ Sie setzte sich und warf Viktor einen tadelnden Blick zu, um an sein Gewissen zu appellieren, doch der Bär brach nur in Gelächter aus und meinte: „Tut mir leid, App, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass du jetzt auch eine Dame bist.“ Apple seufzte nur wieder und winkte ab: „Schon gut… Es gibt wichtigere Dinge, um die wir uns jetzt kümmern müssen.“ Sie sah Anabelle vielsagend an, die nickte und sofort ernst wurde. „Viktor“, sagte sie und ballte eine ihrer Hände zur Faust. „Ich muss dich darum bitten, uns die Highlander eine Weile vom Hals zu halten. Es wird mindestens drei Tage, wenn nicht noch länger, dauern, bis wir alle Streitkräfte des Staates hier in Muse versammeln können, aber die Highlander werden schon morgen früh hier sein.“ Sie begann nun, angespannt auf ihrer Lippe herumzukauen, während sie auf eine Antwort wartete. Wahrscheinlich fühlten sich alle außer Jowy erschlagen von dieser Nachricht – er selbst war es nur nicht, weil in seinem Kopf so viele andere Gedanken herumgingen. Kage hatte also die Wahrheit gesagt. Luca Blight war hier. Seine Mutter war, wahrscheinlich ohne es zu wissen, in tödlicher Gefahr. Anabelle war… Er konnte es nicht einmal in Gedanken aussprechen. „Zwei Tage wären schon genug“, fuhr Anabelle fort, als keiner etwas sagte. „Bitte, Viktor. Nur zwei Tage.“ „Wenn wir schon uns schon heute Nacht auf die Lauer legen und sie von der Stadt fernhalten würden… könnten wir ihnen eigentlich schon die Nasen etwas blutig schlagen“, überlegte Apple laut und knabberte abwesend am Daumennagel ihrer rechten Hand. „Jedenfalls in der Theorie sollten zwei Tage möglich sein…“ „Du wirst dich nie ändern“, stöhnte Viktor und fuhr sich durchs Haar. „Du verlangst die verrücktesten Sachen, als wenn’s nichts wäre. Allein die Vorstellung, dass meine Männer allein Luca Blight aufhalten sollen…“ Er lachte nervös auf und schüttelte den Kopf. „Ich zähle auf dich, Viktor“, entgegnete Anabelle und griff nach seiner Hand. „Wenn ich eine andere Lösung wüsste, würde ich dich nicht darum bitten, aber…“ „Wenn es nur darum geht, sie ein bisschen aufzuhalten, schaffen wir es“, unterbrach Flik sie überzeugt. „Es ist nicht unbedingt leicht, aber auf jeden Fall machbar.“ „Das stimmt“, räumte Viktor ein und grinste Anabelle dann aufmunternd zu. „Zwei Tage, sagst du?“ „Wir erwarten die Verstärkung aus Matilda sehr bald“, bestätigte die Bürgermeisterin, die deutlich erleichtert wirkte. Dann schenkte sie dem Bär ein fast kokettes Lächeln. „Danke, mein Bester.“ Wenn Jowy sich nicht stark irrte, lief Viktor bei diesen Worten rot an. „Äh“, machte er und lachte. „Sicher… Dafür bin ich ja da, richtig? Und außerdem“, fügte er hinzu und schien plötzlich wieder ganz Herr der Lage, „einer so feinen Dame wie dir kann man doch keinen Wunsch abschlagen.“ „Oh Runen“, murmelte Flik und verdrehte die Augen. Dieser Kommentar ließ Anabelle zusammenzucken und sie ließ schnell Viktors Hand wieder los, ehe sie sich erhob und sagte: „Ich danke euch. Aber ich kann nicht lange bleiben und…“ „Bitte lasst uns mit Euch kämpfen.“ Die Worte waren ausgesprochen, noch bevor Jowy eigentlich richtig darüber nachgedacht hatte, aber es war ohnehin zu spät, sie zurückzunehmen. Und er fühlte sich verantwortlich, es wollte es wiedergutmachen, vielleicht gab es einen Weg, er würde sie nicht umbringen, er konnte seine Mutter sicher irgendwie anders retten…! Einen Moment lang zögerte Anabelle, dann ließ sie sich doch wieder auf dem Stuhl nieder und warf sowohl Jowy als auch Riou einen mitleidigen Blick zu. „Jungs… Es war ein Fehler von Jess, euch in all das hier mit hineinzuziehen. Dafür entschuldige ich mich bei euch. Aber ihr braucht nicht noch mehr für uns zu tun als ihr ohnehin schon getan habt – das ist ein Problem für uns Erwachsene.“ Kurz flammte wieder die alte Wut in Jowy Innerem auf – er war kein Kind, er wollte nicht so behandelt werden – aber er unterdrückte sie und erwiderte: „Nein, bitte… Ich möchte mit Euch kämpfen. Ich… Wir werden Euch helfen, die Highland-Armee aufzuhalten. Du – Du machst doch mit, Riou?“ Erst jetzt traute er sich, seinem besten Freund einen fragenden Blick zuzuwerfen. Dieser blinzelte überrascht und sah dann Jowy sehr lange mit einem undurchdringlichen Blick an. „Natürlich“, sagte er dann und lächelte. Nanami stieß bereits wieder die Luft aus ihren Lungen, doch bevor sie ihre Proteste äußern konnte, seufzte Anabelle schwer und strich sich eine verlorene, rote Locke aus dem Gesicht. „… Dann passt bitte gut auf euch auf, ihr beiden“, sagte sie. „Und du auch, Nanami. Bleibt am Leben. Und… kommt mich nach der Schlacht besuchen. Dann erzähle ich euch von Meister Genkaku.“ „Da-Danke.“ Was, wenn… es doch eine andere Lösung gab…? Kapitel 30: Helfende Hände -------------------------- A/N: Fillerkapitel. Ungebetat (meine Beta kommt nicht mehr hinterher ;__;). Jowy fröstelte in der morgendlichen Frische und gähnte verhalten, blinzelte jedoch weiterhin angestrengt in die Ferne. Leichter Morgennebel lag auf der Ebene, die Muse umgab, und es war die letzten Tage über ungewohnt kalt für Frühsommer gewesen. Aber vielleicht hatte das Wetter beschlossen, sich Jowys innerem Konflikt anzupassen – mal schien die Sonne, dann war der Himmel wieder von schweren Wolken bedeckt… so wie jetzt gerade. Neben ihm ertönte ein Niesen. „Gesundheit.“ „Danke…“ Riou wickelte sich enger in seinen Umhang und seufzte leise. Viktor und Flik waren alles Andere als begeistert gewesen von ihrer Entscheidung, aber sie hatten keine Zeit gehabt, lange darüber zu diskutieren. Gemeinsam mit den Söldnern – und Nanami, die wohl lieber gestorben wäre, als die beiden Jungen allein zu lassen – waren sie zu den Kasernen am anderen Ende der Stadt geeilt, um Viktors Männern die Neuigkeiten mitzuteilen. Die Menschen, die ihnen dabei begegnet waren, waren hin- und hergehetzt; die Nachricht, dass der Krieg Muse endgültig erreicht hatte, schien sich in Windeseile herumgesprochen zu haben. Zu Hunderten verließen die Leute die Stadt und Jowy hatte es ihnen nicht übel nehmen können. In einer anderen Welt wäre er wohl auch mit ihnen davon gelaufen, weg vom Krieg, weg vom Tod, weg von dem Schlachtfeld, zu dem sich die Ebene um Muse wohl bald entwickeln würde. Inzwischen waren die Tore fest versperrt und die wenigen Menschen, die dageblieben waren, hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert. Auf die Schnelle hatten die Söldner nicht einmal mehr einen Arzt finden können – bis Tuta am späten Abend in den Kasernen aufgetaucht war, seinen Lehrmeister Doktor Huan im Schlepptau. Der Arzt hatte nun ein kleines Feldlazarett organisiert und es direkt an den Stadttoren errichtet, sein Lehrling eilte auf der Mauer hin und her und gab jedem, der danach verlangte, einen Schluck einer hauseigenen Kaffeemixtur, in die er etwas gemischt hatte, von dem Jowy hätte schwören können, dass es Beruhigungsmittel war – jedenfalls schienen die Männer, die davon probiert hatten, schon wenige Minuten später ruhiger zu werden. „Bei euch ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Tuta bei Jowy und der Aristokrat war kurz versucht, zu verneinen – er war alles andere als in Ordnung – nickte dann jedoch und grinste: „Ja, alles gut. Was ist mit dir? Du hast doch sicher kaum geschlafen.“ „Oh, das ist schon okay!“, verkündete der Arztlehrling eifrig, dessen Arztkoffer fast genau so groß wie er selbst war. „Ich bin Arzt, da muss man die ein oder andere schlaflose Nacht ertragen können!“ Die tiefen Schatten unter seinen Augen straften den Jungen Lügen, aber Jowy verzichtete darauf, weiter darauf herumzureiten. Immerhin wollte er selbst auch nicht weiter darüber nachdenken, wie er erschöpft er eigentlich war… mehr seelisch denn körperlich, aber dennoch wollte er am liebsten zurück ins Bett. „Ich bin ein bisschen nervös“, gab Nanami zu Jowys anderer Seite zu, die gerade zu ihnen trat, sich enger in den Mantel wickelnd, den entweder Apple oder Leona ihr geliehen hatten. „Das ist schlimmer als letztes Mal…“ Das letzte Mal, das sie auf den Beginn der Schlacht gewartet hatten, schien Ewigkeiten her zu sein. Jowy wusste zwar, dass theoretisch nicht mehr als ein paar Wochen vergangen sein konnten, aber es schien eine Ewigkeit her zu sein. So viel war seit dem Fall des Söldnerforts passiert… Sie nahmen nicht aktiv an der Schlacht teil, das hatte Viktor ihnen ausdrücklich verboten. Egal, wie locker der Bär sich gab, man merkte ihm die Anspannung, ja, vielleicht sogar Angst, doch an. Und Jowy verstand das alles nur zu gut – Luca Blight war auf dem Weg zu ihnen, war ihnen vielleicht näher, als sie ahnten, und die Söldner mussten es im Alleingang schaffen, die Highlander wenigstens zwei Tage von der Stadt fernzuhalten. Dass die Truppen aus Matilda rechtzeitig eintreffen würden, bezweifelte Jowy ehrlich. Zu gleichgültig hatte Gorudo sich gegeben und auch seinen Rittern traute der Aristokrat nicht zu, dass sie sich gegen ihren Lehnsherren auflehnten. Sehr wahrscheinlich würden die Matilda-Ritter sich hinter ihrer Mauer verschanzen und warten, bis sie selbst an der Reihe waren… Er schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben und konzentrierte sich auf den grauen Horizont und den Nebel, der sich noch immer nicht verzogen hatte. Neben ihm seufzte Tuta leise, dann murmelte er: „Ich schaue später noch einmal bei euch vorbei. Passt auf euch auf!“ „Du auch“, erwiderte Nanami und sah dem Jungen nach, bis er außer Sicht verschwunden war. Anschließend blickte sie ebenfalls auf die Ebene hinaus und fragte: „Was meint ihr, wie lange…?“ Jowy öffnete den Mund, um zu antworten, doch eine Explosion am Horizont ließ ihn zusammenzucken. Riou reagierte schneller und griff nach dem Fernrohr, das Barbara ihnen mitgegeben hatte. „Sie sind da“, knurrte er durch zusammengepresste Zähne. „Das war einer der Feuerspeere, sie funktionieren anscheinend wieder nicht richtig…“ „War zu erwarten“, entgegnete Jowy düster. „Es ist ja nicht so, als hätte jemand sonderlich viel Ahnung von ihnen.“ Riou nickte nur und starrte weiter durch das Fernrohr, die Geschehnisse auf dem Schlachtfeld kommentierend. Jowy hasste es von Beginn an. Nicht nur, dass sie nur dabei zusehen konnten, wie die zwei Armeen aufeinander trafen, nein, sie waren auch noch gezwungen, darauf zu warten, dass etwas passierte. Es nervte ihn, dass sie mit bloßem Auge kaum erkennen konnten, was vor sich ging, wenn nicht gerade wieder einer der Feuerspeere in die Luft flog – wahrscheinlich forderten die Speere letzten Endes mehr Opfer in den Reihen der Söldner als beim Feind… Stunde um Stunde verging, gelegentlich kehrten kleine Grüppchen der Söldner zurück, um ihre Verletzten behandeln zu lassen, und die Schlacht weit draußen auf der Ebene schien keinen klaren Sieger zu haben. Aber andererseits hatten die Highlander wahrscheinlich noch einen Trumpf im Ärmel – Luca Blight hatte sich noch nicht gezeigt und es gab keinen Zweifel daran, dass der Kronprinz noch persönlich zuschlagen würde… in dem Augenblick, in dem sich ihm niemand mehr in den Weg stellen konnte. Aber was blieb ihnen anderes übrig als zu warten? Viktor hatte ihnen verboten, den Söldnern zu folgen, und obwohl Jowy sich diesem Befehl früher einmal wahrscheinlich widersetzt hätte, blieb er diesmal, wo er war, als stummer Beobachter. Irgendwann wandte er sich von den Geschehnissen auf dem Schlachtfeld ab und sah stattdessen hinunter auf das von Doktor Huan errichtete Lazarett. Der Arzt und sein Lehrling eilten zwischen den Verletzten hin und her, Leona, Millie und Barbara leisteten ihnen mit ein paar anderen Freiwilligen Hilfe. Und dennoch schien es so, als gäbe es einfach nicht genug helfende Hände. Wieder einmal wanderten Jowys Gedanken zu dem Messer, das Luca Blight ihm aufgezwungen hatte, und er dachte wieder an seine Mutter, Anabelle und all die Menschen, die so unglaublich freundlich zu ihm gewesen waren. Er konnte nicht einfach nur daneben sitzen und nichts tun! „Ich gehe runter und helfe!“, sagte er entschlossen, wartete nicht auf eine Antwort und eilte die steinernen Stufen hinab ins Krankenlager. Er schlängelte sich zwischen Verletzten und freiwilligen Helfern hindurch, bis er Huan erreichte, der sich gerade um einen jungen Söldner kümmerte, in dessen rechter Schulter ein Pfeil steckte. „Doktor Huan“, keuchte Jowy, als er endlich bei dem Arzt ankam, „kann ich Euch irgendwie helfen? Ich…“ Er stockte, doch der Medikus warf ihm einen dankbaren Blick zu und nickte: „Halt ihn fest, sei so gut… Das wird jetzt weh tun“, fügte er an den Verletzten gewandt hinzu. Der Söldner wimmerte leise, kniff die Augen zu und wandte sich demonstrativ ab; Jowy ergriff seine Schultern und hoffte einfach, dass er alles richtig machte. Beinahe entwich ihm selbst ein Schrei, als Huan den Pfeil weiter in den Körper des jungen Mannes stieß, bis die Spitze an seinem Rücken wieder austrat. Der Söldner stöhnte laut und machte Anstalten, sich aufzubäumen, doch Jowy bemühte sich, ihn an Ort und Stelle festzuhalten. „Vielen Dank“, murmelte Dr. Huan, strich sich mit dem Handrücken seiner blutverschmierten Hand einen Schweißtropfen von der Stirn und griff nach beiden Enden des Pfeils. „Zähne zusammenbeißen!“ Mit diesen Worten brach der Arzt das eine Ende ab und zog den Rest des Schafts mit einer einzigen, schnellen Bewegung heraus. Diesmal schrie der Verletzte auf und Jowy biss sich auf die Lippe, als er ihn mühsam davon abhielt, um sich zu schlagen. Ermattet sank der junge Söldner schließlich zurück auf sein Lager und unter seinen geschlossenen Lidern rannen Tränen hervor. „Das hast du gut gemacht“, sagte Huan und tätschelte seinem Patienten beruhigend die Wange, ehe er ihm eine Kompresse auf die Wunde drückte und den Oberkörper eilig verband. Jowy stellte erschüttert fest, dass seine Hände zitterten – es war eine Sache, fernab von der Gefahr das Geschehen zu beobachten, doch eine ganz andere, hier neben dem behandelnden Arzt zu knien und sich um die Verletzten zu kümmern. „Doktor Huan!“ Tuta kam herbeigeeilt, die Hände dunkelrot vor vertrocknetem Blut, die Augen panisch aufgerissen. „Doktor Huan, ich brauche Eure Hilfe!“ „Ich komme sofort“, erwiderte der Arzt, drückte Jowy ohne viel Federlesens eine Flasche in die Hand und erklärte: „Gib ihm davon drei Schlucke und pass auf, dass er es nicht wieder ausspuckt! Es wird die Schmerzen betäuben.“ Bevor der Aristokrat auch nur mit der Wimper zucken konnte, waren Huan und Tuta auch schon verschwunden und er war allein mit dem weinenden Söldner. „Oh Runen“, wisperte Jowy überfordert und starrte hinunter auf den jungen Mann, der inzwischen unkontrollierbar zitterte. „Bitte“, flehte der Verletzte, „macht, dass es aufhört…! Es tut so weh…“ Einen Moment noch sah Jowy ihn hilflos an, dann schluckte er und sagte, sich um eine feste Stimme bemühend: „Es hört gleich auf. K-Keine Sorge.“ Er holte tief Luft und hob den Kopf des Söldners an, dann entkorkte er die Flasche mit den Zähnen und achtete sorgfältig darauf, dass nichts daneben ging, als die dickflüssige Medizin in den Mund des Patienten floss. Allerdings wäre es wohl auch zu einfach gewesen, wenn alles gleich beim ersten Mal geklappt hätte – der Söldner spuckte alles wieder aus und hustete. „Oh, bitte! Mach, dass es aufhört!“, flehte er verzweifelt. Jowy biss sich wieder auf die Lippe – wenn es so weiterging, würde nicht mehr viel von ihr übrig bleiben – und setzte die Flasche erneut an den Mund des Söldners, während er murmelte: „Es wird aufhören, sobald Ihr die Medizin getrunken habt, ich verspreche es…“ Der junge Mann schluchzte und krümmte sich leicht zusammen, sich hartnäckig weigernd die Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Ein entnervtes Stöhnen entwich dem Aristokraten und er schickte ein Stoßgebet an die 27 Wahren Runen. In seinem Kopf wütete derweil seine eigene Rune. Du kannst all dem ein Ende machen, flüsterte sie fordernd. Setze meine Macht frei und sie werden dir alle zu Füßen liegen! Es ist dein Schicksal, dich über sie alle zu erheben! Jowy kniff die Augen zu und stieß die angehaltene Luft durch die zusammengepressten Zähne. Einen Teufel würde er tun und der Rune gehorchen! Er war nicht wie Luca Blight, er wollte nicht, dass Blut floss, wollte die Welt nicht brennen sehen – und vor allem wollte er sich nicht über alle erheben! Was für seltsame Vorstellungen hatte die Rune eigentlich?! „Sei still…“, knurrte er leise und war froh, dass der verletzte Söldner in keinster Weise darauf reagierte, weil er ihn hoffentlich nicht gehört hatte. Gewaltsam schirmte er das Wispern der Rune ab, achtete nicht weiter auf ihre Forderungen und ihr Drängen, sondern umklammerte die Flasche etwas fester und hob den Kopf des jungen Mannes noch einmal behutsam an. „Ich verspreche Euch, dass es bald nicht mehr weh tut!“, flüsterte er und sah dem Soldaten fest in die Augen, die dieser gerade wieder öffnete. Ein schwaches Nicken, doch bevor Jowy ihm die Medizin einflößen konnte, rief jemand seinen Namen. „Jowy!“ Er musste nicht aufsehen, um zu wissen, wer da auf ihn zugerannt kam und sich schließlich neben ihm niederließ – Riou. „Lass mich“, murmelte der Jüngere und legte seine rechte Hand behutsam auf die bandagierte Wunde des Söldners. Jowy öffnete den Mund, um seinen Freund davon abzuhalten, seine Macht zu gebrauchen, doch da legte sich bereits das altbekannte, hellgrüne Leuchten um Rious Hand und der Verletzte schnappte nach Luft. „Riou, was-“ „Ich habe es jetzt unter Kontrolle“, beruhigte der andere Junge ihn. „Es geht schon!“ Irgendwo zwischen Staunen und Unglaube beobachtete Jowy, wie sich der Söldner langsam entspannte – und eine der Zierpflanzen, die an der Hauptstraße entlang in großen Töpfen standen, urplötzlich verwelkte. „Was zum…?“ „Äquivalenter Tausch“, erklärte Riou knapp, während er seine Hand langsam zurückzog. „Ich brauche die Energie von lebender Materie, um Wunden zu heilen… Das Leben der Pflanzen für seines.“ Er wies mit dem Kinn auf den jungen Mann, der zwischen ihnen lag und offensichtlich gerade eingeschlafen war. „Früher musste ich meine eigene Energie verwenden, das erklärt die ständige Erschöpfung…“ Er atmete durch, dann ließ er seinen Blick über die übrigen Verletzten schweifen. „Dann… dann bist du jetzt Herr der Rune?“, vergewisserte sich Jowy verwirrt und erntete ein schiefes Grinsen. „So würde ich es nicht nennen“, erwiderte Riou kopfschüttelnd. „Es ist vielmehr so, dass sie… sich mit mir abgefunden hat, glaube ich. Sie hat mich als Träger akzeptiert.“ Was hätte Jowy darum gegeben, wenn es bei seiner eigenen Rune auch so gewesen wäre! Er wettete, dass die Rune des Hellen Schildes nicht pausenlos versuchte, ihren Träger zu ihrer Benutzung hinzureißen, geschweige denn, dass sie ihm irrationale Befehle einflüsterte… Er wollte etwas sagen, doch in diesem Moment rief jemand von der Mauer hinunter: „Öffnet das Tor! Es ist Gengens Einheit!“ Die Jungen tauschten einen Blick, ehe sie aufsprangen und zum Tor rannten, um den Leuten zu helfen, es zu öffnen. Verletzte wurden hereingetragen, einer blutüberströmter als der andere – und dann fiel Jowys Blick auf Gengen, der mehr tot als lebendig aussah. „Oh Runen!“, hauchte Riou neben ihm entsetzt, stürzte an die Seite des Kobolds und ergriff seine Pfote. „Gengen!“ „Gengen… tapfer… gekämpft“, ächzte der Kobold und grinste schwach. „Riou muss jetzt… einspringen!“ „Ich soll – was?!“ „Riou, Jowy!“ Es war Cedric, der auf die Jungen zugelaufen kam. „Cedric, was ist passiert?“, verlangte Riou zu wissen und der Offizier schüttelte betroffen den Kopf. „Dadurch, dass sie Gengens Einheit ausgeschaltet haben, sind wir in der Unterzahl – wir brauchen dringend neue Truppen, oder…“ „Sir!“ Ein Soldat der Staates erschien neben ihnen und salutierte vor Cedric. „Auf Befehl von Lady Anabelle wurde eine Kompanie von 250 Mann herbeordert, um den Euch zu Hilfe zu kommen. Eure Befehle, Sire?“ „Mögen die Runen diese Frau segnen!“, seufzte der Söldner erleichtert auf und wandte sich wieder an die Jungen. „Was steht ihr denn noch da rum? Ihr wolltet doch helfen, das ist eure Gelegenheit!“ „Raus… aufs Schlachtfeld?!“, fragte Jowy ungläubig nach und Cedric verdrehte die Augen. „Hört mal, Jungs, wir haben keine Zeit für lange Diskussionen! Unsere Männer werden sich nicht lange halten können, wenn wir nicht sofort Verstärkung bekommen – ich bin hier, um sicherzugehen, dass die Verletzten alle heil hier ankommen, ich muss zurück, bevor…“ „Lass uns gehen, Jowy!“ Er begegnete Rious entschlossenem Blick und schluckte schwer. Dann nickte er zögernd – Cedric schien das Antwort genug zu sein und er wandte sich an den Soldaten des Staates: „Diese Jungen befehligen Eure Kompanie, Soldat! Ich erwarte, dass Ihr ihren Befehlen folgt, verstanden?“ „Ja, Sir!“ Wenn der Soldat Einwände hatte, so äußerte er sie nicht, sondern sah die beiden Jungen abwartend an: „Wie lauten Eure Befehle?“ Plötzlich war Jowy völlig entspannt, die Panik in seinem Inneren legte sich genau so unerwartet, wie sie aufgekommen war – er war auf einmal ganz in seinem Element. „Bringt uns Rüstungen“, befahl er ruhig. „Wir brechen auf, sobald wir bereit sind!“ „Jawohl!“ Der Soldat drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon, um die Befehle auszuführen, während Riou Cedric ansah: „Geht zurück, wir folgen Euch so schnell wir können!“ Der Söldner nickte abrupt und hob zum Abschied die Hand, dann begab er sich zurück zu seinen Männern, schwang sch auf sein Pferd und führte seine Truppen zurück zum Schlachtfeld. Hinter ihnen fiel das Tor wieder zu und Jowy schloss kurz die Augen. Rune des Schwarzen Schwertes, bat er stumm, gib mir die Kraft, sie alle zu beschützen! Die Rune antwortete nicht, doch ein seltsam warmes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus und er wusste, dass sie ihm die Bitte erfüllen würde. „Wo ist Nanami?“, fragte er leise, während er die Augen wieder öffnete und sich noch einmal aufmerksam zwischen Verletzten, Helfenden und Soldaten um. „Bei Barbara und Leona“, antwortete Riou. Das war gut – es bedeutete, dass sie zu beschäftigt sein würde, um ihnen zu folgen. „Sirs!“ Der Soldat kehrte zurück, im Schlepptau die besagte Kompanie, die Anabelle scheinbar auf die Schnelle noch versammelt hatte – wenn Jowy alles richtig verstanden hatte, würden die Truppen von Muse erst am nächsten Tag zu den Söldnern stoßen. Der Mann trug zwei Harnische, die die Jungen auf die Schnelle überstreiften; nun waren sie wenigstens äußerlich nicht allzu sehr von den anderen Soldaten zu unterscheiden und besser geschützt als vorher waren sie nun auch. Sie konnten nur hoffen, dass das auch reichen würde. A/N: Wir sehen uns im neuen Jahr :) Kapitel 31: Freund und Feind ---------------------------- „Viktor, pass auf!“ Riou und Jowy rissen zeitgleich ihre Waffen hoch, um eine riesige Streitaxt aufzuhalten, die ein Highlander auf den Söldner hatte krachen lassen wollen, und der metallische Klang von aufeinanderprallenden Waffen klang unangenehm in den Ohren des Aristokraten nach. Mit vereinten Kräften schafften die Jungen es, den Angreifer zurückzudrängen, woraufhin einer der ihnen unterstellten Soldaten die Chance nutzte, um ihm ein Schwert zwischen die Rippen zu jagen. „Ihr!“, rief der Bär, hin- und hergerissen zwischen Schreck und Wut. „Ich hatte euch doch verboten, herzukommen! Warum seid ihr nicht in der Stadt?!“ „Weil ihr Hilfe braucht!“, antwortete Riou, während er einer Klinge auswich und einen weiteren Angriff mit einem Tonfa abwehrte. „Ihr werdet nicht allein bis morgen früh durchhalten!“, pflichtete Jowy ihm bei, trat einem der Highlander, die mit erhobenen Schwertern auf sie zueilten, in die Kniekehle und stieß ihn und einen weiteren Soldaten mit einem Rundumschlag seines Stabs zu Boden. „Anabelle schickt uns!“ Das war etwas übertrieben, doch alles in allem entsprach es der Wahrheit – und vor allem schien es den Bann zu brechen: Viktor warf ihnen einen letzten, grimmigen Blick zu, dann brummte er etwas, das sich nach einem Fluch anhörte, und schlug stattdessen mit seinem Schwert nach einem Kavalleristen, der urplötzlich aufgetaucht war. „Flik, verdammt!“, brüllte er anschließend über den Schlachtlärm hinweg. „Du sollst uns die Kavallerie vom Hals halten!“ Die nächsten Stunden verschwammen zu einem Wirbel aus Blut und noch mehr Blut und Jowy hätte schwören können, dass mindestens die Hälfte davon von ihm selbst stammte. Er hatte den Überblick verloren über die unzähligen Schnitt- und Platzwunden, die er davongetragen hatte, über die Männer, die um ihn herum fielen… Es war Riou zu verdanken, dass er und so viele andere nicht auch dazugehörten. Jetzt, wo die Rune des Hellen Schildes scheinbar unter Kontrolle war und nicht mehr von den Kräften und der Energie ihres Trägers zehrte, wurde Jowy erst klar, wie wertvoll diese Rune wirklich für sie alle war – wenn doch nur seine eigene… Er konnte ihr nicht mehr trauen, nicht wirklich; sie hatte ihn im Highland-Camp im Stich gelassen, als er sie am nötigsten gebraucht hatte. Aber was – was, wenn er es einfach versuchte? Er brauchte diese Rune, hatte sich freiwillig dazu entschieden, sie anzunehmen, benötigte die Macht, die sie ihm gab. Benutze mich!, drängte die Rune des Schwarzen Schwerts erneut und diesmal ließ er es einfach zu. Immerhin hatte er sie selbst um Hilfe gebeten, bevor sie zum Schlachtfeld aufgebrochen waren! Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er, wie die Energie der Rune durch ihn hindurchfloss, spürte ihre Macht und wusste plötzlich, dass sie die ganze Zeit über Recht gehabt hatte: Sie gab ihm die Kraft, die er brauchte, um den Kampf zu beenden. Doch er würde nicht mehr zulassen, dass sie ihn kontrollierte. Äquivalenter Tausch… Er hatte es verstanden. Wenn die Rune des Hellen Schildes Leben gab, Wunden schloss und Verletzungen besser heilte als jede Wasserrune, dann war die Rune des Schwarzen Schwerts ihr Gegenstück. Und wenn Rious Rune die Energie von lebender Materie nahm, um zu wirken, dann würde seine Rune das genaue Gegenteil tun. Das dunkelrote Licht, das aus seinen Fingern drang, schoss auf die Highlander zu und schien sämtliche Kraft eines jeden zu rauben, den es traf. Ringsum fielen die Feinde zu Boden, tot oder zumindest kurz davor – und dafür wuchsen hinter ihm urplötzlich Bäume, die in die Höhe schossen und in den schönsten Farben erblühten. Mit einem erschrockenen Laut wichen die Männer auseinander und Riou warf ihm einen verblüfften Blick zu. Du hast es verstanden, bestätigte die Rune in Jowys Gedanken beinahe sanft und klang dabei fast zufrieden. Er selbst konnte weder ganz glauben noch verstehen, was geschehen war – doch das brauchte er wohl auch nicht. Im Lichte der letzten, schwachen Sonnenstrahlen – wann war die Sonne untergegangen? – schallte ein Rückzugsbefehl übers Feld; er galt den Highlandern. „Wo wollt ihr hin?!“, rief Viktor den laufenden Feinden zu. „Bleibt hier und kämpft wie echte Männer!“ „Lass gut sein, Viktor!“ Hufgetrappel erklang und Jowy drehte sich nach dem Geräusch um; es war Flik, der angeritten kam und das Pferd neben ihnen abrupt anhielt. „Sie gruppieren sich neu, einen Runenangriff diesen Ausmaßes haben sie nicht erwartet“, sagte der Blaue Blitz und sah den flüchtenden Highlandern hinterher. Dann blickte er zu Jowy und Riou hinunter und hob eine Augenbraue. „Darüber reden wir noch, Jungs.“ „So schlecht ist die Idee gar nicht“, murmelte Andris neben ihnen. „Wir sollten es ihnen gleich tun und zusehen, dass wir unsere Zelte für die Nacht aufschlagen… und zurück zu den Stadtmauern kommen, wo sie uns nicht hinterrücks angreifen können.“ Jowys Blick glitt über die auf dem Schlachtfeld erblühten Bäume, die zurückgelassenen Toten und die Verletzten, deren leises Stöhnen noch in seinen Ohren lag, dann folgte er seufzend den Söldnern. Das würde eine lange Nacht werden. „Das hättet ihr uns schon vor Ewigkeiten sagen müssen!“, brummte Viktor unzufrieden. „Wenn wir das gewusst hätten…“ Er schüttelte den Kopf und lachte dann auf. „Ach, was rede ich denn da? Hätten wir es gewusst, hätte es auch nichts geändert…“ „Es war ein Fehler, euch in all das mit hineinzuziehen, Jungs“, stimmte Flik ihm zu. „Wir hätten euch damals mit allen anderen evakuieren sollen.“ „Es war unsere eigene Entscheidung“, entgegnete Riou ruhig. „Wir sind freiwillig hier, nicht, weil wir dazu gezwungen wurden.“ Die beiden Söldner tauschen einen Blick, dann nickte Viktor langsam. „Also gut“, sagte er, „jetzt, wo ihr hier seid, ist es eh zu spät, darüber noch groß zu diskutieren. Getan ist getan.“ „Wie viel Zeit haben wir, bis sie wieder angreifen?“, fragte Jowy leise, der auf Viktors oder Fliks Feldlager hockte und eine Tasse heißen Irgendwas in Händen hielt, das furchtbar schmeckte, aber wenigstens wärmte. Es war wirklich kalt für Frühsommer und er hatte über 24 Stunden nicht geschlafen… „So, wie ich Luca Blight inzwischen kenne, tun sie das jeden Augenblick“, schnaubte Flik frustriert. Riou jedoch, der mit einer Hand die Plane am Eingang zur Seite hielt und hinaus in die Nacht blickte, schüttelte den Kopf und erwiderte: „Das glaube ich nicht… Ich denke, sie werden bis zum Morgengrauen warten. Es sind auch nur Menschen.“ „Wenn ich so an ihren Anführer denke, bin ich mir da nicht so sicher“, seufzte Flik, fuhr sich durchs Haar und leerte den Inhalt seines Bechers in einem Zug. „Hoffen wir, dass du Recht behältst, Riou. Ihr Jungs geht jetzt besser ins Bett und holt ein bisschen Schlaf nach…“ „Was ist mit euch?“ Jowy sah von den Augenringen unter Fliks Augen zu denen unter Viktors. „Ihr habt mindestens genau so wenig Schlaf bekommen wie wir.“ „Macht euch um uns keine Sorgen“, lachte Viktor, „wir sind es gewohnt. Wenn ihr wüsstet, wie das damals bei der Schlacht um Gregminster…“ „Spar dir die Geschichte für die Siegesfeier auf“, unterbrach Flik ihn müde. „Geht schlafen, Jungs.“ Jowy erhob sich und hob zum Abschied erschöpft die Hand, bevor er Riou nach draußen und in das Zelt, das sie sich mit ein paar anderen Soldaten teilen würden, folgte. Lediglich den Harnisch und die Stiefel streiften sie ab, dann sank Jowys Kopf aufs Kissen und er schlief nur einige Augenblicke später ein. Er wurde dadurch wach, dass Rufe und Hufgetrappel durchs Lager schallten. Nur geringfügig erholter richtete er sich auf und blinzelte im spärlichen Licht der Öllampe – wie viel ihm die wenigen Stunden Schlaf letztendlich gebracht hatten, wusste er jedoch nicht. „Da draußen ist irgendetwas los“, murmelte Riou neben ihm im Halbdunkel. „Lass uns gehen.“ Als sie Viktors und Fliks Zelt betraten, war es ungewohnt voll darin; Andris und Cedric waren ebenfalls da, genau wie Kinnison, Tsai und Rikimaru – und ein gefesselter, bärtiger Mann mit grimmigem Blick. „Was…?“, entwich es Jowy verblüfft. Der Gefangene hatte volles, dunkelbraunes Haar, das ihm auf der linken Seite etwas ins Gesicht fiel; sowohl seine Haare als auch sein Kinnbart waren bereits von grauen Strähnen durchzogen. Er trug eine blaue Tunika über einem Lederharnisch und einer braunen Hose, alles halb verborgen durch einen langen, roten Mantel. Sein wütender Gesichtsausdruck galt Flik und Viktor. „Haben sie uns angegriffen?“, fragte Riou stirnrunzelnd und Kinnison drehte sich kopfschüttelnd zu ihm um. „Schlimmer“, antwortete der Jäger düster. „Sie wollten uns sabotieren – es sind Söldner, die für Highland arbeiten.“ „Söldner, die uns wohl bekannt sind“, bemerkte Viktor scharf. „Nicht wahr, Gilbert?“ „Ich kann nicht glauben, dass du für Highland arbeitest“, sagte Flik ungläubig an den gefangenen Söldner gewandt. Gilbert funkelte ihn missmutig an, schwieg jedoch. An seiner Stelle erklärte Tsai: „Wir haben ihn und einige seiner Männer dabei erwischt, wie sie unsere Vorräte vergiften wollten. Luca Blight muss ihnen viel zahlen…“ „Was ist mit dem Gilbert passiert, den ich kannte?“, raunzte Viktor erbost und Flik knurrte: „Wann ist aus dir einer der Männer geworden, die schweigen, wenn Dörfer brennen und unschuldige Kinder abgeschlachtet werden? Wo ist dein verdammtes Ehrgefühl hin, Gilbert?!“ „Gespräche über Ehre werden diese Schlacht nicht gewinnen“, versetzte der Gefangene simpel. Viktor stieß ein Geräusch aus, das jedem wütenden Bären Konkurrenz machte, und ließ seine Faust gegen Gilberts Kiefer krachen; ein hässliches Knacken ertönte, als der gefesselte Söldner von den Füßen gerissen wurde und hustend auf dem Boden liegen blieb. Angewidert spuckte er Blut und einen ausgeschlagenen Zahn aus, dann blinzelte er zu Viktor hinauf. „Du bist schwach geworden“, kommentierte dieser und schüttelte ungläubig den Kopf. „Als Krieger taugst du nichts.“ „Du verdammter…“, schnarrte Gilbert zur Antwort und richtete sich mühsam wieder auf – die Lippe, die Bekanntschaft mit der Faust des Bären gemacht hatte, schwoll bereits an. „Ich habe Schlachten geschlagen, als du noch in den Windeln gelegen hast!“ „Das wissen wir“, nickte Flik und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und gerade das ist es, was ich nicht verstehe. Du bist ein stolzer Krieger, ein Mann, dem sein Ehrgefühl wichtiger ist als sein Leben. Wie kannst du von einem Scheusal wie Luca Blight Geld annehmen?!“ „Es geht dich absolut nichts an, was…“ „Oder werden deine Frau und dein Sohn stolz auf das sein, was du und deine Männer im Namen Blights im Staat anrichtet?“ Unbarmherzig blickte der Blaue Blitz auf den Gefangenen hinab, der bei der Erwähnung seiner Familie merklich zusammenzuckte. „Stolz auf das Blut der Unschuldigen, das vergossen wird, stolz auf deine Ehrlosigkeit?!“ „Du… Du hast kein Recht, Thomas und Irene…“ „Ich sage dir etwas, Gilbert“, fuhr Flik unbeirrt fort. „Dieser Krieg entscheidet, wer von uns ein Gewissen besitzt und wer nicht. Wer ein Mensch ist und wer ein Monster. Ich weiß, dass du ein ehrenhafter Mann bist – also schließ dich uns an, bevor du zu einem Monster mutierst wie Luca Blight!“ Gilbert starrte den weit jüngeren Söldner beinahe entsetzt an, ehe er tief seufzte und den Kopf sinken ließ. Jowy hielt den Atem an. „Ich habe versucht, nicht darüber nachzudenken“, gab Gilbert nach einer gefühlten Ewigkeit langsam und mit zitternder Stimme zu. „Aber das hier ist wohl… Schicksal. Ich kann mich nicht länger davon abwenden, was hier im Staat vor sich geht – meine Frau und mein Sohn werden es mir nicht verzeihen, du hast Recht.“ „Ist das eine Zusage?“, vergewisserte sich Viktor argwöhnisch. „So schnell?“ „Ich bin nicht blind, Viktor“, konterte Gilbert leise und lächelte bitter. „Ich habe genug gesehen… So ungern ich es zugebe, ihr habt Recht. Ich werde euch helfen.“ Flik schien noch etwas sagen zu wollen, doch in diesem Moment betrat einer der jüngeren Söldner aus Viktors Einheit das Zelt und rief: „Viktor, Flik – die Matilda-Ritter sind hier!“ „Das wurde ja auch höchste Zeit!“, knurrte der Bär. „Dieser verdammte alte Giftsack hätte seine Truppen schon viel früher aussenden müssen!“ „Bring sie her“, befahl Flik dem jungen Söldner. „Wenn sie schon hier sind, können wir unsere nächsten Schritte gleich mit ihnen planen…“ Der junge Mann nickte und verließ das Zelt wieder, dafür wandte sich Cedric stirnrunzelnd zu Gilbert um. „Und nun?“ „Macht ihn los“, verfügte Viktor, dessen gesamte Wut zu Gilberts Glück nun Gorudo galt. „Ich werde diesen Matildanern gehörig den Marsch blasen…!“ Jowy warf Gilbert einen zweifelnden Blick zu, als Rikimaru und Cedric seine Stricke lösten und Kinnison ihm aufhalf. Konnten sie diesem Mann wirklich trauen? Er hatte zwar gesagt, dass er nun auf ihrer Seite kämpfen würde, aber… Der Aristokrat hielt abrupt in seinem Gedankengang inne. Wer war er, dass er diese Frage stellte? Er, der er zugesagt hatte, Anabelle umzubringen, er, der er schlimmer war als jeder Überläufer… Selbst, wenn Gilbert sie alle hinters Licht führte und sie morgen früh ihren letzten Sonnenaufgang miterlebten, Jowy war der letzte, der über ihn richten durfte. Deshalb beschränkte er sich auf ein Seufzen, strich sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, und schüttelte den Kopf. Plötzlich war er noch müder als vor den paar Stunden Schlaf. Der Zelteingang öffnete sich erneut und zu Jowys Erstaunen trat Miklotov ein. Der Ritter schlug mit der rechten Faust gegen seine Brust, deutete eine Verbeugung an und sagte, den Blick fest auf Viktor geheftet: „Mein Name ist Miklotov, ich bin Captain der Blauen Ritter von Matilda. Lord Gorudo hat uns herbeordert, um Muse zu unterstützen.“ „Wir haben Euch schon erwartet“, nickte Viktor missgelaunt. „Wann kommt der Rest?“ „Verzeihung?“ „Die Blauen Ritter sind hier, schön und gut“, knurrte der Bär. „Aber Anabelle hat den Befehl gegeben, Truppen zur Verfügung zu stellen, um Muse zu schützen! Ich frage Euch, wo im Namen der verdammten 27 Wahren Runen ist der Rest der Armee von Matilda?!“ Miklotov ertrug den Ausbruch ohne mit der Wimper zu zucken und erwiderte: „Ich fürchte, dass es mir nicht zusteht, die Entscheidungen meines Lehnsherren anzuzweifeln, Viktor. Die Blauen Ritter sind hier, um Euch und Muse zu unterstützen, mehr kann ich nicht sagen.“ Eine Flut von Flüchen, von denen Jowy ganz rote Ohren bekam, ergoss sich aus Viktors Mund, dann grunzte der Bär unerwartet, wandte sich ab und atmete tief durch; seine Schultern zitterten vor unterdrückter Wut. „Ändern können wir es eh nicht mehr“, murmelte Flik, „bis die Boten in Matilda ankommen, ist die Schlacht schon vorbei. Wir müssen wohl das beste daraus machen…“ „Viktor! Flik!“ „Was ist denn jetzt?“, stöhnte Viktor entnervt auf, als Apple, verschlafen und mit schief sitzender Brille, ebenfalls ins Zelt trat. Sie rieb sich kurz müde ein Auge, dann erklärte sie: „Die Highland-Armee scheint sich wieder zu rühren. Wir sollten uns auch auf den Weg machen… Ist alles in Ordnung mit euch? Ihr seht so bedrückt aus.“ „Alles gut“, winkte Flik ab. „Lasst uns aufbrechen, bevor sie uns hier überraschen. Ich habe für heute Nacht genug davon gehabt.“ Wann Gilbert es geschafft hatte, mit seinen Männern zu sprechen und ihnen mitzuteilen, dass sie die Seiten wechselten – ohne Geld dafür zu erhalten – war Jowy ein Rätsel, doch es zeigte Wirkung; als die ehemals feindlichen Söldnern sich scheinbar plötzlich gegen ihre Geldgeber wandten, herrschte in den Reihen der Highlander ein furchtbarer Tumult. Es war leicht, diese Chance zu nutzen – vielleicht sogar zu leicht. Gemeinsam mit Gilberts Männern und den Blauen Rittern hatten sie nach der gestrigen Schlacht unerwartet die Oberhand gewonnen. Und dennoch wurde Jowy das böse Gefühl nicht los, das etwas furchtbar schief laufen würde… Ein Pfeil bohrte sich in das verstärkte Schulterpolster seines Harnischs und Jowy taumelte getroffen zurück – es war sein Glück, dass das Leder dick genug war, um die Spitze davon abzuhalten, sich mehr als einige Millimeter in seine Schulter zu bohren. Ein Schmerzenslaut entwich ihm trotzdem, doch er riss den Schaft heraus und fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um einen Speerträger davon abzuhalten, seine Waffe in Rious ungeschützte Flanke zu jagen. „Sie weichen zurück!“, rief Riou ihm zu, schlug einen seiner Tonfa gegen die Schläfe eines Angreifers und riss ihn anschließend mit dem zweiten von den Füßen. „Es sieht so aus, als ob wir gewinnen!“ Jowy antwortete nicht, sondern duckte sich unter einer Klinge hinweg und rutschte eher unelegant über die leicht feuchte Erde, entging dafür aber einer Enthauptung. Er ergriff seinen Stab etwas fester und rammte das eine Ende einem Highlander in die Magengrube, dann richtete er sich eilig wieder auf – und wurde im nächsten Moment unsanft zur Seite gestoßen. Nur mühsam hielt der Aristokrat sich auf den Füßen und sah verwirrt zu Miklotov auf, der seine Einheit wohl mitten zwischen die von Flik und Rikimaru manövriert hatte. In der Hand hielt der Ritter sein Schwert und einen Holzschild, in dem ein Pfeil steckte, den er wohl soeben abgefangen hatte. „Pass besser auf!“, riet Miklotov ihm und schlug das Schwert eines berittenen Highlanders zurück. „Ihr beide seid zu jung, um in diesem Krieg zu fallen!“ Jowy nickte und wollte sich bereits abwenden, als plötzlich ein Horn ertönte, das trotz des Kampflärms noch laut und deutlich zu hören war. „Was zum…?“, entwich es dem Blauen Ritter. „Das muss ein Irrtum sein!“ „Sir Miklotov!“ Ein Roter Ritter kam herbeigeritten, links und rechts nach Highlandern schlagend. „Lord Gorudo befiehlt den sofortigen Rückzug unserer Truppen!“ „Was?!“ „Ist das ein schlechter Witz?“ Riou fuhr vor ihnen herum und Jowy begegnete seinem entsetzten Blick. „Wir sind gerade erst hier angekommen!“, brüllte Miklotov wütend und machte keinerlei Anstalten, dem Befehl nachzukommen, der ihm überbracht worden war. „Was soll das?!“ „Sire, Sir Camus ist persönlich hier, Ihr solltet mit ihm darüber sprechen!“, entgegnete der Rote Ritter achselzuckend, riss sein Pferd herum und galoppierte davon. Erneut schallte das Horn über die Ebene und Jowy sah, wie Miklotov mit den Zähnen knirschte – und ihnen schließlich einen entschuldigen Blick zuwarf, ehe er die Zügel seines Pferdes anzog und ihm die Sporen gab. Als die Blauen Ritter sahen, dass ihr Kommandant dem Rückzugsbefehl folgte leistete, taten sie es ihm gleich. „Diese verdammten feigen Hunde!“, brüllte einer der Söldner neben Jowy. „Wie können sie es wagen?!“ Seine Unachtsamkeit wurde dadurch belohnt, dass sich ein Pfeil in seine Kehle bohrte und er tot zu ihren Boden fiel; es war genug, um den Aristokraten aus seinem Schockzustand zu reißen. Sie hatten keine Zeit, sich nach den flüchtenden Matilda-Rittern umzublicken – um sie herum wütete noch immer eine Schlacht! Mit einer gewaltigen Willensanstrengung hielt er die Macht der Rune davon ab, auch die Matildaner zu treffen. Es war ein Befehl gewesen, sie konnten nichts dafür, es gab bestimmt einen guten Grund dafür, dass Gorudo sie zurückrief… Wiederum verlor Jowy sein Zeitgefühl – und den Überblick. Er hätte später nicht sagen können, wer nach dem Rückzug der Matilda-Ritter die Schlacht dominierte oder ob sie zurückgedrängt worden waren. Er wusste es schlichtweg nicht. Er wusste nur, dass Riou ihn irgendwann an der Schulter ergriff und rief: „Die Streitkräfte von Muse rücken an! Wir haben es geschafft!“ Sie zogen sich gemeinsam mit den Söldnern, ihrer eigenen Einheit und Gilberts Männern in die Stadt zurück, während die Truppen aus Muse aufs Schlachtfeld zogen. Wer auch immer die Highlander anführte, er schien zu verstehen, dass sie gegen ein Regiment von erholten Männern keine Chance hatten; die Highlander ergriffen die Flucht und die Staatler jubelten. Und dennoch… Es war weit nach Mitternacht, als Jowy endlich erschöpft das Zimmer betrat, das er sich in Leonas Gasthaus mit Riou teilte. Er hatte weder Nanami noch Riou gesehen, seit sie sich im Schankraum zwischen all den erleichterten und teilweise sogar feiernden Soldaten aus den Augen verloren hatten, und wollte eigentlich nur noch ins Bett. Zwar hatte er seinen Willen bekommen und an der Schlacht teilnehmen dürfen, aber… Was hatte es ihm gebracht? Er hatte gelernt, dass Freund nicht gleich Freund war und Feind nicht gleich Feind. Nun waren Gilberts Söldner auf ihrer Seite und die Matildaner waren geflohen… Und er? Auf wessen Seite war er eigentlich? Wieder musste er an seine Mutter denken und den Mord, den er begehen musste, um ihr Leben zu retten. Er hatte gehofft, dass ihm auf dem Schlachtfeld eine Lösung einfallen würde, um all das zu entgehen, aber so war es nicht. Schon morgen würde die Highland-Armee wahrscheinlich noch mehr Verstärkung kriegen und wann – wenn überhaupt – die restlichen Truppen des Staates zu ihnen stoßen würden, wusste keiner. Was konnte er tun…? „Fällt eine Krähe ins Mehl, so bleibt sie doch nicht lange weiß. Was hast du damit bezweckt, in diese Schlacht zu ziehen, Junge?“ Oh, bitte nicht…! Widerwillig hob Jowy den Blick vom Boden, hinauf in Kages Gesicht. Der schwarzgekleidete Mann lehnte in einer Ecke des Raumes, mit verschränkten Armen, und lediglich dem Licht der unzähligen Fackeln, welche die nächtlichen Straßen von Muse erleuchteten, war es zu verdanken, dass er überhaupt zu sehen war – seine eisblauen Augen schimmerten im Licht. „Ihr…“ Jowys Kehle fühlte sich plötzlich sehr, sehr trocken an. „Luca Blight hat genug gewartet“, teilte Kage ihm kalt mit. „Du wirst Anabelle in den nächsten vierundzwanzig Stunden umbringen. Ansonsten…“ Er ließ den Satz offen und warf Jowy stattdessen etwas vor die Füße. Es klang metallisch. Einen Augenblick konnte er sich nicht rühren, wusste nicht, was er tun sollte, dann bückte er sich langsam nach dem kleinen Gegenstand und hob ihn auf. Seine Finger strichen über eine glatte, ovale Oberfläche, zwei gleichförmige Seiten, eine Gravur, eine dünne Kette… Es war ein Medaillon und er musste es nicht öffnen, um zu wissen, dass er darin zwei kleine Bilder finden würde, Miniaturportraits von sich und seinem Stiefbruder. Das Medaillon, das seine Mutter getragen hatte, seit er sich erinnern konnte. „Morgen Nacht ist Anabelle tot“, wiederholte Kage eisig. „Andernfalls werden Köpfe rollen… Der deiner Mutter zuerst. Wir sehen uns morgen früh – du solltest dir besser einen Plan überlegen, Junge.“ To be continued... Kapitel 32: Der verratene Verräter ---------------------------------- Jowy hatte die Nacht über nicht geschlafen. Kein Auge hatte er zugetan, weil er ununterbrochen das Medaillon seiner Mutter in den Fingern gedreht hatte, während in seinem Kopf völliges Chaos herrschte. Er konnte das nicht. Er konnte es einfach nicht… Aber er musste es tun. Das Medaillon in seiner Hand war der letzte Beweis für etwas gewesen, was er schon geahnt hatte – Luca Blight bluffte nicht. Wenn er dem Befehl nicht nachkam, wenn er Anabelle nicht umbrachte und den Highlandern die Pforten des Staates öffnete, würde seine Mutter die Leidtragende sein und das konnte er nicht verantworten. Bei Morgengrauen gab er es auf. Er konnte und wollte nicht mehr dasitzen und Rious schlafendes Gesicht anstarren, während er sich vorstellte, was mit seinen Freunden passieren würde, sobald er diesen furchtbaren Mord begangen hatte. Also verließ er das Zimmer so leise er konnte und schlich über den Flur, halb im Bestreben, draußen frische Luft zu schnappen. Als sich zu seiner Linken plötzlich eine Tür öffnete, bekam er vor Schreck einen halben Herzinfarkt, doch es war nur Pilika, die, barfuss und in ein Nachthemd gekleidet, fragend zu ihm aufblickte, ihren Stoffbären im Arm. „Oh, Pilika…“ Runen, er konnte ihr nicht in die Augen sehen! Ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust schnürte ihm die Luft ab und er musste einmal tief durchatmen, um nicht vor ihr zusammenzubrechen. Pilika machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu und streckte eine Hand nach ihm aus, ehe sie leise schniefte; sie musste einen Albtraum gehabt haben. „P-Pilika…“ Er ließ es nur äußerst ungern zu, dass sie ihre Finger um seine schloss. Er verdiente das nicht. Ihr Vertrauen… ihre Liebe… „Hattest du einen bösen Traum?“, krächzte er und sie nickte. Ein verzweifeltes Seufzen entwich ihm, dann ging er in die Knie und drückte sie sanft an sich. „Es ist… nur der Wind“, flüsterte Jowy kraftlos. „Du brauchst keine Angst haben. Es ist alles in Ordnung.“ Pilika schlang die Arme um seinen Hals und nickte schwach. „Geh wieder ins Bett, ja?“, fuhr er fort und strich ihr übers Haar. „Es ist noch mitten in der Nacht. Ich komme… nachher vorbei, okay?“ Wieder folgte ein zaghaftes Nicken, dann ließ das kleine Mädchen ihn los und sah ihn noch einmal aus großen Augen an, ehe sie tatsächlich zurück in das Zimmer ging, das sie sich mit Millie und Nanami teilte, und die Tür hinter sich schloss. Jowy blieb allein auf dem dunklen Gang zurück und hasste sich für das, was er bald tun würde. Er verließ das Gasthaus und trat nach draußen, wo er tief Luft holte und sich durchs Haar fuhr, das ohnehin schon völlig unordentlich war. Wie naiv er gewesen war! Er hatte tatsächlich gedacht, dass er Luca Blight überlegen war, dass er eine Lösung finden konnte! Aber dem war nicht so und er hatte keine Chance, das musste er einsehen… Ihm blieb nur übrig, das beste daraus zu machen. Die Sonne war bereits aufgegangen und die Stadt erwacht, als Jowy aus seinen düsteren Gedanken schreckte und zurück ins Haus trat. Im Schankraum saßen bereits die ersten Gäste und frühstückten – oder meckerten lauthals über die Qualität des Essens – und er wandte sich schnell von ihnen ab; keinem von ihnen mochte er ins Gesicht sehen… auch so war ihm klar, dass dies womöglich das letzte Frühstück sein würde, dass diese Menschen einnahmen. Durch die geschlossenen Türen auf dem Gang im ersten Stock hörte er Nanami mit Pilika und Millie sprechen und Kinnison leise mit Shiro schimpfen und wieder spürte er den unangenehmen Stich in seinem Herzen. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen… Er hatte seine Wahl getroffen und er würde dazu stehen! Als er wieder ins Zimmer schlich, schlief Riou noch. Sein Gesicht zeugte nur zu deutlich von seiner Erschöpfung und obwohl er die Rune des Hellen Schilds nun unter Kontrolle hatte, sah man ihm dennoch an, wie anstrengend ihre Nutzung für ihn gewesen war. Mit einem schweren Seufzen wandte sich Jowy ab und legte sich wieder ins Bett, doch an Schlaf war natürlich nicht zu denken. Er war hellwach – und hatte noch immer keinen Plan, den er Kage unterbreiten konnte. „Okay, aufwachen!“ Die Tür wurde unsanft aufgestoßen und Jowy ächzte kaum hörbar. Er wollte jetzt nicht mit Nanami losziehen, um was auch immer zu tun! Dennoch drehte er sich um und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. „Guten Morgen“, begrüßte er sie und begegnete ihrem verblüfften Blick. Sie stand mitten im Raum, die Hände in die Hüften gestützt, und starrte ihn an, offensichtlich völlig baff. „Du bist ja schon wach“, stellte sie fest und blinzelte. „Habe ich etwas verpasst?“ „Nein“, sagte er schnell und grinste noch etwas breiter. „Gewöhn dich nicht dran!“ Sie lachte und wanderte dann beruhigt zu Rious Bett hinüber, um ihn wach zu schütteln. Nachdem sie ihren Bruder eher unsanft aus den Träumen gerissen hatte, drehte sie sich schwungvoll wieder zu Jowy um und rief: „Beeilt euch ein bisschen! Wir wollen doch noch wohin!“ Wollten sie? Er wollte nirgendwo hin, das konnte er mit Sicherheit sagen. Aber mit Nanami zu streiten war, wie einen Baum anzuflehen, zur Seite zu treten – im Endeffekt erreichte man doch nichts. Schweigend beugte er sich seinem Schicksal und hoffte, dass Kage nicht beschloss, seinen Verrat auffliegen zu lassen. Auch so würden Riou und Nanami früher oder später verstehen, was er angerichtet hatte… und ihm war es lieber, wenn das später passierte. Nanami wartete ungeduldig, bis die Jungen fertig waren, dann führte sie die beiden nach unten. Kurz dachte Jowy noch daran, dass er Pilika versprochen hatte, nach ihr zu sehen, doch er vergaß es wieder, als sie den Schankraum betraten und Viktors dröhnende Stimme sie begrüßte: „Runen, was ist denn mit euch los, Jungs? Ihr seid ja schon wach!“ Der Aristokrat blinzelte, als er die beiden Söldner an einem Tisch in der Nähe sitzen sah. Trotz der frühen Stunde standen neben ihren Tellern mit Rührei und gebratenem Speck bereits große Humpen mit Bier – ob er wohl auch so viel trinken würde, wenn er so alt war wie die beiden? … Wenn er überhaupt den heutigen Tag überlebte. „Ich bin übrigens auch da!“, bemerkte Nanami spitz und funkelte Viktor böse an. Der Bär warf ihr tatsächlich einen irritierten Blick zu und grinste dann: „Ach ja. Tut mir leid.“ Tat es nicht und sie alle wussten es. „Ihr geht Anabelle besuchen, hm? Sagt ihr, wie großartig ich mich auf dem Schlachtfeld geschlagen habe!“ „Wer hat sich großartig geschlagen?“, konterte Nanami süffisant. „Der Mann, der gejammert hat, als Doktor Huan ihm eine Platzwunde nähen musste?“ Flik verschluckte sich an seinem Bier und lachte so sehr, dass er rot anlief und fast von seinem Stuhl fiel. Viktor brummte etwas Feindseliges und schmollte, doch Jowy bekam das alles nur am Rande mit. Anabelle. Sie wollten Anabelle besuchen! Runen, das hatte er völlig vergessen. Sie hatte versprochen, ihnen von Meister Genkaku zu erzählen, sobald die Schlacht vorüber war. Zwar kämpften draußen noch immer die Truppen von Muse, doch die Söldner würden die nächsten paar Tage ausruhen, bis sie wieder in den Kampf zogen… „Bleibt innerhalb der Stadtmauern“, drang Fliks Stimme zu ihm hindurch. „Nicht, dass einer von euch noch verloren geht und von den Highlandern aufgelesen wird!“ Er sagte es mit einem Grinsen, doch allein seine Worte jagten Jowy einen solchen Schreck ein, dass er die letzte Stufe der Treppe übersah und sich bereits sicher war, dass er sich etwas brechen würde, als Nanami und Riou ihn von beiden Seiten an den Armen ergriffen. „Meine Güte, Jowy!“, rief Nanami. „Was machst du eigentlich immer für Sachen? In letzter Zeit schwebst du dauernd in den Wolken…“ „Ich – äh… Ja… Tut mir leid…“, stammelte der Aristokrat und grinste schwach. In den Wolken… Wie schön es gewesen wäre, wenn es Wolken wären! Er wusste nicht einmal genau, warum er sich so sehr erschrocken hatte. Es war ein Scherz gewesen und er wusste es, aber dennoch wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie viel Wahrheit Fliks Worte enthielten. Aber nun war es zu spät, noch um Hilfe zu bitten. „Lasst uns gehen“, sagte er dumpf. „Oder wollt ihr nicht wissen, was mit Meister Genkaku los war?“ Diese Worte waren genug, um die Geschwister zum Gehen zu bewegen. Sie verabschiedeten sich von Viktor und Flik, verließen das Gasthaus und schritten durch die ungewohnt ruhige und leere Stadt in Richtung Rathaus. Es war eigenartig – Jowy war es gewohnt, dass die Straßen voller Menschen waren, dass sich Kindergelächter mit den Rufen der Marktschreier mischten, dass man Reitern und Pferdewagen ausweichen musste. Nun war Muse still; nur gelegentlichen trafen sie ein paar Menschen an, die schnell, mit gebeugten Köpfen an ihnen vorbeieilten und ihre Einkäufe erledigten. Unbewusst schauderte er. Es würde noch schlimmer werden, sobald die Highlander die Stadt betreten würden… aber er konnte nichts dagegen tun. So leid es ihm tat, er konnte all das – den Krieg, das Leid, das Blutvergießen – nicht verhindern. Leknaat hatte gelogen. Er hatte nicht die Macht, das Schicksal neu zu schreiben. Dummer Mensch, schien die Rune des Schwarzen Schwertes in seinen Gedanken zu seufzen, doch er beachtete sie nicht. Er wollte nichts mehr hören, es war genug. Als sie am Rathaus ankamen, wurden sie sofort eingelassen und zu Anabelles Büro begleitet; wahrscheinlich hatte die Bürgermeisterin ihre Wachen darauf hingewiesen, dass sie noch Besuch erwartete. Jowy kümmerte es nicht. Er überlegte fieberhaft, was er tun konnte. Das Treffen mit Anabelle hatte er ganz vergessen, dementsprechend hatte er sich nicht darauf vorbereiten können. Und Riou und Nanami waren dabei, überall waren Wachen… Wie im Namen aller Runen sollte er diesen Mord fertig bringen? „Lady Anabelle ist noch beschäftigt, wartet im Vorzimmer“, wies der Soldat, der vor dem Bürgermeisterbüro Wache hielt, die Jugendlichen an und sie fügten sich. In dem kleinen Raum, der lediglich durch einen Vorhang von dem eigentlichen Arbeitszimmer getrennt war, ließ sich Nanami auf einem der Sofas nieder und Riou tat es ihr gleich; Jowy blieb stehen und wandte sich von den Geschwistern ab, fieberhaft überlegend und auf seiner Unterlippe herumkauend. Unangenehmerweise drangen die Stimmen der sich im Büro befindlichen Personen nur allzu deutlich zu ihnen hindurch. „Was soll das heißen, Lord Gustav?“, schallte die Stimme des alten Granmeyers durch den Raum. „Wollt Ihr damit sagen, dass die Stadt Tinto nicht kooperieren wird?“ „Verdreht mir die Worte nicht im Mund, alter Mann“, entgegnete Gustav herablassend. „Ich sage nur, dass ich keine Truppen entsende, solange wir die Motive der Highlander nicht kennen!“ „Oh, ich denke, dass ihre Motive recht deutlich sind, immerhin stehen sie mit gezogenen Schwertern vor den Stadtmauern! Vielleicht habt Ihr einfach nur Angst?“ „Wie könnt ausgerechnet Ihr es wagen, von Feigheit zu sprechen, Granmeyer? War es nicht die Armee von South Window, die im Krieg mit dem Reich des Scharlachroten Mondes beim ersten Anzeichen von Blut die Beine in die Hand nahm und floh?!“ „Ihr seid ein Narr, Gustav“, seufzte Granmeyer hörbar entnervt. „Krieg ist kein Glücksspiel!“ „Es reicht!“, rief Anabelles Stimme dazwischen; sie klang müde und angespannt. „Ich habe genug gehört, hört auf damit.“ „Jedenfalls steht meine Entscheidung fest!“, raunzte Gustav unfreundlich, sie hörten, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde und eilige Schritte. „Ich werde keine Truppen entsenden, das ist mein letztes Wort!“ In diesem Moment trat der Bürgermeister von Tinto durch den Vorhang und marschierte an den Jugendlichen vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Leises Gemurmel deutete darauf hin, dass Granmeyer sich von Anabelle verabschiedete, dann ging auch der ältere Herr an ihnen vorbei, nicht aber ohne ihnen ein freundliches Lächeln zuzuwerfen. Die drei Freunde wechselten einen Blick, dann traten sie vorsichtig in Anabelles Büro. Die Bürgermeisterin saß an ihrem Schreibtisch und hatte das Gesicht frustriert in den Händen vergraben, Jess trat gerade mit einer Tasse Tee zu ihr. Er blickte auf, als er die Schritte hörte und sofort veränderte sich sein zuvor besorgter Ausdruck zu einem genervten. „Oh“, sagte er nicht im Geringsten überrascht, „ihr seid es.“ Anabelle hob den Kopf und lächelte schwach, als sie die Jugendlichen erkannte, ehe sie sich durchs buschige rote Haar fuhr und leise seufzte. „Es tut mir leid, Kinder“, sagte sie und in ihrer Stimme schwang ehrliches Bedauern mit. „Aber wie ihr wahrscheinlich schon bemerkt habt, stecke ich bis zum Hals in Arbeit. Würde es euch etwas ausmachen, heute Abend wieder zu kommen, wenn ich mehr Ruhe habe?“ „Natürlich nicht“, versicherte Nanami der Bürgermeisterin strahlend und zwinkerte ihr zu. „Macht Euch keine Sorgen, Lady Anabelle, es wird schon alles gut gehen!“ „Das ist lieb von dir, Nanami.“ Nanami und Riou wandten sich zum Gehen, einzig Jowy verharrte an seinem Platz. „Lady Anabelle…“ „Ja, Jowy?“ Oh, herrje. Hatte er das etwa laut gesagt? Jetzt musste er sich da irgendwie wieder herauswinden… „Ähm… Kann ich Euch etwas fragen?“ Er hörte, wie die Tür des Büros leise ins Schloss fiel und wusste, dass Riou seine Schwester mit sanfter Gewalt nach draußen befördert hatte, damit er allein mit Anabelle sprechen konnte. Konnte sein Freund nicht einfach weniger verständnisvoll sein?! „Aber sicher“, lächelte die Bürgermeisterin und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Jowy ignorierte Jess’ stechenden Blick und fragte geradeheraus das Erstbeste, was ihm einfiel: „Warum kämpft Ihr?“ „… Wie bitte?“ „Warum kämpft Ihr diesen Krieg? Was hofft Ihr damit zu erreichen?“ Einen langen Augenblick sah Anabelle ihn verblüfft an, dann wurde ihr Lächeln traurig und sie senkte den Blick hinunter auf ihre Teetasse. „Ich werde gar nichts erreichen“, erklärte sie simpel. „Ich kämpfe, damit wir nicht verlieren, verstehst du? Ich wurde hier in Muse geboren, bin hier aufgewachsen… Ich liebe diese Stadt und dieses Land. Es ist nur natürlich, dass ich es schützen möchte.“ Nur natürlich… War es so? Und warum war dann sein eigenes Heimatland der Feind…? Warum musste er gegen sein Heimatland kämpfen, wenn es natürlich war, es schützen zu wollen? „Ich… verstehe“, sagte Jowy langsam und nickte, obwohl er rein gar nichts verstand. „Vielen Dank. Bis… bis heute Abend.“ „Bis heute Abend, Jowy“, erwiderte Anabelle und schenkte ihm noch ein Lächeln, als sie von ihrer Tasse auf- und ihm nachsah. Am Abend also würde er seine Chance haben, sie zu sehen. Sie würde allein sein, fernab von Wachen und Jess. Und sie hatte ihre Wahl getroffen… nur die seine stand noch aus. Zu seinem eigenen Entsetzen reifte bereits ein Plan in ihm, den er Kage unterbreiten konnte. Noch in dieser Nacht würde Anabelle von Muse sterben. „Das war schnell“, begrüßte Flik sie erstaunt, als sie wieder ins Gasthaus traten. „Seid ihr etwa nicht zu Anabelle vorgelassen worden?“ „Doch, schon“, erwiderte Nanami und ließ sich neben den Söldnern, die noch immer beim Frühstück saßen, nieder; außer ihnen waren kaum Leute da. „Aber sie hat uns gebeten, heute Abend noch einmal wieder zu kommen… Sie ist wirklich beschäftigt – scheint, als hätte sie sich mit Granmeyer und Gustav gestritten…“ „Überrascht mich nicht“, nickte Flik und warf dem überraschend schweigsamen Viktor einen schnellen Blick zu. „Sie haben alle genug Gerüchte über Luca Blight gehört, um Angst zu haben. Dass überhaupt jemand kooperiert ist ein Wunder!“ Jowy biss sich auf die Lippe und überlegte, wie er sich nun am besten aus dem Staub machen konnte, um mit Kage Kontakt aufzunehmen – er hasste es, er wollte es nicht, aber es musste einfach sein – als Pilika die Treppe hinunter kam und ihn vorwurfsvoll ansah. Dann lief sie auf ihn zu, ergriff seinen Arm und zeigte nach oben in den ersten Stock, unmissverständlich von ihm verlangend, dass er mitkam und mit ihr spielte. „Pilika“, ächzte Jowy und verzog unglücklich das Gesicht. „Ich… es tut mir leid…“ Er sah hilfesuchend zu Nanami und fragte: „Kannst du bitte eine Weile mit ihr spielen?“ „Huh?“ Sie blinzelte ihn verwirrt an, runzelte dann die Stirn und nickte langsam. „Klar, aber… Was ist denn los?“ „… Nichts“, wich er aus und wandte sich zum Gehen, doch Pilika ergriff ihn überraschend fest am Arm und sah ihn mit diesen großen, braunen Augen an, deren Blick er einfach nicht mehr erwidern konnte. Den er nicht mehr ertragen konnte. „Pilika, Schätzchen“, sagte Nanami schnell. „Komm her, lass uns spielen, ja?“ Das kleine Mädchen ließ der Aristokraten widerwillig los und er nutzte die Chance, um die Flucht zu ergreifen. Er konnte nicht mehr in Pilikas Nähe bleiben. Und es war besser, sich jetzt von ihr fernzuhalten, bevor er es sich doch noch einmal anders überlegte und er konnte einfach nicht mehr. Es war genug. Die Würfel waren endgültig gefallen, es gab kein Zurück. Erst, als er sich sicher war, dass ihm niemand folgte, rief er leise nach Kage. Er erwartete eigentlich nicht, dass der Mann sofort zu ihm kam, aber… „Du hast also einen Plan, nehme ich an?“ Er war nicht einmal mehr überrascht. Langsam drehte sich Jowy zu dem schwarzgekleideten Spion um und nickte. Sie standen in einer der unzähligen kleinen Gässchen von Muse, weit entfernt von Leonas Taverne, umgeben von nackten Hauswänden und dem fahlen Geruch von Abfall in der Nase. „Ich… werde Anabelle heute Abend umbringen…“, sagte der Aristokrat leise. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. „Aber wie wollt Ihr die Highlander in die Stadt bringen? Das Tor ist verschlossen…“ „Du wirst mich rufen und ich werde das Tor von innen öffnen“, erklärte Kage bar jeder Emotion. „Nach dem Attentat wird all das nicht mehr deine Sorge sein.“ „Was ist mit meiner Mutter? Ich will sie sehen!“ Er musste sehen, dass all das nicht umsonst geschah. Musste wissen, dass es ihr gut ging. „Darüber wird Luca Blight entscheiden.“ Kage schnaubte leise. „Und versuche, nicht zwischen die Fronten zu gelangen, Junge.“ Bildete Jowy sich das ein oder grinste der Mann unter seiner Maske kalt? „Wir wollen doch nicht, dass dir doch noch etwas zustößt…“ Ein eiskalter Schauer lief Jowy über den Rücken und er öffnete bereits den Mund, um nachzufragen, was damit gemeint war, als Rious Stimme durch die dreckigen und leeren Gassen von Muse schallte: „Jowy! Wo bist du?“ Kage sah über die Schulter und drehte sich dann wieder zu Jowy um, ihn einen Moment lang mit den eisblauen Augen fixierend. „Wir sehen uns dann… später“, schnarrte der Mann und einen Wimpernschlag später war er auch schon verschwunden, fast wie ein Geist, als wäre er niemals da gewesen. In diesem Augenblick ertönte Rious Stimme genau hinter ihm: „Da bist du ja. Ist alles in Ordnung, Jowy? Du warst so schnell weg…“ Jowy drehte sich zögernd zu seinem besten Freund um und sah ihn unsicher an. Schließlich rang er sich doch dazu durch, etwas zu sagen, und erwiderte leise: „Riou… Dieser Krieg wird wohl noch sehr lange wüten.“ Er schluckte. „Du und Nanami solltet weit weg laufen…“ „Und was ist mit dir?“, entgegnete Riou ruhig und betrachtete ihn ernst. Ein Stich durchfuhr scharf Jowys Brust, der ihn fast dazu bewegte, in Tränen auszubrechen, vor seinem Freund auf die Knie zu fallen und ihn um Hilfe in dieser furchtbaren Sache anzuflehen. Aber nur fast. Stattdessen lächelte er traurig und antwortete, in Gedanken bei der Drohung, die Kage ausgesprochen hatte: „Sollte ich… sollte ich sterben, möchte ich, dass du dich um Pilika kümmerst.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er an Riou vorbei und hoffte, dass der Jüngere die Verzweiflung und die Angst in seinen Augen missverstand. Es war besser, wenn keiner von ihnen etwas wusste. Kurz zögerte Jowy noch. Tat er hier wirklich das Richtige? Konnte er dieses Land und diese Menschen einfach so verraten? Aber er war ein Highlander. Und seine Familie, seine Mutter… sie ging vor. Er konnte nicht zulassen, dass ihr etwas zustieß, das hatte sie nicht verdient. Überhaupt war es schon zu spät, um sich noch anders zu entscheiden… Es blieb ihm nur noch der Weg nach vorn, egal wie blutig und ungerecht er auch sein würde. Um seine Mutter zu retten, musste er all das in Kauf nehmen. Und dann hatte er auch schon geklopft. „Bist du das, Riou?“, kam Anabelles Stimme von innen. „Komm rein.“ Er war nicht Riou… Aber hereinkommen würde er trotzdem, um zu tun, was getan werden musste. Jowy öffnete vorsichtig die Tür und trat ein, froh darüber, dass die Wache, die vor dem Büro der Bürgermeisterin postiert war, gerade eine kurze Pause machte und nicht bemerkt hatte, dass er vorbeischlich. „Verzeiht, Anabelle“, sagte er, „ich bin es.“ Hinter ihm fiel die Tür mit einem leisen Klicken wieder ins Schloss. „Oh, Jowy.“ Anabelle blinzelte überrascht. Sie saß an einem Tisch, auf dem eine Flasche Wein und zwei Gläser standen… hatte sie gerade noch Besuch gehabt? Er hatte niemanden gesehen… Der Raum, der mit zu ihren privaten Gemächern gehörte, war schlicht eingerichtet, außer dem Tisch und den Stühlen stand vor dem Kamin zu ihrer Rechten nur ein großer, bequem aussehender Sessel. Die Wände waren zwar sauber mit Holz vertäfelt, doch es war weder allzu aufwendig, noch allzu kitschig, und der Boden war mit nicht allzu teurem Marmor ausgekleidet. Sein Blick glitt über ein paar gut gefüllte Bücherregale und die einfachen, dunklen Gardinen vor den großen Fenstern. Es passte irgendwie zu ihr, ihre Räumlichkeiten nicht allzu pompös auszustatten. „Möchtest du etwas Bestimmtes?“, fragte die Bürgermeisterin und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Wahrscheinlich wunderte sie sich, warum er so spät noch vorbeikam. Allein. Jowy trat langsam auf sie zu, während seine Hand zu seinem Gürtel wanderte, wo das Messer hing, dass Luca Blight ihm gegeben hatte. Steif schlossen sich seine Finger um das Heft, er zögerte, fröstelte, wollte umkehren – dann zog er die Waffe mit einer schnellen, fließenden Bewegung und sagte mit zitternder Stimme: „Euer Leben… Ich kam, um Euch zu töten.“ Anabelle starrte ihn einen Moment lang wortlos an, sah von der Klinge in seiner Hand zu seinem Gesicht und blickte dann in ihr Glas hinunter. „Du machst… keine Scherze, nicht wahr?“ Ein Scherz? Nein, das war kein Scherz. Das war es nie gewesen… „Bitte“, bat Jowy leise, „versucht, nicht zu schreien.“ Anabelle stieß einen amüsierten Laut aus, dann schüttelte sie den Kopf und blickte ihn traurig an. „Ich kann es nicht glauben…“, murmelte sie und er wusste, dass sie seinen Verrat meinte. Er konnte es selbst nicht glauben. „Ausgerechnet du…“ Seine Hand, die das Messer hielt, wurde feucht. Er musste es hinter sich bringen, bevor er doch kalte Füße bekam, oder seine Mutter würde… „Vergebt mir“, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Er konnte nichts anders. Aber wenn diese Frau tot war, würde der Krieg enden. Luca Blight würde den Staat erobern und endlich Ruhe geben und Riou, Nanami und Pilika konnten irgendwo ein neues Leben anfangen… Anabelle wandte den Blick ab und nahm einen weiteren Schluck Wein. Dann sagte sie langsam: „Muse und den Staat schützen… und den Menschen hier ein gutes Leben ermöglichen, in dem es ihnen an nichts fehlt… das sind meine Pflichten.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und wirkte fast entspannt, als sie ihn betrachtete. Eine gefühlte Ewigkeit geschah nichts, dann fragte sie: „Hast du so etwas auch? Etwas, das du tun musst, koste es, was es wolle?“ Ihm fiel plötzlich auf, dass über dem Kamin ein Portrait von einem ernst blickenden Mann hing. Ihrem Vater, vielleicht? „Ja“, antwortete Jowy mit belegter Stimme und senkte den Blick. „Ich habe auch etwas… das ich tun muss.“ „Kannst du diese Bürde tragen, Jowy?“, fuhr Anabelle leise fort. „Hast du wirklich die Lösung gefunden?“ Ein Ablenkungsmanöver, um ihn aus der Fassung zu bringen. Sie wollte nicht sterben. Natürlich nicht… „Ja“, sagte er, „ich habe einen Grund, diese Bürde zu tragen… und ich werde es tun.“ Die Bürgermeisterin sah ihn lange an und seufzte dann. Sie sah müde aus, erschöpft, am Ende. Er fragte sich, ob er selbst nicht genau so wirkte, wenn nicht noch schlimmer. „Ich schätze, auch wenn ich um Hilfe rufe, kann ich die Klinge wohl nicht aufhalten…“ Er umklammerte das Messer etwas fester. Konnte er das wirklich tun? Eine unbewaffnete Frau töten? Aber die Frage war nicht, ob er es konnte. Er musste es tun. „Lässt du mich wenigstens dieses Glas leeren?“, fragte Anabelle und deutete auf das halbleere Glas vor ihr. „Er ist von einem guten Freund…“ Täuschte er sich oder sah sie wirklich, wahrhaftig traurig aus? „Es wäre eine Schande, diesen Wein zu verschwenden…“ Ihr letzter Wunsch. Ein Glas Wein? Das war’s? Nur dieses Glas Wein trennte sie vom sicheren Tod? Jowy atmete tief durch und schloss die Augen. „… Es tut mir leid.“ Das war nicht gelogen. Es tat ihm leid, diese Frau aus ihrem Leben zu reißen. Aber wenn er es nicht tat, würde seine Mutter viel, viel Schlimmeres erleiden… und er mochte gar nicht daran denken, was Pilika oder Riou und Nanami zustoßen würde, wenn Luca Blight sie jemals in die Finger bekam. Nein, er musste Anabelle töten. Er musste sie töten, damit der Krieg endlich eine Wendung bekam! „Du… hast deine Deckung fallen lassen!“ Jowy öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Anabelle die auf dem Tisch stehende Flasche ergriff und sich damit auf ihn stürzte. Instinktiv riss er das Messer hoch – und rammte es ihr mitten in die Brust. Es war viel zu leicht gewesen. Viel zu schnell. Die Bürgermeisterin schnappte nach Luft, dann erschlaffte ihr Griff um den Flaschenhals und die Flasche zersprang auf dem Marmorboden, so furchtbar laut. Anabelle suchte ungläubig seinen Blick und bewegte die Lippen, doch kein Laut kam hervor. Vielleicht bildete er es sich ein, aber er glaubte, dass sie einen Namen zu sagen versuchte… Ohrenbetäubende Stille trat ein, als sie einander anstarrten und ihm klar wurde, was für einen furchtbaren Fehler er begangen hatte. Dann brach ihr Blick, sie ächzte leise, als ihre Füße unter ihr nachgaben, und fiel wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, zur Seite, das Messer noch immer zwischen ihren Rippen. Geschockt starrte Jowy auf Anabelle hinunter, auf das Blut, das sich auf ihrer Kleidung ausbreitete, auf ihre Haut, die plötzlich immer blasser zu werden schien. Widerlich rot, unnatürlich weiß und dazu diese furchtbar laute Stille, die ihn betäubte. Die Bürgermeisterin stöhnte leise und sah flehend, hilfesuchend zu ihm auf, doch er konnte sich nicht bewegen. Runen, was hatte er nur angerichtet…? „Lady Anabelle?“ Nein! Er fuhr zusammen und drehte sich um, doch es war bereits zu spät. Riou und Nanami betraten das Zimmer und einen endlos langen Moment lang geschah gar nichts, als sein und Rious Blick sich trafen. Dann explodierten urplötzlich Bilder in Jowys Kopf, Farben, Stimmen, die durcheinander riefen, Situationen, die er nicht erlebt hatte, Dinge, die er nicht getan hatte, Worte, die er nicht gesprochen hatte. „Han!“ „Genkaku…“ Jäh fuhr ein scharfer Schmerz durch seine rechte Hand, durchzuckte seinen gesamten Arm und ihm entwich erschrockenes Zischen. Etwas war passiert… Die Runen reagierten aufeinander. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass es nichts Gutes war, was gerade vor sich ging. „Was… Was…?“ Nanamis zitternde Stimme durchbrach die Stille und Jowy löste sich aus seiner Starre, der Blickkontakt mit Riou wurde unterbrochen. Er folgte ihrem Blick hinunter zu Anabelle, die nun unkontrolliert zu zittern begonnen hatte. „Nein!“, rief das Mädchen entsetzt aus. „Was ist passiert?!“ Sie sah ihn an, Tränen in den Augen. „Anabelle… Anabelle ist…!“ Sie stürzte an die Seite der sterbenden Frau und hob ihren Oberkörper leicht an. „Oh Runen… Lady Anabelle…“ „Jowy…“, hörte er Riou ungläubig flüstern und er wusste, dass der Blick seines besten Freundes auf seinen blutüberströmten Händen ruhte, „du hast doch nicht…“ Doch. Doch, er hatte. Er hatte gerade die einzige Person umgebracht, die zwischen Luca Blight und dem Staatenbund gestanden hatte. Aber das hieß nicht, dass er es nicht bereute. „Vergib mir, Riou.“ Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und rannte davon, während ihm das Blut in den Ohren rauschte und ein Heulkrampf ihm die Luft abschnürte, hinein in Anabelles Schlafzimmer und durch das Fenster nach draußen. Hinter sich hörte er Nanami hysterisch seinen Namen schreien, doch er konnte nicht mehr stehen bleiben, geschweige denn umdrehen. Es war schlichtweg zu spät. Sein Innerstes fühlte sich taub an, als er, in der Nähe der Stadttore stehend, mit ansah, wie Kage aus der Dunkelheit auftauchte und den Wachen die Kehlen durchschnitt, ihnen keinerlei Gelegenheit lassend, die schlafende und dem Untergang geweihte Stadt zu warnen. Ohne sich zu rühren, beobachtete er, wie die Tore von innen geöffnet wurden und ganze Horden von Highlandern hineinströmten, während irgendwo in der Hauptstadt eine Glocke geläutet wurde. Wortlos verharrte er, wo er war, als die Schreie aus dem Inneren von Muse ertönten, als Flammen aufloderten und Flüchtlinge vor seinen Augen abgeschlachtet wurden. Was hatte er getan? Was hatte er nur getan?! Er musste zu seiner Mutter und mit ihr sprechen, sie sehen, sich vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung war. Sie würde ihn verstehen, ihm helfen… Nicht wahr…? „Wenn das nicht unser Jowy ist!“ Er fuhr zusammen und starrte hoch in Rowds Gesicht, nur beiläufig registrierend, dass dessen Nase wohl nie wieder gerade stehen würde. Riou konnte fester zuschlagen, als er vermutet hatte… „C-Captain…“ Ihm war nach Heulen zumute. „Ergreift ihn.“ „Was?!“ Jowy starrte Rowd an, der ihn triumphierend betrachtete. Er war so baff, dass er sich nicht wehrte, als die Highlander ihn von beiden Seiten packten und ihn so fest hielten, dass sich auf seiner Haut bestimmt blaue Flecken bilden würden. „Du hast doch nicht geglaubt, dass dein kleiner Verrat irgendetwas ändert?“, fragte Rowd und sah den Jungen herablassend an. „Tut mir leid, mein Junge, da muss ich dich enttäuschen.“ „Aber… Aber Luca Blight sagte…“ „Er sagte, er würde deine Mutter verschonen, wenn du tust, was dir gesagt wird“, unterbrach sein ehemaliger Kommandant ihn hart. „Aber soll ich dir was sagen, Junge?“ Rowd grinste plötzlich süffisant. „Deine Familie ist schon vor drei Wochen nach Harmonia geflohen, weil dein feiger Stiefvater zu viel Angst davor hatte, einberufen zu werden!“ Ungläubig starrte Jowy ihn an. Etwas in ihm schien zu zerbrechen. Nein. Nein, nein, nein! Das konnte nicht sein, das alles war nicht wahr, es war… „Das… das ist eine Lüge!“, presste er hilflos hervor. Rowd warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. „Ist es nicht, Jowy, glaub es ruhig. Deine Familie ist in Harmonia und Prinz Luca hat dich belogen. Finde dich damit ab… so ist das im Krieg nun mal, man kann keinem vertrauen – schon gar nicht dem Feind. Führt ihn ab!“ Jowy konnte nicht einen Finger rühren, als die zwei Männer, die ihn festhielten, ihn gewaltsam mit sich schleppten, er reagierte nicht, als man ihn in eine Zelle warf und auch nicht, als er schmerzhaft auf dem Boden aufkam. Denn diesmal waren Nanami und Riou nicht da, um ihn aufzufangen. Sie würden es niemals mehr sein… Er hatte sie verraten. Sie, Pilika, Viktor, Flik und all die anderen, die ihm geholfen hatten, als er sein Zuhause verloren hatte… und nun hatte er ihnen das ihre genommen. Alles war eine Lüge gewesen, er hatte eine Unschuldige umgebracht und Tausende andere durch sein Handeln zum Tode verurteilt. Dörfer würden brennen, Städte geplündert werden und so viel Blut würde fließen, nur weil…! Jowy lag auf dem kalten Boden der Zelle und konnte nicht fassen, was er angerichtet hatte, während heiße Tränen seine Wangen hinunterrannen. … Was hatte er nur getan…? To be continued... Kapitel 33: Aufstieg und Fall ----------------------------- „Der Atreides-Bengel, richtig?“ Jowy sah mit leerem Blick auf zu Luca Blight, der ihn von oben herab betrachtete. Der Aristokrat saß an einer Wand seiner Zelle und hatte sich in einem Dämmerzustand befunden, irgendwo zwischen Wachen und Träumen. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit man ihn hier hinein geworfen hatte. „Ein echter Soldat“, fuhr Luca breit grinsend fort, „du hast getan, was man dir befohlen hat.“ Jowy sagte nichts. Einmal abgesehen davon, dass seine Zunge an seinem Gaumen festgewachsen zu sein schien, hasste er diesen Mann so sehr, dass er selbst bei größtem Wunsch nichts hätte sagen können. Er hörte Luca Blight sprechen, hörte ihn Dinge sagen, die er nicht hören wollte. Er biss die Zähne zusammen, während er angestrengt blinzelte, um nicht wieder in Tränen auszubrechen, als der Kronprinz von Highland ihm in allen Details beschrieb, wie Muse gefallen war. „Du bist ein echter Highlander, Atreides“, beendete Luca Blight triumphierend seine Ansprache, von der Jowy nichts mitbekommen hatte. Nichts hatte mitbekommen wollen. „Dem Vaterland treu bis zum Tod.“ „… Was wollt Ihr von mir?“ Nur mühsam hob Jowy den Blick, um den Wahnsinnigen in die Augen zu blicken. Die dunklen, fast schwarzen Augen des Prinzen glühten in einem kalten Feuer. „Ich biete dir die Gelegenheit, zu leben“, antwortete Blight und kicherte in dieser krankhaft hohen Stimmlage, von der Jowy schlecht wurde. „Das wollt ihr doch unbedingt, nicht wahr? Klammert euch an euer Leben und fleht um das anderer…“ Abfällig schnaubend schüttelte der Kronprinz den Kopf. „Du hast deine kleinen, dreckigen Staats-Freunde verraten, um das Leben deiner Mutter zu retten. Wen kümmert es, dass es eine Lüge war?“ Ihn. Ihn kümmerte es! Es war alles umsonst gewesen! Schlimmer noch, er hatte einen furchtbaren Fehler begangen. Was war er nur für ein Narr! „Du hast Macht, Junge“, sagte Luca Blight weiter. „Ich habe sie gespürt, damals, im Camp. Setz diese Macht für Highland ein! Ich sehe es in deinen Augen, du bist stärker als der Rest dieses Abschaums!“ Jowy antwortete nicht. Er wollte nichts sagen, nichts hören… „Was sagst du?“ Wozu, in aller Runen Namen? Der Gelegenheit, seine Seele zu verkaufen und seinen Freunden noch mehr Schaden zuzufügen, als er es ohnehin schon getan hatte? „Ich… denke darüber nach“, hörte er sich selbst dennoch flüstern und fragte sich, was in ihn gefahren war. Was für einen Schwachsinn gab er denn dort von sich?! „Sehr gut.“ Doch Luca Blight war anscheinend zufrieden. Der Prinz grinste sein blutrünstiges Grinsen und Jowy ballte heimlich eine Faust. „Du hast einen Tag… Vermassle es nicht. Noch habe ich gute Laune…“ Mit wehendem Umhang und lautem, irren Gegacker machte der Kronprinz von Highland kehrt und die Zellentür schlug mit einem Krachen hinter ihm zu. „Lass dich nicht darauf ein!“, rief jemand und Jowy entdeckte zu seinem Entsetzen ein bekanntes Gesicht hinter den Gitterstäben der gegenüberliegenden Zelle – es war Andris, einer der Offiziere von Viktors Söldnerarmee. „Dieser Irre will den Staat auslöschen und uns alle mit dazu! Es ist ihm egal, was mit uns passiert, er will nur die Welt brennen sehen!“ „Keine Sorge…“, erwiderte Jowy leise und schluckte. Andris wusste nicht, wer Muse verraten hatte… vielleicht war es besser so. Sie beide erwartete der Tod. Denn Jowy würde auf gar keinen Fall zustimmen, Luca Blight zu helfen. Es waren keine Soldaten da, die sie bewachten, aber das war auch nicht nötig. Die paar Gefangenen, die sich hier unten befanden, waren entweder wie Andris schwer verletzt – das Blut war überall und keiner kümmerte sich darum und es stank, stank so furchtbar metallisch – oder befanden sich wie Jowy in einer tiefen Depression. Keiner hier hatte noch das Bestreben, zu fliehen – mit dem Untergang des Herzens des Staatenbunds war auch die Hoffnung seiner Verteidiger auf den Nullpunkt gesunken. In dem Zellentrakt herrschte Stille; seine Mitgefangenen schliefen, waren bewusstlos oder schwebten irgendwo zwischen Jenseits und Diesseits, während ihr Lebenssaft die kalten Steine unter ihnen rot färbten. Und er hatte auch nicht vor, diese Stille zu brechen. Es gab nichts, was er sagen konnte. Oder wollte. Sein Entschluss stand fest – wenn Luca Blight morgen wiederkommen würde, würde Jowy ihm sagen, wie sehr er ihn hasste… und seinem Tod ins Auge blicken. Was blieb ihm auch anderes übrig? Er hatte Riou und Nanami zum Tode verurteilt. Und Pilika! Bei den 27 Wahren Runen, was würde aus Pilika werden? Hätte Jowy die Kraft dazu und die Möglichkeit gehabt, hätte er Luca Blight umgebracht. Runen, wie sehr er diesen Mann hasste! Gab es denn keine Möglichkeit, ihm all das heimzuzahlen, was er getan hatte? Gab es keine Möglichkeit, ihn büßen zu lassen für all das vergossene Blut, all die verlorenen Leben? Mit einem flauen Gefühl im Magen blickte Jowy auf die Schüssel Wasser und das harte Stück Brot hinunter, das ein Wachmann jedem der Gefangenen gebracht hatte. Er hatte es nicht einmal mitbekommen. Das war also seine Henkersmahlzeit… Warum war ihm so schlecht? Er wollte das hier nicht. Er hatte das nie gewollt. Was war passiert, warum war seine Welt so aus den Fugen geraten? Er verstand nichts. Das alles ergab keinen Sinn… hatte es das je? Er wünschte sich plötzlich, bei dem Angriff auf die Einhornbrigade mit all den anderen umgekommen zu sein. Dann würde Anabelle noch leben, Riou und Nanami wären bei den Söldnern in Sicherheit und Pilika… Pilika hätte ihn nie kennen gelernt. Hätte jemand sie gerettet? Wären Hanna und Zamza dort gewesen, um sie in Sicherheit zu bringen? Hätte jemand an sie gedacht, wenn das Söldnerfort gefallen wäre…? Seine Gedanken ergaben keinen Sinn mehr, er bekam Kopfschmerzen. Er war sich im Klaren darüber, dass all das, was er hier überlegte, völlig bedeutungslos war, nun, da er die Entscheidungen getroffen hatte, die ihn hierher in diese Zelle gebracht hatten. Ändern konnte er das alles nicht mehr. Bald – wie lange würde es noch dauern? Wie viel Zeit war vergangen? – würde Luca Blight zurückkehren und ihn umbringen. Weil er seine Entscheidung getroffen hatte. Weil er ohnehin nichts tun konnte… War es so? Konnte er gar nichts tun? War er jetzt dazu verdammt, tatenlos zuzusehen, wie Luca Blight die Welt brennen ließ? Was war, wenn er etwas tun würde? Aber nein, das wäre sinnlos. Nicht wahr? Und was, wenn…? Jowy schob die unangerührte Wasserschüssel und das harte Brot beiseite, ehe er die Beine an die Brust zog und gedankenverloren das Zeichen der Rune des Schwarzen Schwerts betrachtete. Bevor er einen weiteren, wirklich klaren Gedanken fassen konnte, flüsterte er auch schon in die Stille hinein: „Gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann…“ Er schluckte. „… und die Weisheit das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Zuerst geschah gar nichts. Er saß nur da, im Halbdunkel der kalten Zelle, die nur spärlich von einer Fackel erleuchtet wurde, und starrte seinen rechten Handrücken an. Jemand hustete, ein anderer Gefangener stöhne unter Schmerzen, noch ein anderer rief leise nach jemandem. Dann jedoch begann sich eine angenehme Wärme in seinem Körper auszubreiten, ausgehend von dem Mal des Schwarzen Schwerts. Ich werde dir helfen, flüsterte die Rune und er fühlte sich mit einem Mal, als würde ihn jemand in eine warme, tröstende Umarmung ziehen, aus der er Kraft schöpfen konnte. Du kannst dich auf mich verlassen. In diesem Moment beschloss Jowy Atreides, dass er Luca Blight umbringen würde… was auch immer es ihn kosten würde. „Hast du dich entschieden?“ Jowy erwachte aus dem leichten Schlaf, in den er gefallen war, und war augenblicklich klar im Kopf, als er ihn hob und in Luca Blights kalte Augen blickte. Er fühlte sich ruhig und absolut selbstsicher, ungeachtet all dessen, was in den letzten Tagen und Wochen geschehen war. Fast so, als wäre er plötzlich ein ganz anderer Mensch. Langsam erhob der junge Aristokrat sich, um mit dem Prinzen auf einer Höhe zu sein. Er war es nicht, natürlich nicht, immerhin war Luca Blight größer als jeder Mann, den er kannte, aber nun, da er auf eigenen Beinen stand, fühlte sich Jowy um einiges wohler. „Das habe ich.“ Der Kronprinz hob eine Augenbraue und grinste. „Hast du das. Und wie lautet deine Antwort, Junge?“ Jowy holte tief Luft und schluckte. Dann sah er Luca Blight in die Augen und sagte leise, aber deutlich: „Ich werde Highland dienen.“ Das Grinsen des Prinzen von Highland wurde breiter, dann nickte er zufrieden. „Du weißt, wem deine Loyalität gebührt! Enttäusche mich nicht, Junge, oder du scheidest schneller aus dem Leben, als dir lieb ist.“ Ein zufriedenes Kichern entwich dem Kronprinzen. „Keine Sorge, Sire… Ich werde tun, was Ihr sagt.“ „Natürlich wirst du das. Andernfalls hast du die längste Zeit gelebt!“ Luca Blight lachte und verließ die Zelle, Jowy folgte ihm bedeutend langsamer. Als er Andris’ Zelle passierte, schrie der Söldner: „Verräter! Wir haben dir vertraut!!“ Jowy blieb stehen und warf dem Mann einen langen Blick zu. Ja, das hatten sie. Sie hatten ihm vertraut und er hatte sie verraten, doch keiner konnte die Zeit zurückdrehen oder ändern, was geschehen war. „Das war wohl ein Fehler“, bemerkte er schließlich, warf dem Söldner einen letzten Blick zu und folgte dann dem Kronprinzen nach draußen. Ja, er war ein Verräter… aber er würde das Beste daraus machen. Er würde Luca Blights Vertrauen gewinnen und nah genug an ihn herankommen, um ihm alles heimzuzahlen. Und dann würde der Krieg ein Ende haben. „Kümmert euch um den Bengel! Und erstattet mir Bericht, wenn ihr diesen Nichtsnutz Jess findet…“ Luca Blight marschierte schnurstracks an den Soldaten vorbei, die vor dem Gefängnis gewartet hatten, bis ihr Befehlshaber wieder nach draußen trat. Nur einer der Männer – ein dünner, drahtiger Soldat mit rotblonden Haaren, einem buschigen Bart und bemerkenswert grünen Augen – blieb neben Jowy stehen, der Rest beeilte sich, dem Kronprinzen zu folgen. Der Aristokrat blinzelte im grellen Sonnenlicht und warf dem Soldaten, der neben ihm stand, einen vorsichtigen Blick zu, registrierte die Sterne auf seiner Uniform, die ihn als Oberst auswiesen. „Wie ist dein Name, Junge?“, fragte der Oberst und zumindest klang er nett. Ob er es wirklich war, würde sich noch herausstellen… „Jowy A… Ich bin Jowy. Einfach nur… Jowy.“ „Ich habe viel von dir gehört, Jowy“, sagte der Oberst langsam. „Du bist also derjenige, dem wir den Sieg über Muse verdanken, hm?“ Der Aristokrat schwieg und betrachtete stattdessen gedankenverloren die Abzeichen auf der Brust des Mannes. Es war still in Muse. So furchtbar still. Wahrscheinlich war die Mehrheit der Bewohner von Muse tot und der Rest… Er zwang sich, im Gedankengang inne zu halten. Es reichte. Genug Selbstvorwürfe, genug Selbsthass! „Oberst, ich…“ „Mein Name ist Russell“, stellte sich der Soldat plötzlich vor. „Du wirst mir von jetzt an unterstellt sein und deine Berichte werden alle an mich gehen. Ich erwarte Gehorsam meinen Befehlen und Respekt mir gegenüber. Hast du das verstanden?“ Obwohl er in einem strengen Tonfall sprach, fühlte sich Jowy dennoch nicht so, als wollte ihm dieser Mann etwas Böses. Ganz im Gegenteil, Oberst Russell schien eher Mitleid mit ihm zu haben! „Ja, Sir“, gab Jowy nach kurzem Zögern zurück und hob eine Hand an die Stirn. Sein Militärdienst schien Ewigkeiten her zu sein… Und er hatte nicht mehr zum Militär gewollt! Wie seltsam die Welt war. Russell nickte und bedeutete ihm, zu folgen. „Lord Luca hat befohlen, dich in den Rang eines Oberleutnants zu erheben und dir den Befehl über eine Einheit zu geben“, erzählte der Oberst, während er zielstrebig durch die verlassenen Straßen von Muse schritt und auf die Stadtmauern zuhielt. „Er wünscht, dass du in seiner Nähe bleibst… Scheint ganz so, als hättest du Eindruck bei ihm hinterlassen.“ Jowy ballte die rechte Hand zur Faust und brummte undeutlich. Es war natürlich weder sein Verrat noch seine Verbindung zu Anabelle gewesen, wegen der sich Luca Blight sein Gesicht gemerkt hatte – es war schlicht und ergreifend die Tatsache, dass er eine Wahre Rune trug. Der Kronprinz mochte nicht wissen, wie mächtig die Rune tatsächlich war oder was sie ausrichten konnte, aber ihm war wahrscheinlich wohl bewusst, wie nützlich sie für ihn sein konnte. Das und nichts Anderes war der Grund, warum Jowy Russell gerade aus der Stadt folgte und nicht mit Andris und den anderen Gefangenen im Gefängnis war und seine letzten Stunden erlebte... Es gab keinen Zweifel daran, dass auch nur einer der Menschen in den Zellen den heutigen Tag überleben würde. Und Jowy betete inständig zu den 27 Wahren Runen dafür, dass Riou, Nanami und Pilika nicht zu denen gehörten, die bereits aus dem Leben geschieden waren. Russell führte ihn in das riesige Militärcamp, das die Highlander um Muse herum aufgebaut hatten. Es mussten Zehntausende Soldaten sein, die hier zwischen Zelten und auf die Schnelle errichteten Kantinen hin- und herhetzten, und Jowy graute es davor, hier bei ihnen zu bleiben, den Menschen, die eigentlich seine Landsleute waren – und doch irgendwie zu den Bösen geworden waren. „Als Oberleutnant wirst du dir dein Zelt mit einem anderen Leutnant teilen“, erzählte Russell, als sie einen auf die schnelle errichteten Übungsplatz passierten. „In zwei Stunden findet eine Truppenübung statt und du wirst daran teilnehmen. Solltest du Fragen haben…“ „Was hat das zu bedeuten, Oberst?!“ Russell hielt in seinem Vortrag inne, blieb stehen und drehte sich milde interessiert um, Jowy tat es ihm gleich – um einem vor Wut schnaubenden Rowd ins Gesicht zu blicken. „Was meint Ihr, Rowd?“, erkundigte Russell sich und hob milde interessiert eine Augenbraue. „Wenn es schon wieder um Eure Beförderung geht, dann…“ „Was im Namen aller Runen macht er hier?“, knirschte Rowd mit den Zähnen und zeigte anklagend auf Jowy, der einen halben Schritt zurückwich. „Dieser Bengel ist wegen Hochverrats in Kyaro zum Tode verurteilt worden, warum hängt er nicht vom Galgen wie die anderen Verräter?!“ Jowy ballte eine Faust und presste die Lippen aufeinander, blieb jedoch still. Er wusste genau, warum Rowd so wütend war – es gab nur einige wenige Männer, die wussten, was der Jugendbrigade wirklich passiert war und dass Rowd seine Finger im Spiel gehabt hatte. Dass der Aristokrat lebte und Gelegenheit hatte, dieses Wissen weiterzugeben, war ein viel zu großes Risiko für Rowd, als dass er ihn ungeschoren hätte davon kommen lassen. Doch Russell reagierte noch bevor Jowy sich entschieden hatte, was er tun sollte, und entgegnete ruhig: „Jowy mag zwar nur ein Oberleutnant sein, aber Ihr solltet ihm dennoch den nötigen Respekt erweisen. Der Junge ist auf Geheiß von Lord Luca persönlich hier und mir unterstellt – was Ihr im Übrigen auch seid, Rowd!“ Sein ehemaliger Befehlshaber – Jowy hoffte, dass die Ehemaligkeit noch aktuell war, er hatte die Nase gestrichen voll davon, diesem Mann unterstellt zu sein – knurrte und spuckte dem Aristokraten vor die Füße, ehe er zur Überraschung aller Umstehenden sein Schwert zog und damit auf Jowy zeigte. „Also gut“, zischte Rowd, „dann fordere ich ihn zum Duell!“ „Es reicht“, gab Russell genervt zurück. „Lasst den Jungen in Ruhe und geht Euren Aufgaben nach. Wenn ich mich nicht irre, solltet Ihr eigentlich die neuen Rekruten ausbilden?“ „Ein Duell!“, wiederholte Rowd und fixierte Jowy mit einem derart herablassenden Blick, dass dem Aristokraten ganz unwohl in seiner Haut wurde. „Ich fordere den Oberleutnant zum Duell und Ihr wisst genau so gut wie ich, dass dies nach highlandischer Tradition eine legitimierte Frage der Ehre ist, Oberst!“ „Ich habe doch gesagt…!“ „… Ich nehme die Herausforderung an.“ Erst, als sich Russels irritierter Blick ihm zuwandte, wurde Jowy klar, was er da gerade gesagt hatte. Aber es war zu spät, die Worte zurückzunehmen, da ein triumphierendes und leicht manisches Grinsen sich auf Rowds Zügen ausbreitete. „Zu schade, dass du keine Waffe hast, Bengel“, zischte er bösartig und machte Anstalten, auf den Aristokraten loszugehen, doch Russell gab den umstehenden Soldaten ein Zeichen, die daraufhin den wildgewordenen Captain an den Schultern ergriffen und ihn zurückhielten. „Das reicht, Rowd!“, raunzte der Oberst, ergriff Rowds Handgelenk und senkte mit sanfter Gewalt dessen Arm samt Schwert. „Ihr könnt Euch mit dem Jungen meinetwegen duellieren, aber wenn Ihr schon in meinem Beisein eine Herausforderung aussprecht, dann wird sie gefälligst auch unter fairen Bedingungen ausgeführt! Habt Ihr das verstanden?!“ Rowd stieß ein Knurren aus, das mehr an ein wildes Tier denn an einen Menschen erinnerte, dann starrte er Jowy so bösartig an, als wollte er ihn mit Blicken erdolchen. „… Ja, Sir…“, antwortete der Captain schließlich sichtlich widerwillig und Jowy sah ihm die Anstrengung, sich zu beruhigen, nur allzu deutlich an. „Ihr werdet Euch also friedlich verhalten?“ „… Ja, Sir.“ „Das gleiche gilt auch für dich, Junge“, brummte Russell und warf Jowy einen strengen Seitenblick zu, woraufhin dieser sich beeilte zu nicken. Oh, er würde sicher nicht auf Rowd losgehen, da musste sich der Oberst keine Sorgen machen. Eigentlich wusste Jowy nicht einmal, warum er die Herausforderung überhaupt angenommen hatte – es war nicht so, als hätte er sonderlich viel Ehre gehabt, die es zu verlieren galt. Und um sie wieder herzustellen, benötigte es wohl mehr als ein Duell gegen Rowd…. Aber etwas in ihm hatte gehandelt, bevor er das Für und Wider hatte abwägen können. Vielleicht war es die Tatsache, dass sein Hass auf Rowd ungefähr genau so groß war wie der auf Luca Blight. Rowd war es gewesen, der die Jugendbrigade verraten hatte, der all die unschuldigen jungen Männer dem Wahnsinn des Kronprinzen ausgeliefert hatte. Rowd war einer derjenigen, wegen denen Jowy so ziemlich alles verloren hatte. Und ein kleiner, jedoch nennenswerter Teil von ihm wollte diesen Mann bloßstellen und ihn tief, tief fallen sehen. Ihn vernichten. Jowy zuckte zusammen, als er den Gedanken beendet hatte, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Hatte er das gerade wirklich gedacht? „Das Duell wird morgen früh auf dem Trainingsplatz in meinem Beisein stattfinden, vor der Versammlung der Befehlshaber, die seine Lordschaft einberufen hat“, brummte Russell und holte den Aristokraten damit zurück in die Wirklichkeit, zurück zu den hasserfüllten Blicken, die Rowd ihm zuwarf. „Bis dahin will ich Euch nicht mehr sehen, Rowd. Wenn Ihr den Oberleutnant noch einmal belästigt, wird das Konsequenzen für Euch haben!“ „Ja, Sir“, knurrte Rowd, salutierte steif und marschierte von dannen. Der Oberst atmete tief durch und scheuchte die umstehenden Soldaten weiter, ehe er sich wieder an Jowy wandte, als wäre nichts gewesen: „Ich werde dir jetzt dein Zelt zeigen – dann hast du bis zur Versammlung zwei Stunden frei.“ „Heißt das… heißt das, ich kann noch einmal zurück in die Stadt und… ein paar Sachen holen?“ „Solange du dich nicht völlig aus dem Lager entfernst und niemanden bei der Arbeit belästigst, kannst du tun, was du willst“, entgegnete Russell, während er im Marschschritt weiter durch das riesige Militärlager eilte und Jowy ihm mit einiger Mühe folgte. „Allerdings solltest du noch warten, bis ich dir deine Abzeichen gebe, bevor dich noch jemand für einen Rekruten hält.“ Lange vor Sonnenuntergang war er wach gewesen und hatte dem leisen Schnarchen seines Mitbewohners gelauscht. Er kannte den jungen Mann nicht, mit dem er sich das Zelt teilte, aber das war auch nicht weiter wichtig. Nur ungern war Jowy zurück nach Muse gegangen und hatte dort seine spärlichen Besitztümer aus dem Gasthaus geholt – darunter war auch sein Stab gewesen. Normalerweise hätte er nicht weiter gezögert und die Waffe seines Vertrauens mitgenommen, doch nun… Er traute sich einfach nicht, den Stab wieder aufzunehmen. Der Stab war ein Teil seines alten Selbst gewesen, des Jungen, der mit einem Verstoßenen und dessen Adoptivkindern trainiert hatte, der echte Freunde gehabt hatte, der gewusst hatte, was er eigentlich tat. Seit Muses Fall aber war er all das nicht mehr. Und genau deswegen musste er sich eine neue Waffe suchen, mit der er nicht in einem Duell gegen Rowd kläglich versagte. Sein Blick fiel im Halbdunkel des Zelts auf das Schwert seines tief schlafenden Mitbewohners. Während der Zeit bei der Jugendbrigade hatte man sie im Umgang mit Schwertern, Speeren und Armbrüsten ausgebildet, den Waffen, die von der highlandischen Armee am häufigsten benutzt wurden. Aber es war lange her, zu lange, er würde bestimmt nicht gut damit… Der andere Leutnant schnarchte plötzlich besonders laut auf, drehte sich im Schlaf um und Jowy zuckte so sehr zusammen, dass er fast aus dem Feldbett fiel. Doch es genügte, um ihn eine Entscheidung fällen zu lassen. So leise er konnte, stand er auf, band seine Haare entschlossen zu einem Zopf zusammen und zog sich an; dann ergriff er das Schwert seines Mitbewohners und marschierte entschlossen durch das halberwachte Militärlager zum Trainingsplatz, wo sich die ersten Soldaten bereits versammelt hatten. Doch anstatt zu trainieren, wie eigentlich zu erwarten gewesen war, schienen sie eher auf etwas zu warten. Jowy runzelte die Stirn. Die warteten doch nicht etwa auf das Duell? Wie sich herausstellte, taten sie genau das. Während Jowy unsicher und ein bisschen nervös das Schwert in seinen leicht schwitzenden Händen hielt, trudelten immer mehr Soldaten ein, die sich scheinbar auf ein Schauspiel der besonderen Art freuten. Na toll. Genau das, was er gebraucht hatte. Aber er hatte keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, dass er im Falle einer Niederlage sicher keine Zuschauer haben wollte, da in eben diesem Moment Rowd auf den Platz gestürmt kam, dicht gefolgt von Russell, der angesichts des Publikums sichtbar die Stirn runzelte. Bevor Rowd Anstalten machen konnte, sein Schwert zu ziehen und ohne Vorwarnung anzugreifen, trat Russell zwischen die Kontrahenten und warf beiden einen warnenden Blick zu, dann rief er gut hörbar für alle: „Es freut mich zu sehen, dass unsere Truppen über ein so ausgeklügeltes Kommunikationssystem verfügen! Dieses Duell scheint mehr Zuschauer zu haben als es Teilnehmer an dem Marsch auf Muse gab… “ Verhaltenes Gelächter in den Reihen der Versammelten folgte, doch Jowy konnte darüber nicht lachen. Seine Aufmerksamkeit galt Rowd, der ihn mit kaltem, hasserfülltem Blick anstarrte. Ganz ohne Zweifel würde ihn der Mann ohne zu zögern umbringen, wenn er die Gelegenheit dazu bekam… Jowy schluckte. Aber er konnte das tun. Er musste es tun. „Es werden keine Runen benutzt, keine Schläge unter die Gürtellinie. Das Schwert ist eure einzige Waffe! Das erste Blut entscheidet“, grollte Russell in diesem Moment und sah Rowd warnend an. „Ich will keine Toten! … Und los.“ Er brachte sich eilig außer Reichweite – und das gerade rechtzeitig, denn Rowd zog sein Schwert schneller als Jowy blinzeln konnte. Die Klinge schoss auf den Aristokraten zu und den Bruchteil einer Sekunde war er völlig gelähmt, doch der fordernde Schrei der Rune in seinen Gedanken – Beweg dich! – löste seine Erstarrung. Jowy duckte sich reflexartig und zog gleichzeitig das Schwert aus der Scheide, dann rollte er sich nach hinten weg und blockte Rowds nächsten Schlag mit der flachen Seite seiner Waffe. Seine Arme erzitterten unter der Anstrengung; ein Schwert zu führen war doch ganz anders als einen Stab in den Händen zu halten – oh Runen, es war ein Fehler gewesen, sich gegen den verdammten Stab zu entscheiden! Aber jetzt war es auch zu spät, darüber zu jammern. Rowd holte aus und Jowy nutzte die Gelegenheit, um die Schwertscheide weit von sich zu schmeißen, dann rollte er sich zur Seite und sprang auf, gerade noch rechtzeitig, um dem Schlag auszuweichen. Doch nun ging er selbst zum Angriff über; sein Schwert schoss direkt auf seinen ehemaligen Befehlshaber zu und Rowd riss die eigene Klinge hoch, um die des Aristokraten abzuwehren. „Ich bringe dich um“, knurrte der Hauptmann und schlug Jowys Schwert weg. Mit einem Seitenhieb holte er nach ihm aus und nur ein reflexartiger Schritt nach hinten rettete den jungen Mann vor einer Skalpierung. Lediglich ein paar Millimeter verhinderten, dass das erste Blut Jowy gehörte. Die Menge um sie herum johlte enttäuscht. Sie wollte Blut sehen. Der Aristokrat biss die Zähne zusammen und wirbelte herum, das Heft des Schwerts so fest in der Hand haltend, dass sein ganzer Arm vor Anstrengung zitterte. Einen Teufel würde er tun und versagen! Sein Blut würde sicher nicht als erstes vergossen werden! „Denkst du, dein kleiner Freund wäre stolz auf dich?“, zischte Rowd hämisch und ein böses Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als seine Klinge erneut auf Jowys traf. „Dass du gegen den Mann kämpfst, der euch beide in diese Bredouille gebracht hat?“ Die Wut flammte plötzlich auf, ohne jede Vorwarnung. Von einem Moment auf den anderen übernahm die Rune des Schwarzen Schwertes die Führung, ihre Macht fuhr in ihn und lenkte seine Schritte, seine Bewegungen, seine Waffe. Er sah sich selbst von der Seite und fragte sich zwangsläufig, ob er auf alle anderen auch so unheimlich wirkte. Blutrünstig. Kalt. Und dann hatte er Rowd plötzlich ein Bein gestellt und der Hauptmann fiel mit einem Ächzen zu Boden; im gleichen Moment fuhr Jowy ihm mit einer schnellen Bewegung übers Gesicht, von der Stirn aus schräg nach unten über die Nase bis zum Kiefer. Rowd entfuhr ein Schrei – und langsam sickerte Blut aus dem Schnitt. Zufrieden zog sich die Rune wieder in die hinterste Ecke von Jowys Bewusstsein zurück, ihn mit dem Schreck allein lassend. Wie ein verletzter Stier brüllend sprang Rowd auf und schrie: „Verdammtes Teufelsbalg, ich bringe dich um!“ Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte sich der Hauptmann wieder auf den Aristokraten stürzen, doch Russell eilte in Begleitung dreier Soldaten herbei, die Rowd am Boden festhielten. „Ich bringe dich um!!“, kreischte der geschlagene Hauptmann, der tobte und spuckte, erneut, doch gegen die drei Männer war er machtlos. „Das glaube ich nicht“, erwiderte Russell ruhig. „Ihr werdet den Jungen ab jetzt in Ruhe lassen, Rowd, er hat Euch in einem fairen Duell besiegt.“ Dass es nicht ganz fair gewesen war, weil die Rune das meiste für ihn getan hatte, erwähnte Jowy besser nicht. Dafür tat es Rowd: „Der verdammte Bengel trägt eine Rune! Er hat sie benutzt! Er kann mich nicht allein geschlagen haben, ich bin besser als er!! Er ist ein Landes- und Blutsverräter! Er muss hängen, verdammt!“ Russell fuhr genervt zu seinem Untergebenen herum, ergriff ihn am Kragen und zog ihn so plötzlich auf die Beine, dass die drei Männer, die Rowd festhielten, ihn vor Überraschung beinahe losließen. „Wollt Ihr mir Befehle erteilen, Hauptmann?“, raunzte der Oberst wütend. „Ich habe genug von Euch, Rowd, Ihr geht mir schon viel zu lange auf die Nerven – hiermit degradiere ich Euch zum Leutnant! Ihr werdet dem Jungen kein Haar krümmern, Ihr werdet nicht einmal mehr in seine Nähe kommen! Habt Ihr mich verstanden?!“ Rowd antwortete nicht und Russell gab ihm einen unsanften Ruck. „Ob Ihr mich verstanden habt, will ich wissen!“ „… Ja, Sir“, presste Rowd zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und der Oberst ließ ihn verächtlich los. „Bringt ihn in die Arrestzelle und lasst ihn sich dort für heute austoben“, befahl er an die drei Soldaten gewandt, die auf das Salutieren verzichteten und lediglich nickten; dann führten sie Rowd, der noch hasserfüllter als vorher Jowy fixierte, ab und Russell wandte sich Jowy zu. „Du hast nicht wirklich eine Rune benutzt, nicht wahr?“ „… Nein, Sir. Ich habe keine Rune benutzt.“ Er hatte sie nicht benutzt – sie hatte sich Seiner bemächtigt! „Ich weiß nicht, woher du diese plötzliche Energie genommen hast, Junge“, sprach der Oberst stirnrunzelnd und sah den Aristokraten von oben bis unten an. „Aber dieses Duell hat mir gezeigt, dass du ein ernstzunehmender Kämpfer bist. Du hast dir deinen Platz hier verdient.“ „Danke…“ Aber warum fühlte sich Jowy denn dann wie der Verlierer…? Kapitel 34: Spiel mir das Lied vom Tod -------------------------------------- Schaudernd schlug Jowy den Kragen seines Mantels hoch und ließ seinen Blick über den Dunan-See schweifen. Das Wasser war unruhig, die Luft eisig; wenn er nicht gewusst hätte, dass inzwischen fast vier Wochen seit dem Fall von Muse vergangen waren, hätte er nicht geglaubt, dass inzwischen der Sommer angebrochen war. Jedenfalls hätte er es getan haben sollen – aber hier im Staat war das Klima ohnehin ganz anders als Zuhause in Highland. Es hatte nicht lange gedauert, bis die highlandischen Truppen die Dörfer und Kleinstädte um Muse herum eingenommen hatten. Er selbst hatte einige von ihnen zu highlandischem Boden erklärt und versucht, nicht in die Gesichter der Menschen zu schauen, die ihn mit dieser Mischung aus Hilflosigkeit und Wut angesehen hatten, die er selbst nur zu gut kannte. Aber es war besser, wenn er derjenige war, der diese Dörfer für Highland beanspruchte, als wenn Luca Blight selbst wütete und tobte. Natürlich tat der Kronprinz das trotzdem und Jowy wurde übel bei dem Gedanken an all die Unschuldigen, die schon wieder hatten sterben müssen. Doch er würde all dem ein Ende setzen… und wenn es das Letzte war, was er tat. „Sir!“ Er zuckte zusammen und drehte sich um; noch immer hatte er sich nicht daran gewöhnt, dass man ihn nun so ansprach. Dennoch bemühte er sich um eine möglichst neutrale Miene, als er der jungen Frau ins Gesicht sah, die hinter ihm aufgetaucht war. Frauen waren eine Seltenheit in der Armee von Highland; Jowy konnte an einer Hand abzählen, wie viele weibliche Soldaten er bisher gesehen hatte. Aber die wenigen standen ihre männlichen Kollegen in nichts nach, wie der junge Leutnant vor ihm bewies. Lexa war älter als er, etwa Mitte 20, und er fühlte sich unter dem kühlen Blick ihrer grauen Augen immer ein bisschen unwohl; an ihrer Hüfte hing ein Breitschwert, sie trug die typische Uniform der Highlander und die rotblonden Haare hatte sie für eine Frau relativ kurz geschnitten. „Was gibt es, Lexa?“, erkundigte er sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Die junge Frau salutierte und antwortete: „Wir werden in einer halben Stunde in der Hafenstadt Kuskus anlegen. Ich soll Euch von Oberst Russell mitteilen, dass Lord Jhee eine Versammlung angeordnet hat, sobald die Stadt unter unserer Kontrolle ist.“ „Es wird nicht viel Gegenwehr geben“, murmelte Jowy abwesend. „Kuskus verfügt über keine eigene Streitmacht. Das einzige, auf das wir uns gefasst machen müssen, sind ein paar kleinere Straßenkämpfe…“ „Nicht, dass wir bisher viel Gegenwehr gesehen haben“, erwiderte Lexa stirnrunzelnd. „Die Staatler machen es uns ja fast zu einfach. Manchmal frage ich mich, was mit den sogenannten Monstern des Staates passiert ist, seit sie diese armen Jungen abgeschlachtet haben!“ Jowy verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass mit den wahren Mördern der Jugendbrigade überhaupt nichts geschehen war und sie fröhlich weiter mordeten, sondern zuckte nur die Achseln und entgegnete: „Das frage ich mich auch…“ Eine weitere Lüge, aber eine mehr oder weniger machte auch nichts mehr aus. „Gebt den Männern den Befehl, sich bereit zu halten“, seufzte er schließlich und warf einen Blick auf die unruhig wirkenden Soldaten, die sich an Deck des kleinen Schiffes tummelten. „Ich will keine Überraschungen erleben.“ „Ja, Sir!“ Wieder salutierte Lexa, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und marschierte davon. Jowy sah ihr nach und hörte nur mit halbem Ohr zu, während ihre Befehle zu ihm herüberschallten. Schließlich wandte er sich wieder ab und blickte wieder hinaus auf den kalten, abweisend wirkenden Dunan-See. Nicht zum ersten Mal seit vielen Wochen fragte er sich, wo Riou, Nanami und Pilika waren. Ob sie es geschafft hatten, aus der gefallenen Stadt zu fliehen. Ob sie zu den Glücklichen gehörten, die sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten, bevor die Highlander das ganze Fürstentum Muse in ihre Gewalt gebracht hatten. Die meiste Zeit versuchte er, nicht daran zu denken, was er getan hatte. Aber noch immer fuhr er mitten in der Nacht aus dem Schlaf, weil er glaubte, Anabelles Blut auf sich zu spüren, weil er ihre weit aufgerissenen Augen sah, das stumme Flehen… Und auch die Rune tat ihr Übriges, um ihn mehr schlecht als recht schlafen zu lassen. Gesichter und Bilder, Stimmen und Kampfgeräusche dominierten Nacht für Nacht seine Träume und nicht nur einmal sah er sich selbst Riou gegenüber stehen, mit gezogener Waffe und der Absicht, ihn zu töten. Diese Träume waren die schlimmsten. Seinen besten Freund blutüberströmt und halbtot zu sehen, gehörte eindeutig nicht zu den Dingen, von denen Jowy träumen wollte. Und außerdem führte es ihm nur allzu deutlich vor Augen, was er getan hatte… „Sir!“ Irgendwann würde er sicher noch einen Herzinfarkt bekommen vor Schreck. Unsanft aus seinen Gedanken gerissen, drehte sich Jowy zu dem Mann um, der salutierend vor ihm zum Stehen gekommen war. Er trug die typische Uniform der Highlander und die Abzeichen auf seiner Brust wiesen ihn als Leutnant aus; sein offenes, freundliches Gesicht mit den braunen Augen und den dunkelblonden Haaren, die ihm in die Stirn fielen, ließen nicht darauf schließen, dass er Soldat war. „Wir haben angelegt, Sir“, informierte der Mann ihn und runzelte die Stirn. „Oberst Russell wartet auf Euch.“ Runen, wie lange war er in Gedanken gewesen? Und dabei hatte er sich doch vorgenommen, sich das abzugewöhnen! „Danke“, nickte Jowy abwesend und blinzelte, um vollends zurück in die Wirklichkeit zu kehren. Zu allem Übel bekam er jetzt auch noch Kopfschmerzen… „Was wisst Ihr über die Situation in der Stadt, Jakob?“, erkundigte er sich, während er herumfuhr und übers Deck des Schiffes schritt, um es über die Rampe zu verlassen. Der Leutnant, der ihm auf dem Fuße folgte, warf dem Hafen, der vor Soldaten förmlich troff, einen schnellen Blick zu und erwiderte: „Soweit ich weiß, gehört bereits ein Viertel der Stadt uns. Lord Jhee persönlich führt eine Einheit gegen die Bürgerwehr von Kuskus an, also wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis die Stadt unter unserer Kontrolle ist.“ „Und wie sieht es mit der Verstärkung durch South Window aus, wissen wir schon etwas darüber?“ „Nicht, dass ich wüsste, Sir“, antwortete Jakob und kratzte sich am Hinterkopf. „Aber der Oberst kann Euch bestimmt mehr darüber sagen.“ „Wo ist er?“ „Er und seine Männer haben wohl auf die Schnelle ein Lager aufgeschlagen, ganz in der Nähe des Hafens. Ich bringe Euch hin!“ Jowy nickte dankbar und folgte seinem Untergebenen durch die Menschenmenge, die sich im Hafen tummelte. Die meisten Soldaten schienen weiter in Richtung Innenstadt zu streben, um sich an den Kämpfen zu beteiligen… Zu seinem großen Erstaunen akzeptierten die ihm unterstellten Männer – und in Lexas Fall auch Frauen – seine Autorität, obwohl er jünger war als sie und wahrscheinlich weitaus weniger geleistet hatte. Natürlich gab es durchaus Soldaten, die nichts von einem Jungen als Kommandant hielten, aber er hatte wohl gerade genug Glück, um diesen Leuten nicht zu begegnen. Nun, auch ein blindes Huhn fand wohl mal ein Korn. Als sie das eindeutig halbherzig errichtete Lager erreichten, war der Oberst gerade in ein Gespräch mit einem ranghöheren Offizier vertieft. Jedoch schien letzterer es eilig zu haben, denn er unterbrach Russell und wies in Richtung Stadt, ehe er ihm zunickte und wehendem Umhang zwischen den restlichen Soldaten verschwand. „Oberst!“ Jowy blieb neben seinem Vorgesetzten stehen und salutierte; noch immer fühlte er sich nicht gut dabei, doch nun musste er sich wohl daran gewöhnen, da er nicht plante, allzu bald das Militär zu verlassen. „Da bist du ja, Junge.“ Russell akzeptierte den Gruß mit einem Nicken und lächelte zufrieden. „Du kommst gerade rechtzeitig – der Bürgermeister von Kuskus hat soeben verkündet, dass sie aufgeben.“ „Oh“, machte Jowy und zwang sich, ebenfalls zu lächeln. „Das ist gut.“ Das Pferd, das man ihm gegeben hatte, tänzelte unruhig und Jowy hatte seine Müh und Not, im Sattel sitzen zu bleiben. Er war kein Reiter und das Tier, auf dessen Rücken er saß, schien das nur allzu deutlich zu spüren – aber vielleicht trug auch der Zug von Hunderten anderen Soldaten hoch zu Ross dazu bei, dass sich das Pferd nicht wirklich wohl fühlte. Sie hatten nicht viel Zeit in Kuskus verbracht, keine zwei Tage hatte Solon Jhee seine Männer ausruhen lassen, ehe er einige Tausend von ihnen abkommandiert hatte, ihn nach South Window zu begleiten, um die Stadt ebenfalls unter seine Kontrolle zu bringen. Der Großteil der 4. Kompanie blieb zurück in Kuskus, um sicher zu gehen, dass Jhees Einheit nicht von den Flanken attackiert werden würde. Hier im Fürstentum South Window würde die Highland-Armee leichtes Spiel haben, fand Jowy. Nicht nur, dass lediglich die Hauptstadt über eine nennenswerte Streitmacht verfügte – die sich nach dem Fall von Muse schneller von deren Ländereien zurückgezogen hatte, als Jowy schauen konnte – sie hatten auch keinerlei Angriffe zu befürchten. Im Osten des Fürstentums lagen nur ein paar kleine Dörfer und die Händlerstadt Radat und im Westen gab es ein paar Ruinen, die letzten Überreste der Burgstadt North Window, die wohl schon seit über zwanzig Jahren verlassen war. Es war fast zu einfach und mit jedem Schritt, den der Apfelschimmel unter ihm tat, tat es Jowy mehr leid, dass der Staat keine Chance gegen Highland hatte. Eigentlich war dieser Krieg schon längst entschieden… Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Verteidiger von Jowston das verstanden. Die Dächer und Mauern von South Window waren schon aus weiter Ferne erkennbar, da zwischen Kuskus und dem Herzen des Fürstentums nichts lag außer einer grasüberwucherten Ebene. Hier, wo weder Bäume noch Häuser ihn behinderten, blies der Wind kräftig und Jowy strich sich nicht zum ersten Mal genervt ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, die zu kurz für seinen Zopf waren und sich ständig daraus lösten. Glücklicher-weise war es wenigstens nicht mehr so kalt, die Schafskälte war vorbei und nun brach auch hier im Staat endlich der Sommer an, weshalb der Wind sogar recht willkommen war. „Ich traue der Sache nicht“, brummte einer der Generäle um Jowy missmutig. „Keine Vorhut, keine Späher… Was führen diese Staatler im Schilde?“ Der Aristokrat hob den Blick von seinen leicht verkrampften Händen, die die Zügel seines Pferdes hielten, und blickte gen Süden, wo sich die Stadt South Window klar gegen den Horizont abhob. Hinter der Stadt deutete ein dunkler Schatten auf einen dichten Wald hin und irgendwo dahinter erkannte man sogar Berge. „Vielleicht rechnen sie mit einem Angriff“, überlegte ein anderer Offizier, „und verbarrikadieren sich in der Stadt?“ „Solange sie keinen Hinterhalt planen…“ „Die verdammten Staatler hätten sowieso keine Chance!“, entgegnete ein dritter und lachte. „Wir haben die Schlacht um Muse gewonnen, dem Sieg steht nichts mehr im Wege!“ Sein Optimismus steckte die anderen Männer an, doch Jowy blieb stumm. So, wie er Granmeyer kennen gelernt hatte, planten die Verteidiger von South Window nicht besonders viel. Der Bürgermeister war zu alt, um selbst in den Krieg zu reiten, und auch die seltsame Bemerkung Lord Gustavs machte den Aristokraten ein bisschen stutzig. Der Fürst von Tinto hatte etwas darüber gesagt, dass die Armeen von South Window im Krieg gegen das Reich des Scharlachroten Mondes beim ersten Anzeichen von Blut geflohen waren… Aber er behielt seine Gedanken für sich und lauschte nur schweigend den Gesprächen um ihn herum. „Du bist so schweigsam heute“, bemerkte plötzlich jemand neben ihm. Jowy wandte den Blick von der näherkommenden Stadt ab und sah Russell ins Gesicht, der ihn seinerseits aus den Augenwinkeln beobachtete. „Nicht schweigsamer als sonst, Oberst“, erwiderte der Aristokrat dann kopfschüttelnd und lächelte etwas. Er mochte den Mann. „Ich habe über die Schlacht nachgedacht.“ Oder eher darüber, dass es wahrscheinlich gar keine geben würde. „Die Schlacht also“, brummte Russell und zog die linke Augenbraue hoch. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass es eine geben wird?“ „Wie… meint Ihr das?“ „Ich bin lange genug in der Armee, um zu wissen, wann Kämpfe bevorstehen und wann nicht. Was ist mir dir, Junge?“ Einen Augenblick zögerte Jowy noch, dann befeuchtete er seine durch Wind und Hitze leicht angetrockneten Lippen und gab zu: „Um ehrlich zu sein… nein. Ich glaube nicht, dass es zu einer Schlacht kommen wird. Granmeyer ist nicht der Typ Mensch, der-“ „Noch grün hinter den Ohren, aber über die Schlacht reden“, unterbrach einer der Offiziere neben ihm scharf. „Du solltest nicht über Dinge sprechen, von denen du keine Ahnung hast, Junge!“ Jowy biss sich auf die Lippe und hob den Blick in kalte, stahlgraue Augen. Das Gesicht dazu war kantig und unfreundlich, unangenehm blass, dazu ein Schopf rotblonder Haare, die unter dem Helm hervorblitzten. Die Abzeichen auf der Brust des Mannes wiesen ihn ebenfalls als Oberst aus. „Gemach, Jonas“, mischte Russell sich stirnrunzelnd ein. „Ich habe Jowy nach seiner Meinung gefragt, er hat nichts Anderes getan, als sie mir kundzutun. Ihr solltet ihn dafür nicht verurteilen.“ Der andere Oberst schnaubte, murmelte etwas Abfälliges und beschleunigte sein Pferd etwas, wodurch er außer Hörweite geriet. Jowy sah ihm bestürzt nach und Russell seufzte. „Nicht jeder ist glücklich über deinen allzu schnellen Aufstieg“, erklärte er schließlich und schüttelte den Kopf. „Wenn du dich nicht vorsiehst, wirst du bald in unseren Reihen mehr Gegner haben als bei unseren Feinden.“ „Hm…“ Das war Jowy selbst nur zu bewusst. Glücklicher machte ihn dieses Wissen aber auch nicht unbedingt. Früher einmal musste South Window eine blühende und beeindruckende Stadt gewesen sein, immerhin war sie das Handelszentrum des Staats. Es war wahrscheinlich noch gar nicht lange her, dass sich Händler durch die Straßen gedrängt hatten, beladen mit Waren und begleitet von ihren Gefolgsleuten samt Karren, doch an diesem Tag lag South Window wie ausgestorben da. Wie Jowy erwartet hatte, hatte Granmeyer bedingungslos kapituliert und die Tore der Stadt für die erste Kompanie von Highland öffnen lassen. Vielleicht war es besser so, überlegte der Aristokrat, während er Oberst Russell durch die leeren Straßen folgte. Es würde weniger unschuldige Opfer geben… allein schon, weil Luca Blight in Muse zurückgeblieben war. Jowy schauderte beim Gedanken an den Kronprinz und verdrängte die Erinnerung an ihn lieber schnell. Im Nacken spürte er die Blicke der Bewohner von South Window, die sich gegen die Fensterscheiben ihrer Häuser zu pressen und ihn zu beobachten schienen. Der Zug der wenigen Soldaten, die mit Solon Jhee mit in die Stadt gekommen waren, hielt an, als sie den Platz vor dem großen Rathaus erreichten. Das Gebäude an sich schien dem Rathaus aus Muse in nichts nachzustehen, der gepflasterte Weg zu der Steintreppe, die ins Innere führte, war gesäumt von sorgfältig angelegten Blumenbeeten und gepflegten Rasenflächen. Wie lange das noch so bleiben würde, war jedoch fragwürdig, da die ersten Highlander schon die Blumen zertrampelten und mit ihren schweren Stiefeln tiefe Spuren im Gras hinterließen. Solon Jhee stand in seiner glänzend weißen Rüstung im strahlenden Sonnenschein, oben vor der Doppeltür, die ins Innere des Rathauses führte. Ihm gegenüber, halb im Schatten des Vordachs, stand ein auf den ersten Blick überraschend gefasst wirkender Granmeyer, doch an der Art, wie den Rücken nicht wie gewohnt durchdrückte, sondern gebeugt hielt, erkannte Jowy, dass der alte Mann alles Andere als ruhig war. Ganz im Gegenteil, aber er hatte wohl keinen Sinn darin gesehen, seine Armeen in eine aussichtslose Schlacht zu schicken. „Ich erkläre diese Stadt zu Grundbesitz von Highland!“, donnerte Jhees Stimme über den Platz und das leise Gemurmel seiner Soldaten hinweg, das augenblicklich erstarb. „Nach highlandischem Gesetz wird jeder, der sich gegen das Königreich auflehnt, zu Tode verurteilt!“ Zwangsläufig fragte sich der Aristokrat, für wen der General diese Ansprache eigentlich hielt. Von den wenigen Hundert Soldaten, die anwesend waren, würde es wohl keiner wagen, sich gegen Highland zu stellen, und sonst… Er drehte den Kopf, um sich ein wenig umzusehen, und stellte überrascht fest, dass auch vereinzelte Zivilisten sich unter den Soldaten befanden – als ob Jhee Zeugen brauchte, die seine Botschaft weiter tragen würden. „Als amtierender Bürgermeister der Stadt South Window erkenne ich die Herrschaft des Königreichs Highland an“, erwiderte Granmeyer und selbst aus der Entfernung sah Jowy den Schmerz im Gesicht des alten Mannes. „Ich bitte Euch nur darum, die Bewohner zu verschonen.“ „Wir wollen ja nicht grausam sein“, entgegnete Solon Jhee, auch wenn sein Gesichtsausdruck etwas ganz Anderes versprach und dem Aristokraten unten auf dem Platz unwohl wurde. „Die Bewohner werden in Ruhe gelassen, wenn sie keinen Ärger machen. Mit dir, alter Mann, sieht es anders aus.“ Entsetzen breitete sich auf Granmeyers Gesicht aus und auch Jowy starrte ungläubig hoch zum General der 1. Kompanie. Bitte was? Granmeyer hatte kapituliert, er hatte nichts getan, um Solon Jhees Zorn auf sich zu ziehen! … Oder? „W-Wie meint Ihr das?“, fragte der alte Bürgermeister kaum hörbar, doch in der auf dem Platz entstandenen Stille hätte man wohl selbst eine Stecknadel fallen hören. „Wir haben kapituliert, Ihr könnt nicht…“ „Ich kann und ich werde, alter Mann!“, unterbrach Jhee ihn kalt. „Ich weiß, was in den Köpfen deiner Bürger vorgeht – sie warten nur auf den Augenblick, in dem ihr Widerstand stark genug sein wird, durch unsere Reihen zu brechen. Lasst mich euch etwas sagen, ihr Gewürm des Stadt-Staates!“ Er drehte sich zu den auf dem Platz versammelten Menschen um und blickte herablassend auf sie hinunter; auch seine eigenen Soldaten blieben nicht verschont vor der Betrachtung. „Ihr habt keine Chance gegen Highland. Aber das werdet ihr mir nicht glauben, nicht wahr? In euren Herzen wird weiter die Hoffnung keimen und der verzweifelte Wunsch, das Joch der Besatzung abzuschütteln.“ Während er gesprochen hatte, waren zwei Männer die steinerne Treppe hinaufgeeilt, die Granmeyers Berater zur Seite gestoßen und den Bürgermeister unsanft ergriffen hatten. Sie zerrten ihn aus dem Schatten ins Licht und drückten ihn mit Gewalt auf die Knie, sodass der alte Mann zu dem jüngeren aufsehen musste. „Ich werde euch eine Lektion erteilen“, fuhr Solon fort und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, das Jowy unangenehm an Luca Blight erinnerte. „Eine Lektion, die ihr niemals vergessen werdet, weil sie euch immer daran erinnern wird, dass mit Highland nicht zu spaßen ist.“ Mit einem furchtbar lauten, metallischen Geräusch zog der General sein Breitschwert aus der Scheide und drehte sich zu Granmeyer. Ein Raunen ging durch die Menge, auch die Highland-Soldaten hatten so etwas nicht erwartet. „Er wird doch nicht…!“, entfuhr es Jowy und er hatte bereits einen halben Schritt nach vorn gemacht, als Russells Arm aus dem Nichts hervorschoss und ihn am Weitergehen hinderte. „Bleib, wo du bist!“, zischte der Oberst ohne ihn anzusehen. „Aber er wird…!“ „Ja, das wird er. Aber es ist notwendig, um jeden Widerstand im Keim zu ersticken – andernfalls werden wir immer mit Rebellionen zu kämpfen haben.“ „Aber es ist grausam!“, beharrte Jowy und starrte seinen Befehlshaber ungläubig an. „Ihr könnt nicht einfach zulassen, dass er diesen Mann umbringt!“ „Es muss sein“, entgegnete Russell mit fester Stimme. „Dies ist der Weg des geringeren Übels, Jowy.“ Dem Aristokraten entwich ein verzweifeltes Ächzen und er hob den Blick wieder zu den Geschehnissen oben vor dem Rathaus. Solon Jhee hielt sein Schwert hoch erhoben, es glänzte matt im Sonnenschein. „Lasst euch das ein Beispiel sein – ein Beispiel dessen, was jedem widerfährt, der es auch nur wagt, aufzubegehren!“ Die Worte waren noch nicht in der fassungslosen Stille verklungen, da fuhr das Schwert auch schon nieder – und Jowy wandte den Blick ab. Er konnte das nicht mit ansehen. Durch die Reihen der Zuschauer gellte ein Schrei, doch auch er schaffte es nicht, das widerliche Geräusch zu übertönten, das ertönte, als Stahl auf Fleisch traf und Blut auf die steinernen Fliesen vor den Doppeltüren des Rathauses spritzte. Der Bürgermeister von South Window war tot – nichts, als ein weiteres Opfer in diesem furchtbar sinnlosen Krieg. Kapitel 35: Echos der Vergangenheit ----------------------------------- A/N: Ein Hoch auf meinen Vater, meine Daten wurden gerettet. Deshalb geht es jetzt mit ASAS weiter, allerdings unregelmäßig, weil Studium und gerade nicht so in der Suikoden-Stimmung. Ach ja: ungebetat. Trotzdem viel Spaß!! :) Kapitel 35: Echos der Vergangenheit Es war nicht so, dass Jowys Träume nicht ohnehin schon seit dem Fall von Muse von Blut, Tod und Mord dominiert gewesen wären. In dieser Nacht kam nun auch die Gewissheit hinzu, dass er erneut einen Unschuldigen nicht hatte retten können. Im Morgengrauen hatte er es aufgegeben, noch sonderlich viel Schlaf zu bekommen, es hatte ja doch keinen Sinn. Stundenlang hatte er sich von einer Seite zur anderen gewälzt und wenn er doch einmal eingenickt war, so war er doch schnell wieder aufgeschreckt. Er musste dringend frische Luft schnappen. Er verließ das Zelt, das er sich mit dem anderen Oberleutnant teilte – Jowy hatte sich noch immer nicht die Mühe gemacht, sich den Namen des älteren Mannes zu merken, den er ohnehin kaum zu Gesicht bekam – und sog tief die Nachtluft ein. Wenn es etwas gab, das er hasste, dann war es diese Hilflosigkeit. Natürlich war ihm klar gewesen, dass es nicht ganz ohne Opfer gehen würde, dass es Tote geben musste in dieser Sache. Aber dass er würde hilflos daneben stehen müssen, mit ansehen, wie Unschuldige ihr Leben ließen… Das zu begreifen und zu akzeptieren war ein Ding der Unmöglichkeit. Er wollte und konnte nicht zulassen, dass so etwas noch öfter passierte. Gab es denn keinen Weg, die Verluste in diesem Krieg möglichst gering zu halten? Ihm war bewusst, dass Luca Blight und die anderen Generäle von Highland keinen Wert darauf legten, den Krieg möglichst schnell zu beenden. Ihre Devise war es, Angst und Schrecken zu verbreiten, um ein für alle Mal die Konflikte zwischen den beiden Ländern zu klären und das Königreich als glorreichen Sieger hervorgehen zu lassen, gegen den sich niemand aufzulehnen wagte. Aber Jowy war keiner von ihnen. Er weigerte sich, so zu werden wie der Großteil der Soldaten in der Armee und sinnlos Menschen abzuschlachten. Aber er allein hatte keine Chance gegen den Rest des Königreichs. Gab es denn keine Möglichkeit…? Er spazierte ziellos durch die leeren Straßen von South Window, ohne wirklich auf seine Umgebung zu achten. Es mochte sein, dass die Stadt prunkvoller war als Muse und auch älter – immerhin war sie die Hauptstadt des Königreichs Dunan gewesen, das sich über die heutigen Territorien des Staatenbunds erstreckte – doch Jowy hatte keinen Blick dafür. Seine Gedanken wanderten von dem Mord an Anabelle zu dem an Granmeyer und er fragte sich, wie viele führende Personen der Staat noch verlieren würde, bis dieser Krieg beendet war. „Schnell jetzt! Beeilt euch!“ Er hielt inne, als er plötzlich Stimmen nicht weit von sich hörte. Wer auch immer da sprach, er bemühte sich leise zu sein – planten die Städter etwas…? Er vernahm Schritte, die zu einer Gruppe von Leuten zu gehören schienen. Was in aller Runen Namen war da los? Jowy presste sich an eine Hauswand und lugte um die Ecke, nur um überrascht den Atem anzuhalten. Auf der Straße, die zu einem der Nebentore der Stadt führte, bewegte sich eine Gruppe von mindestens 30 Personen, alles Frauen und Kinder. Sie eilten an ihm vorbei, ohne Notiz von ihm zu nehmen, und ein Teil von ihm verspürte bereits das Bedürfnis, Oberst Russell von diesem Fluchtversuch zu berichten – denn genau darum handelte es sich hier zweifellos – doch als er plötzlich eine der gehetzt wirkenden Frauen erkannte, konnte er nichts weiter tun als zu starren. Es war Rina. Ihr langes, schwarzes Haar war verdeckt von einem dunklen Tuch und sie sah viel älter aus, als er sie in Erinnerung hatte, doch es war ohne Zweifel das älteste Mitglied der Zirkustruppe, von denen er und Riou sich in Kyaro getrennt hatten, vor so, so langer Zeit. Sie blickte sich nervös zu allen Seiten um, bis die letzte Mutter samt Kind an ihr vorbeigelaufen war, dann folgte sie ihnen und Jowy wusste plötzlich genau, dass er diese Menschen unmöglich an die Highlander verraten konnte. Sie mochten ihn nicht gesehen haben – und Runen, er war nun wirklich niemand, dem man sein Vertrauen schenken sollte! – doch er fühlte sich ihnen verpflichtet. Was auch immer diese Leute dazu bewegt hatte, trotz Granmeyers grauenhaftem Schicksal zu fliehen, es reichte, um ihn auf ihre Seite zu bringen. Vielleicht konnte er nichts dagegen tun, dass die Highlander Menschen töteten, aber wie viele sie umbrachten, das konnte er regulieren, wenigstens dieses eine Mal. Jowy machte auf dem Absatz kehrt und eilte auf kürzestem Weg zurück zum Haupttor der Stadt. Die Flüchtlinge hatten sich für den längeren Weg entschieden, doch an sämtlichen Nebentoren von South Window waren Wachen postiert worden. Natürlich hatte er miterlebt, wie Rina für gewöhnlich mit Wachleuten umzugehen pflegte, doch irgendetwas sagte ihm, dass sie diesmal nicht so viel Erfolg haben würde. Er beeilte sich, die Stadtmauern bis zu dem Tor zu umrunden, zu dem die Gruppe der Frauen und Kinder höchstwahrscheinlich unterwegs war (er konnte nur beten, dass er nicht falsch lag) und stellte fest, dass die davor postierten Wachen wenig motiviert miteinander Chinchirorin spielten. In jeder anderen Situation hätte das genügt, damit die Flüchtlinge sich unbemerkt davon schleichen hätten können – doch hier führte ihr Weg zu dicht an den Highlandern vorbei, als dass diese sie nicht bemerken würden. Nun, da gab es wohl nur eine Lösung… „Ihr da!“ Die beiden Männer blickten zu ihm auf und sprangen erschrocken auf die Beine; er stand rangtechnisch über ihnen und hatte sie gerade dabei erwischt, wie sie alles Andere als ihrer Pflicht nachgingen. Vielleicht hatte es doch Vorteile, dass man ihm den Rang eines Oberleutnants verliehen hatte. „S-Sir!“ „Oberleutnant, bitte… bitte verratet uns nicht an General Jhee!“ Die beiden Männer schienen es wirklich mit der Angst zu tun zu bekommen. Zwangsläufig wunderte Jowy sich, ob sie ihn beim Duell gegen Rowd gesehen hatten, dass sie so eigenartig reagierten. Denn damals hatte er selbst Angst gehabt… „Warum sollte ich das nicht tun?“, entgegnete Jowy mit aller Kälte, die er aufbringen konnte. „Man hat euch beiden klare Befehle erteilt, ihr habt es jedoch vorgezogen, euch die Zeit zu vertreiben.“ „Sir, bitte…“ Beide Männer sahen ihn nun verzweifelt an. „Wir tun wirklich alles… alles!“ „Ich habe eine kranke Frau zu Hause und mein Sohn ist noch keine drei Jahre alt“, erzählte einer von ihnen mit bebender Stimme. „Bitte, es wäre ihr Tod, wenn ich kein Geld mehr nach Hause schicke!“ Jowy schnaubte, obwohl er sich selbst in diesem Augenblick zuwider war. Diese Männer waren auch nur Menschen… „Ihr feiges Pack solltet euch verziehen und schleunigst die Wachablösung holen!“, blaffte er unfreundlich und hoffte, dass diese Aktion lange genug dauern würde, damit die Frauen und Kinder fliehen konnten. „Bewegt euch! Oder muss ich erst den ranghöheren Offizieren Bescheid geben, dass ihr hier faulenzt anstatt zu arbeiten?!“ „N-Nein!“ „Da-Danke, Sir!“ Die Soldaten nahmen die Beine in die Hand und verschwanden zwischen den Zelten. Auch Jowy beeilte sich, sich von dem Torbogen zu entfernen und bezog in einiger Entfernung hinter einem Zelt Stellung, mit aller Macht hoffend, dass er sich nicht völlig geirrt hatte, was die Marschrichtung der Flüchtlinge anging. Doch ihm fiel ein Stein vom Herzen, als sich das Tor leise knirschend einen Spalt weit öffnete, breit genug, damit ein Mensch sich hindurch quetschen konnte. Nacheinander eilten Frauen und Kinder hinaus und Jowys Herz verkrampfte sich, als er mehr und mehr Leute erkannte. Apple, Barbara, Leona… Er verspürte einen schmerzhaften Stich in seinem Inneren, als er die bekannten Gesichter sah, die eins nach dem anderen im Torspalt erschienen. Natürlich sahen sie sich die betreffenden Personen nicht lange um, sondern liefen so schnell es ging davon, dicht gefolgt von Kindern und Zivilisten. Eines der Kinder kam ihm seltsam bekannt vor und er hätte beinahe schwören können, dass es sich um Pilika handelte, doch das Kind trug einen unförmigen, dunklen Umhang mit Kapuze, der Gesicht und Haare beinahe vollständig verdeckte. Aber wahrscheinlich war es ohnehin nur sein schlechtes Gewissen, das ihm einen Streich spielte. Schließlich trat Rina durch das Tor, deren Augen für einen kurzen Moment in ihre Richtung zu flackern schienen. Erschrocken sog Jowy scharf die Luft ein, doch die junge Frau wandte sich nur allzu schnell wieder ab und folgte dem Rest der Gruppe. Er atmete bereits erleichtert aus, als sich eine weitere Gestalt durch den Torspalt schob und Jowys Herzschlag vor Schreck einen Augenblick aussetzte. Derjenige, der da gerade aus der Stadt gekommen war, war weder eine Frau noch ein Kind, wie der Rest der Flüchtlingsgruppe. Nein, es war ein hochgewachsener, schlanker Mann in einem langen, dunkelblauen Umhang, den Jowy nur allzu gut kannte. Flik. Warum war er in der Stadt gewesen? War Viktor nicht bei ihm? Hatten sie Riou getroffen? Ging es ihnen allen gut? Viel zu viele Fragen jagten einander in seinem Kopf, während er zusah, wie der Söldner das Tor wieder zuschob und den Anderen folgte. Doch zum ersten Mal seit dem Fall von Muse, ja, eigentlich seit seiner Gefangennahme im Highland-Camp fühlte sich Jowy so, als habe er das Richtige getan. Er konnte nur hoffen, dass das Schicksal es gut mit ihm meinte. Die Flucht schien unbemerkt geblieben zu sein, denn während der nächsten Tage machte keiner Anstalten, die Wachposten zu verstärken. Jowy hatte beschlossen, den Vorfall tatsächlich zu verschweigen und zu hoffen, dass Flik und die anderen ein sicheres Versteck gefunden hatten. Jetzt konnte er nämlich nichts mehr für sie tun. Was auch immer die Obrigkeit in der Armee als Nächstes plante, es schien keine Eile zu haben. Eine Woche zog unbemerkt an den Besatzern von South Window vorbei und auch eine zweite verging, ohne, dass die highlandischen Truppen sich bewegten. Aber andererseits gab es nun auch nicht mehr viel zu tun in den Ländereien von South Window – die einzige Stadt, die über nennenswerte Streitkräfte verfügte, stand unter highlandischer Kontrolle, der Hafen in Kuskus war abgesperrt und ohne den regen Handel mit den umliegenden Dörfern und Städten würde auch die Händlerstadt Radat sehr bald untergehen. Leider behielt Solon Jhee Recht und die Enthauptung ihres Bürgermeisters versetzte die Bürger von South Window dermaßen in Angst, dass keiner es wagte, offen gegen das Königreich anzugehen. Natürlich gab es hier und dort doch Rebellen und Widerständler, doch die kleinen Ausbrüche wurden schneller niedergemacht als sich etwas Ernsthaftes daraus entwickeln konnte. Und Granmeyers abgeschlagener Kopf hing als düsteres und grausames Mahnmal noch immer über den Toren des Rathauses. Als Jowy beinahe zweieinhalb Wochen nach der Besatzung von South Window ein verspätetes Abendessen einnahm – es war längst dunkel geworden – drangen die Stimmen einiger Offiziere an seine Ohren. Die Männer saßen um ein großes Feuer versammelt und unterhielten sich, sodass er auf seinem Weg zurück von den Kantinenzelten nicht umhin kam, ein bisschen von ihrem Gespräch aufzuschnappen. „… noch immer nicht glauben, dass der alte Granmeyer so schnell kapituliert hat.“ „Ja, wo er doch gegen das Reich des Scharlachroten Mondes immer ganz vorne mit dabei war, wenn es darum ging, Krieg zu führen!“ „Hat wahrscheinlich aus seinen Fehlern gelernt, der alte Sack. Gerüchten zufolge soll ja ein Silverberg dem Kaiserreich im Torrunenkrieg geholfen haben, da hatte der Staat doch gar keine Chance!“ „Silverberg? Etwa einer von den Silverbergs?“ „Aber ja! Wie viele Strategenfamilien kennst du denn noch?!“ Das Gespräch ging noch weiter, doch in Jowys Kopf hatte es bereits zu arbeiten begonnen. Der Torrunenkrieg. Er hatte in Muse ein Buch darüber gelesen und auf diese Weise nicht wenig über die Silverbergs erfahren. Da war Odessa Silverberg gewesen, die die Befreiungsarmee gegründet und später unter unbekannten Umständen verstorben war, wonach Tir McDohl die Führung übernommen hatte. Und Mathiu Silverberg, ihr Bruder, der nur kurz nach der Schlacht um Gregminster einer tödlichen Wunde erlegen war. Aber es hatte noch einen anderen gegeben, einen dritten Silverberg, der in der Chronik des Torrunenkrieges nur ein einziges Mal erwähnt worden war, als die Schlacht um die Festung Shasarazade getobt hatte, und sich nach Ende des Kriegs Gerüchten zufolge wieder nach Kalekka zurückgezogen hatte, wo er vor seiner Rekrutierung im Torrunenkrieg viele Jahre gelebt haben sollte. Und was, wenn…? In seinem Kopf reifte langsam ein Plan heran, der so wahnwitzig und absolut verzweifelt war, dass er einfach aufgehen musste. „Oberst?“ Der Mann drehte sich zu Jowy um und sah ihn überrascht an. Es war noch früh am Morgen und offensichtlich hatte Russell noch keinen erwartet; der Oberst war nicht vollständig bekleidet und sah aus, als ob er gerade erst aus dem Bett gekrochen wäre. „Jowy“, sagte er erstaunt, „was kann ich für dich tun?“ „Guten Morgen, Oberst“, erwiderte Jowy förmlich und salutierte. „Ich… Ich habe eine Bitte.“ „Wenn es nicht einmal bis zum Frühstück warten konnte, muss es wohl dringend sein“, seufzte Russell, wischte sich müde übers Gesicht und wies zu dem Tisch und den zwei Stühlen, die in seinem Zelt standen. „Setz dich, Junge. Kann ich dir einen Tee anbieten?“ „Nein, danke…“ Jowy setzte sich auf die Kante des ihm angebotenen Stuhls und fühlte sich, als würde er jeden Moment explodieren. Er wollte und konnte jetzt eigentlich nicht sitzen… Aber ihm war klar, dass er ohnehin die Gastfreundschaft seines Befehlshabers strapazierte. „Du hast also eine Bitte“, stellte der Oberst fest und ließ sich auf den Stuhl Jowy gegenüber sinken. Er wirkte entspannt, wenn auch müde. „Was ist es?“ „Ich… möchte Euch darum bitten, mich vom Dienst zu befreien.“ Russells buschige Augenbrauen wanderten in die Höhe, ehe er sie zusammenzog und fragte: „Warum sollte ich das tun?“ Er kratzte sich über den beachtlichen Bart an seinem Kinn. „Ich muss etwas erledigen.“ Jowy sah seinem befehlshabenden Offizier fest in die dunkelgrünen Augen, doch dieser schüttelte den Kopf und sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Fahnenflucht ist ein schweres Vergehen, Junge“, brummte Russell. „Eigentlich sollte ich dich sofort festnehmen lassen… Das hätte ich sogar schon vor zwei Wochen tun müssen, als du General Jhee aufhalten wolltest.“ „Ich habe nicht vor, zu desertieren“, widersprach Jowy und schüttelte den Kopf. „Ich bitte Euch auch nicht darum, mich völlig vom Dienst zu befreien. Gebt mir lediglich zwei Wochen!“ „Zwei Wochen, um was zu tun, Jowy?“, fragte der Oberst grimmig. „Du weißt, dass Solon Jhee in ein paar Tagen die Ruinen von North Window angreifen will, um die Rebellen ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen. Wir haben jetzt keine Zeit für eigennützige Missionen!“ Rebellen? Was für Rebellen? Manchmal verfluchte er sich selbst dafür, dass er in den militärischen Besprechungen mit den Gedanken ganz woanders war. „Sie ist nicht eigennützig“, log der Aristokrat schließlich mit einem Seufzen und schob den Gedanken an irgendwelche Rebellen erst einmal weit fort, dabei hoffend, dass er sich nicht verriet. Aber im Lügen war er ja inzwischen fast schon ein Meister… „Und was ist bitte so wichtig, dass du kurz vor einer großen Operation der Highland-Armee gehen willst?“, verlangte Russell zu wissen. „Ich möchte nach einem Strategen suchen.“ Es war besser, wenigstens teilweise die Wahrheit zu sagen, bevor er sich in wüsten Geschichten verstrickte. „Wir haben Strategen und mehr als genug.“ Der Oberst stöhnte. „Sie treten sich allmählich schon gegenseitig auf die Füße, du musst nur ein Blick in das Zelt werfen, das sich diese aufgeblasenen Idioten teilen.“ „Dieser Stratege könnte die Wendung im Krieg bedeuten!“ Das hieß, wenn Jowy ihn überzeugen konnte, gegen anstatt mit Luca Blight zu arbeiten. „Wenn er noch lebt, ist er das größte militärische Genie dieser Welt! Ich kann nicht… zulassen, dass ihn womöglich jemand Anders anwirbt und all unsere bisherigen Bemühungen zunichte macht.“ Immerhin das entsprach der Wahrheit, auch wenn die Bemühungen, von denen er sprach, nicht zwangsläufig die der Armee von Highland waren. Er wusste, wie verrückt der Plan war und dass es streng genommen nicht einmal wirklich einer war. Vielmehr ein verzweifelter Versuch, nicht sang- und klanglos unterzugehen im Angesicht seiner eigenen Hilflosigkeit… Russell strich sich müde übers Gesicht und brummte: „Solon Jhee wird das gar nicht gefallen.“ „Er muss es nicht wissen.“ Der Oberst schnaubte, sagte jedoch nichts. Einen Moment lang war es still, dann begann der Teekessel im hinteren Bereich des Zeltes so durchdringend zu pfeifen, dass Jowy erschrak. Russell erhob sich, nahm den Kessel von der kleinen Eisenplatte, in die eine Feuerrune eingraviert war, und goss kochendes Wasser in eine große Tasse, die daneben auf einem kleinen Tisch stand; sofort breitete sich der Duft von frisch aufgebrühtem Tee im Zelt auf. Dann seufzte der Oberst, drehte sich zu dem jüngeren Offizier um und sagte: „Ich kann dich gut leiden, Jowy. Du bist ein guter Soldat und deine Männer gehorchen dir, ohne dass du viel dafür tun musst, obwohl du jünger und unerfahrener bist als sie. Aber kurz vor einer Schlacht einfach so zu verschwinden, wirft überhaupt kein gutes Licht auf dich.“ „Oberst, bitte“, flehte der Aristokrat und stand auf. „Ich bitte Euch nicht darum, mich ganz zu entlassen. Es geht nur um zwei Wochen. Ich werde zurückkommen, egal wie das Ergebnis meiner Suche ausgeht.“ Sie sahen sich an, grau gegen dunkelgrün, und Jowy gab bereits die Hoffnung auf, wohlwollend Urlaub zu bekommen, dann seufzte Russell schwer, stellte die Tasse auf dem Tisch ab und brummte: „Zwei Wochen, Junge. Wenn du in genau zwei Wochen nicht wieder hier bist, werde ich Solon Jhee Bescheid geben und ein Verfahren wegen Fahnenflucht gegen dich einleiten.“ „Danke, Oberst.“ Russell kratzte sich am Kinn und fuhr fort: „Ich werde dich für heute Abend zur Lagerwache einteilen. Dann kannst du von mir aus in alle vier Himmelsrichtungen verschwinden… aber lass dich nicht erwischen. Sonst habe ich mit all dem nicht zu tun.“ „Ich verstehe.“ „Pass auf dich auf, Jowy“, schloss Russell kopfschüttelnd. „Es wäre eine Schande, einen so guten Mann wie dich zu verlieren.“ Oh, wenn der Oberst nur gewusst hätte, was Jowy da plante! Dann wären seine Abschiedsworte sicher anders ausgefallen… Aber das war wohl sein Schicksal – die Leute, die ihm vertrauten, zu hintergehen. Und allmählich bekam er ja wirklich Übung darin… Fünf Tage später war sich Jowy absolut sicher, dass es keinen Ort auf dieser Welt gab, den er mehr hasste als die Ödlande, die zwischen der Republik Toran und den Vereinigten Stadt-Staaten von Jowston lagen. Er hatte vor seiner Abreise alte Karten gewälzt und sich vergewissert, dass es einen Weg nach Toran gab, der nicht einen furchtbaren Umweg bedeutet hätte, und war von South Window in Richtung Süden gereist. Nur einen Tag später hatte er das Land des Fürstentums verlassen und die neutralen Ödlande betreten, die eine natürliche Grenze zwischen Toran und Jowston waren. Und absolut verabscheuungswürdig. Hier gab es einfach nichts – so weit man sah, nur ausgetrocknete Erde, die von tiefen Rissen durchzogen war, hier und da vertrocknete Pflanzen und von Zeit zu Zeit ein paar Tiere, die in dieser Einöde noch nicht eingegangen waren. Immerhin war er geistesgegenwärtig genug gewesen, um dem Fluss zu folgen, der aus dem Dunan-See Richtung Süden direkt in den Toran-See floss; so mangelte es ihm wenigstens nicht an Trinkwasser oder Proviant. Auch, wenn er Fisch langsam nicht mehr sehen konnte… Müde wischte sich Jowy über das sonnenverbrannte Gesicht und fragte sich, ob es jemals jemand geschafft hatte, durch die Ödlande zu reisen, ohne diesen Landstrich zu verfluchen. Hatte es überhaupt schon einmal jemand geschafft, ihn zu durchqueren? Bei der Hitze, die hier herrschte, bezweifelte er das irgendwie… Er verbrachte die Nacht am Ufer des Flusses und überquerte ihn am nächsten Morgen, sich insgeheim fragend, ob überhaupt jemand diese Grenze von Toran bewachte. Aber dann dachte er daran, wie sehr er die Ödlande hasste – und dass wohl niemand, der noch ganz bei Trost war, den selben Weg wählen würde. Nun… er hatte niemals behauptet, noch ganz bei Trost zu sein. Immerhin plante er, Luca Blight umzubringen. Wenn das nicht völlig verrückt war, dann wusste er auch nicht… Er ging zielstrebig nach Südosten. Jedenfalls hoffte er das stark, da er keinen Kompass eingesteckt hatte und in dem Bergwald, in den er nun geraten war, absolut alles gleich aussah. Jowy hatte keine Ahnung, ob er noch in die richtige Richtung ging – er konnte lediglich hoffen, dass er bald aus diesem Wald herauskam, um sich vernünftig zu orientieren; die Sonne konnte ihm nämlich zurzeit auch nicht viel weiterhelfen, weil es bewölkt war, seit er die Ödlande verlassen hatte. Immerhin war es im Wald angenehm kühl… Es war Mittagzeit und Jowy dachte bereits daran, eine Pause einzulegen, um seine schmerzenden Füße etwas auszuruhen, doch dann hörte er eine Stimme durch den Bergwald schallen: „Junger Herr, bitte wartet! Ihr könntet hier verloren gehen und was soll ich dann Pahn und Cleo erzählen?“ Zur Antwort ertönte ein Lachen, das nach einem Jungen in etwa Jowys Alter klang, und eine zweite Stimme erwiderte: „Ich gehe schon nicht verloren! Beeil dich ein wenig, ja?“ Im nächsten Moment trat ein dunkelhaariger Junge zwischen den Bäumen hervor und einen Moment lang glaubte Jowy, er sähe nicht recht. „R-Riou…?“, entwich es ihm ungläubig und der Junge vor ihm drehte sich verblüfft zu ihm um. „Wie bitte?“, fragte er überrascht und sah den Aristokraten fragend an. Dieser lief rot an und wäre am liebsten im Erdboden versunken, so peinlich war ihm die Situation. Das war nicht Riou… aber er konnte nicht leugnen, dass eine große Ähnlichkeit bestand. Der Fremde hatte braune Augen und dunkles Haar und selbst seine Größe stimmte in etwa mit der von Riou überein, wie der freundliche Ausdruck auf seinem Gesicht, an dem es wohl hauptsächlich gelegen hatte, dass er den Unbekannten mit seinem besten Freund verwechselt hatte. Aber bei genauerem Hinsehen gab es viel mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Die braunen Augen waren viel heller als die von Riou, mehr karamellfarben. Die Haare waren schwarz und nicht dunkelbraun wie die seines besten Freundes. Er trug einen roten Überwurf, den er mit einem schwarzen Gürtel um die Hüfte fixiert hatte, und darunter ein weißes, kurzärmeliges Hemd und eine beige Pluderhose; seine Hände steckte in Handschuhen und er hielt einen Kampfstab, der momentan wohl eher als Wanderstab fungierte. Doch das Auffälligste an ihm war ein grünes Kopftuch, das er zu einer Bandana gebunden trug. Und außerdem wirkte der Junge vor ihm so, als hätte er bereits sehr, sehr viel gesehen… Irgendetwas in diesen Augen erinnerte ihn mehr an Leknaat als an seinen Freund. Fast so, als wäre der Junge viel älter als er aussah. Ein leises Seufzen entfuhr Jowy, dann neigte er leicht den Kopf und sagte: „Tut mir leid, ich habe dich mit jemandem verwechselt.“ „Oh“, machte der fremde Junge und grinste dann, „das macht nichts. Ich war nur überrascht, jemanden hier zu treffen.“ Das war Jowy auch, aber bevor er etwas sagen konnte, tauchte ein gehetzt wirkender Mann neben dem Jungen auf und rief: „Junger Herr, Ihr solltet wirklich auf mich warten!“ Dann bemerkte er Jowy und runzelte die Stirn. „Ich hoffe, es ist alles in Ordnung, junger Herr?“ Er sprach den Jungen an, nicht den Aristokraten, der diese Tatsache etwas verwirrend fand. „Aber ja, Gremio“, erwiderte der junge Herr. „Mach dir nicht immer so viele Sorgen. Davon bekommst du Falten!“ Sein Diener – war der Mann einer? – pustete sich ein paar Haarfransen aus der Stirn und nickte wenig überzeugt. Gremio – so hatte ihn der Junge genannt – war von auffällig schlankem Wuchs, hatte langes, blondes Haar, das er in einen lockeren Zopf gefasst trug, und grüne Augen; auf seiner linken Wange prangte eine große Narbe in Form eines schiefen Kreuzes, als habe ihn jemand markieren wollen. Der Blonde trug ein blaues Hemd und eine Hose in einem etwas dunkleren Ton, doch von dieser Kleidung sah man kaum etwas, da sie größtenteils von einem hellgrünen Umhang verdeckt wurden. Genau wie die Axt, die er in der Hand hielt. Plötzlich merkte Jowy, dass seine Rune ziepte und eine eigenartig dunkle Präsenz ihn abzutasten schien. Doch das Gefühl verschwand genau so plötzlich, wie es gekommen war und er dachte nicht weiter darüber nach. Abwesend kratzte er über die Haut unter dem Verband und fragte dann schnell: „Ihr könnt mir nicht zufällig sagen, ob ich auf dem richtigen Weg nach Kalekka bin? Ich… muss jemanden besuchen und habe irgendwie das Gefühl, mich völlig verlaufen zu haben.“ Er hatte nicht nur das Gefühl, es war tatsächlich so. Narr, schien die Rune des Schwarzen Schwertes in seinen Gedanken zu murmeln, doch da sie dabei eigenartig erheitert klang, achtete er nicht weiter darauf. Sie beleidigte ihn ohnehin ständig. Der dunkelhaarige Junge und sein Begleiter wechselten einen Blick, dann betrachteten sie Jowy aufmerksam, als würden sie ihn zum ersten Mal sehen. Schließlich machte der Junge ein mitfühlendes Gesicht und fragte: „Hast du jemanden im Krieg verloren?“ Jowy schluckte. Ja, so konnte man es ausdrücken. Wäre der Krieg nicht gewesen, hätte er seine Mutter nicht verloren. Oder Riou. Nanami. Pilika… „Ja…“, antwortete er daher und seufzte, obwohl er wusste, dass sein Gegenüber eigentlich etwas Anderes gemeint hatte. „Das tut mir leid“, sagte der Junge ehrlich, „ich weiß, wie sich das anfühlt.“ Jowy sah auf in die dunklen Augen. Wusste er das wirklich? Er wirkte nicht wie der Typ Mensch, der solche Sachen nur so dahinsagte. „Schon gut“, winkte Jowy ab. „Das Leben geht weiter.“ Oder zumindest das, was davon übrig war. Der Junge lächelte. „Wenn du nach Kalekka willst, dann bist du etwas zu weit nach Osten gegangen“, erklärte er freundlich. „Es liegt in…“ Er runzelte die Stirn und schien zu überlegen, doch sein Diener kam ihm zu Hilfe: „In der Richtung.“ Gremio wies nach links, tiefer hinein in den Wald. „Wenn du weiter in diese Richtung gehst, kommst du heute Nachmittag noch in Kalekka an.“ „Danke“, sagte Jowy, überrascht darüber, dass die beiden ihm tatsächlich weiterhalfen. Machte er einen derart vertrauenswürdigen Eindruck auf Fremde? Der Junge nickte und erwiderte: „Aber es gibt dort wirklich nicht viel zu sehen, also sei nicht allzu enttäuscht. Das Dorf ist fast völlig zerstört.“ „Oh, das ist schon in Ordnung“, entgegnete der Aristokrat und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich habe nicht vor, dort sonderlich viel zu tun…“ „Dann eine gute Reise“, nickte der dunkelhaarige Junge. „Und… viel Glück, bei was auch immer.“ „Danke. Euch auch.“ Sie verabschiedeten sich und der dunkelhaarige Junge und sein Diener verschwanden wieder zwischen den Bäumen. Während sich Jowy umwandte, um in die angegebene Richtung zu gehen, hörte er Gremios leiser werdende Stimme: „Junger Herr, war das wirklich in Ordnung?“ „Ich habe in seinen Augen keine Lüge gesehen, Gremio. Er wird schon nicht…“ Was er auch immer er nicht tun würde, verstand er nicht mehr, weil die beiden außer Hörweite verschwanden. Aber er kümmerte sich auch nicht wirklich darum. Jetzt, wo er wusste, dass er kurz vor seinem Ziel war, beeilte er sich noch mehr. Wenn nur seine Rune nicht so geziept hätte… Kapitel 36: Erfolge und Niederlagen ----------------------------------- Er klopfte an der Tür der verfallenen Hütte und hoffte, dass jemand zu Hause war. Es war zu hell, um ein Licht anzuzünden, immerhin war noch heller Tag. War überhaupt jemand da? Das ganze Dorf war völlig verwüstet und das seit über einem Jahrzehnt, war hier überhaupt auch nur eine Menschenseele? Keiner antwortete. Irgendwie wunderte es Jowy kein Stück, dennoch klopfte er erneut und rief: „Ist jemand zu Hause?“ „Verschwinde!“, kam eine Stimme von innen und bestätigte ihm damit, dass der Bewohner des Hauses tatsächlich daheim war. Ob ihm das weiterhalf, war eine andere Frage, aber dieses Haus war als einziges noch bewohnbar – auch, wenn ein mittelgroßes Loch im Dach klaffte. Aber wahrscheinlich regnete es hier ohnehin nicht so oft… „Ich suche jemanden!“, rief Jowy hinein, doch als wieder niemand reagierte, drückte er die Tür vorsichtig auf. Sie knarrte laut, schwang jedoch auf und gab den Blick auf einen älteren Mann frei, der an einem großen Tisch im einzigen Raum saß und offensichtlich in einem Buch gelesen hatte. Er hatte kurzes, dunkelbraunes Haar, das genau wie sein Schnauzbart bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen wurde, und trug einen dunklen, schweren Mantel über einer grauen Stoffhose. Um den Hals trug er einen grauen Schal und zwangsläufig fragte Jowy sich, ob der Mann fror. „Welchen Teil von verschwinde hast du nicht verstanden, Junge?“ Der Mann machte keine Anstalten, sich zu erheben, sondern blickte nur wieder in sein Buch und ignorierte ihn. „Ich suche Leon Silverberg“, sagte Jowy und machte ein paar Schritte auf den Mann zu. „Seid Ihr es?“ „Leon Silverberg ist tot“, brummte der Mann zur Antwort. „Und jetzt verschwinde endlich.“ Er stellte das Buch auf und vergrub sich demonstrativ dahinter, nicht gewillt, sich weiter zu unterhalten. Jowy ließ die Schultern sinken. Das war doch ein Scherz, nicht wahr? Hatte er sich etwa völlig umsonst nach Kalekka begeben? Er schluckte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und fuhr sich mit der Hand müde übers Gesicht. Er war umsonst hierher gekommen… Aber er konnte ja wohl kaum hier bleiben und diesen Mann weiter belästigen, der ohnehin nicht bester Laune zu sein schien. Jowy seufzte leise und öffnete bereits den Mund, um sich für die Störung zu entschuldigen und schnell zu verschwinden, als sein Blick auf den Umschlag des Buches fiel. Raffiniert. „Ich… brauche Eure Hilfe, Sir“, sagte Jowy ernst und starrte sein Gegenüber unverwandt an. Der Mann blickte entnervt erneut von seiner Lektüre auf und blaffte: „Ich bin nicht Leon Silverberg, Junge! Ich habe dir doch gesagt, dass er tot ist!“ „Und warum lest Ihr dann ein Buch über Kriegsführung? Ihr seid ein bisschen zu alt, um einer seiner Schüler zu sein – wenn er denn überhaupt welche hatte.“ Der Mann sah ihn einen Moment lang wortlos an und schnaubte dann amüsiert. „Du bist intelligenter als viele andere, die hergekommen sind. Aber das muss nichts heißen“, brummte er. „Seid Ihr Leon Silverberg?“ „Was, wenn ich es bin?“ „Dann bitte ich Euch um Hilfe“, sagte Jowy und suchte die dunklen Augen des Strategen nach Verständnis ab. „Lass mich raten, Junge“, schnaubte Silverberg, legte das Buch weg und verschränkte die Arme. „Du bist ein junger, aufstrebender Rebellenanführer und willst das Land, aus dem du kommst, vom Joch eines grausamen Kaisers befreien. Oder bist du ein Stiefellecker des besagten Kaisers und nur hier, um einen berühmten Strategen für deinen Lehnsherren zu finden, damit du weiter in seiner Gunst steigen kannst?“ „Ich bin… weder das eine, noch das andere“, entgegnete Jowy leise. „So? Dann überrasch mich und erzähl mir deine Geschichte.“ Gelangweilt sah der alte Stratege ihn an. „Vielleicht ist die deine ja nicht wie alle anderen.“ „Mein Name ist Jowy. Ich… bin das, was die Menschen einen Verräter nennen“, begann der Aristokrat zögernd. „Ich habe zuerst mein Land verraten und dann meine Freunde, um meine eigene Haut zu retten.“ Er sah Silverberg eine Augenbraue heben. Dann fragte der Stratege: „Und was soll ich für dich tun, Junge? Ich bin Stratege, kein Seelsorger. Such dir gefälligst eine andere soziale Auffangstation!“ „Habt Ihr von Luca Blight gehört?“ Er musste wohl oder übel mit offenen Karten spielen, wenn er diesen Mann davon überzeugen wollte, ihm zu helfen. Denn der alte Stratege sah keineswegs so aus, als ob er Lust dazu hatte, jedem Dahergelaufenen zu helfen… „Der gefürchtete Schrecken aus dem Norden?“ Leon Silverberg schnaubte. „Kein Kaiser, sondern ein verrückter Kronprinz. Es läuft aufs Selbe hinaus.“ „Ich weiß, dass es nahezu unmöglich ist, diesen Mann umzubringen“, fuhr Jowy fort, plötzlich sicherer. „Er besitzt Stärke, mit der sich kein normaler Mensch messen kann, und ist genauso grausam wie heimtückisch.“ „Deinen Feind kennst du gut“, bemerkte Silverberg. „Aber wozu brauchst du mich?“ „Ich brauche Euch, um die Welt vor seinem Wahnsinn zu bewahren“, erklärte der junge Aristokrat. „Ihr seid dafür bekannt, dass Ihr einen Krieg beenden könnt und dabei einen möglichst geringen Schaden hinterlasst. Ich brauche Euch, um sein Vertrauen zu gewinnen, um ihm schließlich ein Messer in der Rücken jagen zu können… das bin ich denen, die ich verraten habe, schuldig.“ Der alte Stratege bedachte ihn mit einem langen Blick, ehe er feststellte: „Du bist ein Verräter, wie er im Buche steht.“ „Das bin ich.“ „Bist du etwa stolz darauf, Junge?“ Jowy lächelte bitter. „Das nicht. Aber es ist alles, was mir geblieben ist.“ Leon Silverberg lachte leise und sagte schließlich: „Gib mir ein paar Stunden.“ „Zum Überlegen?“ „Zum Packen. Ich werde dir helfen, Junge… Luca Blight ist ein Monster, das gestoppt werden muss. Und ich sehe, dass du die Kraft dazu hast. Die Kraft, das Schicksal zu ändern.“ Erschrocken sah Jowy seinen neuen Verbündeten an und blinzelte. Automatisch berührte er mit den Fingern der linken Hand den verbundenen Handrücken der rechten, um sich zu vergewissern, dass der Verband nicht verrutscht war und nichts offenbart hatte. „Wie kommt Ihr darauf?“, fragte er alarmiert. Silverberg erhob sich von seinem Stuhl, hob eine Augenbraue und antwortete: „Vor ein paar Jahren habe ich einen Jungen getroffen, der dir gar nicht so unähnlich war. In seinen Augen hat das gleiche Feuer gebrannt, wie in deinen. Ich erkenne den Träger einer Wahren Rune, wenn ich ihn sehe.“ Dann bemerkte der Stratege wohl den panischen Ausdruck auf Jowys Gesicht und fügte hinzu: „Aber keine Sorge, Junge, ich kann ein Geheimnis für mich bewahren. Also hör auf, mich anzusehen, wie ein verschreckter Bonbon-Frischling.“ „Ich… Danke, Sir.“ „Bedank dich bei mir, wenn der Krieg vorbei ist“, brummte Silverberg. „Und mach endlich die Tür zu, es zieht!“ Jowy beobachtete Leon über den Rand der Tonschüssel hinweg, die ihm der Mann wortlos hingestellt hatte, bevor er sich daran gemacht hatte, seine Habseligkeiten in eine große Tasche zu packen. In der Schüssel befand sich gewöhnlicher Haferbrei, doch für Jowy, der den ganzen Tag über noch nicht so viel gegessen hatte, hätte es genau so gut ein Drei-Gänge-Menü sein können. Die Stille war ihm unangenehm und der Aristokrat überlegte fieberhaft, was er sagen konnte, um sie zu brechen. Er hasste diese Art von gespanntem Schweigen, immerhin konnte er nichts Anderes tun als darauf zu warten, dass der Stratege seine Besitztümer verstaute. Schließlich – mehr aus der Not heraus, wenigstens irgendetwas zu sagen – begann er, seine Geschichte zu erzählen. Er blickte hinunter in die inzwischen geleerte Schüssel und berichtete, zuerst stockend, dann immer flüssiger, von all den Dingen, die er erlebt und gesehen hatte, seit die Jugendbrigade wie gewöhnliches Vieh abgeschlachtet worden war. Während er erzählte, wurde ihm erst so richtig bewusst, wie nötig er sich all das von der Seele hatte reden müssen. All die Geheimnisse, all die Lügen hatten stärker auf ihm gelastet, als er gedacht hatte, und jetzt, da er Silverberg ohnehin schon die Wahrheit über sein Kommen offenbart hatte, konnte er nicht mehr anders, als ihm auch den Rest der Geschichte zu erzählen. Leon unterbrach ihn nicht, sondern hörte schweigend zu, während er weiterhin packte, und Jowy war ihm fast ein bisschen dankbar dafür. Als er schließlich geendet hatte und doch aufblickte, stellte er fest, dass inzwischen einige Stunden vergangen waren und der alte Stratege schon längst fertig damit war, seine Tasche zu packen. Dass er ihn nicht unterbrochen hatte, zeugte wohl davon, dass der Aristokrat Silverbergs Interesse geweckt hatte. Ob das gut war, würde sich noch zeigen. Jowy biss sich auf die Lippe und wartete auf eine Reaktion seitens des älteren Mannes, doch der warf nur einen Blick aus dem Fenster nach draußen und fragte: „Wie viel Zeit hast du noch, um zurück in den Staat zu kommen?“ Oh je, das klang nicht allzu gut. Hatte es sich der Stratege doch anders überlegt und würde hier bleiben? „Etwas mehr als eine Woche“, antwortete er und harrte dann der Dinge, die da kommen würden. Leon brummte unbestimmt, dann stellte er die Tasche, die auf seinem Bett stand, auf den Boden und sagte über seine Schulter hinweg: „Ich nehme einmal an, dass du es gewöhnt bist, auf dem Boden zu schlafen und es mir nicht allzu übel nimmst – immerhin ist es mein Bett.“ „Äh… Was?“ Jowy starrte den Mann verwirrt an, bis dieser die Augen verdrehte und aus dem Fenster zeigte: „Es ist mitten in der Nacht. Du hast doch wohl nicht vor, im Dunkeln durch Berge und Wälder zu wandern?“ „Also eigentlich...“ „Ich jedenfalls nicht. Ich bin zu alt für Nachtwanderungen. Wir brechen morgen früh auf.“ Mit offenen Mund sah der Aristokrat mit an, wie Silverberg die Bettdecke zurückschlug und eine zweite, dünnere darunter zum Vorschein kam, die er abzog und auf den Tisch legte. „Roll dich gut ein, es wird kalt.“ Und mit diesen Worten entledigte sich der alte Stratege seines Mantels, des Schals und seiner Schuhe und ließ sich auf seinem Bett nieder. Dann blickte er Jowy mit hochgezogener Augenbraue an und fragte: „Willst du da hinten Wurzeln schlagen, Junge?“ Jowy starrte ihn noch einen Moment verblüfft an, sprang dann auf und sagte: „Äh- ja. I-ich meine, nein! Ich meine...“ „Lösch das Licht, wenn du schon unterwegs bist.“ Irgendwie... schien es, als hätte Jowy es doch geschafft, Leon Silverberg auf seine Seite zu ziehen. Als sie sich dem Highland-Camp um South Window näherten, fühlte sich Jowy unangenehm an das Wespennest erinnert, das Nanami vor so vielen Jahren aus Versehen mit ihrem Nunchaku von der Eiche hinter dem Dojo geschlagen hatte. Binnen Sekunden waren die Wespen aus ihrem zerstörten Bau geflogen, aufgestachelt, wütend, so laut summend, dass die Luft für einen Augenblick wie elektrisiert gewesen war. Eine ähnliche Stimmung herrschte zwischen den umher eilenden Highlandern. Jowy warf Leon einen Blick zu, dann beschleunigte er seinen Schritt und schloss zu den zwei grimmig aussehenden Wachen auf, die einen der Eingänge bewachten. „Halt!“, schnauzte einer der Männer und hob seinen Speer in Jowys Richtung; er sah nicht aus, als wenn er für Späße aufgelegt war. „Was glaubst du, wer du bist, Junge?!“ Ohne zu zögern präsentierte Jowy die Abzeichen auf seiner Brust und erwiderte: „Oberleutnant Jowy, 2. Kompanie der Königlichen Armee von Highland. Habt ihr nichts Besseres zu tun, als ranghöhere Offiziere zu behindern?“ Es war beinahe beängstigend, wie schnell Jowy in seinen gewohnten Militärton verfiel; es war ein kühler, befehlender Ton, für den er sich fast verabscheute. Er klang nicht nach sich selbst. Ganz kurz herrschte absolute Stille, dann ließ der Soldat seinen Speer abrupt sinken und salutierte ruckartig mit einer Hand: „Verzeiht mir, Oberleutnant!“ Jowy nickte langsam und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „Ich hoffe, ihr gedenkt nicht, mich weiter hier draußen fest zu halten, Männer?“, versetzte er und hob eine Augenbraue. „Sonst könnt ihr Lord Luca erklären, wo sein Informant aus Toran abgeblieben ist!“ Die Blicke der beiden Wachmänner flackerten kurz zu Leon Silverberg hinüber, der unbeeindruckt neben Jowy stehen geblieben war. Dann machten die Soldaten eilig den Weg frei und verhaspelten sich in Entschuldigungen, während der Aristokrat mit schnellen Schritten an ihnen vorbeiging, Leon auf seinen Fersen. „Ich frage mich, was passiert ist“, murmelte Jowy, der direkt auf den nordöstlichen Teil des Camps zuhielt, dorthin, wo sich die Zelte der 2. Kompanie befanden. Er musste sich bei Oberst Russell melden und hoffen, dass dieser noch kein Verfahren gegen ihn eingeleitet hatte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt... aber andererseits wirkte die Highland-Armee gerade nicht so, als hätte sie Zeit für eine Anklage wegen Fahnenflucht. „Als ich gegangen bin, war hier noch alles ruhig...“ „Sie haben die Schlacht gegen die Rebellen verloren“, brummte Leon. „Dieser Solon Jhee muss sich gnadenlos verschätzt haben.“ „Das ist unmöglich“, widersprach Jowy. „Diese Rebellen können nicht mehr als 2000 Mann gehabt haben – allein Solon Jhees Kompanie kommt auf 7000, ganz zu schweigen von den Truppen aus South Window...“ „Wenn die Strategie stimmt, ist alles möglich, Junge“, schnaubte Silverberg, sagte jedoch nichts weiter zu diesem Thema. Jowy bezweifelte das ganz entschieden. Er hatte keine Ahnung von Strategie, doch wie bitte sollte eine lediglich 2000 Mann starke Armee eine andere besiegen, die mehr als drei Mal so viele Soldaten hatte? Die Rebellen würden schlicht überrannt worden sein, ob sie sich nun irgendwo verschanzt hatten oder nicht. Sie bogen gerade um eine Reihe Zelte, als ihnen plötzlich eine Soldatin entgegenlief, die ruckartig stehen blieb und salutierte, ehe sie rief: „Oberleutnant Jowy! Wo im Namen aller Runen seid Ihr gewesen?!“ „Ich habe einen Auftrag für den Oberst erledigt“, log der Aristokrat ohne eine Miene zu verziehen. „Was ist hier überhaupt los, Lexa?“ Die junge Frau schüttelte ungläubig den Kopf. „Ihr wisst es nicht?“ „Ich war die letzten zwei Wochen nicht da, Lexa, ich bin gerade erst zurückgekehrt!“ Lexa ballte beide Hände zu Fäusten und biss sich kurz auf die Lippe, ehe sie antwortete: „Wir haben die Schlacht bei North Window verloren.“ Der Aristokrat starrte sie wortlos an, ehe er einen kurzen Seitenblick auf Leon warf, der jedoch nicht nennenswert auf diese Offenbarung reagierte. Aber das war unmöglich. Leon Silverberg konnte unmöglich den Ausgang der Schlacht gekannt haben, wie hatte er...? Allmählich dämmerte Jowy, dass der Stratege noch sehr viel intelligenter war, als er eigentlich gedacht hatte. Dieser Mann konnte wirklich diesen Krieg beenden. „Aber... wie...?“ „Unsere Strategen haben nicht mit einberechnet, dass die Burg von North Window auf einer Halbinsel steht und gänzlich von Wasser umgeben ist, die Landzunge reicht weit in den Dunan-See hinein. Die Rebellen haben sich das zunutze gemacht und unsere Flanken umrundet, um uns von hinten zu attackieren...“ „Aber wir haben mehr als drei Mal so viele Männer wie sie!“, rief Jowy und warf verwirrt beide Arme in die Luft. „Wie konnten sie uns schlagen?“ Lexa schnaubte verächtlich und erklärte: „Es scheint, als hätte sich ein Spion ins Lager eingeschlichen und unter den Streitkräften von South Window das Gerücht verbreitet, dass man sie würde hinrichten lassen, sobald das gesamte Fürstentum uns gehört! Sie haben sich mitten auf dem Schlachtfeld gegen uns gewandt, wir haben mehr als ein Drittel der Kompanie verloren.“ Jowy konnte nicht glauben, was er da hörte. Was für einen Strategen hatten sich diese Rebellen besorgt? Wie hatte er gewusst, dass die Highlander den Dunan-See als Möglichkeit nicht mit eingeplant hatten? Es war naheliegend, in Highland gab es keine so großen Gewässer, aber dennoch...! „Wo ist der Oberst?“, verlangte er zu wissen. „Ich muss sofort mit ihm sprechen, es ist dringend!“ Lexas Gesichtsausdruck verdüsterte sich zusehends und sie schüttelte betrübt den Kopf: „Oberst Russell ist in der Schlacht gefallen. Seine Einheit befand sich genau zwischen den Männern aus South Window und Lord Jhees persönlichen Streitkräften, er hatte keine Chance.“ Jowys Welt brach mit einem Scheppern aus allen Fugen. Der Oberst war tot. Irgendetwas zwischen Wut und Trauer, ein bitteres Gefühl, das er nicht einordnen konnte, stieg in seinem Inneren auf und er ballte ohnmächtig die Fäuste. Er hasste diesen Krieg. Er hasste Luca Blight dafür, dass der Krieg noch immer tobte, dafür, dass ein guter Mann hatte sterben müssen, dass er nicht da gewesen war, um es zu verhindern. Dass er nicht einmal vernünftig um den Toten trauern konnte, kein Grab besuchen, sich entschuldigen. „Solon Jhee hat befohlen, das Lager so schnell wie möglich abzubrechen“, fuhr Lexa indes fort. „Wir verlassen das Fürstentum South Window auf schnellstem Wege, damit wir uns neu gruppieren und unseren nächsten Schlag vernünftig planen können. Nehmt Euch, was Ihr tragen könnt, Oberleutnant, und verschwindet von hier.“ Sie sah ihn durchdringend an. „Es gibt einen absoluten Rückzugsbefehl zurück nach Muse.“ „Lord Luca wird nicht glücklich sein“, bemerkte Jowy und bei diesen Worten erbleichte Lexa. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie gut sie es hatte, dass ihr Rang nicht hoch genug war, um an Besprechungen mit dem Oberbefehlshaber teilzunehmen. Ihm fiel plötzlich ein, dass sein eigener Rang das allerdings durchaus erlaubte – und dass er, als einer von Oberst Russells nächsten Untergebenen auf jeden Fall an der Besprechung in Muse teilzunehmen hatte. Dabei hatte er gehofft, dass er die blutrünstige Fratze des Kronprinzen für eine lange Zeit erst einmal nicht würde sehen müssen... Er seufzte und ergriff dann Lexa am Oberarm, sah ihr nachdrücklich ins Gesicht und sagte: „Bringt Euch auch in Sicherheit, Lexa – wir haben den Oberst verloren, ich will Euch nicht auch noch verlieren!“ Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders und nickte abrupt. „Zu Befehl, Oberleutnant“, entgegnete sie, wandte sich dann ab und eilte wieder davon, um was auch immer zu tun. Er konnte nur hoffen, dass er sie nicht gerade zum letzten Mal gesehen hatte. Jowy konnte nicht sagen, wann er das letzte Mal ein so ausgiebiges Bad genommen hatte, dass seine Finger ganz verschrumpelt gewesen waren, nachdem er aus dem Badezuber gestiegen war. Doch das Gefühl der Entspannung, das sich für gewöhnlich nach einem langen Bad einstellte, ließ auf sich warten; stattdessen saß er, seit er sich wieder angezogen hatte, zusammengesunken auf dem Feldbett, das Gesicht in den Händen vergraben. Sie waren mitten in der Nacht mit dem Rest der 2. Kompanie ins Hauptcamp der Highlander zurückgekehrt und der Aristokrat war einfach erschöpft ins Bett gefallen, nachdem er sich darum gekümmert hatte, dass Leon als angeblicher Informant aus Toran ein eigenes Zelt direkt neben seinem beziehen konnte. Er hatte Glück, dass seine Abzeichen genügt hatten, um seinen Willen zu bekommen – weder hatte er gestern noch sonderlich viel Energie zum Diskutieren gehabt noch die Lust, noch mehr zu lügen. Er hatte die Nacht über nicht gut geschlafen, war geplagt worden von altbekannten Albträumen und den Einflüsterungen der Rune, derer er inzwischen so überdrüssig geworden war. Und dann war da noch die Tatsache, dass er nicht aufhören konnte, darüber nachzudenken, was ihm bevorstand. Und es machte ihm Angst, so viel Angst... „Solltest du nicht bei dieser Besprechung sein?“ Jowy zuckte zusammen und sah auf. Im Zelteingang stand Leon Silverberg, der ihn mit hochgezogener Augenbraue betrachtete. Der Aristokrat seufzte und schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete er und fuhr sich mit dem Handrücken müde über die Augen. „Es wurde um eine Stunde verschoben. Scheint, als hätte Lord Luca die Zeit vergessen, während er Solon Jhee foltert.“ Leons zweite Augenbraue wanderte in die Höhe. „Er foltert seine eigenen Generäle?“ „Er nennt es Bestrafung“, erklärte Jowy leise, „dafür, dass Jhee es nicht geschafft hat, die Rebellen zu besiegen... Er hat zu oft an Viktor und den Söldnern versagt.“ Auf der Rückfahrt über den Dunan-See hatte er die geflüsterten Gespräche seiner Männer mit angehört, Erzählungen über die Schlacht, Gerüchte. Dass die Rebellen angeführt worden waren von den Söldnern, die im Dienste Muse gestanden hatten. Dass Viktor, der Bär, und Flik, der Blaue Blitz, höchstpersönlich in die Schlacht geritten waren, gefolgt von Männern, die zu viel zu verlieren hatten, um im Kampf Gnade zu zeigen. Dass ein junger Soldat, kaum dem Mutterschoß entwachsen, eine eigene Einheit direkt gegen Solon Jhee geführt hatte. Und ein Name hatte unablässig die Runde gemacht, ein Name, den er nicht hören wollte, nicht in diesem Zusammenhang, nicht, wenn der Krieg tobte und er selbst hier war, bei den Highlandern. Riou. Sollten plötzlich all die Albträume, in denen sich Jowy seinem besten Freund gegenüber stehen sah, mit gezogenen Waffen, bereit zu töten, Wirklichkeit geworden sein? Würde es darauf hinauslaufen, was seine Träume ihm unablässig prophezeiten? Er weigerte sich, das zu glauben. Weigerte sich zu glauben, dass der Riou, der die Rebellenarmee anführte, der Riou war, den er beinahe sein gesamtes Leben gekannt hatte. Es war unmöglich, durfte einfach nicht wahr sein. „Und was wirst du jetzt tun?“ Leons Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart und der Aristokrat schüttelte hilflos den Kopf. „Die Frage ist: Was kann ich tun?“, entgegnete er, während der Stratege sich leise ächzend auf einem der zwei Stühle niederließ, die dem Feldbett gegenüber standen. „Ich habe gesehen, wie Solon Jhee versagt hat – der ein viel besserer Soldat ist als ich, grausamer und kaltblütiger. Ich habe gesehen, wie Luca Blight links und rechts Männer abgeschlachtet hat, ohne sich darum zu kümmern, ob sie Freund oder Feind waren.“ Jowy warf dem alten Mann einen verzweifelten Blick zu. „Ich bin siebzehn Jahre alt und habe gesehen, wie erfahrene Soldaten in diesem Krieg gefallen sind, noch bevor sie ihr Schwert haben heben können. Was kann ich tun?“ Seine Stimme war mit jedem Wort schriller und drängender geworden, doch Leon betrachtete ihn völlig gelassen einen Augenblick lang und sagte dann: „Lass dich nicht durch deine Angst blenden, Junge. Wenn du ein Ziel hast, dann verfolge es gefälligst auch. Du bist kein Idiot, meine Anwesenheit hier beweist das. Also denk gefälligst nach und hör auf, Panik zu schieben!“ Völlig baff blinzelte Jowy seinen Strategen an; eine solche Rede hatte er nicht erwartet. Dennoch atmete er tief durch und vertrieb die Panik in den hintersten Winkel seines Bewusstseins, ehe er fragte: „... Habt Ihr einen Plan?“ Leon schnaubte. Kapitel 37: Den Schritt wagen ----------------------------- „Es war keine Fahrlässigkeit...“ Solon Jhees Stimme klang schwach; er litt eindeutig Schmerzen. Der General wurde von zwei Soldaten festgehalten und Jowy zweifelte keinen Augenblick daran, dass der Mann umfallen würde, sobald man ihn losließ. Er trug auch keine Rüstung mehr, sondern nur noch ein zerrissenes Hemd und eine zerschlissene Hose – beides war blutgetränkt und zweifelsohne stammte das Blut von Jhee selbst. Das Zelt, in dem sie sich befanden, war groß und geräumig – und voller Offiziere. Jowy erblickte Männer, die ihm durchaus bekannt vorkamen: Culgan und Seed, denen er selbst schon auf dem Schlachtfeld gegenüber gestanden hatte, doch er glaubte nicht, dass sie sich an ihn erinnerten. General Kiba Windamier und sein Sohn Klaus, die ein Stück abseits standen und den Austausch zwischen dem Sohn ihres Lehnsherren und dem General der 2. Kompanie schweigend beobachteten. Rowd, der ihn glücklicherweise noch nicht bemerkt hatte. Und natürlich Luca Blight, der vor den Versammelten stand und kalt auf Solon Jhee hinunterblickte. Jowy schluckte. „Willst du damit etwa sagen, dass meine Armee den verdammten Rebellen unterlegen ist?!“, zischte Luca gefährlich leise und Jowy sah von seinem Platz aus, wie die Augen Solon Jhees sich erschrocken weiteten. „N-Nein“, entgegnete der Mann schnell. „Ich denke nur, dass sie einen brillanten Strategen auf ihrer Seite haben...“ Im Stillen gab der Aristokrat dem General Recht, behielt seine Meinung jedoch klugerweise für sich. Keine Aufmerksamkeit erregen. Ruhig bleiben. „Und ich denke, dass du offensichtlich nicht das Zeug dazu hast, deinen Posten zu bekleiden“, schnauzte Luca und seine Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen, von dem es Jowy kalt den Rücke hinunterlief. „Es wird mir eine Freude sein, dich von deinen Pflichten zu befreien!“ „L-Lord Luca...“, stöhnte Jhee, doch jedem Anwesenden war klar, dass alles Flehen und Bitten in Angesicht des Kronprinzen keinen Sinn hatte. „Du widerst mich an“, bemerkte der Königssohn angeekelt und spuckte Jhee direkt ins Gesicht. Keiner der Zuschauer verzog eine Miene, doch Jowy ballte vor hilfloser Wut kurz die Fäuste. Nicht aufregen. Ruhig bleiben. „Bringt ihn nach draußen und schlagt ihm seinen wertlosen Kopf ab!!“ Man musste Solon Jhee zugute halten, dass er nicht um Gnade bettelte, als die beiden Soldaten ihn rückwärts aus dem Zelt schleppten. Aber er blieb auch nicht stumm; die letzten Worte, die Jowy aus dem Mund des Mannes hörte, waren: „In der Schlacht zu sterben ist eine Sache, aber das... das ist die größte Schande...“ Und dann war es plötzlich still im Zelt, Solon Jhee war weg, wurde hingerichtet, und keiner sagte ein Wort, weil sie nicht genau so enden wollten. Die Angst war so allgegenwärtig, dass sie beinahe greifbar war. „Wertloser Idiot“, schnaubte Luca und ließ seine Nackenmuskulatur gefährlich knacken, während er den Kopf von links nach rechts bewegte. Dann schlich sich wieder das manische Grinsen auf sein Gesicht. „Gut, dass das jetzt erledigt ist.“ Er beäugte die Anwesenden und fuhr sich dann mit einer Hand durchs Haar. „Vergessen wir South Window fürs Erste“, beschloss er laut. „Zuerst nehmen wir Greenhill ein. Gibt es unter euch nutzlosem Pack jemanden, der sich freiwillig für die Operation meldet oder muss ich wieder alles allein machen?“ Die Runen mochten sie alle bewahren vor dem, was passieren würde, wenn der Kronprinz die Eroberung Greenhills selbst anführte; es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass sie hinterher durch Blutbäche waten würden. Doch es blieb weiterhin still – sie alle hatten gesehen, was mit Solon Jhee geschehen war und keiner hatte einen nennenswerten Todeswunsch. Jowy sog so leise es ging tief Luft ein; am liebsten wäre er auf dem Absatz umgedreht und aus dem Zelt gestürmt. Aber das war wahrscheinlich keine gute Idee... Das Grinsen verschwand von Luca Blights Gesicht, als er seine Untergebenen mit einem kalten Funkeln in den Augen betrachtete. „Gibt es unter euch denn keinen einzigen Mann, der etwas wert ist?!“, brüllte er und Jowy machte instinktiv einen halben Schritt zurück. Er hatte Angst vor diesem Mann. Aber Leon hatte einen Plan und er musste ihn durchziehen, wenn er jemals ein Ende dieses Krieges sehen wollte. Es gab keinen anderen Weg. Er musste es tun. Jowy holte tief Luft und schickte ein kurzes Stoßgebet an die Rune des Schwarzen Schwertes – Lass mich diesen Tag überleben. Lass mich Erfolg haben. Lass es mich beenden... – dann trat er aus dem Kreis der Offiziere nach vorn, direkt vor Luca Blight und sah ihn ernst an. „Ich übernehme das, Sir.“ Seine Stimme klang überraschend fest dafür, dass er hier womöglich gerade sein Todesurteil unterschrieb. Aber was hatte er schon zu verlieren? Jetzt galt es, nach vorn zu sehen, darauf zu vertrauen, dass Leon wusste, was er tat. „Du?“ Der Kronprinz bedachte ihn mit einem milde überraschten Blick und brach dann in herzhaftes Gelächter aus, in das mehrere Männer nervös mit einfielen. Stiefellecker, allesamt, doch Jowy ertrug den Hohn mit stoischer Ruhe. Ausnahmsweise wisperte die Rune ihm nicht zu, dass er sie alle besser umbringen sollte, damit endlich Frieden herrschte – es schien beinahe so, als ob sie die Ereignisse interessiert beobachtete. „Ich“, bestätigte Jowy leise und versuchte zu ignorieren, wie sehr seine Hände schwitzten. Er widerstand dem Drang, sie an seiner Hose trocken zu wischen, und atmete stattdessen durch. Luca Blight gluckste amüsiert und erwiderte: „Sei besser nicht so überheblich, Junge. Das hier ist etwas Anderes als der läppische Auftrag, den du in Muse erledigen solltest. Du denkst doch nicht wirklich, dass du eine Kompanie anführen kannst?“ Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Jowy rief sich die Einzelheiten von Leons Plan in Erinnerung und sagte betont ruhig: „Ich brauche keine ganze Kompanie, Mylord. Nur 5000 Mann – gebt mir die und dazu die Gefangenen aus Muse und ich werde Greenhill für Euch einnehmen.“ Er schluckte und sah auf in Luca Blights kalte, schwarze Augen. Eine gespenstische Stille breitete sich im Zelt aus. Sämtliche Anwesenden warteten beinahe ängstlich auf Luca Blights Reaktion und Jowy erwischte sich selbst dabei, dass er nervös den Atem anhielt – doch er konnte sich selbst nicht dazu bringen, durchzuatmen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und wenn er nicht sofort eine Antwort bekam, würde er sich wahrscheinlich übergeben müssen. Und er bezweifelte ehrlich, dass Luca Blight sonderlich begeistert davon sein würde, wenn einer seiner Männer ihm direkt vor die Füße spuckte... „... Interessant“, sagte der Kronprinz dann langsam und Jowy stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus. „Warum nicht? Es ist einen Versuch wert, Junge. Wenn du Greenhill für mich einnehmen kannst, wie du sagst, werde ich dich angemessen entlohnen.“ Seine Augen verengten sich plötzlich zu Schlitzen und er zischte mit dem gleichen, blutrünstigen Grinsen, mit dem er vorhin Solon Jhee bedacht hatte: „Aber wenn du versagst, endest du genau so wie dein wertloser Vorgänger. Merk dir das.“ Der Aristokrat nickte und erwiderte, das schnelle Schlagen seines Herzens ignorierend: „Ja, Sir. Ich... Ich verstehe.“ Luca Blight lachte. „Du bist Jowy, nicht wahr?“ Der Aristokrat ließ vor Überraschung beinahe seine Schüssel fallen und drehte sich verwirrt um, wo er sich Auge in Auge mit Klaus Windamier wiederfand, der ihn freundlich anlächelte. Das braune Haar des Jungen fiel ihm bis zu den Wangenknochen hinab, umrahmte sein Gesicht und ließ es jünger erscheinen; dabei war sich Jowy ziemlich sicher, dass Klaus älter war als er. Er trug ein zweiteiliges, weites Oberteil in lila und weiß, unter dem der hochgeschlossene Kragen eines weißen Hemdes hervorschaute, und eine leichte Stoffhose. In der einen Hand hielt er eine Schüssel mit seiner Portion des Mittagessen – Eintopf mit labrig gekochtem Gemüse, von dem sich Jowy bereits beim Anschauen die Nackenhaare aufstellten – und in der anderen ein Buch. „Ähm“, machte der Aristokrat leicht überfordert. „Ja. Und du bist Klaus, richtig?“ Die Lippen seines Gegenübers verzogen sich zu einem noch breiteren Lächeln. „Richtig“, nickte Klaus und wirkte zufrieden. Jowy konnte nur mutmaßen, warum – doch er nahm an, dass der andere Junge nicht viel Gelegenheit hatte, mit anderen Leuten seines Alters zu sprechen. Das erklärte aber immer noch nicht, was der junge Stratege von ihm wollte. Jowy trug seine Schüssel hinüber zu einem freien Platz und hob eine Augenbraue, als sich Klaus, wie selbstverständlich neben ihm niederließ. Eine Weile sah er dem anderen Jungen dabei zu, wie er seinen Eintopf löffelte – erstaunlich wohlerzogen, langsam, so ganz anders als beispielsweise Riou, der für gewöhnlich so schnell aß, dass er den Geschmack des Essens wahrscheinlich gar nicht mitbekam (aber wenn Nanami diejenige war, die kochte, war das die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben) – dann fragte er: „Tut... tut mir leid, ich möchte nicht unhöflich sein, aber... was machst du hier?“ „Ich esse zu Mittag“, antwortete Klaus in einer Tonlage, als zweifle er ein wenig an Jowys Verstand. Er lächelte jedoch dabei und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während er einen weiteren Löffel voll Eintopf zu sich nahm. „Nein, das... das sehe ich“, entgegnete Jowy und schüttelte den Kopf. „Ich meine... Warum bist du hier? Isst du nicht sonst immer mit... mit deinem Vater?“ Klaus sah ihn nicht an, erklärte jedoch, den Blick auf seine Schüssel gerichtet: „Vater kümmert sich um die letzten Dinge, die unseren Aufbruch nach Two River betreffen. Er ist ein bisschen paranoid, was das angeht – das war er schon immer. Ich nehme meine Mahlzeiten gerne pünktlich ein, aber Vater vergisst meistens alles um ihn herum, wenn er in dieser Stimmung ist... deshalb bin ich heute allein hier.“ Erst, nachdem er zu Ende gesprochen hatte, aß Klaus weiter. „Aber... aber warum...?“ „Warum ich ausgerechnet dich angesprochen habe?“ Der junge Stratege legte seinen Löffel beiseite und blickte Jowy beinahe amüsiert an. „Ähm“, machte der Aristokrat unsicher. „Ja.“ „Ich muss gestehen, dass ich neugierig bin“, sagte Klaus. „V-Verzeihung?“ Jowy blinzelte verwirrt. Es machte ihn nervös, dass der andere Junge ihn angesprochen hatte. Weder dienten sie in der selben Kompanie, noch hatten sie bisher auch nur ein Wort miteinander gewechselt. Er hatte Klaus lediglich ein paar Mal im Hauptcamp gesehen, bevor er mit Solon Jhees Einheit nach South Window abkommandiert worden war. „Ich habe dich bei der Besprechung vorhin gesehen.“ Klaus strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und zuckte die Achseln. „Und ich kann mir nicht helfen, aber ich bin unglaublich neugierig darauf, wie du gedenkst, mit nur 5000 Mann Greenhill einzunehmen – das selbst über 7000 Soldaten verfügt. Aber das weißt du sicherlich.“ Ja, dessen war sich Jowy bewusst, nachdem Leon es ihm erklärt hatte. „Ich habe einen Plan“, versicherte Jowy und nahm endlich einen Löffel voll Eintopf zu sich, der genau so furchtbar schmeckte, wie er erwartet hatte. Beinahe sehnsüchtig dachte er zurück an Hildas Kochkünste. „Zu schade, dass ich nicht dabei sein kann, wenn du ihn durchführst“, seufzte Klaus und klang ehrlich enttäuscht. „Meine Neugier bringt mich um. Ich nehme nicht an, dass du mir erzählen wirst, was du vorhast?“ Gegen seinen Willen musste Jowy lächeln. „Nein“, bestätigte er. „Ich denke nicht.“ „Schade“, wiederholte Klaus, lächelte jedoch dabei. Anschließend wandte er sich wieder seinem Eintopf zu und aß seelenruhig weiter. Jowy tat es ihm eine Weile gleich, das Schweigen zwischen ihnen unterbrochen durch den Lärm, der im Kantinenzelt herrschte, dann fragte er: „Du brichst also bald nach Two River auf?“ Er rief sich hastig eine Karte der Stadt-Staaten in Erinnerung; Two River befand sich im Osten des Staatenbunds, eine wahrscheinlich sehr schöne Stadt, gebaut zwischen zwei Flussläufen. „Ja“, nickte Klaus und seufzte wieder. „Morgen oder übermorgen, je nachdem, wie lange Vater braucht, um die Männer davon zu überzeugen, dass das Spielen von Chinchirorin kein angemessener Ersatz für das Training ist, das sie eigentlich abhalten sollten.“ Er lachte leise in sich hinein. „Aber ja, wir brechen bald auf. Was ist mit dir? Hast du schon Pläne, wann du nach Greenhill gehst?“ „Ähm...“ Um ehrlich zu sein, hatte er sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Wie lange würde es dauern, 5000 Mann und die Gefangenen aus Muse mobil zu machen? „Bald, nehme ich an. Ich... da gibt es noch ein paar Dinge, die ich erledigen muss.“ Einen Moment lang betrachtete Klaus ihn nachdenklich, dann sagte er: „Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Glück.“ Nichts hätte ihn darauf vorbereiten können, was der junge Stratege als nächstes tat – er hielt ihm eine Hand hin. Und Jowy konnte nichts Anderes tun außer zu starren. Außer Riou – vor all den Jahren, als noch alles in Ordnung gewesen war, als seine größte Sorge gewesen war, vor Sonnenuntergang zurück nach Hause zu schleichen, damit sein Stiefvater ihn nicht in den dreckigen Kleidern erwischte – hatte ihm noch nie zuvor jemand die Hand in einer solchen Geste gereicht. Plötzlich wusste er nicht, was er tun sollte. Er freundete sich nicht mit Menschen an, es war Riou, der mit seiner ruhigen, freundlichen Art alle in seinen Bann schlug, der viele Freunde hatte, der... Und doch saß Klaus Windamier hier neben ihm, streckte ihm die rechte Hand hin und lächelte. Jowy schluckte und dachte ganz entschieden nicht an all die falschen Entscheidungen, die er bisher in seinem Leben getroffen hatte, und schlug nach kurzem Zögern ein. „Dir auch.“ Klaus' Lächeln wuchs zu einem Grinsen heran. Irgendwie hatte Jowy zwischen all den Menschen, die er gleichermaßen fürchtete und verabscheute, jemanden gefunden, der möglicherweise sein Freund sein konnte. Um die hasserfüllten Blicke zu ignorieren, die ihm Rowd von hinten zuwarf, nicht zu spüren, musste man schon über Millies Grad an Selbstvergessenheit verfügen. Es war unmöglich, sie nicht zu bemerken und Jowy atmete betont tief durch, um nicht herumzufahren und etwas zu tun, was er womöglich später bereuen würde. Wer auch immer beschlossen hatte, dass es wohl eine gute Idee war, Rowd mit zu den Männern zu zählen, die nach Greenhill marschieren würden, hatte einen grausamen Sinn für Humor und der Aristokrat konnte es nicht erwarten, seine Hände um den Hals des Übeltäters zu legen. Stattdessen ballte Jowy kurz die Fäuste und versuchte, nicht daran zu denken, dass einer seiner Untergebenen – und leider auch ehemaliger Befehlshaber – versuchte, ihn mit Blicken zu erdolchen. Und möglicherweise Schlimmeres. „Wir möchten nicht unhöflich sein, Sir, aber was im Namen aller Runen habt Ihr vor?“ Er hob überrascht den Blick von seinen Händen, die fest in die Zügel seines Pferdes verkrallt waren, und blickte in die gespannten Gesichter von Jakob und Lexa, die ebenfalls hoch zu Ross waren. Sofort fühlte er sich ein bisschen besser; diese beiden waren ihm eindeutig sympathischer als Rowd und ihm Gegensatz zu Ersterem erkannten sie seine Position auch an. Aber andererseits wussten sie auch nicht das, was Rowd wusste, also... „Ich wusste nicht, dass ihr beide auch dabei seid“, erwiderte er und lächelte ein wenig. „Wir stehen hinter Euch“, versicherte Jakob ihm mit ernstem Gesicht. „Wir waren die ersten, die sich freiwillig gemeldet haben.“ Jowy musste zugeben, dass er ehrlich gerührt war – und auch, dass er sich wünschte, sie würden ihm nicht so sehr vertrauen. Letztendlich war er keinesfalls eine Person, der man vertrauen sollte. Oberst Russell hatte es auch nicht gut getan, ihm zu vertrauen... „Vielen... vielen Dank“, sagte er dennoch. Jakob nickte und fragte dann: „Also, was habt Ihr vor? Verratet Ihr es uns?“ „Ihr werdet es hören, wenn wir Greenhill erreichen“, gab Jowy ausweichend zurück. Er wollte noch nicht darüber reden; wenn sich jetzt Gerüchte breit machten über die Art, wie er Greenhill einzunehmen gedachte, würden sicherlich viele Männer protestieren, dass das keine Art war, Krieg zu führen, dass er lächerlich war, noch grün hinter den Ohren, keinen Platz hatte in der Armee. Letzterem stimmte Jowy insgeheim zu, aber er hatte sich ein Ziel in den Kopf gesetzt und jetzt galt es, alles daran zu setzen, es auch zu erreichen. Und in diesem Fall konnte er nun wirklich keine Einheit gebrauchen, die sich bei seiner ersten großen Aufgabe gegen ihn stellte. Sie erreichten Greenhill nach einem Ritt von zwei Tagen am frühen Abend; da es nur einen einzigen Weg in die Stadt hinein gab, die von dichten Wäldern umgeben war, wurde das Militärlager nur wenige hundert Meter vom Stadttor entfernt errichtet, unter den wachsamen Augen der Wachleute von Muse, die Jowy durch das Fernrohr, das Lexa ihm reichte, deutlich auf der Stadtmauer patrouillieren sehen konnte. „Schickt einen Boten in die Stadt“, befahl Jowy an Jakob und Lexa gewandt, nachdem er das Fernrohr abgesetzt und der Soldatin zurückgegeben hatte. „Teilt Lady Teresa mit, dass ich zu verhandeln bereit bin – ich erwarte sie morgen früh in meinem Zelt.“ Er bedachte die versammelten Männer vor sich mit einem eiskalten Blick und fügte hinzu: „Derjenige, der es auch nur wagt, eine Hand gegen sie zu erheben, bevor ich es sage, wird Solon Jhees Beispiel folgen.“ Ein Raunen ging durch die Reihen der Soldaten, doch niemand protestierte gegen diesen Beschluss. Jakob salutierte und schoss davon, um alles vorzubereiten und Jowy sah ihm nach, eher er sich an die restlichen Männer wandte: „Ich will Wachposten rund ums gesamte Lager – keiner kommt hinein oder hinaus ohne sich ausweisen zu können. Wir haben alle gesehen, wozu Nachsichtigkeit geführt hat, als sich die Rebellen einschleichen und Gerüchte über die Hinrichtung der Soldaten aus South Window verbreiten konnten. Ich möchte keine Wiederholung des Fiaskos bei North Window, Männer! Und wenn euch eure Leben lieb sind, dann solltet ihr eure Augen offen halten.“ Runen, wo hatte er sich diesen befehlshaberischen Ton angeeignet? Jowy war erstaunt von sich selbst. Offensichtlich war sein Herangang an die Sache jedoch genau richtig; die Menge vor ihm salutierte wie ein Mann und ein synchrones, „Sir, ja, Sir!“, hallte durch das Lager. „Rühren“, nickte Jowy und die Männer taten wie befohlen. Dann verteilten sie sich langsam im Lager und er konnte Leons Stimme neben sich hören: „Nicht schlecht fürs erste Mal. Du kannst ja doch ein Anführer sein, wenn du willst.“ Der Aristokrat dachte daran zurück, wie sie für Viktor und die Söldner neue Leute rekrutiert hatten – und wie sie alle mehr Riou gefolgt zu sein schienen als ihm. „Mag sein.“ Er wandte sich langsam um und machte sich auf dem Weg zurück zu seinem Zelt, den Strategen auf seinen Fersen. „Du weißt, dass Luca Blight von dir erwartet, dass du Greenhill innerhalb kürzester Zeit einnimmst?“, erkundigte sich Leon, als die beiden Jowys Zelt betreten und die Plane hinuntergelassen hatten. Er hatte die Stimme gesenkt – sie wussten nicht, wer ihnen vielleicht zuhörte. „Ja“, grollte Jowy, dessen Blut allein beim Gedanken an den Mann schon wieder zu kochen begann. „Natürlich. Aber ich mach es auf meine Art. Ich mag vielleicht für ihn arbeiten, aber meine Seele habe ich ihm nicht verkauft.“ „Vergiss das nicht“, sagte Leon ernst. „Es sind schon größere Männer an der simplen Aufgabe gescheitert, sie selbst zu bleiben.“ Kapitel 38: Mit List und Tücke ------------------------------ A/N: *reinschleich, Kapitel dalass und wieder rausschleich* ... Liest das überhaupt noch einer...? Dunkle Schatten lagen unter den Augen der amtierenden Bürgermeisterin von Greenhill, als sie, begleitet von ihrem Leibwächter – der ihr schon bei der Hilltop-Konferenz nicht von der Seite gewichen war, erinnerte sich Jowy – sein Zelt betrat. Dennoch hatte sich an ihrer Gangart seit Muse nicht verändert; sie hielt sich noch immer aufrecht, stolz, ruhig. Wahrscheinlich hatte diese Frau einen stärkeren Geist als so manch anderer Führer des Staatenbunds und der Aristokrat bedauerte bereits jetzt, was er ihr und ihrer Stadt antun würde. Aber es war notwendig, das hier war Kollateralschaden, alles würde es wert sein, wenn Luca Blight erst einmal tot war. Teresas Blick wanderte über das Innere des Zelts – das ordentlich gemachte Feldbett, die Truhe mit Habseligkeiten, den Teppich unter ihren Füßen – bis er schließlich auf Jowy zu stehen kam, der mit gleichgültiger Miene und verschränkten Armen an den Tisch gelehnt stand und darauf wartete, dass sie etwas sagte. Er hatte seit jeher darauf verzichtet, die Rüstungen der Highlander anzulegen, sie waren unbequem und er fühlte sich darin alles Andere als wohl, weil sie ihn zu sehr an das Massaker an der Jugendbrigade erinnerten. Stattdessen trug er einen weißen Mantel, eine schwarze Hose und weiße Stiefel – alles Kleidung, die er aus dem gefallenen Muse davongetragen hatte. Ein Teil von ihm fühlte sich schuldig, die Sachen an sich genommen zu haben, aber andererseits war der ehemalige Besitzer entweder längst tot oder würde es in naher Zukunft sein. Am Mantel hingen gut sichtbar seine Abzeichen. Hinter Teresa und ihrem Leibwächter betraten Lexa und Jakob das Zelt, weitere fünf Soldaten blieben davor stehen. Teresa hob beide Brauen und bemerkte: „Und hier dachte ich, ich würde mich Auge in Auge mit Solon Jhee wiederfinden oder einem der anderen großen Generäle von Highland, aber du bist ja nur ein Kind...“ Jowy schnaubte. „Ich denke nicht, dass mein Alter auch nur irgendetwas mit meiner Loyalität gegenüber meinem Land und meinen Fähigkeiten zu tun hat, Lady Teresa. Ich bin im Namen von Prinz Luca Blight hier, um Euch ein Angebot zu unterbreiten, und wenn ich mir die momentane Situation im Staatenbund anschaue, ist er ein viel besserer Kriegsherr als mancher Führer des Staats.“ Die Wangen der Bürgermeisterin färbten sich rosa und der Aristokrat sah, wie die Hand ihres Leibwächters zum Heft seines Schwertes fuhr. Runen, der Mann war besser abgerichtet als jeder Kampfhund... „Ich verlange von Euch den gleichen Respekt, den ich Euch entgegenbringe“, fuhr Jowy kühl fort und bedachte die junge Frau mit einem vielsagenden Blick. „Ich möchte nämlich wirklich nicht zu primitiven Mitteln greifen müssen und Euch drohen.“ Teresa biss sich auf die Lippe und zögerte kurz, dann flackerte etwas in ihren Augen auf und sie sagte: „Dann bitte ich Euch, mir zu vergeben. Ich möchte hören, was Ihr für ein Angebot habt, Lord...?“ „Jowy“, half der Aristokrat ihr nach, „und ich bin kein Lord.“ Teresa nickte, blieb jedoch stumm. Er betrachtete sie noch einen Moment lang, registrierte, dass ihre Haare ein bisschen unordentlich waren, als hätte sie viel Zeit damit verbracht, sie sich zu raufen und erklärte dann: „Ihr habt zwei Möglichkeiten, Lady Teresa. Ihr könnt Euch hier und jetzt friedlich ergeben und ich erkläre Greenhill zum Teil des Königreichs Highland. Ihr werdet als Bürgermeisterin abgesetzt und begebt Euch gemeinsam mit Eurem Vater in Gefangenschaft.“ Teresas Augen verengten sich zu Schlitzen und sie zischte: „Ich werde meine Stadt nicht aufgeben. Die Menschen von Greenhill verdienen es, frei zu sein! Wir werden uns Highland nicht beugen, ich stimme Euren Bedingungen nicht zu“, ihre Augen wanderten schnell über das Abzeichen auf seiner Brust, „Oberleutnant.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn in die Luft. „Was ist die andere Möglichkeit?“ „Ihr schlagt die erste Möglichkeit aus und werdet Zeuge der Einnahme Greenhills durch die Highland-Armee. Ihr werdet als Bürgermeisterin abgesetzt und begebt Euch gemeinsam mit Eurem Vater in Gefangenschaft, um anschließend von Prinz Luca hingerichtet zu werden.“ Er wusste, dass keine der Möglichkeiten für sie in Frage kam – weil sie auch für ihn niemals in Frage gekommen wären. Aber nur ihretwegen würde er nicht Halt machen auf seinem Weg. Kollateralschaden. Teresa atmete scharf ein und aus, schüttelte den Kopf und flüsterte: „Es tut mir leid, Oberleutnant... aber ich fürchte, dass wir keine Einigung erzielen werden. Greenhill wird sich den Bedingungen von Highland nicht beugen. Wir werden für unsere Unabhängigkeit kämpfen!“ Jowy nickte, so etwas hatte er schon erwartet. „Mir tut es ebenfalls leid, Lady Teresa“, seufzte er. „Ich hatte gehofft, dass wir uns einigen können, damit ich nicht zu drastischen Maßnahmen greifen muss.“ Die Bürgermeisterin schloss kurz die Augen und atmete tief durch, dann blickte sie ihn an und fragte: „Warum tut Ihr das?“ „Ich kämpfe für mein Land, so wie Ihr für Eures kämpft“, erwiderte Jowy und schluckte die bittere Galle, die in ihm hochstieg, wieder herunter. Teresa nickte und wandte sich dann von ihm ab. „Ich möchte jetzt zurück nach Greenhill.“ „Selbstverständlich.“ Er gab Jakob und Lexa einen Wink und obwohl beide ihm ungläubige Blicke zuwarfen, taten sie wie geheißen. Jowy blickte ihnen hinterher und seufzte erneut, insgeheim erleichtert darüber, dass er Teresas unheimlichen Leibwächter wieder los war. Nachdenklich betrachtete Jowy die aneinander geketteten Männer. Es waren die gefangenen Soldaten aus Muse, die im strömenden Regen auf der Erde saßen und nicht einmal mehr versuchten, sich irgendwo Deckung zu suchen. Ihr Wille war gebrochen, sie waren unterernährt und durchgefroren, da sich seit dem Fall von Muse niemand mehr um sie gekümmert hatte. Seine Augen glitten über die traurigen Gestalten der Staatler und er suchte instinktiv ihre Gesichter nach einem ab, das er kannte, doch diesmal hatte er anscheinend Glück; keiner der Männer, die er von seinem Platz aus sehen konnte, kam ihm bekannt war. Irgendwie machte es das leichter, sie als Werkzeuge zu benutzen. Der stetige Regen, der in der Nacht eingesetzt hatte, tötete alle Geräusche ab, füllte die Welt mit einem sonderbaren Rauschen, das der Aristokrat gleichermaßen als beruhigend und unheimlich empfand. Unter dem Umhang fröstelnd, seufzte er und wandte sich an die zwei Soldaten, die neben ihm standen und auf Befehle warteten. „Bringt sie zum Stadttor von Greenhill – wir werden sie freilassen.“ „F-Freilassen, Sir?“, wiederholte einer der Männer ungläubig und runzelte die Stirn. „Ist das nicht das Gegenteil von dem, was wir tun sollten?“ „Wenn wir die Gefangenen freilassen, wird Greenhill mehr Soldaten haben, Sir“, stimmte der zweite ihm vorsichtig zu. „Wir sind jetzt schon in der Unterzahl...“ „Vertraut mir, Männer“, erwiderte Jowy leise und sah den beiden Männer eindringlich in die Augen. „Am Ende wird sich all das auszahlen.“ Er sah ihnen ihre Zweifel und vielleicht sogar ihre Angst an. Er ahnte, dass sie ihn für größenwahnsinnig und verrückt hielten, sich womöglich sogar fragten, ob Luca Blights Wahnsinn inzwischen ansteckend geworden war. Doch nach kurzem Zögern taten die Männer wie geheißen, gaben die Befehle an Andere weiter und zogen die Gefangenen auf die Beine. Schon bald zog ein Marsch von Leuten durchs Camp, direkt auf Greenhill zu. Jowy, der ihnen in einiger Entfernung folgte, bemerkte, dass außer den Wachleuten nun auch Zivilisten auf der Stadtmauer von Greenhill standen. Durch das Fernrohr, das er sich erneut von Lexa hatte geben lassen, erkannte er unter anderem eine große Frau mit langen, weißen Haaren, die beängstigend wenig trug (und der Regen machte ihre weiße Kleidung besorgniserregend durchscheinend), eine kleinere Frau, deren dunkelbraune Haare zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst waren und die unauffällige und schlicht gekleidet war, sowie einen Mann, der nur schwarze Kleidung trug. Alle drei wirkten grimmig und besorgt. Neben ihnen standen Teresa und ihr Leibwächter und natürlich unzählige Soldaten, die alle stumm darauf warteten zu erfahren, was die Highlander nun vor hatten. Wahrscheinlich waren seine eigenen Männer genau so gespannt darauf wie die Verteidiger von Greenhill. Nun… er wettete, dass sie alle gleichermaßen überrascht sein würden. Er war es ja selbst gewesen, als Leon ihm den Plan erklärt hatte! Aber er hatte gelesen, zu was die Silverberg-Familie in der Lage war – und wenn Leon auch nur einen Bruchteil dessen beherrschte, was ihm nachgesagt wurde, dann würde dieser Krieg schon sehr, sehr bald vorbei sein. Ein Raunen ging durch die Reihen der Highlander, als die Tore von Greenhill sich öffneten und die Gefangenen aus Muse hineinstürmten. Viele seiner Männer blickten sich nervös nach Jowy um, als erwarteten sie, dass er ihnen den Angriffsbefehl gab, doch er blieb stumm und sah dabei zu, wie 3000 erschöpfte, bis auf die Knochen durchnässte Soldaten die verbündete Stadt betraten, wie hinter ihnen die Tore zufielen. „Zurück zu Euren Posten, Männer!“, rief der Aristokrat schließlich nach einem letzten Blick durch das Fernrohr auf Teresas misstrauisches Gesicht. „Es gibt hier nichts mehr zu sehen.“ Er wandte sich ab und marschierte durch das aufgeweichte Camp zurück zu seinem Zelt. Jetzt eine Tasse heißen Tees, das hatte er nötig… Mit einem bitteren Lächeln dachte Jowy an Nanamis herben Kräutertee, der zwar furchtbar schmeckte, aber richtig durchwärmte, was man von dem eklig süßen Gebräu, das er im Vorratszelt entdeckt hatte, nicht unbedingt sagen konnte. Als er Leons Zelt passierte, überlegte er kurz, ob er dem Strategen Bescheid sagen sollte, dass die Gefangenen planmäßig freigelassen worden waren, entschied sich jedoch dagegen. Mochte Silverberg auch sein einziger Verbündeter hier sein, er wollte ihn nicht sehen. Also betrat Jowy mit einem Seufzen sein eigenes Zelt und schlug, erleichtert darüber, dass die Plane über seinem Kopf wasserdicht war, die Kapuze seines Umhangs zurück, ehe er ihn ablegte und über einen Stuhl hängte. Brr, was für ein Mistwetter. Er hatte sich gerade mit seiner Tasse schwarzen, klebrig süßen Tees an den Tisch gesetzt und versuchte, nicht daran zu denken, was passieren konnte, falls Leons Plan doch fehlschlug, als von draußen, gedämpft durch das Rauschen des Regens, eine Stimme erklang: „Oberleutnant Jowy, Sir? Habt Ihr einen Augenblick Zeit?“ Ehrlich gesagt hätte Jowy am liebsten genervt aufgestöhnt und sich unter seine Decke verkrochen, um so zu tun, als sei er nicht da. Aber wahrscheinlich war etwas Wichtiges vorgefallen, ansonsten hätte der Mann draußen wohl gewartet, bis sich alle im großen Speisezelt versammelt hatten, um ihn bei der Mahlzeit anzusprechen. Der Aristokrat nahm einen Schluck Tee, atmete tief durch und erwiderte laut: „Kommt herein.“ Die Zeltplane wurde zur Seite gehalten und er erkannte mit einigem Erstaunen Jakob und Lexa, die sich beeilten, ins Trockene zu kommen. Jowy erhob sich und wies zu dem Stuhl, auf dem auch sein triefnasser Umhang bereits hing: „Ihr könnt Eure Umhänge dort ablegen. Kann ich Euch einen Tee anbieten? Leutnant, Sergeant?“ Lexa und Jakob wechselten einen Blick, ehe sie synchron die Köpfe schüttelten und Jakob leise fragte: „Mit Verlaub, Sir… Euch ist bewusst, dass Ihr Greenhill gerade 3000 zusätzliche Männer überlassen habt?“ Da war es, das gefürchtete Gespräch mit seinen Untergebenen, die ihn für nicht ganz dicht hielten. Größenwahnsinnig. Vielleicht war er es. Jowy pustete sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ sich wieder auf seinen Platz sinken. Dann erklärte er ruhig, den Blick in die Ferne gerichtet: „Die Bewohner von Greenhill haben uns erwartet. Natürlich haben sie das, es war kein Geheimnis, dass unsere Armee früher oder später hier aufschlagen würde. Also haben sie Vorräte aufgestockt und sich in der Stadt verbarrikadiert. Wir kontrollieren alle Ein- und Ausgänge, keiner kann hinein oder hinaus. Und jetzt…“ Einen Moment lang war es still, bis die Erkenntnis die beiden Soldaten vor ihm traf. Lexa ächzte leise, während Jakob tonlos feststellte: „Jetzt habt Ihr ihnen 3000 weitere Mäuler zum Stopfen gegeben.“ „Ganz genau“, bestätigte Jowy, nahm einen weiteren Schluck Tee und mühte sich nach Kräften, keine Miene zu verziehen. „Jetzt müssen wir nur noch abwarten. Sie werden früher oder später kapitulieren müssen und dann gehört die Stadt uns.“ „Ihr hungert sie aus.“ Irrte er sich oder erzitterte Lexas Stimme etwas? Er sparte sich eine Erwiderung und nickte nur. „Sir – das ist grausam!“ Jowys Kopf fuhr ruckartig in die Höhe und er begegnete Lexas grimmigem, ungläubigem Blick. Sie schüttelte den Kopf, wich einen Schritt zurück, als wolle sie nicht wahrhaben, dass er zu solchen Dingen tatsächlich fähig war. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht passte nur allzu gut zu seiner inneren Stimme, die ihn unabhängig von dem Wispern seiner Rune anschrie, zu was für einem Monster er sich doch entwickelt hatte. Doch dort, wo er gegen seine eigenen Zweifel keine Chance hatte, besaß er genug Willen, um gegen eine Untergebene anzukommen. Die Rune des Schwarzen Schwertes johlte in seinem Inneren über die Wut, die in ihm hochkochte. „Ihr findet meine Methoden also grausam, Sergeant Lexa?“, fragte er nach, sein Ton eiskalt, schneidend, während er ihrem Blick direkt begegnete. Unerschrocken, hart. „Dann denkt darüber nach, wie diese Kampagne vonstattengehen würde, wenn Lord Luca persönlich die Zügel in die Hand genommen hätte. Denkt an die Eroberung von Muse, an die Angriffe auf die Dörfer im Osten des Staates. Denkt an all die Grausamkeit, mit der Lord Luca seinen Opfern begegnet, und dann wagt noch einmal, mir zu sagen, ich wäre grausam.“ Die Soldatin starrte ihn geschockt an, war bei der Erwähnung Luca Blights ungesund blass geworden. „Sir“, begann sie erschrocken, neigte dann eilig den Kopf und blickte beschämt zu Boden. „Vergebt mir, es stand mir nicht zu…“ „Schon gut“, seufzte Jowy, dessen Wut nun schlagartig verrauchte. Hätte die Präsenz der Rune enttäuscht schmollen können, hätte sie es vielleicht getan. „Ich verstehe Eure Sorge, Lexa, glaubt mir. Um ehrlich zu sein, gefällt mir diese psychologische Kriegsführung selbst nicht – aber sie ist notwendig. Nur so können wir Greenhill ohne unnötiges Blutvergießen einnehmen.“ Er genehmigte sich noch einen Schluck Tee, der ihn zwar nicht wärmte, aber wenigstens ein wenig beruhigte, denn sein Herz schlug noch immer unangenehm schnell nach diesem Ausbruch. Riou hätte bestimmt nicht so reagiert, flüsterte die leise, verbitterte Stimme in seinem Hinterkopf. Wen kümmert Riou?, erwiderte die Rune höhnisch und Jowy fuhr sich müde über die Augen. Vielleicht wurde er ja wirklich verrückt? Woran merkte man, dass man den Verstand verlor? „Also warten wir jetzt ab“, sagte Jakob ein wenig unsicher. Jowy blickte zu ihm auf und nickte. „Jetzt warten wir ab.“ Dreizehn Tage lang hatte Jowy nun mit einem furchtbar mulmigen Gefühl zur Stadt hinübergeblickt und zu den Runen gebetet, dass Leons Plan aufgehen würde, dreizehn Tage lang hatte er kaum geschlafen, wenig gegessen, weil ihm zu schlecht dafür gewesen war. Dreizehn Tage lang hatte er die Warterei verflucht, war in seinem Zelt unruhig auf und ab marschiert. Doch noch bevor Jowy am Morgen des vierzehnten Tages sein Zelt verlassen hatte, hatte man ihm gemeldet, dass sie Verstärkung erhalten hatten, eine zusätzliche Einheit von gut 1500 Mann, angeführt von den Lords Culgan und Seed. Allerdings waren nicht sie es gewesen, die er zuerst gesehen hatte, nachdem er auf die Neuankömmlinge zugeeilt war – sondern Rowd, der im Moment einen Soldaten zur Schnecke machte, weil sich noch keiner um sein Pferd gekümmert hatte. Schlagartig wurde dem Aristokraten gleich noch ein wenig schlechter. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Was war das, eine Strafe der Runen dafür, dass seine eigene Rune im Duell gegen seinen ehemaligen Befehlshaber die Kontrolle übernommen hatte? Er verkniff sich ein lautes Stöhnen und mühte sich nach Kräften, ein ernstes Gesicht zu machen, als er sich von dem verräterischen Bastard abwandte und zu Seed und Culgan sah, die nun auf ihn zukamen. „Wie ich sehe, haltet Ihr Euch gut für einen Anfänger“, bemerkte Culgan, sobald er in Hörweite war. „Ich hätte nicht gedacht, dass jemand so Junges derart erfolgreich sein würde – meinen Respekt.“ „Vielen Dank, Mylord“, nickte Jowy, etwas überrumpelt von dem Lob. „Ich muss aber auch meinen Männern Respekt aussprechen, dass sie jemandem wie mir vertrauen.“ Seed tauschte mit dem älteren Culgan einen anerkennenden Blick, dann erklärte er: „Lord Luca hat uns befohlen, Euch zur Seite zu stehen, da er wohl nicht glaubt, dass Ihr die Stadt allein einnehmen könnt, Oberleutnant… Aber ich denke“, fügte er nach einem schnellen Blick auf das Camp und die dahinterliegenden Stadtmauern von Greenhill hinzu, „Ihr schlagt Euch allein ganz gut.“ „Es heißt, es hätte bisher keine Kampfhandlung gegeben“, brummte Culgan nun und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist das wahr?“ Jowy reckte entschlossen das Kinn vor und blickte dem Mann in die kühlen, hellblauen Augen. „Das ist richtig, Lord Culgan“, bestätigte er betont ruhig. „Und weshalb, wenn ich fragen darf?“ „Ich ziehe es vor, kein unnötiges Blut zu vergießen“, gab Jowy zurück. „Wozu soll ich meine Männer opfern, wenn ich die Staatler auch auf andere Weise genau so effektiv besiegen kann?“ Er registrierte die erstaunten Blicke der beiden Männer und lächelte schmal. „Ich versichere Euch, dass es nicht mehr lange dauert, bis Greenhill kapituliert.“ Culgan runzelte die Stirn und schien etwas sagen zu wollen, doch in diesem Augenblick hallten Rufe durch das gesamte Camp. Jowy, der seit zwei Wochen auf diesen Augenblick gewartet hatte, fuhr sofort herum. Sein Blick suchte den Fahnenmast auf der Stadtmauer, an dem bisher die Flagge des Staates dem Wind getrotzt hatte. Nun wehte dort ein strahlend weißes Stück Stoff – Greenhill hatte die weiße Flagge gehisst. Sie kapitulierten. Sie kapitulierten! Jowys Herz machte einen erleichterten Hüpfer. Seed pfiff beeindruckt durch die Zähne und schlug dem Jungen dann überraschend auf die Schulter. „Meinen Glückwunsch, Oberleutnant“, sagte er, „sieht aus, als wären wir völlig umsonst hergekommen.“ „Sirs!“ Es war Jakob, der nun herbeigeeilt kam und vor den drei Männern salutierte. „Gerade ist ein Bote von Lady Teresa angekommen.“ Mit diesen Worten reichte er Jowy eine Rolle Papier, auf der lediglich ein paar Zeilen standen: Ich, Teresa Wisemail, amtierende Bürgermeisterin der Stadt Greenhill, erkläre hiermit im Namen Greenhills absolute Kapitulation vor dem Königreich Highland. Ich bitte Euch nur darum, die Akademie der Stadt nicht zu schließen; viele unserer Studenten kommen von weit her, um hier zu studieren, und das neue Semester beginnt in Kürze. Bestraft die Studenten von Greenhill nicht dafür, dass sie etwas lernen wollen, Oberleutnant. Darunter befand sich eine geschnörkelte, jedoch deutlich zittrige Unterschrift und das offizielle Siegel der Stadt Greenhill. Einen Augenblick lang starrte Jowy das Papier in seinen Händen fassungslos an, als ihm bewusst wurde, wie viel Überwindung Teresa dieser Brief wohl gekostet hatte. „Sie haben die Tore der Stadt geöffnet“, fügte Jakob vorsichtig hinzu. „Wie lauten Eure Befehle, Oberleutnant Jowy?“ „Ja“, sagte Seed, „wie lauten Eure Befehle?“ Der Aristokrat spürte die Blicke der Umstehenden auf sich. Nur gut, dass er diese Entscheidung schon getroffen hatte, noch bevor Teresa nach ihrer ersten Unterredung sein Zelt verlassen hatte. Jowy straffte die Schultern und blickte seinen Leutnant entschlossen an, ehe er befahl: „Nehmt die Stadt ein und konfisziert jedes Schwert, das Ihr findet. Ihr werdet keinen der Bewohner mehr als nötig belästigen, aber macht ihnen unmissverständlich klar, dass Greenhill ab jetzt ein Teil des Königreichs Highland ist! Und bringt mir Lady Teresa und ihren Leibwächter – aber lebend!“ „Was ist mit der Akademie? Greenhill wird zum Großteil von den Studierenden finanziert“, wandte Culgan milde interessiert ein. Jowy warf ihm einen kurzen Blick zu und sagte dann: „Die Akademie bleibt offen. Jeder neue Student wird aber bei Ankunft ausgiebig durchsucht und kontrolliert.“ Er blickte Jakob in die Augen. „Verstanden?“ „Ja, Sir!“ Der Leutnant salutierte, deutete eine Verbeugung an und machte auf dem Absatz kehrt, um die Befehle sofort weiter zu tragen und auszuführen. Jowy atmete leise durch und lächelte dann Culgan und Seed zu. „Darf ich Euch einen Tee anbieten? Wir können dann gern die weiteren Schritte der Einnahme Greenhills besprechen.“ TBC. Kapitel 39: Fragmente --------------------- A/N: Es gibt mich noch! Aber inzwischen ist fast ein Jahr rum seit dem letzten Kapitel und um ehrlich zu sein, denke ich nicht, dass ich dieses Monsterprojekt jemals beenden werde. Es war in erster Linie eine Schreibübung - ich wollte schauen, ob ich die Ereignisse, die wir eigentlich alle schon kennen, glaubhaft aus der Sicht des Antagonisten rüberbringen kann. Wenn ich mir die bisherigen Kommentare zu dieser Fanfiction anschaue, denke ich, dass es mir gelungen ist. Aber an dieser Stelle ist wohl leider Schluss; ich habe genug eigene Projekte, an denen ich arbeite (gar nicht zu sprechen von meinem Studium, über dessen Bachelorarbeit ich zur Zeit sitze und verabscheue) und derart langwierige Fanfictions sind einfach zu umfassend und sprengen den Rahmen meines Pensums. Ich liebe Suikoden 2 immer noch, genau so wie ich Jowy als Anti-Held noch immer sehr gern hab. Deshalb hab ich gedacht (auch aus persönlichen OCD-Gründen), dass ich wenigstens den Rest der Kapitel und Fragmente hochladen kann, die ich in den letzten drei Jahren zu "Another Side, Another Story" geschrieben habe. Außerdem existieren das allerletzte Kapitel und der Epilog bereits. Ich habe sie schon vor gut anderthalb Jahren geschrieben, sie warten seitdem darauf hochgeladen zu werden. Dazu gibt es auch noch einen One-Shot aus Nanamis Sicht, der noch einmal einiges erklären/weiter ausbauen sollte. Ich möchte mich bei denjenigen bedanken, die mitgelesen und kommentiert haben, es war mir eine Ehre, für euch zu schreiben!! Eure Kima ------ Es waren keine drei Wochen vergangen, seit Greenhill kapituliert hatte. Bisher hatte Jowy es tunlichst gemieden, die Stadt selbst zu betreten. Er wusste, dass ihn dort bittere Blicke voller Hass erwarteten, Eltern, die ihre Kinder schützend an ihre Seite ziehen würden, wenn er an ihnen vorbeiging, junge Leute, die mit geballten Fäusten mit ansehen würden, wie er ihre geliebte Stadt durchschritt. Er verstand nur zu gut, was die Bewohner von Greenhill fühlten – er hatte das alles selbst verspürt, damals, als er nur Jowy gewesen war, als er hilflos daneben hatte stehen müssen, als Pilika ihre Eltern verloren hatte, als Ryube vor seinen Augen bis auf die Grundmauern abgebrannt war, als sie das Söldnerfort verloren hatten. Und nun war er das Ziel dieses Hasses, nun war er das Monster, das Leben zerstörte. Kollateralschaden, rief er sich immer wieder in Erinnerung, während er nachts auf seinem Feldbett lag, von Albträumen wachgehalten und Schuldgefühlen geplagt. All das war nötig, um Luca Blight zu Fall zu bringen. Und danach, danach würde er sich bereitwillig dem gerechten Zorn all derer stellen, die er verletzt hatte. Vielleicht hätte er damit rechnen müssen, dass Teresa sich nicht freiwillig ergeben würde. Sie hatte ihm zwar die Stadt überlassen, doch sie selbst war untergetaucht. Natürlich war sie es, immerhin hatte er ihr unverblümt verkündet, er würde sie zu Luca Blight bringen, damit der sie hinrichten konnte, nicht wahr? Und nun musste er sie suchen lassen. Wessen grandiose Idee es gewesen war, Rowd an die Spitze dieser Suche nach Teresa zu setzen, wusste Jowy nicht, er selbst war es jedenfalls nicht gewesen, denn er erfuhr erst nach gut zwei Wochen davon. Es war letztendlich auch egal, wessen Schuld es war, denn nach mehreren Vorfällen in der Stadt – unter anderem hatte Rowd tatsächlich versucht, einige Häuser in Brand zu stecken, als deren Besitzer ihm nicht hatten verraten können, wo sich die Bürgermeisterin versteckt hielt – hatte der Aristokrat genug von dem Theater. Er verzichtete großzügig auf eine erneute öffentliche Bloßstellung seines ehemaligen Captains und ließ verkünden, dass er selbst in der Stadt nach dem Rechten sehen würde. Wenn er schon zwischen Pest und Cholera wählen durfte – entweder ließ er Rowd die Städter weiter quälen oder er ertrug den Hass der Bewohner von Greenhill – dann biss er lieber selbst in den sauren Apfel. Er würde es schon überleben. Und wenn nicht… nun, dann würde er sich wenigstens keine Sorgen mehr machen müssen. ------ „Sobald wir zurück in Muse sind, wird dich Luca Blight zu sich rufen“, sagte Leon plötzlich. Jowy unterdrückte ein nervöses Zusammenzucken nur mühsam; er wollte nicht daran erinnert werden. Sein Appetit war mit einem Mal verschwunden und er schob missmutig den Teller von sich. „Ich weiß“, erwiderte er düster, nicht im Geringsten darauf erpicht, dem verrückten Kronprinzen wieder gegenübertreten zu müssen. „Ich habe schon Albträume davon.“ Silverberg schnaubte, teils amüsiert, teils abfällig. „Mach dir keinen unnötigen Stress, Junge“, brummte der Stratege dann. „Er mag ein Wolf sein, aber er belohnt diejenigen, die für ihn von Nutzen sind. Du hast wie versprochen Greenhill eingenommen ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, das wird er zu schätzen wissen.“ Jowy hob skeptisch beide Brauen. „Meint Ihr das wirklich?“ Der Aristokrat schüttelte den Kopf. „Irgendwie kann ich mir das schlecht vorstellen…“ „Glaub mir“, entgegnete Leon, „er wird dir eine Belohnung anbieten, weil er dich nun als nützlich erachtet. Und wenn du dreist genug bist, wird er dir wahrscheinlich den Kopf abschlagen, bevor du auch nur mit der Wimper zucken kannst.“ „Das sind ja… rosige Aussichten.“ Der Stratege ignorierte Jowys zynischen Einwurf und fuhr fort: „Allerdings könnte ein wenig Dreistigkeit dich in seinen Augen interessant machen, sodass du näher an ihn herankommst.“ Der Aristokrat verschränkte die Arme vor der Brust, runzelte die Stirn. „Und was soll ich deiner Meinung nach von ihm verlangen? Er wird wohl kaum einfach so aufgeben und den Krieg freiwillig beenden…“ „Prinzessin Jillias Hand.“ „Das ist ein Scherz.“ „Ich mache keine Scherze, das liegt nicht in meiner Natur.“ Leon bedachte ihn mit einem kritischen Blick, unter dem sich Jowy ganz klein fühlte. „Du wirst Luca Blight um die Hand seiner Schwester bitten und er wird sie dir geben, weil diese Bitte dreist genug ist, um ihn zu interessieren.“ Jowy schauderte es so sehr, dass sein ganzer Körper zu zittern begann. Nur mühsam bekam er dieses Zittern wieder unter Kontrolle, doch seine Stimme klang immer noch unnatürlich hoch, als er widersprach: „Jillia… Ich meine, die Prinzessin wird dem niemals zustimmen. Sie sollte es auch gar nicht tun müssen“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, „sie ist unschuldig, ich möchte sie nicht in diese Sache hineinziehen!“ „Du musst nah genug an Luca Blight herankommen, damit du dein Ziel erreichst. Er wird dir niemals vertrauen, aber als sein Schwager wirst du oft genug in seiner Nähe sein, um an die Informationen, die du brauchst, zu kommen“, erklärte Leon kühl. „Die Prinzessin ist ein notwendiges Opfer.“ „Nein“, sagte Jowy sofort und erhob sich abrupt von seinem Stuhl. „Das werde ich nicht tun. Ich werde niemand zu etwas zwingen, dadurch bin ich nicht besser als er!“ Silverberg wirkte jedoch nicht sonderlich erstaunt, sondern nickte nur. „Was wirst du also tun?“, erkundigte sich der Stratege milde interessiert. Der Aristokrat biss sich auf die Lippe, wandte sich von dem Mann ab und starrte angestrengt zur Zeltwand als stünden darauf alle Antworten auf seine Frage. Widerwillig gestand er sich ein, dass Leons Plan – natürlich – brillant war. Jowy kannte sich gut genug im Adelssystem von Highland aus, um zu wissen, dass jeder Adlige sich als Ritter dem König zu verpflichten hatte und ihm Treue schwören musste; das machte sie zu wertvollen Generälen im Krieg. Ein Ritterschlag würde ihn nicht nur in den Rängen der Highlander nach oben befördern, eine Heirat mit Jillia würde ihn auch noch zu Luca Blights Schwager machen und dem nächsthöchsten Anwärter auf den Thron, da die Prinzessin als Frau keinerlei Recht darauf hatte. Zwangsläufig bedeutete das, dass sich Jowy sehr oft in der Nähe des Kronprinzen aufhalten würde, sodass es womöglich leichter war, eine Gelegenheit abzupassen, dieses Monster umzubringen… „Ich möchte zuerst mit der Prinzessin sprechen“, beschloss er schließlich leise. „Ich… ich versuche sie zu überzeugen, mir zu helfen. Wenn sie es nicht aus freien Stücken tut, werden wir einen anderen Weg finden müssen.“ Leons Gesichtsausdruck sagte, dass er mit dieser Entscheidung nicht zwangsläufig glücklich war und für einen kurzen Moment verabscheute Jowy den Strategen; Menschen und ihren freien Willen fürs allgemeine Wohl zu opfern, das war einfach nicht richtig. Ihm war jedoch auch bewusst, dass es wohl nicht anders ging – wenn er den Krieg beenden und Luca Blight vernichten wollte, dann mussten Opfer gebracht werden… Doch das hieß nicht, dass Jowy nicht nach seinen eigenen Regeln spielen durfte. ------ „Jowy.” Jowy fuhr aus dem Schlaf, im ersten Moment orientierungslos. Wo war er? Was war passiert? Dann jedoch erkannte er das Innere seines Zelts im Highlandcamp, das von einem eigenartigen, bläulichen Licht erleuchtet wurde. Wurde er jetzt komplett verrückt…? Hatte ihn nicht jemand gerufen? Aber hier war doch außer ihm niemand, also was…? „Um dich herum toben die Stürme des Schicksals… Du musst ihnen standhalten, Jowy. Weiche nicht von deinem Pfad ab.“ Er zuckte zusammen, blickte sich hektisch um. Das war doch…! Das bläuliche Leuchten intensivierte sich kurz, wurde heller, blendete ihn – und dann stand Leknaat in der Mitte des Zeltes, noch immer atemberaubend schön, noch immer umgeben von einer Aura von Macht, noch immer mit diesem traurigen Lächeln, mit dem sie ihn schon bei ihrem ersten Treffen bedacht hatte. „Leknaat?“, rutschte es Jowy ungläubig heraus und er schwang eilig die Beine aus dem Bett, ehe er innehielt und die Stirn runzelte. „Bist das wirklich du?“ „Was ist Wirklichkeit?“, erwiderte Leknaat. „Wenn es das ist, was du siehst, dann ja, ich bin es wirklich.” „Ich meine – ist das ein Traum oder…?“ „Und wenn es einer wäre, Jowy? Wenn es nur in deinem Kopf geschieht, ist es dann nicht real?“ Der Aristokrat ächzte etwas frustriert. Es war zu spät in der Nacht für philosophische Fragen. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und beschloss, das Thema zu wechseln. „Du hast von Stürmen des Schicksals gesprochen und dass ich nicht von meinem Pfad abweichen soll… Wie meinst du das?“ Er spürte ihren Blick auf sich und sah auf; wie sie ihn noch immer so durchdringend anschauen konnte, obwohl sie blind war, war ihm ein Rätsel. „Du, als Träger der Rune des Schwarzen Schwertes, hast den für dich vorgesehenen Pfad eingeschlagen“, sagte Leknaat, ihre Stimme leise und beinahe ein wenig bedauernd. „Du wandelst den Pfad hinab und weißt, dass du dich nicht umdrehen darfst – aber dennoch fragst du dich, was geschehen würde, wenn du es tätest.“ Einen Augenblick lang starrte Jowy sie an. Woher wusste sie…? „Ich bin die Hüterin des Gleichgewichts“, fügte Leknaat hinzu, als hätte sie seine Gedanken gelesen – und wahrscheinlich hatte sie genau das getan, „es ist meine Aufgabe, solche Dinge zu wissen.“ Jowy biss sich kurz auf die Lippe und nickte schließlich langsam. „Ich bereue meine Entscheidung nicht“, erklärte er. „Aber… aber was, wenn… wenn ich Rious Angebot angenommen hätte? Wenn ich mit ihm gegangen wäre? Was, wenn wir diesen Krieg gemeinsam beenden können, Seite an Seite?“ Leknaat legte den Kopf ein wenig schief, sodass eine Strähne ihres langen, schwarzen Haares von ihrer Schulter rutschte. Ihre blinden Augen schimmerten im Licht ihrer bläulichen Aura. „Ich sehe viele Dinge“, sagte sie, „und viele möglich Pfade, die du hättest einschlagen können.“ „Dann… dann hast du es gesehen? Was geschehen wäre, wenn ich zugesagt hätte? Kannst du es mir sagen?!“ Seine Stimme war immer lauter geworden, bis er ihr die letzten Worte beinahe entgegen schrie. Leknaat hob überrascht über seinen Ausbruch die Brauen. Er merkte plötzlich, dass er vor ihr stand, drauf und dran, sie an der Hand zu ergreifen. Wann war er aufgestanden? Eilig trat er einen Schritt zurück; ihm selbst war die Nähe zur Seherin plötzlich immens unangenehm, vor allem nachdem er sie angeschrien hatte. „Ich kann es dir zeigen“, bot sie schließlich nach einem kurzen Augenblick an; sie sah nicht aus, als wäre sie glücklich über dieses Angebot. „Aber ich muss dich warnen – dies ist nur einer der möglichen Pfade. Du kannst gegen das Schicksal nicht ankämpfen.“ Jowy öffnete den Mund, um zu fragen, was das heißen sollte, doch in diesem Moment berührte Leknaat bereits mit den Fingerspitzen seine Stirn und glühend heißer Schmerz schoss durch seinen gesamten Körper. ------ „P-Prinzessin!“ Jowy erstarrte noch im Eingang des Zelts. Er hatte noch nicht mit ihr gerechnet, sich nicht überlegt, was er sagen wollte. Er war noch nicht bereit für dieses Gespräch!! Doch es war wohl unvermeidlich, denn Jillia hob den Kopf und starrte ihn beinahe entsetzt an. „Ihr“, flüsterte sie ungläubig. „Ich dachte, Ihr seid entkommen… Was tut Ihr hier?“ Jowy rührte sich noch immer nicht, in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Allerdings konnte er die Prinzessin nicht ewig wie ein hypnotisiertes Kaninchen anstarren, also stammelte er ein wenig unbeholfen: „I-Ihr – ähm – erinnert… Euch an mich?“ Jillia blinzelte ein, zweimal und erwiderte dann: „Natürlich! Ich wollte Euch helfen zu entkommen, aber…“ Sie schien sein Gesicht aufmerksam zu studieren, ehe ein Schatten von Schmerz über das ihre huschte. „Aber ich schätze, ich habe letztendlich nichts ausrichten können, nicht wahr? Wenn Ihr hier seid, dann… dann ist Lady Anabelle…“ Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Blick. „Ich… ich wollte, es wäre anders“, erwiderte Jowy, dem es plötzlich die Kehle zuschnürte. „Ich hätte das nicht tun dürfen, egal wie sehr… wie sehr ich damals in Panik war. Es hat sich… herausgestellt, dass Euer Bruder nur eine leere Drohung ausgestoßen hat, der ich… der ich nichts entgegenzusetzen hatte.“ „Mein Bruder… er ist ein Meister darin, andere zu manipulieren“, entgegnete Jillia kopfschüttelnd. „Wahrscheinlich war ich naiv zu glauben, Ihr hättet eine andere Wahl… Es tut mir leid, wenn ich Euch falsche Hoffnungen mit meinem dummen Flehen bereitet habe.“ „Bitte“, sagte Jowy, „gebt Euch nicht die Schuld, für das, was geschehen ist. Es ist nicht Eure Schuld, Prinzessin. Es war meine Hand, die…“ Er stockte, dachte wieder daran zurück, wie unnatürlich heiß Anabelles Blut auf seiner Haut gewesen war, wie sich die Lippen der Bürgermeisterin stumm bewegt hatten. Einen langen, unangenehmen Augenblick war es still, dann bemerkte Jillia leise: „Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Was tut Ihr hier?“ Ihre Augen glitten über die Abzeichen an seiner Brust. „Nach all dem, was geschehen ist, kehrt Ihr ausgerechnet hierher zurück und dient in der Armee? Arbeitet Ihr wieder für den Staat, seid Ihr ein Spion?“ Sie klang überraschend ruhig dafür, dass sie sich augenscheinlich die Schuld für den Fall von Muse gab. Dabei… dabei war sie doch unschuldig… „Ich…“, begann Jowy, unsicher was er eigentlich sagen wollte. Dann aber riss er sich zusammen, trat ein paar Schritte auf sie zu und erklärte: „Es stimmt, dieses Land hat mich hintergangen, mehrmals und sehr grausam. Aber… aber ich möchte diesen Krieg aufhalten… Das Volk von Highland ist größtenteils unschuldig und ich darf nicht von den Fehlern und Grausamkeiten einiger weniger auf den Rest der Menschen schließen. Ich habe begriffen, dass ich nichts tun kann, wenn ich nur ein stummer Beobachter bleibe. Ich muss selbst etwas tun, damit sich etwas ändert. Egal, wie sehr es weh tut, egal, wie sehr ich über meinen eigenen Schatten springen muss.“ Jillia betrachtete ihn mitleidig und bot ihm mit einer Handbewegung an, sich ihr gegenüber am Tisch niederzulassen. Jowy schluckte leise und kam ihrer Aufforderung nach; ihm fiel beim Hinsetzen erneut auf, wie schön sie eigentlich war. Schön und traurig. „Dann ist dies also das kleinere Übel“, vermutete sie. Er nickte langsam. „Ich muss über meine persönlichen… Probleme hinwegblicken, wenn ich diesen Krieg beenden und den Menschen von Highland helfen will. Also… ja, dies hier ist das kleinere Übel.“ Jowy schluckte den bitteren Kloß in seiner Kehle mühsam hinunter. Nur, weil er das kleinere Übel gewählt hatte, hieß das nicht, dass er es mochte. „Aber woher wisst Ihr, dass Ihr auf der richtigen Seite steht? Ich meine, woher wisst Ihr, dass die Gerüchte nicht wahr sind? Dass es Highland war, das den Krieg von Neuem entfacht hat, meine ich.“ Er zuckte zusammen und sah ihr forschend ins Gesicht. Was zum…? Hatte er sie unterschätzt? Wie viel wusste Jillia von dem, was vor sich ging? „Das sind natürlich alles nur Spekulationen“, ruderte die Prinzessin in diesem Moment eilig zurück, da sie seinen entsetzten Ausdruck wohl falsch interpretierte. „Ich möchte meinem Land nicht unterstellen, etwas derart Niederträchtiges getan zu haben – einen Angriff an der eigenen Jugendbrigade als Überraschungsangriff des Staates zu tarnen, das wäre furchtbar. Aber wenn… wenn es so wäre… Woher wisst Ihr, dass Ihr nicht den Falschen helft?“ Dem Aristokraten wurde plötzlich klar, dass diese junge Frau viel intelligenter war, als es den Anschein hatte; hinter dem schönen Antlitz verbarg sich ein messerscharfer Verstand, den Luca Blight unterschätzte. Sie war wahrscheinlich der wertvollste und gefährlichste potentielle Verbündete, den er sich hätte aussuchen können. „Ich weiß es nicht“, sagte er und war nicht einmal erstaunt darüber, dass er ehrlich war. Wie schaffte sie es, dass sie so ganz anders als Leon die Wahrheit aus ihm herausholte, so viel freundlicher und subtiler? „Ich kann nur hoffen, dass ich das Richtige tue… Aber so ist wohl das Leben. Nur die Runen wissen, was das Richtige ist. Ich weiß nur, dass ich die Unschuldigen vor diesem furchtbaren Krieg bewahren will.“ Jillia betrachtete ihn erneut, aufmerksamer diesmal, als sehe sie sein Gesicht zum ersten Mal. Dann fragte sie: „Ihr spracht davon, dass ihr diesen Krieg beenden wollt?“ Er nickte. „Ich habe… einen Plan“, bestätigte er. „Allerdings weiß ich nicht, ob er Früchte tragen wird… und ob diese Früchte so aussehen, wie ich es mir wünsche. Und ich werde Eure Hilfe brauchen.“ Jetzt war es raus. Jillia hob überrascht die Brauen. „Meine Hilfe?“, wiederholte sie, offenkundig verwirrt. „Aber wozu? Ich bin nur eine Frau, mein Titel wird Euch in keinster Weise von Nutzen sein. Ich mag die Prinzessin sein, aber das räumt mir keinerlei Rechte ein.“ Jowy zögerte; jetzt wurde es ernst. Grundsätzlich schien Jillia auf seiner Seite zu stehen, aber das, was er von ihr verlangen würde, war kein geringer Preis. Nach einem Blick in ihre Augen wünschte er sich jedoch sehr, sie überzeugen zu können. Er sehnte sich danach, jemanden an seiner Seite zu haben, der an seine menschliche Seite appellierte; für Leon gab es nur die Strategie, den nächsten Schritt, den nächsten Plan – was Jowy dabei fühlte, interessierte Silverberg nicht. „Als einfacher Soldat kann ich nicht viel ausrichten“, erklärte er vorsichtig, jedes Wort mit Bedacht wählend, „selbst, wenn ich in den Rängen der Armee aufsteige. Aber… sollte ich zum Ritter geschlagen werden, würde die Sache anders aussehen. Ich hätte die nötige Macht, die ich brauche, damit die Menschen auf mich hören. Damit ich… damit ich den Krieg aufhalten kann.“ Jillia runzelte die Stirn. „Aber ein gewöhnlicher Mann kann kein Ritter werden“, gab sie zu bedenken. „Nur ein Adliger kann…“ Sie hielt inne und starrte ihn an. In ihren Augen blitzte Verstehen auf; sie hatte begriffen, worum es ging. „Ihr wollt, dass ich Euch heirate“, sagte sie tonlos. „Ich möchte Euch zu nichts zwingen, Prinzessin“, sagte Jowy sofort und hob beide Hände. „Wenn Ihr das nicht tun wollt, verstehe ich das, ich meine, wir kennen uns eigentlich gar nicht… Ich werde mir etwas Anderes überlegen, härter arbeiten… Es gibt andere Wege und Ihr seid mir zu nichts verpflichtet.“ Jillia studierte sein Gesicht sehr, sehr genau. Der Aristokrat bereitete sich bereits innerlich darauf vor, zu weit gegangen zu sein, doch dann, völlig unerwartet, erhob sich die Prinzessin, reckte das Kinn nach vorn und sprach, mit vor Entschlossenheit beinahe flammenden Augen: „Ich tue es.“ „Ihr…?“ „Ich werde Euch heiraten“, stellte sie klar und klang dabei bemerkenswert ruhig. „Wenn es das einzige ist, wozu mein Blut gut ist, dann… dann möchte ich es einsetzen, um Euch zu helfen. Um den Krieg zu beenden.“ Jowy vergaß seine guten Manieren und sprang auf, ergriff über den Tisch hinweg die verkrampften Hände Jillias und rief: „Euer Blut macht Euch nicht aus! Ihr seid ein guter Mensch, Prinzessin, lasst Euch niemals etwas anderes erzählen – Ihr seid ein guter Mensch und Eure Hilfe ist mehr als ich verdiene.“ Der Blick der Prinzessin, zunächst überrascht, wurde schnell mild. Sie lächelte sogar ein wenig, als sie leise bemerkte: „Mein zukünftiger Verlobter ist ebenfalls ein guter Mann… und dabei kenne ich noch nicht einmal seinen Namen.“ Sie sah hinunter auf ihre Hände, die Jowy noch immer zwischen seinen hielt. Er folgte ihrem Blick und wurde rot, ließ sie eilig los und trat einen Schritt zurück. Ihm wurde bewusst, dass er sie überzeugt hatte. Jillia war auf seiner Seite und würde ihm helfen, würde ihn heiraten. Er wünschte, er hätte sich darüber freuen können – stattdessen bedauerte er zutiefst, dass er diese beeindruckende, mutige junge Frau benutzen musste; sie war, trotz all seiner Worte, nichts weiter als ein Werkzeug. Er war nicht besser als Leon. Er war ihr sehr vieles schuldig… da war sein Name das Mindeste, was er ihr geben konnte. „Jowy“, sagte er deshalb und zwang sich zu seinem Lächeln. „Mein Name ist Jowy.“ ------ Die Gärten des Schlosses von L’Renouille gehörten eindeutig zu den wenigen Orten, die Jowy wirklich schätzte, seit er sich in der Hauptstadt aufhielt. Wer auch immer in mühevoller Kleinarbeit die Blumen zu kunstvollen Kompositionen angeordnet hatte, verdiente seiner Meinung nach eine Auszeichnung und einen Orden. Nur hier war es ihm möglich, in Ruhe nachzudenken, fernab von dem Stress, der immerzu im Schloss zu herrschen schien, ganz zu schweigen von Luca Blights wachsamem, bösartigen Blick, fast wie der eines Wolfes, der ein Kaninchen beobachtete. Und Jowy war nicht besonders wohl dabei, das Kaninchen in diesem Vergleich zu sein. Er schauderte und hoffte, dass das hohle Gefühl in seinem Magen nicht von dem Gift rührte, das er nun schon seit einer Woche zu sich nahm. Noch ging es ihm zwar gut, aber er wusste genau, dass das nicht mehr lange anhalten würde. Spätestens in ein paar Tagen würde er Unmengen an Gegengift schlucken müssen, damit er auch wirklich nur Agares Blight tötete und nicht sich selbst gleich mit dazu. Je länger er darüber nachdachte, desto unwohler war ihm bei diesem Plan. Agares mochte nichts getan haben, um den Krieg aufzuhalten, nachdem sein Sohn ihn wieder angefacht hatte, aber immerhin hatte er sich davor bemüht, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen… Jedenfalls hatte Han das gesagt. Aber andererseits war der alte Ritter vielleicht nicht unbedingt die beste Quelle auf der Suche nach eher unangenehmen Informationen über den König. Sein Blick fiel auf eine besonders prächtige Blüte eines Rosenstrauchs und er betrachtete die Blume nachdenklich. Was, wenn all das furchtbar nach hinten losging…? „Jowy!“ Er zuckte überrascht zusammen, richtete sich auf und drehte sich um. Es war Jillia, die da auf ihn zugelaufen kam, und schließlich ganz außer Atem vor ihm zum Stehen kam. „Guten Morgen“, begrüßte er sie etwas verlegen. Er wusste noch immer nicht recht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, nachdem er ihr erklärt hatte, warum er sie heiraten wollte. Doch die Prinzessin schien damit nicht das geringste Problem zu haben. „Du musst unbedingt mitkommen!“, rief sie aufgeregt, ohne auf den Gruß einzugehen. „Ich muss dir etwas zeigen!“ Er hob eine Augenbraue und wollte bereits nachfragen, da ergriff ihn Jillia auch schon am Arm und sah ihn mit großen Augen an. „Es ist wirklich dringend!“, sagte sie drängend und zog ihn schließlich an seiner Hand mit sich, ohne seine Antwort abzuwarten. Überrumpelt folgte Jowy ihr, bis sie an einer großen, weißen Gartenlaube ankamen. „Jillia, was…?“ „Schau!“ Sie wies strahlend zu ein paar großen Rhododendrenbüschen und er tat wie ihm geheißen – nur, um vor Schreck völlig zu erstarren. Zwischen den Büschen saß ein kleines Mädchen, das selbstvergessen mit einem kleinen, weißen Kätzchen spielte. Das an sich wäre nicht unbedingt ein Grund für seinen Schockzustand gewesen – die Tatsache, dass es sich bei dem Mädchen um Pilika handelte, jedoch schon. „P-Pilika…?“ Das Kind drehte sich zu ihm um und lachte, dann rief es: „Onkel Jowy! Ich habe dich vermisst!“ Sie sprang auf und lief auf ihn zu, um ihn fest zu umarmen. „Pilika, was…?“ Wie kam sie hierher? Hätte sie nicht bei Riou und Nanami sein müssen? Was war passiert? Ging es den beiden gut? Tausende Fragen explodierten in seinem Kopf, während er Pilika an sich drückte und nicht wusste, was er tun oder sagen sollte. „Ich habe dich vermisst, Onkel Jowy!“, sagte Pilika ernst und lächelte ihn dann an. „Aber du gehst nicht mehr weg, nicht wahr?“ „Nein, ich…“ Er brach hilflos ab und sah zu Jillia hinüber, welche die Szene lächelnd betrachtete. Was ging hier vor? Wie war Pilika nach L’Renouille gekommen, wenn doch eigentlich Riou und Nanami auf sie aufpassten? „Liebster Schwager“, ertönte in diesem Moment hinter ihm die Stimme von Luca Blight. „Wie schön, dass du uns Gesellschaft leistest.“ Jowy fuhr herum und starrte den Kronprinzen verwirrt an; er stand mit einem besonders blutrünstigen Grinsen hinter ihm und schien etwas hinter seinem Rücken zu verbergen. „Mylord?“ Das ergab keinen Sinn. Luca hatte Pilika töten wollen. Er würde niemals zufrieden neben ihr stehen, während sie mit einer Katze spielte! „Ich dachte, ich bringe dir ein Souvenir aus den Stadt-Staaten mit. Du hast dir das doch so sehnlich gewünscht!“, erwiderte Luca Blight und holte ruckartig die Hand hinter dem Rücken hervor, die bisher verdeckt gewesen war – und Jowy schrie. In der Hand hielt der Prinz einen abgetrennten und noch immer blutenden Kopf… Er gehörte Riou. Mit einem Schrei fuhr Jowy schweißgebadet aus dem Schlaf und realisierte erschrocken, dass er weinte. Ungehindert rannen die Tränen seine Wangen hinunter, während er aufrecht in seinem Bett saß und verzweifelt versuchte, seinen Atem zu normalisieren, aber das war schlichtweg unmöglich. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen und er schnappte heftig nach Luft, doch es gelang ihm nur schlecht, sich zu beruhigen. „Nur ein Traum“, murmelte er. „Es war alles nur ein dummer Traum…“ Ob das nur eine erleichterte Feststellung war oder ob er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, wusste er nicht. ------ „Wenn wir noch länger hier bleiben, werden sie uns entdecken.“ Leons Stimme klang drängend. „Worauf wartest du?“ „Er ist nicht tot“, flüsterte Jowy. Er spürte es an der Art, wie seine Rune die regungslose Gestalt abtastete… „Sie haben ihn nicht getötet, Leon.“ „Sie haben ihn lebensgefährlich verletzt“, versetzte der Stratege mit einer hochgezogenen Augenbraue, „und er wird die Nacht nicht überleben. Du hast dein Ziel erreicht, Junge, lass gut sein.“ Es wäre einfach gewesen, Leons Ratschlag Folge zu leisten, sich abzuwenden und einfach zu gehen. So, so einfach und einen kurzen Augenblick war Jowy versucht, es einfach zu tun. Aber dann erinnerte er sich an Blut und Verzweiflung und das stete Tropfen von Wasser, irgendwo in den Tiefen der Verliese von Muse. Er erinnerte sich an furchtbare, eisige Kälte und Dunkelheit, wo auch immer er hingeblickt hatte… Aber nicht länger. Er hatte sich damals etwas geschworen und diesen Schwur würde er nicht brechen, auf keinen Fall. „Es tut mir leid, Leon, das kann ich nicht“, sagte er leise und ließ seinen Blick über die letzten Soldaten der Allianz gleiten, die an ihrem Versteck vorbeigingen; Riou und die oberen Befehlshaber waren längst in den Tiefen des Waldes verschwunden. „Da gibt es etwas, das ich erledigen muss.“ Leon machte ein seltsames, undefinierbares Geräusch – vielleicht war es ein abfälliges Schnauben, vielleicht war es auch ein zustimmendes Brummen – sagte jedoch nichts und blieb wo er war, auch, wenn sein Gesichtsausdruck sich in der Dunkelheit zusehends verdüsterte. Jowy wusste nicht, wie lange sie sich noch verborgen hielten, aber irgendwann traute er sich doch, die Lichtung zu betreten. Der weiche Waldboden war platt getreten von vielen Dutzend Paaren Stiefel und fühlte sich eigenartig unter seinen Sohlen an, aber der Aristokrat ging trotzdem unbeirrt weiter, bis er bei dem leblosen Körper Luca Blights ankam. Aus der Nähe sah der Mann noch übler aus – er lag auf dem Bauch, das schwarze Haar war verfilzt und um ihn herum breitete sich stetig eine immer größer werdende Blutlache aus. Die Rüstung, die einst bis zur Perfektion poliert gewesen war, war nun zerkratzt und dreckig und plötzlich wirkte der Mann, der sie trug, gar nicht mehr so groß und mächtig. Eher klein, dünn und sehr, sehr schwach. Von der monströsen Erscheinung des Luca Blight, des Mörders unzähliger Unschuldiger, war nicht mehr viel übrig. Einen Augenblick blieb Jowy nur schweigend vor dem König stehen, dann ging er in die Knie, packte den älteren Mann an den Haaren und zog ihn unsanft hoch. Er war schwer, schwerer als erwartet, aber Luca entwich ein leises Stöhnen, das Jowys Verdacht bestätigte – der Prinz lebte. Gerade eben noch. Lucas Augenlider flatterten und öffneten sich quälend langsam, bis der unfokussierte Blick fast schwarzer Augen auf Jowys graue traf. „Du…“, ächzte der König und im Licht der vereinzelten Glühwürmchen, die noch um ihn herumschwebten, verzogen sich seine rissigen, blassen Lippen zu einem Grinsen. „Gekommen, um… mich zu retten?“ Er lachte heiser, doch angesichts seiner durch die Pfeile wahrscheinlich völlig zerstörten Lungen hörte es sich mehr nach einem gurgelnden Husten an. Emotionslos sah Jowy auf den Mann hinab. Nicht einmal Ekel rief die Erscheinung des sterbenden Mannes in ihm aus. Nur beiläufig registrierte er, wie Leon mit einer Fackel neben ihn trat; wenigstens besaß der Stratege genug Taktgefühl, um nichts zu sagen. Das rechnete Jowy ihm hoch an. Im Licht der Fackel sah der gefallene König noch schlimmer aus; unter seinen Augen waren tiefe Schatten und er wirkte mehr wie eine groteske Karikatur seiner Selbst. In Jowys Innerem versteifte sich alles, als er dieses jammervolle Bild betrachtete. „Du bist an allem Schuld“, sagte er tonlos und blickte in die dunklen Augen, die jeden Moment wieder zuzufallen drohten. „Deinetwegen habe ich alles verloren, musste alles verraten, was mir lieb und teuer war…“ Einen Augenblick lang starrte Luca Blight ihn an, dann wurde das Grinsen plötzlich blutrünstig, grausam. „Meine Schuld?“, echote der König mit diesem furchtbaren, höhnischen Unterton in der Stimme. „Oh nein… Das hast du dir alles selbst… zuzuschreiben!“ Er lachte und in seinen Lungen blubberte etwas. „Du bist mir… viel, viel ähnlicher… als du glaubst!“ Ein Rinnsal Blut rann aus Lucas Mundwinkel. Vielleicht war es die Tatsache, dass er seit mehreren Monaten seinen Hass auf diesen Mann unterdrückt hatte, vielleicht lag es auch daran, dass die Worte mehr Wahrheit enthielten, als Jowy eigentlich lieb war. Aber mit einem Mal explodierte die Wut in seinem Inneren, heftiger als je zuvor, verzehrender, schärfer. Runen, wie er diesen Mann hasste! Schneller als er selbst es verstand, hatte Jowy den Dolch aus seinem linken Stiefel gezogen und ihn mit aller Kraft, die er aufbieten konnte, in Luca Blights Hals gerammt. Blut spritzte hervor und mit einem letzten, widerlichen Röcheln, das nur allzu schnell zu einem Gurgeln wurde, wich der letzte Rest Leben aus dem ehemaligen König von Highland. Im Geist des Aristokraten frohlockte die Rune des Schwarzen Schwerts; er hatte seinen Schwur erfüllt. Ein Ächzen entwich ihm, als ihm im vollem Umfang bewusst wurde, was er da gerade getan hatte, und er zog seine Hand angewidert zurück. In seinen Ohren klangen Luca Blights letzte Worte unangenehm real nach. „Ich bin nicht wie du“, flüsterte Jowy erschüttert und stand ruckartig auf. Das Blut an seinen Fingern fühlte sich unnatürlich heiß an, heiß und eklig. Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, sich zu waschen – oder weit, weit fortzulaufen und sich niemals wieder umzudrehen. „Das war unnötig“, bemerkte Leon nach einer Weile leise und seufzte. „Ich habe es mir selbst geschworen“, erwiderte Jowy dumpf und fragte sich, ob seine Stimme nur in seinen eigenen Ohren zitterte. Sein Stratege sagte nichts dazu, sondern wandte sich nur schweigend von dem Leichnam ab und sagte: „Lass uns gehen – wir haben schon zu viel Zeit hier verbracht. Beeilen wir uns, das hier ist immer noch Feindesland…“ „Ja…“ Er folgte Leon durchs Unterholz und versuchte verzweifelt, den wahnsinnigen Blick Luca Blights aus seinen Gedanken zu verbannen, der sich dort festgebrannt zu haben schien. Er war nicht wie Luca Blight. Er war womöglich viel, viel schlimmer. ------ „Jowy!“ Er sah auf und sah Jillia die Treppe hinuntereilen, die zu ihren Gemächern führte. Ihre schwarzen Haare wehten hinter ihr her, den Saum des langen, dunkelblauen Kleides, das sie trug, hatte sie angehoben, um sich beim Laufen nicht darin zu verheddern. „Willkommen zurück“, begrüßte die Königin ihn erleichtert lächelnd. „Ich habe mir Sorgen gemacht… Es heißt, es hätte Kämpfe gegeben.“ „Es ist alles in Ordnung“, beruhigte er sie mit einem schwachen Lächeln. „Aber ich fürchte, dass der Krieg noch eine Weile weitergehen wird… Wir konnten keine Einigung mit der Allianz-Armee erzielen.“ Dass es eine erzwungene Einigung gewesen wäre, hatte er ihr nicht erzählt. Natürlich nicht. Jillia brauchte von alldem nichts zu wissen… Es war nicht ihre Sorge. „Wir müssen es weiter versuchen“, sagte sie ernst. „Dieser Krieg muss enden und das bald.“ „Ich weiß…“ Jillia schien noch etwas sagen zu wollen, als sie plötzlich Pilika bemerkte, die sich mittlerweile an Jowys Hosenbein klammerte und mit großen Augen zu ihr aufsah. „Du hast jemanden mitgebracht?“ Er sah von Pilika zu Jillia und nickte, dann nahm er das kleine Mädchen an die Hand und sagte: „Das ist Pilika. Pilika, das ist Jillia.“ Die Königin ging ohne viel Umschweife in die Knie, um mit dem Mädchen auf einer Augenhöhe zu sein, und lächelte es an. „Hallo, Pilika.“ „Ist das eine Freundin von dir, Onkel Jowy?“ Er sah zu Pilika hinunter und wusste einen Moment lang nicht, was er darauf erwidern sollte. Waren er und Jillia befreundet? Sie arbeiteten zusammen und waren sich beide über ihre Zweck-Heirat bewusst, aber… „Ich bin sogar mehr als seine Freundin“, antwortete Jillia an seiner Stelle. „Ich bin seine Ehefrau.“ Pilika sah erstaunt zu Jowy auf, dann schüttelte sie die dargebotene Hand der jungen Königin. „Dann magst du Tante Jillia?“ Pilikas braune Augen blickten ihn erwartungsvoll an und Jowy nickte langsam und zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, natürlich.“ Ganz gelogen war das nicht. Jillia war ihm sympathisch genug, dass er freiwillig und sogar recht gerne Zeit mit ihr verbrachte, wenn es möglich war. Und dennoch… „Magst du Onkel Jowy auch?“, fragte Pilika weiter und sah Jillia an. Diese nickte und entgegnete: „Aber sicher, Pilika.“ Einen Moment lang schwieg das kleine Mädchen, dann sah sie wieder zu Jowy auf und fragte: „Habt ihr euch lieb?“ Jowy zuckte zusammen und war unheimlich froh, dass er Pilikas Hand nicht mehr hielt. Seine Hände waren vor Nervosität feucht geworden. Er sah hilfesuchend zu Jillia hinunter, die zögernd zu ihm aufsah. Was sollte er sagen? Was konnte er sagen? Er wollte Pilika nicht anlügen, nicht schon wieder, nicht nach all den Lügen, die er in den letzten Monaten erzählt hatte… „Natürlich!“, sagte Jillia schließlich. „Immerhin sind wir verheiratet!“ Beide wussten, dass es eine gewaltige Lüge war, wenn nicht die größte überhaupt. Doch Jowy konnte nur nicken und bestätigen: „Genau.“ Zuerst sagte Pilika gar nichts mehr, dann zog sie einen Schmollmund und rief: „Das ist gemein! Ich wollte Onkel Jowy heiraten!“ Jetzt verlor er völlig den Faden und starrte das Mädchen verwirrt an. Was…? Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und wusste immer noch nicht, was er darauf antworten konnte. Aber Jillia wusste es offenbar ganz genau. Sie lachte und zwinkerte Pilika zu: „Nun, vielleicht kann ich ihn dir dreimal die Woche ausleihen?“ „Nein!“, entgegnete sie entschieden. Jillia machte ein nachdenkliches Gesicht und schlug dann vor: „Was hältst du davon, wenn wir das besprechen, während ich dir dein Zimmer zeige?“ „Ich bekomme ein eigenes Zimmer?“ Pilikas Augen hatten zu leuchten begonnen und die Königin nickte. „Aber natürlich. Komm mit, kleine Lady.“ Sie hielt dem Mädchen eine Hand hin, die diese mit Freuden ergriff, und erhob sich dann. Zuletzt drehte sie sich noch einmal zu Jowy um und sagte: „Ich möchte, dass du heute in meinen Gemächern mit mir zu Abend isst.“ Kurz zögerte er. Wollte er das wirklich? Eigentlich war ihm mehr danach zumute, sich hinzulegen und eine Weile lang niemanden mehr zu sehen, doch ihm war bewusst, dass er sich das nicht erlauben konnte. „Natürlich“, sagte er daher und sah den beiden nach, wie sie die Treppe zu Jillias Gemächern wieder hinaufstiegen. Pilika winkte ihm über die Schulter hinweg zu und er winkte mechanisch zurück, dann wandte er sich ab und marschierte schnurstracks zurück in seine eigenen Gemächer, um wenigstens ein paar Stunden lang allein zu sein. Die Sonne ging unter, als er an die Tür zu Jillias Räumen klopfte. Das sah er durch die großen Fenster des langen Flurs, in dem er stand. Hunger hatte er keinen, schon seit der Abreise aus Muse nicht mehr. Aber er wusste, wie viel er Jillia schuldig war… Ein kleines Abendessen zu zweit war nicht viel verlangt. Jillia selbst öffnete ihm die Tür und führte ihn an einen Tisch, den sie wahrscheinlich hatte decken lassen. Er fühlte sich unwohl; das letzte Mal war er hier gewesen, um sie davon zu überzeugen, dass sie ihn heiratete. Und obwohl das noch gar nicht so lange her war, fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Jowy registrierte nicht wirklich, was er aß, und hätte man ihn später gefragt, was es gegeben hatte, hätte er nicht antworten können. Er wusste nur, dass er die ganze Zeit über Jillias aufmerksamen Blick auf sich spürte. „Wir sind schon fast einen Monat verheiratet“, sagte sie plötzlich und er sah sie an. „Ja.“ „Weißt du…“, fuhr sie fort und nahm einen Schluck Wein, der viel zu rot für seinen Geschmack war. Seit der Zeremonie, in der er Agares Blight seine Treue geschworen und ihn unmittelbar danach verraten hatte, konnte er keinen Rotwein mehr sehen; Jillia ahnte das offenbar – sein eigenes Glas enthielt kristallklaren Weißwein. „Als kleines Kind habe ich davon geträumt, dass mich eines Tages ein stattlicher Ritter auf seinem weißen Ross von hier wegholen und weit, weit weg bringen würde. Vater war anderer Meinung… Er sagte immer, ich würde irgendwann einen Bürger erster Klasse aus Harmonia heiraten.“ Sie hielt kurz inne und lächelte dann. „Ich bin froh, dass es nicht so gekommen ist.“ „Aber ich bin kein Ritter, Jillia.“ Er war es vielleicht auf dem Papier, aber nicht im Herzen. Ein Ritter stellte die Treue zu seinem Herrn über alles Andere – Jowy tat das nicht. Er hatte seine letzten beiden Herren wissentlich und willentlich in den Tod laufen lassen. „Das nicht“, räumte die junge Königin ein, „aber ich stelle es mir trotzdem gerne vor.“ ------ Nur ein paar Kerzen brannten noch im Thronsaal, als er ihn betrat. Durch die großen, nach oben hin spitz zulaufenden Buntglasfenster fiel Mondlicht herein, das den gesamten Saal in ein gespenstisches Licht tauchte – aber vielleicht kam es ihm auch nur so vor, weil er wieder von Albträumen aus dem Schlaf gerissen worden war und seither nicht mehr einschlafen konnte. Seine Ruhelosigkeit hatte ihn schließlich hierher getrieben. Auf den blanken Marmorfliesen sah er vor dem Thron das Mal der Biest-Rune schwach im Dunkeln glimmen und er spürte ihren rücksichtslosen Zugriff auf seine Seele. Seine rechte Hand erzitterte unter der Anstrengung, die Rune des Schwarzes Schwerts unter Kontrolle zu behalten, als diese ihre eigene Macht aussandte, um die Biest-Rune in ihre Schranken zu verweisen. Er atmete erleichtert durch, als er fühlte, wie sich die Klauen der Biest-Rune aus seinem Inneren zurückzogen, und fragte sich abermals, warum er überhaupt noch herkam, wenn es sich vermeiden ließ. Er wusste, dass der Thronsaal in seinem Zustand nicht der beste Aufenthaltsort war, da er nie ganz sicher sein konnte, dass er der Last, beide Runen zu zähmen, standhalten würde, aber dennoch zog es ihn immer wieder her. Möglicherweise war es die gleiche Faszination des Abartigen, die ihn dazu getrieben hatte, unter Luca Blight zu arbeiten und alle zu verraten, die er geliebt hatte… „Jowy…?“ Er fuhr herum und erkannte im unheimlichen, blauen Licht, das den Thronsaal ausfüllte, Jillia am anderen Ende des Raumes unschlüssig in der Tür stehen. Sie trug ihr Nachtgewand und darüber eine Seidenrobe und wirkte verletzlicher denn je. Was wollte sie hier? „Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte Jillia besorgt und trat näher. Er schwieg, weil sie die Antwort wahrscheinlich ohnehin wusste. Wäre alles in Ordnung gewesen, wären sie beide nicht hier… Als sie ihn erreichte, blieb sie einen Moment unsicher stehen, dann berührte sie ihn vorsichtig am Arm. Jowy zuckte zurück und bereute es sofort; sie sah ihn traurig und enttäuscht an. „Wir… verlieren den Krieg, nicht wahr?“, fragte sie schließlich leise. Er seufzte. „Ja“, antwortete er ehrlich. „Die Allianz-Armee hat uns hinter die Grenze zurück getrieben und wird wohl bald nach L’Renouille aufbrechen.“ „Jowy, wenn… wenn wir den Krieg ohnehin verlieren, dann… Wäre es nicht besser, einfach aufzugeben?“ „Nein!“ Sie fuhr zusammen und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an, dabei war er selbst nicht minder erschrocken über seinen Ausbruch. „Ich kann nicht einfach aufgeben“, fügte er sehr viel leiser und vor allem ruhiger hinzu. „Es… gibt zu viel, das…“ „Aber du kannst keinen aussichtslosen Krieg kämpfen“, sagte Jillia überraschend sanft. „Du verstehst das nicht…“ „Nein“, gab sie zu, „nein, ich verstehe es nicht. Deshalb möchte ich, dass du es mir erklärst.“ „Das…“ „Das geht mich nichts an?“ Sie lächelte bitter. „Vielleicht hast du Recht und es geht mich wirklich nichts an. Aber… du kannst das allein nicht durchstehen, Jowy. Ich sehe doch, dass du leidest! Und… es ist mir nicht egal!“ Sie schüttelte den Kopf und er sah mit einigem Schrecken Tränen in ihren Augen glitzern. „Lass mich dir bitte helfen.“ Jowy zögerte und das ziemlich lange. Er war überrascht, gerührt und erschrocken zugleich über Jillias Worte und doch wollte er es tunlichst vermeiden, sie in all das hineinzuziehen. Sie hatte all das nicht verdient und… „Oder vertraust du mir nicht?“ Er starrte sie an. „Ich…“ „Du bist nicht wie er“, murmelte Jillia und schlang die Arme um ihren Oberkörper, als wäre ihr kalt. „Ich flehe dich an, versuch nicht, es zu sein, und alles für dich zu behalten, um schlussendlich wie er wahnsinnig zu werden.“ Er musste nicht erst nachfragen, wen sie meinte. Jowy seufzte. Er hob den Blick auf das Wappen der Blights, das auf einem riesigen Wandteppich aufgestickt war, der hinter dem Thron hing, und sagte langsam: „Wenn ich jetzt aufgebe, wird vielleicht Frieden herrschen. Highland und der Staatenbund werden erneut einen Vertrag unterschreiben und dann werden wir vielleicht die nächsten zehn Jahre friedlich leben. Aber irgendwann wird wieder jemand wie Luca Blight kommen, der dem Königreich Highland einen höheren Wert zumisst als allen anderen… und wir werden wieder in einem Krieg gefangen sein. Der Staatenbund und Highland werden niemals miteinander koexistieren können, weil Hass und Misstrauen zu tief verankert sind. Wir werden niemals aufhören zu kämpfen, bis nicht eines dieser Länder in Schutt und Asche liegt.“ „Aber…“, begann Jillia, doch er wusste, was sie sagen würde. Er hatte die gleichen Proteste geäußert, als Leon Silverberg ihm eingebläut hatte, warum dieser Krieg für die Ewigkeit war, wenn er ihn nicht selbst beendete. „Es hat keinen Sinn“, unterbrach er sie sanft. „Nur er und ich können diesen Krieg endgültig beenden.“ „Woher weißt du das so genau? Wie kannst du dir da so sicher sein, Jowy?“ Weil seine Rune es ihm täglich einflüsterte. Weil Schwert und Schild immer gegeneinander kämpfen würden. Weil die Rune des Anfangs zwei Seiten hatte. Weil nur er die Biest-Rune noch davon abhielt, über Highland herzufallen und die Leben der Menschen hier auszulöschen… Doch all das sagte er nicht. Stattdessen flüsterte er ein einziges Wort: „Schicksal.“ Jillia stieß Luft aus ihren Lungen, doch er konnte nicht interpretieren, was ihre Absicht dahinter war. Sie standen nebeneinander in diesem riesigen, kalten Saal, fröstelten in der kühlen Nachtluft des herannahenden Herbsts und schwiegen. Als er es nicht mehr aushielt, erzählte er leise, einfach, um etwas zu sagen: „Die Moral der Truppen ist niedrig… Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie spüren den nahenden Untergang, ich weiß es. Aber ich kann nicht aufgeben… Ich darf nicht…“ Jowy spürte Jillias mitleidigen Blick auf sich, dann erwiderte sie leise: „Die Männer, die unter meinem Bruder gedient haben, sind ihm sehr ähnlich, weißt du? Es dürstet sie nach Blut. Es geht schon lange nicht mehr darum, die Leben der Jugendbrigade zu rächen… Es ist blanke Gier, mehr Blut, mehr Zerstörung und mehr Tod zu sehen.“ Jowy schauderte bei diesen Worten. Es war ihm eigentlich bewusst gewesen, aber er hatte es nicht wahrhaben wollen. Immerhin besaßen diese Männer zu Hause eine Familie – Frauen, Kinder, Eltern. Er hatte in ihnen Menschen gesehen und keine Monster wie in Luca Blight. „Und sie würden das Kostbarste geben, was sie haben, um das zu erreichen“, fuhr Jillia betrübt fort, „ihre Leben.“ Sie strich sich eine Strähne ihres langes, schwarzen Haares, das in diesem Licht einen blauen Schein hatte, hinters Ohr. „Und als ihr König musst du es ihnen gleich tun.“ Jowy starrte sie an und fühlte sich, als habe man ihm mit etwas Schwerem auf den Kopf geschlagen. „Ich… Ich soll – Selbstmord?“ Jillia hob den Blick und sah dabei furchtbar entsetzt aus. „Nein!“, erwiderte sie gepresst und so laut, dass ihre Stimme von den Wänden des leeren Saals zurückgeworfen wurde und in einem unheimlichen Echo nachklang. „Nein, natürlich nicht!“ Sie atmete durch, wie um sich von dem Schreck zu erholen, dann schüttelte sie den Kopf und lächelte sehr, sehr seltsam, in einer Art, die ihn mehr an Leknaat als an sie selbst erinnerte. „Hast du schon einmal Schach gespielt, Jowy?“ Der plötzliche Themenwechsel überrumpelte ihn so sehr, dass er einen Moment lang nichts sagen konnte, ehe er sich dazu durchrang, es doch zu tun. „Ja, habe ich. Früher, als…“ Als noch alles in Ordnung gewesen war. Als er mit Meister Genkaku noch hatte hinter dessen Haus sitzen und Schach spielen können, während die gelangweilte Nanami herumgejammert und Riou ihnen fasziniert zugesehen hatte… „Dann weißt du, welche Figur neben dem König am wichtigsten ist.“ „Die Königin, aber was…?“ Und dann begriff er. „Nein! Jillia, das kannst du nicht tun!“ Sie schüttelte nur stumm den Kopf. „Ich kann und ich werde, wenn es das ist, was nötig ist“, sagte sie leise und er erschrak darüber, wie sehr ihre Stimme zitterte. „Es ist mein Volk und ich bin ihre Königin. Ich verstehe vielleicht nichts von Politik, nichts von Kriegen, Strategien und Intrigen… aber ich bin immer noch eine Königin.“ Sie hob den Kopf und sah ihm genau in die Augen. Würdevoll, anmutig – und dennoch mit so viel Angst. „Wenn es das ist, was getan werden muss, damit dieser furchtbare Krieg endlich ein Ende findet, Jowy, dann werde ich es tun.“ „Das werde ich nicht zulassen“, widersprach er und ergriff sie an den Schultern. „Verstehst du nicht, dass dein Bruder genau das gewollt hätte? Zuzusehen, wie du dich diesen Wölfen vor die Füße wirfst? Ich werde dich nicht opfern, Jillia, egal, was passiert!“ Zuerst starrte sie ihn nur wortlos an, dann fiel sie ihm um den Hals und drückte sich ganz fest an ihn. „Danke“, hörte er sie flüstern. „Dafür, dass ich dich nicht umbringen werde?“ Er lachte hohl auf. „Dass du trotz allem nicht wie er bist.“ Er spürte ihre Lippen in einem flüchtigen, federleichten Kuss an seiner Wange, dann löste sie sich auch schon von ihm und trat einen Schritt zurück, als müsse sie sich arg zusammenreißen. Und er stand nur da, sah sie an und konnte nicht fassen, dass er für diese wunderschöne, mutige junge Frau nur Mitleid empfand. Mitleid, weil sie bereit war, in den Tod zu gehen, obwohl das seine Aufgabe war. Weil sie ihn so sehr liebte. Und vor allem, weil er diese Liebe nicht erwidern konnte, nicht einmal ein winziges Bisschen. „Ich werde mir etwas überlegen“, sagte er schnell, weil er es nicht ertragen konnte, die Liebe in ihren Augen länger mit anzusehen. „Etwas, das… niemandes Tod verlangt.“ Außer seinem eigenen vielleicht, denn er war sich sicher, dass er die Biest-Rune unmöglich noch viel länger im Zaum halten konnte, wenn Riou nicht bald hierher kam und all dem ein Ende setzte. „Geh wieder ins Bett…“ Jillia blieb einen endlosen Augenblick stehen, in diesem unnatürlichen Licht, ihrem Nachtgewand und der dünnen Seidenrobe darüber – dann nickte sie und warf ihm ein schwaches Lächeln zu. „Gute Nacht, Jowy.“ „Gute Nacht… Jillia.“ Sie ging und er blieb allein zurück, fröstelnd und irgendwie verloren, aber dennoch hatte er bereits jetzt eine Entscheidung getroffen. Er hatte beim Schachspiel noch nie seine Königin opfern müssen, egal, ob er nun verloren oder gewonnen hatte… und er würde jetzt nicht damit anfangen. Kapitel 40: Das Ende des Wegs ----------------------------- „Onkel Jowy? Was ist los?“ Bei den Runen, musste das wirklich sein? Gab es denn keinen anderen Weg? Musste das alles so enden…? Ihm war schlecht, so furchtbar schlecht. Er zitterte am ganzen Leib und wusste genau, dass er die Nacht nicht überleben würde. Sein einziger Trost war, dass Pilika und Jillia es nie erfahren würden… Er drehte sich zu ihr um und betrachtete die Zöpfe in ihrem Haar, das inzwischen bis zu ihrem Kinn nachgewachsen war. „… Pilika…“ Das kleine Mädchen sah mit fragendem Blick zu ihm auf und er machte einen Schritt auf sie zu, während er sich zwang, sich die Schwäche nicht anmerken zu lassen. Oder die Tatsache, dass er kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. „Pilika, Süße… Wir… müssen uns jetzt voneinander verabschieden.“ Er hatte erwartet, dass sie laut protestieren würde, dass sie ihn umarmen und ihn anflehen würde, es nicht zu tun, aber sie überraschte ihn, indem sie nur den Kopf neigte und sehr, sehr leise sagte: „Ja.“ Runen, wie erwachsen sie geworden war. Viel zu erwachsen für ihr Alter, viel zu reif, viel zu verständnisvoll… und er war Schuld. „Aber du kommst bald zurück“, fuhr Pilika dann unerwartet fort. „So wie du es immer tust, nicht wahr?“ In den riesigen braunen Augen stand so viel Hoffnung, dass es ihm die Luft abschnürte. Er konnte nicht atmen, nicht reden. Und dennoch hörte er sich selbst sagen: „Das hier ist wahrscheinlich das letzte Mal, das wir uns sehen. Das ist… ein Abschied für immer, Pilika.“ Zuerst sah sie ihn nur an, dann entwich ihr doch ein Schluchzen. „… Nein…“ In diesem Moment schossen ihr die Tränen in die Augen und sie schrie: „Nein! Nein, nein, nein! Ich will nicht, dass du gehst! Ich will nicht alleine sein!!“ Sie weinte so herzzerreißend, dass er sich selbst dafür verabscheute, was er diesem unschuldigen Kind immer wieder angetan hatte. „Pilika… hör mir bitte zu“, bat er und ging leicht in die Knie, um ihr in die Augen sehen zu können. „Du wirst aufwachsen und eine Menge Leute kennen lernen. Und… du wirst auch viele Menschen verlieren. Also genieße die Zeit mit ihnen, denn nichts… nichts währt ewig. Vergiss das nicht, Pilika.“ Nichts währte ewig. Nicht seine Freundschaft mit Riou, nicht die Liebe seiner Mutter, nicht sein eigenes Leben. Und dennoch… Pilika sagte nichts, sondern weinte nur weiter, die Finger jetzt in seinen Mantel gekrallt, haltlos schluchzend. Oh, bei den Runen, wie er es hasste, wenn sie weinte! Er hatte so viel gesehen, so viel durchgestanden und noch immer war er der hilflose Junge, der nichts tun konnte, um dieses arme, kleine Mädchen zu trösten. Er konnte sie nicht einmal in den Arm nehmen, weil er fürchtete, dass sie seinen rasenden Herzschlag bemerkte, sein Zittern, die ungleichmäßige Atmung… und die fiebrige Hitze, die sein Körper ausstrahlte, der sich mit letzten Kräften gegen eine Macht wehrte, die seit so langer Zeit von ihm zehrte. Schließlich drang wie durch einen Schleier Pilikas verweinte Stimme zu ihm hindurch: „… Ich verstehe…“ Er sah sie an, wartete auf den nächsten Ausbruch, doch er kam nicht. Stattdessen fragte sie: „Aber, aber… Kannst du mir einen Gefallen tun?“ „Natürlich“, antwortete er sofort. Wenigstens konnte er etwas tun… „Was ist es?“ „… Kannst du mich hochnehmen und mich ganz, ganz fest halten? So wie Papa es gemacht hat? … Nur… nur einmal. Bitte.“ Er schauderte. Aber abschlagen konnte er ihr diesen einen, letzten Wunsch nicht… als wenn er es überhaupt irgendwann gekonnt hätte. Seine Befürchtungen waren zweitrangig. „… Natürlich.“ Er erhob sich und appellierte innerlich an all seine Kraftreserven, dass sie ihn nicht jetzt verlassen würden, dann ergriff er sie unter den Armen und hob sie hoch. Er drückte sie an sich, so fest er konnte, ohne ihr weh zu tun, ihr schlagendes Herz dicht an seinem. „Papa hat mich auch so festgehalten“, murmelte Pilika an seinem Ohr. „Ganz… genau so…“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Der Stich in seinem Herzen war diesmal so stark, dass er sie fast fallen ließ. Doch er riss sich zusammen, schloss die Augen und flüsterte: „Danke… Pilika.“ Wofür er sich bedankte, wusste er selbst nicht genau. Aber wahrscheinlich dafür, dass sie ihm nach all dem immer noch so bedingungslos vertraute. Dass sie ihn liebgewonnen hatte… „Du hast mich rufen lassen?“ Jillia. Jowy öffnete die Augen wieder, ließ vorsichtig Pilika zurück auf den Boden und sagte: „Komm rein.“ Die Absätze von Jillias Schuhen klickten leise auf dem Marmorfußboden, bis sie schließlich vom dicken Teppich gedämpft wurden. Er sah noch einmal kurz zu Pilika hinunter, dann drehte er sich zu der jungen Königin um. Sie wirkte gefasst, obwohl sie wahrscheinlich längst wusste, was vor sich ging. Plötzlich fragte er sich, warum er sie eigentlich so unterschätzt hatte… Aber es war zu spät, um jetzt noch etwas daran zu ändern. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Jillia“, sagte er. „Worum geht es?“ Er wollte das nicht vor Pilika sagen, aber er konnte sie einfach nicht fortschicken. Noch nicht. „Seed und Culgan werden uns etwas Zeit verschaffen können“, erklärte er. „Aber früher oder später wird dieses Schloss fallen.“ Nach allem, was er wusste, war die Allianz-Armee bereits in der Stadt. Seine Rune prickelte, wahrscheinlich, weil sie die Rune des Hellen Schilds ganz in der Nähe spürte. Riou war hier. Bald würde es vorbei sein. Bald… „Wenn das passiert, wird das Königreich Highland verschwinden“, fuhr er leise fort. „Ich möchte, dass du Pilika mit dir nimmst und nach Harmonia fliehst. Ich habe alles vorbereitet… Dort ist ein schönes Haus für euch beide. Ich möchte, dass ihr dort lebt, aber nicht als Mitglieder der Blight-Familie, sondern unter einem neuen Namen. Damit ihr beiden noch einmal ganz neu anfangen könnt…“ Jillia sagte lange Zeit gar nichts. Er ertrug es nicht länger, ihr in die Augen zu sehen, und drehte sich lieber wieder zu Pilika um, die nun wenigstens nicht mehr weinte. Dann flüsterte die junge Königin: „… Wie Ihr wünscht, mein Lord. Also… ist es wirklich vorbei?“ „So ist es.“ „Dann… Lebwohl…“ Beinahe fuhr er zu ihr herum. Das war es? Das war der Abschied von Jillia, der Frau, die beinahe ihr Leben gegeben hätte dafür, damit er seine Truppen bei Laune halten konnte? Aber er tat es nicht. Er schloss nur die Augen und betete zu den Wahren Runen, dass sie endlich gehen würde. Er konnte einfach nicht mehr in ihrer Nähe sein… „Pilika, Schätzchen… Komm mit“, ertönte hinter ihm Jillias Stimme sanft. Jowy öffnete die Augen wieder und versuchte ein Lächeln, doch seine Mundwinkel zuckten nur schwach, als er zu dem kleinen Mädchen hinuntersah. „Ich hab dich lieb, Onkel Jowy…“ Und dann ging Pilika, mit nassen Wangen, ohne einen Blick zu ihm zurückzuwerfen. Das war wahrscheinlich auch besser so… Sonst würde er derjenige sein, der in Tränen ausbrach und getröstet werden musste. Er wartete, bis Pilikas Schritte verklungen waren, dann sagte er: „Jillia… Vergib mir.“ Er wusste, dass sie noch immer hinter ihm stand. „Warum sagst du so etwas? Warum entschuldigst du dich?“ Verblüfft drehte er sich zu ihr um und starrte in ihre traurigen, blauen Augen. „Jillia…?“ „Denkst du noch immer, ich hätte keine Ahnung? Dass du mich nur benutzt hast, was du meinem Vater und meinem Bruder angetan hast?“ Sie schluchzte leise, während ihre Stimme immer brüchiger wurde. „Ich wusste es doch die ganze Zeit! Und trotzdem, trotzdem habe ich dich geliebt für deine Träume, deine Ideale und deine Ziele!“ Nun weinte sie wirklich. „Warum entschuldigst du dich jetzt? Du brauchst das nicht zu tun. Du bist mein Ehemann und der eine Mann, den ich immer lieben werde!“ Er starrte sie an, mit offenem Mund. Sein Körper erzitterte unkontrolliert, der Kloß in seinem Hals war so riesig, dass er glaubte, er würde jeden Moment ohnmächtig umfallen, weil er nicht mehr atmen konnte. Sie sahen einander an und keiner sagte ein Wort. Dann wischte sich Jillia endlich die Tränen weg und atmete tief durch. Anschließend wandte sie sich ab und machte ein paar Schritte auf die Tür zu, hielt jedoch inne und fragte leise: „Wenn ich sterben würde… würdest du für mich weinen?“ Natürlich würde er das. Lange und laut und das, obwohl er noch immer nichts weiter für sie empfand als tiefstes, ehrliches Mitleid und unendliche Dankbarkeit für all ihre Güte. „Bitte lebe“, erwiderte er mit bebender Stimme, wandte den Blick von ihrem schmalen Rücken ab und ihr damit den seinen zu. Einen Moment lang geschah nichts, dann hörte er ihre schnellen Schritte und fuhr herum, gerade noch rechtzeitig, als sie ihn in eine Umarmung schloss. Und dann küsste sie ihn, verzweifelt, tieftraurig, während erneut Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Und er – erwiderte diesen ersten, letzten Kuss, weil er gar nicht anders konnte. Weil das alles war, was er ihr geben konnte… weil er sie nicht lieben konnte. Als sie sich wieder voneinander lösten, barg Jillia das Gesicht an seiner Schulter und flüsterte: „Das ist… dann das Lebewohl.“ „Ja…“ Seine Stimme vernachlässigte ihren Dienst und so behielt er Jillia einfach weiter im Arm, bis sie sich vorsichtig aus seiner Umarmung löste. „Lebewohl… Jowy.“ Sie sah ihm ein letztes Mal in die Augen und er sah wieder all die Liebe, die sie für ihn verspürte. Und… dieses eine Mal konnte er es ertragen und begegnete ihrem Blick. „Lebwohl… Jillia.“ Dann ließ sie ihn los, lächelte ihn ein allerletztes Mal an und lief hinaus, Pilika hinterher, um hoffentlich in Harmonia ein friedliches Leben zu führen. Jowy blieb allein zurück, lehnte sich schwer an den Bettpfosten seines Himmelbetts und bedeckte sein Gesicht mit einer Hand. Nur dieses eine Mal erlaubte er es sich, seiner Schwäche nachzugeben… Eine dicke, verlorene Träne rann seine Wange hinunter, gefolgt von einer zweiten, dritten und vierten – und dann weinte er, geräuschlos, allein in dem Zimmer, das gerade zum Schauplatz des nicht unbedingt heldenhaften Untergang von Jowy Atreides-Blight wurde. Es war vorbei. Und er konnte endlich, endlich an den Ort zurückkehren, an dem er vor all der Zeit ein Versprechen gegeben hatte. An den Ort, wo sie sich wiederfinden würden… nachdem sie einander verloren hatten. Wie er die Reise hierher überlebt hatte, wusste er nicht. Wie er sich noch immer aufrecht halten konnte, obwohl er bestimmt schon stundenlang hier stand, war ihm auch schleierhaft. Aber jetzt war er hier… Wie viel Zeit war vergangen, seit seine Kameraden aus der Jugendbrigade wie Vieh abgeschlachtet worden war? Wie lange, seit er ein kleines, unscheinbares Messer genommen und ein Versprechen verlangt hatte? Wie lange, seit Riou ihm eben dieses Versprechen gegeben, seine Hand ergriffen hatte und mit ihm zusammen gesprungen war? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er hier auf seinen besten Freund warten würde. Und dann… dann würde das Schicksal entscheiden, wie Jowy Atreides-Blight aus dieser Welt scheiden würde. Die Sonne ging unter. Sie stand in einem seltsamen Winkel genau über den Bergspitzen des Tenzaan-Gebirges und blendete ihn ein wenig, aber das war nicht schlimm. Nach all dem, was passiert war… Wenigstens musste er die Biest-Rune nicht mehr unter Kontrolle behalten – er hatte gespürt, wie ihre Macht schlagartig erloschen war. Also hatte Riou sie besiegt und das Königreich Highland war endgültig gefallen… Jowy war furchtbar müde. Er mochte nicht mehr gezwungen sein, seine Lebenskraft dazu aufzubrauchen, eine wildgewordene Wahre Rune zu bändigen, aber dennoch hatte ihn diese Anstrengung einfach zu viel gekostet. Er stand hier, an dem Ort, an dem vor all der Zeit alles angefangen hatte, und spürte, wie jeden Moment ein kleines Bisschen seiner Energie ihn verließ. Dennoch zweifelte er keinen Augenblick daran, dass Riou kommen würde. Dieses letzte Mal rief das Schwert nach dem Schild und sie würden dort wieder aufeinandertreffen, wo ihr Schicksal einen neuen Weg eingeschlagen hatte. In der linken Hand hielt er seinen Stab, den er monatelang nicht mehr angerührt hatte, und der sich so fremd anfühlte, als gehöre er zu einem anderen Leben. Einem Leben, in dem alles so ganz anders gewesen war… Die Schritte, die auf dem felsigen Boden ertönten, wurden fast vom Tosen des Wasserfalls neben ihnen verschluckt, aber dennoch hörte er sie. Vielleicht spürte er auch einfach nur, wie die Präsenz des Hellen Schilds immer näher kam, bis sie plötzlich genau hinter ihm Halt machte. Jowy warf einen Blick über die Schulter zurück und musste lächeln, als er Rious vertrautes Gesicht hinter sich erkannte. Wie lange sie sich nicht mehr so von Angesicht zu Angesicht begegnet waren… „Riou… Du bist gekommen.“ Er drehte sich ganz zu seinem alten Freund um und suchte dessen Augen nach etwas ab, von dem er selbst nicht genau wusste, was es war. „Ich habe es dir doch versprochen“, erwiderte Riou leise und hielt Jowys Blick stand. Er wirkte seltsam ruhig, fast schon erleichtert… Vielleicht war er das auch. Nun hatte er ja die Möglichkeit, Jowy endlich alles heimzuzahlen. Obwohl… das hier war Riou – wahrscheinlich trieb ihn etwas ganz Anderes hierher. „Ja, wie du es versprochen hast“, stimmte ihm Jowy zu, der plötzlich das irrationale Bedürfnis verspürte, laut aufzulachen, obwohl die Situation nicht im Geringsten komisch war. „Und hier sind wir… Nach all der Zeit…“ Er schwieg einen Moment und betrachtete seinen Freund erst jetzt genau. Riou hatte seine Tonfa zwar dabei, aber nicht kampfbereit gezogen. Er schien gewachsen zu sein… und wirkte irgendwie viel älter als beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten. „Hier hat unsere Reise angefangen“, sinnierte Jowy weiter, dem irgendwie sehr melancholisch zumute war. Jetzt, so kurz vor seinem so sicheren Tod, hatte er plötzlich den dringenden Wunsch, sich alles von der Seele zu sprechen, was er so lange verschwiegen hatte. „Wir gingen so lange den gleichen Weg entlang und hier hat er sich dann gespalten…“ Er vermisste Nanami. Auf einmal wünschte er sich, sie hier zu haben… Irgendwie hatte sie es immer wieder geschafft, ihn zum Lachen zu bringen. Und für ein ehrliches Lachen hätte er gerade sehr viel gegeben. „Aber ich bereue nichts“, fuhr er fort und wunderte sich, dass Riou noch immer nichts gesagt hatte, sondern ihm einfach nur schweigend zuhörte. Vielleicht war das die größte Lüge, die er je erzählt hatte. Aber vielleicht war es auch die Wahrheit… Ehrlich gesagt hatte Jowy keine Ahnung. Er dachte nicht mehr darüber nach, was er hier sagte – wenn das seine letzten Worte an die Welt waren, dann wollte er nicht mehr darüber nachdenken und alles anzweifeln. Er war so, so müde. „Aber wenn ich es täte, dann, dass ich den Staatenbund verraten und Lady Anabelle töten musste.“ Lady Anabelle… Wie lange hatte sie ihn in seinen Albträumen heimgesucht, ihn immer und immer wieder gefragt, warum er sie umgebracht hatte… Riou sah ihn schweigend und ein bisschen traurig an. Langsam war Jowy diese Blicke leid – aber andererseits würde er sie nicht mehr lange ertragen müssen, da konnte er diese paar Augenblicke noch warten. Und außerdem war es Riou… „Du und ich sind uns eigentlich sehr ähnlich.“ Was für eine überflüssige Feststellung. „Wir hatten beide das gleiche Ziel. Aber ich bin einfach…“ Er brach wieder ab. Das führte zu nichts… Es gab andere, viel wichtigere Dinge, die er loswerden musste. Dinge, die er keinem bisher gesagt hatte… die er sich selbst nicht gern eingestand. „Damals, im Highland-Camp, als ich euch die Flucht ermöglicht habe… da wurde ich gefangen genommen und bin wieder Luca Blight begegnet.“ Kaum zu glauben, wie lange das inzwischen her war. Kaum zu glauben, dass er noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, Riou das alles zu erzählen… Aber nun, er hatte damals ganz andere Sorgen gehabt. Und jetzt, wo er sowieso sterben würde, konnte er Riou auch die Wahrheit sagen. „Natürlich habe ich ihn von Anfang an gehasst, aber ich glaube, ich habe ihn auch ein wenig für seine Stärke bewundert…“ Da, jetzt war es raus. Ob ihm das noch etwas brachte, war eine andere Frage. „Ich dachte, wenn ich auch so stark wäre, könnte ich alle beschützen und eine Welt erschaffen, in der niemand mehr verletzt wird.“ Er lachte, leise und bitter. „Aber…“ Riou hatte nicht einen Augenblick lang den Blick abgewandt. Jowy bemerkte eine kleine Narbe an seiner Schläfe und fragte sich, was dort passiert war. Und waren das halb verheilte Striemen an seinem Hals? „Nein, vergiss das wieder.“ Er schüttelte den Kopf und Riou ächzte leise. War das Mitleid oder wollte er es einfach endlich hinter sich bringen? Ein bisschen lächerlich fühlte Jowy sich hier schon, wie sie hier standen und er einen Monolog über all seine Fehler hielt. Aber er konnte einfach nicht anders. „Das hier ist ein Kampf zwischen dem König von Highland und dem Anführer der Allianz-Armee“, sagte er dennoch. „Das ist wirklich… der letzte Kampf.“ Und dann würde dieser elende Krieg wirklich, wahrhaftig vorbei sein und er würde endlich, endlich sterben können. Nach all dem, was er angerichtet hatte, wollte er einfach nur noch schlafen. Er war so müde… „Wir müssen nicht kämpfen“, entgegnete Riou leise und sehr, sehr sanft, als würde er mit einem bockigen Kind sprechen. Auch er sah auf einmal müde aus. „Wir müssen… unbedingt kämpfen, Riou“, widersprach Jowy und hob seinen Stab in Verteidigungsposition. Runen, wie ungewohnt das war! Aber es war fast vorbei, er musste nur noch ein wenig durchhalten… Riou rührte sich nicht. Er zog seine Tonfa nicht und machte auch sonst keine Bewegung, sondern sah ihn nur unverwandt an, mit diesem seltsamen Blick, diesen Augen, die so viel sagten, obwohl er schwieg. Aber Jowy wollte nicht darauf achten. Er musste es unbedingt zu Ende bringen, weil er einfach nicht mehr konnte. Er wartete noch einen Moment lang, ob sein Freund nicht doch Anstalten machte, seine Waffen zu zücken, doch als nichts dergleichen geschah, beschwor er die allerletzten Kraftreserven hinauf, die er noch hatte. Wenn Riou nicht von sich aus angriff, würde er ihn eben provozieren müssen. So lange, bis er den finalen Schlag ausführte… Jowy bewegte sich zwar viel langsamer, als er es von sich selbst gewohnt war, aber dennoch schnell genug, um zuzuschlagen. Das Ende seines Stabs traf Riou heftig an der Seite und er hörte den Jüngeren nach Luft schnappen – das musste ohne Zweifel weh getan haben – doch ansonsten reagierte er nicht. „Warum…“ Jowys Stimme bebte, teils vor Wut, teils vor Enttäuschung, teils vor unendlicher Erschöpfung. „Warum bist du den ganzen Weg hierher gekommen, nur um jetzt zu entscheiden, dass du nicht kämpfen willst?“ „Ich habe keinerlei Grund, gegen dich zu kämpfen“, erklärte Riou und der Aristokrat hörte ihm an, dass er Schmerzen hatte. Natürlich… „Es gibt einen Grund“, beharrte Jowy. „Jegliche Spur des Königreichs Highland vom Angesicht dieser Welt zu entfernen. Agares und Luca Blight sind schon tot und ich habe Jillia mit meinen eigenen Händen zur Ruhe gebettet…“ Niemand musste erfahren, dass Jillia und Pilika in Harmonia waren. Es war ihr Recht, ein neues Leben anfangen zu können, ohne von ihrer Vergangenheit beherrscht zu werden. „Ich bin der letzte lebende Blight.“ Aber auch das nicht mehr lange… wie lange hatte er noch, ein paar klägliche Minuten? „Lösche die Blutlinie der Blights hier und jetzt aus, Riou, oder es wird immer wieder Fanatiker geben, die versuchen werden, Highland auferstehen zu lassen.“ Warum konnte ihm Riou nicht einfach den Gefallen tun und einfach zuschlagen? Warum konnte er ihn nicht einfach hier und jetzt umbringen, bevor die Rune des Schwarzen Schwerts auch den letzten Rest seiner Lebenskraft aus ihm herausgesaugt hatte…? „Hoffnung kann wahnsinnig machen“, sagte Jowy gepresst. „Also lass es uns hier beenden und diesen Krieg zum letzten machen, der dieses Land geplagt hat.“ Diesmal wartete er nicht darauf, dass Riou seine Waffen zog, sondern griff direkt an, immer und immer wieder. Doch auch, als er den Jüngeren an der Schläfe traf und dieser mit einem leisen Stöhnen zur Seite taumelte, während er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf griff, verzog sich die Miene seines Freundes nicht zu einer wütenden Grimasse. Warum wurde er nicht wütend? Warum griff er nicht an? Warum setzte er diesem Wahnsinn kein Ende, jetzt, wo er es konnte?! „Warum kämpfst du nicht?!“, schrie er verzweifelt auf und schlug wieder zu. Er wollte Riou nicht weh tun, nicht wirklich, aber warum kämpfte er denn nicht?! Bei jedem Schlag ächzte der Jüngere und schließlich fiel er zu Boden, während er aus der Wunde an seiner Schläfe tatsächlich zu bluten begann. Heftig atmend und verdammt noch mal hilflos blieb Jowy über ihm stehen und starrte ihn an; trotz der Schmerzen sah Riou zurück. In den braunen Augen stand noch immer der Trotz und seine eiserne Entschlossenheit, keinen Finger zu krümmen, was diesen Kampf anging. Aber Jowy konnte schlichtweg nicht mehr. Er wusste, dass er jeden Moment zusammenbrechen würde… Ihm stiegen Tränen in die Augen, er konnte nichts dagegen tun und hasste sich selbst dafür. „Ich habe dich immer beneidet“, gab er mit zitternder Stimme zu. „Du bist etwas Besonderes… immer stark und freundlich… Das ist alles, was ich jemals wollte! Von den Menschen um mich herum geliebt zu werden. Und nur deshalb…“ Er brach ab. Seine tauben Finger ließen den Stab fallen und er knallte mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Nur wenige Augenblicke später gaben Jowys Beine unter ihm nach. „Jowy!!“ Er wurde von Riou aufgefangen, der ihn so vorsichtig hielt, als würde er jeden Moment auseinanderfallen. Aber das würde nicht passieren… Er würde schlicht und ergreifend sterben, so einfach war das. „Bei den Runen, Jowy, was ist denn nur los…?“ Riou klang ängstlich, fast panisch. Und so, so unglaublich traurig! Warum? Womit hatte er es verdient, dass dieser Mensch um ihn trauerte? „Ich… ich habe zu viel Kraft verbraucht“, flüsterte Jowy kraftlos, der sich nicht einmal mehr gegen Rious sanften Griff wehren konnte. „Die Biest-Rune, die Luca befreien wollte… Ich musste meine Rune benutzen… um sie aufzuhalten…“ Er hustete. „Unsere beiden Runen… sie bilden gemeinsam eine Wahre Rune… Aber wenn du sie allein benutzt, dann… ernährt sie sich von deiner Lebenskraft.“ Er war müde. Er wollte schlafen, nichts als schlafen…! Schmerzen breiteten sich in seinem Körper aus, er spürte, wie sich auf einmal alte Wunden wieder öffneten und zu bluten begannen. Er bemerkte auch Rious entsetzten Blick, als dieser ihn vorsichtig zu Boden gleiten ließ, da Jowy ihn mit seinem Gewicht beinahe mit nach unten riss. Dennoch ließ er den blonden Aristokraten nicht los… „Riou“, krächzte Jowy mit einer Stimme, die nicht seine war. „Ich sterbe sowieso, also… also gebe ich dir mein Leben, um die beiden wieder ganz zu machen. Gib mir… deine rechte Hand…“ Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde er schwächer. Aber er musste, musste es zu Ende bringen! „Ich kann das nicht tun“, entgegnete Riou tonlos. Jowy schloss erschöpft die Augen. „Ich kann nicht mehr“, hauchte er und spürte, wie eine Träne sich unter seinen geschlossenen Augenlidern hervorstahl und seine Wange benetzte. „All die Leben, die ich auf dem Gewissen habe… All die Menschen, denen ich weh getan habe…“ „Ich kann das nicht tun“, wiederholte Riou, nun eindeutig eine Spur verzweifelter. „Bitte. Ich flehe dich an… Lass das alles nicht umsonst gewesen sein, Riou…“ Jowy spürte seine Beine nicht mehr. Hatte er überhaupt noch welche? Er fühlte sich, als ob er sich langsam auflöste… „Ich kann das nicht tun.“ Jowy spürte, wie sehr Riou zitterte. Weinte er? Oh, warum konnte es nicht einfach endlich vorbei sein… „Keine Zeit mehr“, ächzte er mit einer letzten Anstrengung. „Ich sterbe, Riou…“ „Trotzdem“, flüsterte Riou und er weinte wirklich. „Ich kann das nicht…“ „Riou…“ Jowy atmete aus und sein Herzschlag setzte aus. Es war plötzlich sehr, sehr still. Er hörte weder Rious leises Schluchzen, noch das Tosen des Wasserfalls. Er sah allerdings auch nichts mehr… War es das? War er tot? Es war ja beinahe friedlich… immerhin tat es nicht mehr weh. Epilog: Ein neuer Morgen ------------------------ Jemand rief ihn. Es war eine Stimme, die er kannte, aber im Moment konnte er sie nicht zuordnen. Warum wurde er gerufen? Hatte er etwas getan? … Oder etwas nicht getan? Wo war er überhaupt? Er konnte sich nicht bewegen. Sein Körper gehorchte ihm nicht, er spürte ihn nicht einmal. Hatte er überhaupt einen oder war er eine körperlose Existenz…? Wieder rief ihn jemand und er fragte sich, was der Rufende von ihm wollen konnte. „Manchmal muss man ein Gefecht verlieren, um einen Kampf zu gewinnen, mein Schatz.“ Eine neue Stimme schnitt durch seine Gedanken und er erkannte mit einiger Verblüffung die Worte seiner Mutter. Das hatte sie ihm damals gesagt, als sie ihm das Schachspielen beigebracht hatte. Er hatte geweint, weil er fast die Hälfte seiner Figuren an sie verloren hatte… Warum erinnerte er sich jetzt daran? Hatte er ein Gefecht verloren? Er wusste es nicht. Kehre zurück. Das war die Rune des Schwarzen Schwerts. Die Stimme, die mehr eine Präsenz in seinem Inneren war, klang ungewöhnlich sanft, nicht so bestimmt und fordernd wie sonst immer. Was war geschehen? Ausgerechnet die Rune, die ihn in den letzten Monaten ausgesaugt hatte, sprach nun fast schon liebevoll zu ihm, wie zu einem alten Freund? Wohin sollte er zurückkehren? Woher kam er eigentlich? Du kennst den Weg. Kehre zurück. Lebe. Wohin…? „Jowy!!“ Er sog scharf die Luft ein und riss die Augen auf, während sein Herz so schnell und schmerzhaft zu schlagen begann, dass er sich sofort in die dunkle Ruhe zurückwünschte. Er lag noch immer am Boden, wurde von Riou gehalten, der ihn hin- und hergerissen zwischen Entsetzen und Erleichterung anstarrte. Er war nicht tot. Aber… aber was…? Jowy spürte, wie seine Haut sich zu dehnen schien und sich dann zusammenzog. Er starrte Riou an, der in der Dämmerung irgendwie zu glühen schien. Das Leuchten, das seinen besten Freund umgab, ging auf den Aristokraten über und er spürte, wie er zu zittern begann, während ein Prickeln sich in seinem Körper ausbreitete. Plötzlich fühlte er sich so entspannt und der Schmerz verschwand… „Was… Was zum…?“ Seine Stimme hörte sich noch immer so fremd an. Riou sah mit großen Augen auf ihn hinunter und schüttelte ratlos den Kopf; das Leuchten wurde immer stärker. Mit einem Blick auf seinen rechten Arm stellte Jowy fest, dass das Leuchten von der Rune des Schwarzen Schwerts ausging. Von ihr und der Rune des Hellen Schilds, die auf Rious rechter Hand glühte. Und während er dabei zusah, wie sich ein langer Schnitt auf seinem Unterarm zuzog und sich die kleine Wunde an Rious Schläfe schloss, dämmerte es ihm. „Die Runen“, flüsterte Jowy erstaunt. „Sie… heilen unsere Körper…?“ Seine Kraft kehrte zu ihm zurück, er konnte sich wieder bewegen! Und dennoch blieb er, wo er war, und starrte Riou an, der zurückstarrte. „Die Rune des Anfangs“, ertönte in diesem Moment hinter ihnen. „Sie erscheint nur, wenn die Träger ihrer beiden Hälften einander im Kampf gegenüberstehen. Genau wie in dem Moment, als die Welt erschaffen wurde.“ Leknaat! Riou erhob sich als erstes, dann zog er Jowy auf die Beine, unsicher, ob er sich schon darauf würde halten können. Aber es ging ihm… gut! Es ging ihm überraschend gut, dafür, dass er gerade gestorben war… Das war er doch, oder? Leknaat stand neben dem Felsen mit dem Kreuz und lächelte sie an. Hätte Jowy nicht gewusst, dass sie blind war, hätte er schwören können, dass sie die beiden wohlwollend betrachtete. „Riou“, sagte sie und wandte den Kopf in Richtung des braunhaarigen Jungen. „Nach allem, was passiert ist, hast du dich doch entschieden, nicht zu kämpfen.“ Irrte Jowy sich, oder freute sich die Hüterin der Torrune tatsächlich? „Das und die Macht der 108 Sterne der Vorsehung… haben die wahre Macht der Rune des Anfangs erweckt.“ Die wahre Macht…? „Aber was…?“ „Es ging nie darum, dass einer den anderen besiegt“, erklärte Leknaat strahlend. „Sondern immer nur darum, dass der ewige Zyklus des Krieges unterbrochen wird. Dadurch, dass ihr euch dagegen entschieden habt, diesen Konflikt durch Gewalt zu lösen, habt ihr den Kreislauf durchbrochen. Ich wusste, dass ihr beiden starke junge Männer seid…“ Die Jungen wechselten einen Blick. Es war unmöglich zu sagen, wer von ihnen erstaunter war. „Dann… dann haben sich Han und Genkaku geirrt?“, fragte Jowy verwirrt. „Und wir hätten nicht gegeneinander kämpfen müssen, keiner von uns?“ „Die Rune des Anfangs symbolisiert die zwei Seiten der Welt: Krieg und Frieden, Chaos und Dharma, Zerstörung und Schöpfung. Sie ist das Symbol der Harmonie, des Gleichgewichts“, erklärte Leknaat. „Nur dadurch, dass sich ihre Träger gegenüberstehen, kann ihre wahre Macht erwachen. Es ist unbedingt notwendig gewesen, dass ihr einander im Kampf gegenübersteht – genauso wie es unbedingt notwendig war, sich letztendlich gegen den Kampf zu entscheiden. Nur so konnte das Gleichgewicht wieder hergestellt werden.“ Offen gestanden verstand Jowy nicht wirklich, wovon sie sprach und er vermutete, dass es Riou nicht viel anders ging. Aber eines hatte er doch verstanden. Es war vorbei. Die Schlacht zwischen Schild und Schwert war zu Ende, ausgefochten über Generationen von Trägern, vielleicht seit Anbeginn der Zeit. Und nun war es vorbei! Sie hatten es geschafft… und er, der schon lange mit seinem Schicksal abgeschlossen hatte, lebte! Die Präsenz der Rune des Schwarzen Schwerts erzitterte etwas, doch die Berührung in seinem Inneren war diesmal warm. „Riou, Jowy“, sprach Leknaat weiter und Jowy hätte schwören können, dass sie von einem der Jungen zum anderen sah. „Geht. Geht hinaus in die Welt! Sie ist noch neu für euch, voller Dinge, die ihr nicht kennt. Jetzt, wo ihr es geschafft habt, die Harmonie wieder herzustellen, gibt es keinen Grund mehr für euch, hier in diesem Land zu bleiben.“ War das… ein Angebot? Das Angebot eines neuen Lebens…? Er wandte den Blick ab und sah zu Boden. Das war unmöglich. „Ich… Ich habe Menschen ermordet, mit meinen eigenen Händen… Anabelle, Luca Blight und all diese Soldaten…“ Er schluckte schwer. Er lebte, ja… aber er konnte nicht einfach in die Welt hinaus gehen und so tun, als wäre in den letzten Monaten nichts geschehen. So sehr er es wollte, es war unmöglich. „Meine Sünden sind einfach zu schwer…“ „Und sie werden nicht verschwinden, solange du lebst“, erwiderte Leknaat leise, aber verständnisvoll. „Aber ich glaube fest daran, dass du stark genug bist, um diese Welt zu verbessern.“ Was war das für eine kryptische Botschaft? Er verstand es nicht. Oh Runen, warum war alles so kompliziert…? „Lebt wohl, ihr beiden“, drang Leknaats sanfte Stimme durch seine düsteren Gedanken. „Ich wünsche euch alles Glück dieser Welt.“ Er hob den Kopf gerade noch rechtzeitig, um ihr ehrliches Lächeln ein letztes Mal zu sehen, dann verschwand die Hüterin der Torrune in dem altbekannten, blauen Leuchten. Irgendwie ahnte er, dass er sie nie wiedersehen würde. Jowy spürte, dass er plötzlich zu zittern begann. Er hatte keine Schmerzen mehr, es ging ihm wirklich gut, aber… aber… Er hob den Kopf und sah Riou an, der ihn seinerseits schweigend betrachtete. Doch anstatt des traurigen, hilflosen Blicks, den er ihm – wann eigentlich? Wie viel Zeit war vergangen…? – zugeworfen hatte, war es ein Lächeln, das die Züge des Jüngeren zierte. Verstand er denn nicht, was hier passiert war? Dass der Sünder überlebte… das war nicht richtig, nicht gerecht. Aber Leknaat hatte gesagt, dass er die Welt verbessern konnte. Wie hatte sie das gemeint? Er konnte doch nicht einfach alles über Bord werfen und vergessen, was er getan hatte, um ein neues Leben zu beginnen! Aber… aber vielleicht…? „Der Mann namens Jowy Blight hat in dieser Welt keinen Platz mehr…“, hörte er sich selbst sagen, wie durch einen Schleier hindurch. „Aber wenn ich dieses Land hinter mir lasse, meinen Namen vergesse… Kann ich dann noch einmal von vorne beginnen…?“ Hilfesuchend sah er zu Riou hinüber, der nicht im Geringsten erstaunt aussah. Ganz im Gegenteil, er wirkte eher hocherfreut. „Natürlich!“, rief er überzeugt. „Riou…“ Und damit war es klar – Riou verzieh ihm. Er verzieh ihm alles, was geschehen war, vielleicht war er ihm deswegen auch nie böse gewesen. Und in diesem Moment spürte Jowy, wie ein gewaltiger Stein ihm vom Herzen fiel, möglicherweise sogar eher ein ganzes Gebirge. Zum ersten Mal seit vielen Monaten atmete er befreit auf und spürte, wie sich ein ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Das erste seit so langer Zeit…! „Hier hat alles angefangen“, murmelte er, verblüfft über so viel Erleichterung. „Wie viele Stunden sind seitdem vergangen?“ „Ist das wichtig?“, erwiderte Riou leise, der zu dem in den Fels geschlagenen Kreuz hinübersah. Jowy überlegte einen Moment lang. Nein… Nein, es war nicht wichtig. „Lass uns gehen“, schlug er daher vor. „Dann kann dieser Ort der Beginn einer neuen Reise sein.“ Riou nickte, breit lächelnd. Sie gingen langsam, gemächlich. Es war längst dunkel geworden, doch der Mond – wann war er wieder voll geworden? – wies ihnen den Weg durch die Nacht. Es gab keinen Grund sich zu beeilen, immerhin gab es keinen, der auf sie wartete. Ansonsten hätte Nanami ihren Bruder niemals alleine gehen lassen… Die Jungen schwiegen. Es war nicht das gespannte Schweigen, das Jowy mit Jillia und vielen anderen geteilt hatte, sondern ein entspanntes, voller Verständnis. Wie früher, als sie keine Worte gebraucht hatten, um einander zu verstehen… Als sie den Ort passierten, an dem vor einem halben Jahr noch das Camp der Jugendbrigade gestanden hatte, blieb Jowy stehen. Es war kaum noch etwas davon übrig, nur verkohlte Reste von Zelten und halb zerfallene Kisten, in denen einmal ihr Proviant gelagert hatte. Wenigstens waren keine Leichen mehr hier – irgendwer musste sie geholt und anständig beerdigt haben. „Wenn wir damals nicht weggelaufen wären…“ Riou machte ein nachdenkliches, zustimmendes Geräusch und ließ seinen Blick über die Überreste des Camps wandern. „Wärt ihr damals nicht weggelaufen, hätten wir wirklich Probleme“, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. „Denn ohne euch würde kein Frieden in diesem Land herrschen.“ Jowy fuhr herum und stellte überrascht fest, dass ein hochgewachsener Mann mit Fackel auf sie zugetreten war. Warum hatten sie ihn vorher nicht bemerkt? „Shu!“, rief Riou verblüfft aus. „Was machst du denn hier?“ „Ich wäre früher gekommen“, erwiderte der Mann achselzuckend, in dem Jowy erstaunt den Strategen der Alliierten erkannte. „Aber Viki hat sich um ein paar Meilen verschätzt.“ Riou lachte leise und Jowy runzelte die Stirn. Was…? „Also geht Ihr wirklich, Lord Riou?“, fragte der Stratege, dessen Gesicht im Licht der Fackel nicht besonders erstaunt aussah. Eher so, als würde er lediglich eine Feststellung mit einer Frage äußern. „Ich hatte gehofft, dass Ihr hier bleiben und das Land führen würdet“, fuhr Shu fort. „Ihr seid der richtige Mann dafür.“ Dem stimmte Jowy zwar heimlich zu, aber er war trotzdem froh, dass sich Riou dagegen entschieden hatte. Das hatte er doch, nicht wahr? „Es tut mir leid, Shu“, erwiderte Riou lächelnd und sah faszinierenderweise kein bisschen danach aus, als täte es ihm wirklich leid. „Aber ich denke nicht, dass ich dieses Land anführen möchte. Ich habe genug gekämpft.“ „Oh, ich werde nicht versuchen, Euch aufzuhalten“, winkte sein oberster Stratege ab. „Ihr habt alles getan, was in Eurer Macht stand, mehr können wir nicht verlangen.“ „Wir werden eine Reise machen“, sagte Riou nachdenklich. „Eine lange Reise.“ Er blickte zu Jowy hinüber, der nach kurzem Zögern ein wenig lächelte. Das war ein guter Plan, fand er. „Dann geht und seht Euch die Welt an“, nickte Shu ihnen zu. „Fühlt sie, lernt sie kennen. Es gibt noch eine Menge zu sehen. Und ich hoffe, dass Ihr zurückkommen werdet, wenn Ihr Eure Reise beendet habt.“ Jowy war erleichtert darüber, dass der Mann kein Wort über ihn verlor. Es war, als ob auch dieser Stratege, den der Aristokrat als harten Gegner auf dem Schlachtfeld kennen gelernt hatte, ihm wohlwollend eine zweite Chance gab. Warum dann konnte er sich selbst noch nicht verzeihen? Das würde sicher noch einige Zeit dauern… „Bestimmt.“ Riou grinste und auch der Stratege lächelte ein wenig, bevor er wieder ernst wurde und in seinen Augen etwas aufflackerte, das Jowy im Licht der Fackel nicht bestimmen konnte. „Ich habe nur noch einen letzten Bericht abzugeben.“ Riou legte den Kopf ein wenig schief und wartete darauf, dass sein Stratege fortfuhr, was dieser auch tat: „Man hat mich gebeten, Euch nichts davon zu erzählen und ich kann es verstehen, wenn Ihr mich für meine Illoyalität Euch gegenüber bestrafen möchtet.“ Wovon sprach er? Riou war niemand, der andere Menschen bestrafte, das musste Shu doch wissen. „Aber… als Nanami fiel, im Rittertum Matilda…“ Ein scharfer Stich fuhr durch Jowys Herz und er schwankte ein wenig, die Erinnerung an Nanami zu frisch, zu schmerzhaft. Sie war gefallen, ein weiteres Opfer in diesem furchtbaren Krieg, gegen den sie doch von Anfang an gewesen war. Er war so erschüttert von der Erwähnung seiner besten Freundin, dass er beinahe nicht mitbekam, wovon Shu ihnen berichtete. Aber langsam sickerten die Worte des Strategen in Jowys Geist, erhielten Sinn und seine Augen weiteten sich. Nanami lebte. Sie lebte und wartete in Kyaro darauf, dass Riou und er zu ihr zurückkehrten. Sie lebte! „Das ist alles“, endete Shu schließlich ruhig. „Meine letzten Worte, mein letzter Bericht als Euer Stratege, Lord Riou. Passt gut auf Euch auf… Ihr beide.“ Neben Jowy atmete Riou zitternd ein, bevor sich auf seinem Gesicht, über das stumme Tränen liefen, ein breites, dankbares Lächeln ausbreitete. Im nächsten Augenblick eilte er auch schon auf den Strategen zu, umarmte ihn fest und flüsterte in die Dunkelheit der Nacht hinein: „Danke, Shu. Vielen, vielen Dank.“ Shu schien durch die heftige Umarmung überrumpelt zu sein, als ob er nicht an Körperkontakt gewöhnt war, und tätschelte Rious Schulter ein wenig unbeholfen, ehe er der dunkelhaarige Junge ihn endlich losließ. „Lebt wohl, Mylord“, sagte er und Riou nickte, Augen und Wangen glänzend im Feuerschein der Fackel. Dann wandte er seinen glühenden, freudigen Blick Jowy zu und strahlte ihn an. „Gehen wir nach Hause, Jowy.“ Nach Hause. Vor so langer Zeit waren sie geflohen, als Verräter gebrandmarkt und verfolgt, verwickelt in einen Krieg, der ihr aller Schicksal entschieden hatte. Er erinnerte sich an die Worte seines besten Freundes, damals, als er ihnen versichert hatte, dass sie eines Tages ganz sicher zurückkehren würden. Und nun war dieser Tag angebrochen. Sie nickten einander zu und setzten sich in Bewegung, einen Fuß vor den anderen, immer schneller, bis sie den Bergpfad hinunter eilten. Nur der Mond war ihr stummer Begleiter, während sie den Tenzaan-Pass durchquerten, vorbei an dem Platz, an dem sie vor gefühlten Ewigkeiten gegen das Nebelmonster gekämpft hatten. Vielleicht war es die Hoffnung, die ihnen Flügel verlieh, vielleicht waren es die vereinten Kräfte ihrer Runen, die ihnen Energie und Kraft gaben, ohne größere Pausen nach Kyaro zu gelangen. Die Nacht schritt voran und es dämmerte bereits zu einem neuen Tag, als sie durch das Stadttor die schlafende Siedlung betraten. Nach einem schnellen Blick schlugen sie den Weg zu Genkakus Dojo ein, schritten den schmalen Pfad hinauf, vorbei an Bäumen und einigen Häusern, bis es endlich in Sicht kam, das altvertraute Gebäude, in dem sie so viele schöne Stunden ihrer Kindheit und frühen Jugend verbracht hatten. Sie erblickten den Zaun und den großen Innenhof, die große Doppeltür mit den Treppen davor, auf denen die Person saß, die sie beide wohl mehr als alles andere auf dieser Welt liebten. Nanami. Warum sie in dieser Herrgottsfrühe wach war, warum sie sich an die rechte Seite griff, als sie die beiden Jungen erblickte, das alles war nicht wichtig. Wichtig war nur, dass sie ihnen entgegeneilte, die Arme weit ausgebreitet, als wollte sie fliegen, und ihnen beiden um den Hals fiel, so heftig, dass sie alle drei zu Boden fielen. Unter Tränen und erleichtertem Gelächter, das sich drei Kehlen entwand, unter leisen Beleidigungen („Ihr dämlichen Idioten!“) und gemurmelten Worten („Wir sind wieder da, Nanami…“) lagen die drei Jugendlichen auf dem staubigen Boden des Innenhofs und Jowy wusste, dass er sich in seinem gesamten Leben nicht besser gefühlt hatte – und es wohl niemals tun würde. Die Sonne wählte diesen Augenblick, um den Horizont zu verlassen und in all ihrer Pracht in den Himmel hochzusteigen, das Dojo und die drei Freunde in warmes, rotgoldenes Licht tauchend. Ein neuer Morgen war angebrochen, nach all dem Schrecken der vergangenen Monate, nach all dem Tod und der Zerstörung und der Verzweiflung, und Jowy gedachte, diesen Beginn eines neuen Lebens vollauf auszukosten. Hier fing seine Geschichte erst an. The End Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)