Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 24: Fanatiker --------------------- Nevar kam schon am frühen Morgen zu mir, doch ich war bereits lange wach gewesen. Die vorherige Nacht glich der Hölle, ich hatte kein Auge zu getan und als ich mich erhob, pulsierte es stark in meinen Schläfen. Fast dauerhaft hatte ich darüber nachgedacht, was ich Domenico sagen und was besser nicht sagen sollte, nur um zu dem Ergebnis zu kommen, dass es wohl von seinem Auftreten abhängig war. Nevar begrüßte mich nur knapp und ich gab mir nicht die Mühe, ihm eine Frage zu stellen. Er würde ohnehin nicht antworten und so gingen wir nur schweigend zu Domenico. Es war ein gutes Gefühl, das Zimmer zu verlassen und ich genoss es, meine Schritte durch die Flure hallen zu hören. Ob Domenico wusste, wo ich mich die letzten Tage befunden hatte? Die kühle Luft des restlichen Gebäudes erschien mir im Vergleich zu meinem Raum ungemein frisch und mit einem Mal fühlte ich mich dreckig. Mein Zimmer war stickig und warm, es roch stark nach Schlaf und Schweiß und wahrscheinlich roch ich ebenso. Es war das erste Mal, dass ich tagsüber durch die weiteren Flure ging und diesmal wagte ich es, mir die Gemälde an den Wänden anzusehen. Es waren nur zweitklassige Werke auf denen Landschaften zu sehen waren, dennoch beeindruckten sie mich enorm. Teilweise hatte man das Gefühl, man könne sich mitten in das Bild hinein stellen, als wäre es eine Pforte oder Tür. Alle waren vom selben Künstler, doch es gelang mir nicht beim Vorbeigehen seine Initialen in der unteren, rechten Ecke zu entziffern. Wir erreichten die Treppe und Gänsehaut befiel mich, als ich zwei Wachposten erkannte, die unten an dieser standen. Es waren Blauröcke, doch sie trugen beide ein goldenes Kreuz: Kreuzer. Nevar ignorierte sie, doch ich konnte mich nicht beherrschen, sie anzustarren. Mit dem Schlimmsten rechnend folgte ich ihm dann hinauf zur Tür. Wie immer begann ich, mich unwohl zu fühlen und der Gedanke, dass unmittelbar hinter mir zwei solcher Wachmänner waren, trug nicht zum Besseren bei. Ich redete mir ein, dass Domenico noch vorhatte, irgendwohin zu gehen und sie würden nun nur auf ihn warten. Francesco hatte gesagt, sie waren dazu da, den Mann zu begleiten, wahrscheinlich hatten sie keinerlei Interesse an mir. Aber egal wie sehr ich dies in meinem Kopf wiederholte, es brachte einfach nichts. Der Gedanke, dass sie hoch stürmen und mich zurück zu den Kreuzern bringen könnten, saß mir weiterhin im Nacken. „Seine Wut gilt mir.“, flüsterte Nevar mir ernst zu. „Wahrscheinlich werde ich alles abbekommen. Nutzt es für Euch.“ Ehe ich antworten konnte, klopfte er, man hörte ein gedämpftes Hereinrufen und er öffnete die Tür. Langsam traten wir ein und blieben nebeneinander stehen, uns ruhig umsehend. Alles war beim Alten: In der Mitte des Raumes stand der Tisch, rechts das Bett unter dem Fenster und links war eine Wand mit Schränken. Domenico stand hinter seinem Schreibtisch, mit dem Rücken zu uns. Er starrte zu der Jesus-Figur empor, die an der Wand hing und schien uns gar nicht zu beachten. Unsicher warf ich Nevar einen Blick zu, doch dieser zog nur die Kapuze vom Kopf und wartete geduldig. Wir standen lange so da, doch Domenico dachte nicht einmal daran, uns zu grüßen. Immer wieder sah ich nach links, auffordernd und fragend, doch die einzige Antwort, die ich von meinem Begleiter bekam, war, dass er den Zeigefinger vor den Mund hielt und den Kopf schüttelte. Gereizt sah ich wieder zu Domenico. Ich erkannte in seiner rechten Hand den Weinkelch und wie er daran nippte. Ganze fünf Minuten dauerte es, bis er leise sagte: „Ich schlage vor, Ihr fasst Euch kurz, Nevar, denn ich bin verständlicher Weise nicht sonderlich gut gelaunt.“ Sofort trat der Gemeinte vor. „Eure heilige Eminenz, ich habe nur das getan, was ich für richtig hielt. Und ich versichere Euch, dass dies keine negativen Folgen haben wird.“ „Nun, ich denke, für Euch schon.“, Domenico nippte abermals am Glas, dann sah er wieder nach oben. Nevar wandte ernst und sehr leise ein: „Es wäre ein Fehler gewesen, einen Mann wie Falcon durch Folter sterben-...“ „Gott macht keine Fehler, Nevar.“, unterbrach man ihn außergewöhnlich kühl. „Nein, Euer Gott vielleicht nicht. Aber er ist ein wichtiger Spion und ein gutes Mitglied. Wenn wir die Ketzer finden wollen, dann-...“ „Wir haben sie bereits gefunden.“ „Vielleicht haben wir das, vielleicht aber auch nicht. Es werden immer mehr, jederzeit. Noch immer wissen wir nicht, wo sie Ihren Haupt-...“ „Und Ihr wisst scheinbar nicht mehr, mit wem Ihr redet.“, nun drehte der Geistliche sich herum und stellte das Glas auf den Tisch, Nevar leicht wütend anfunkelnd. „Ihr wisst nichts, Ihr seid nichts und Ihr habt auch nichts zu wollen!“, seine Stimme wurde zornig, dennoch blieb sie auf geringer Lautstärke. Nevar schwieg, man konnte mit diesem Mann einfach nicht reden. Unsicher sah ich auf das Weinglas, mich nicht trauend, Domenico direkt anzusehen. Sollte ich mich einmischen? Ich wollte es, wagte es aber nicht. Domenico fuhr ermahnend fort, während er sich etwas Wein nachgoss: „Ich bin enttäuscht von Euch, Bruder Nevar und glaubt mir, wenn es nach einem der vielen anderen ginge, wärt Ihr längst kein Bruder mehr. Ich habe Euch einen ausdrücklichen Befehl gegeben und Ihr habt diesen Befehl verweigert. Dies ist nicht nur Ungehorsam, es ist Verrat. Mir ist bewusst, dass Gottes Worte wohl niemals vollends zu Euch durchdringen werden, aber dass Ihr selbst seine Befehle ignoriert ist unverzeihlich.“ Sofort sah Nevar ihn wieder an, leicht verhasst. „Mit allem Respekt-...“ „Schweigt!“, der Mann neben mir zog scharf die Luft ein und gehorchte, doch es fiel ihm sichtlich schwer. Domenico wartete einige Sekunden, dann wandte er sich wieder seinem Getränk zu. „Ihr werdet eine dreimonatige, körperliche Strafe für Euer fehlerhaftes Benehmen erhalten und ich werde persönlich dafür sorgen, dass diese wie beabsichtigt ausgeführt wird, um Euch Gottes Liebe wieder bewusster zu machen. Des Weiteren entziehe ich Euch jeder Mission, Ihr werdet die nächsten drei Monate keine Aufträge mehr ausführen. Ihr werdet das folgende, viertel Jahr in der Deo Volente bleiben und Francesco bei den täglich anfallenden Arbeiten unterstützen, so wie an den täglichen Gebeten teilnehmen. Vielleicht müssen wir Euch Gott einfach wieder näher bringen. Die vielen Aufträge zwischen den Ketzern haben Euch verdorben, wie es scheint.“ Ich senkte den Kopf etwas und ungemeine Schuldgefühle brachen über mir zusammen. Ich war schuld daran und nun fehlte mir der Mut, mich einzumischen. Was brächte es? Wahrscheinlich würde Domenico als nächstes auf mich losgehen und damit wäre niemandem geholfen. Nevars Blick wurde finster und er knurrte leise: „Und wofür soll das gut sein? Ihr wisst genau, wie ich zu Eurem heiligen Vater stehe. Selbst wenn Ihr mich tot prügelt, würde ich mich niemals vor Eurem Herrn verneigen.“ Domenico stellte alles wieder an seinen Platz und erhob sich abermals, um ihm kalt entgegen zu sehen. Als wäre es selbstverständlich, erklärte er: „Ihr werdet mir Eure Demut, so wie Euren Gehorsam mir gegenüber unter Beweis stellen, Nevar. Vielleicht habt Ihr zu viel Frucht, vor dem Herrn selbst zu knien, aber dann tut Ihr es eben vor mir. Ihr werdet arbeiten, wie es für die Kinder Gottes vorgesehen ist und sollte ich es einmal versäumen, Euch zu züchtigen, werdet Ihr in Demut auf mich zukommen und mich freundlich daran erinnern. Darum flehen, wenn nötig.“ „Das ist nicht Euer Ernst.“, ich sah im Winkelblick, wie der Attentäter den Kopf schüttelte. „Ich habe solche Demütigungen nicht verdient, mit allem Respekt. Ich habe es für die Deo Volente getan. Nur einen einfachen und falschen Befehl verweigert, das erste Mal seit Jahren. Ihr könnt unmöglich von mir verlangen, dass ich die Arbeit der letzten vier Monate dafür einfach aufs Spiel setze und hier umher krieche wie eine Eurer Marionetten.“, ernst ging er einen Schritt vor und deutete mit den Händen zur Tür. „Ich habe Tag und Nacht an dieser Mission gearbeitet, es fehlt nicht mehr viel. Ich brauche nur noch eine Woche, ich muss ansonsten komplett von vorn anfangen, Euer Hochwürden. Es sind gute Leute dafür gestorben, verdammt gute Leute, soll das alles umsonst gewesen sein?“ „Dann werdet Ihr eben von vorne anfangen.“, regungslos und düster sah Nevar zu, wie der Vertreter der Deo Volente die Dinge auf seinem Schreibtisch umher schob, als würde er über etwas völlig belangloses sprechen. „Es ist mir gleich, wie viele Eurer gottlosen, lästernden, wertlosen Häretiker-Freunde dabei umkamen. Umso mehr, umso besser. Das ist mein letztes Wort.“ Noch nie zuvor hatte ich Nevar so kalt erlebt. Er rang mit sich und um seine Fassung, aber seine Augen waren fast blind vor Hass. Leise und eindringlich zischte er: „Ihr habt damit den Tod von gut sieben unschuldigen Menschen auf dem Gewissen, Domenico. Und Ihr wisst, genauso gut wie ich, dass viele von Ihnen mit Glauben an Euren Gott gestorben sind...! Ich habe mir seit fünf Jahren nie etwas zuschulden kommen lassen, das ist nicht Rechten!“ „Was Rechtens ist und was nicht, überlasst Ihr am besten mir.“, schlug man ihm daraufhin vor. Ich sah, wie Nevars Kopf sich etwas erhob und der Stolz sich in ihm zu wehren versuchte. Der alte Mann setzte sich auf die Schreibtischkante, den Weinkelch wieder in der Hand und schob mit gelangweiltem Blick die Kerze etwas von sich weg. „Als ich Euch vor zwanzig Jahren aufgenommen habe, wart ihr nichts weiter, als ein ungehorsames, dreckiges, missratenes und vor allem gottloses Balg gewesen. Ich dachte, das hätte sich geändert, aber scheinbar habe ich mich geirrt. Ich hatte gehofft, die jahrelange Erziehung und das endlos lange Predigen hätte etwas gebracht, zumindest ein wenig den heiligen Geist in Euch zu wecken. So, wie es aussieht, werde ich von vorne anfangen müssen, was Eure Gottesfurcht angeht. Oder eher: Euren Respekt gegenüber der Deo Volente.“, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und um Domenicos Mund bildete sich ein leichtes Grinsen. „Aber dafür werden wir in den nächsten drei Monaten genug Zeit haben, nicht wahr? Mein Sohn?“, dann wurde Domenico wieder kühl und bestimmend. „Ich trage Euch hiermit auf, zu Francesco zu gehen. Er soll ein Bußzimmer für Euch herrichten und entsprechende Bekleidung zur Verfügung stellen. Ihr seid für das nächste viertel Jahr unser Gast.“ Nevar stand da, als wäre er aus Stein. Kein Muskel rührte sich und nicht einmal blinzeln tat er. Nach einigen Sekunden atmete er tief durch, erhob den Kopf abermals ein Stück und machte eine leichte Verbeugung. Anschließend drehte er sich herum, um hinaus zu gehen. Ich sah weg. Es schmerzte ungemein, ihn so zu sehen und ich fragte mich, was mich erwarten würde. Ich hatte mir fest vorgenommen, Domenico ordentlich die Meinung zu sagen, doch nun, wo ich vor ihm, dem Jesuskreuz und seinem Inquisitionsring stand, wagte ich es nicht mehr. Nevar legte gerade die Hand auf die Klinke, da murmelte Domenico, mit seinem Wein spielend: „Wartet. Eines wäre da noch.“, sofort blieb der Mann stehen, umdrehen tat er sich jedoch nicht. „Solltet Ihr auf die Idee kommen, meinen Befehl zu ignorieren, Bruder Nevar, macht Euch bitte bewusst, dass die Wachen dort unten bereits informiert sind. Wir wollen doch nicht, dass Euer kleines Geheimnis nach außen getragen wird, nicht wahr?“ Stille. Ich versuchte, Nevar einen Blick zuzuwerfen, wollte mich jedoch nicht umdrehen. Es dauerte, bis er leise knurrte: „Nein.“ Das stellte den Geistlichen zufrieden und er lächelte leicht amüsiert. „Sehr gut. Ihr dürft gehen.“ Ohne weiter zu warten, wurde die Tür geöffnet, Nevar trat hinaus und sie fiel laut krachend ins Schloss. Ich fragte mich, während ich seinen Schritten die Treppe hinunter folgte, ob es Domenico Spaß bereitete, andere so zu behandeln oder ob er es wirklich nur aus reiner Überzeugung tat. Ein Blick meinerseits zeigte mir keine Antwort, denn mit einem Mal war er völlig neutral. Er sah mir in die Augen und ich schluckte unbewusst, den Blick unsicher erwidernd. Ich wollte ihn zusammen schreien, für das, was er tat und ihn zurechtweisen, da Nevar solche Strafen nicht verdient hatte, wagte es aber nicht. Das Gefühl, wegzurennen und nie mehr wieder zu kommen überwog bei Weitem. Immer wieder hörte ich eine Stimme sagen: Wenn du hier bleibst, bleibst du Falcon O'Connor! und wäre mir das nicht so wichtig gewesen, hätte ich mich damals wohl einfach umgedreht und versucht, zusammen mit Nevar die Wachen nieder zu schlagen. Mein erstes Problem wäre gewesen, dass er vielleicht nicht einmal mitgemacht hätte und das zweite Problem: Was dann? Zurück nach Annonce? Domenicos Augen ruhten in den Meinen und setzten mich unter Druck. Es kostete mich viel Überwindung, dem Blick Stand zu halten. Nach einigem Schweigen stellte er, ohne weg zu sehen, das Glas beiseite und fragte leise: „Habt Ihr Angst vor Eurer Vergangenheit, Falcon?“ Diese Frage hatte er mir gestellt, als wir uns das erste Mal gesehen hatten und kurz bevor ich auf sein Angebot eingegangen war. Sofort sah ich weg. „Sollte ich?“ „Da Ihr immer noch hier seid, scheint es, als wäre es so.“, ich hörte, wie er aufstand und gemächlich hinter seinen Tisch ging, um sich zu setzen. Domenico faltete die Hände auf dem Tisch und fuhr gütig lächelnd fort: „Ihr fürchtet Euch vor ihr, aus Angst, Eure Sündtaten holen Euch ein, nicht wahr?“ „Ihr überzeugt Euch regelmäßig davon, ob ich noch Angst habe.“, flüsterte ich, leicht verhasst. „Wenn nicht, hättet Ihr nichts mehr gegen mich in der Hand, nicht wahr? Und für Nevar gilt dasselbe. Ihr erpresst die Menschen damit, mit ihren Erlebnissen. Ihr macht sie zu Marionetten mit Fäden aus ihrer Vergangenheit.“ „Sehr poetische, aber harte Worte.“, seine Stimme klang wieder unheimlich amüsiert, doch ich meinte, einen Hauch Zorn mit herauszuhören. „Allerdings Worte, die Euch nicht zustehen, Falcon.“, ich schwieg. Wut keimte in mir auf und entflammte sich binnen weniger Augenblicke. Es machte mich aggressiv, so behandelt zu werden und das spürte Domenico. Er war wie ein Tier, das sich an der Panik und der Angst seines Opfers weidet. Ich versuchte es zu unterdrücken, es weg zu schieben, doch es gelang mir nur mäßig. „Wie auch immer. Ihr werdet in die Rum-Marie zurückkehren, bis Ihr einen neuen Schlafplatz gefunden habt. Ich war sehr nachsichtig mit Euch, Falcon, doch leider zwingt Ihr mich dazu, von nun an strenger zu sein. Ich habe es zugelassen, dass Ihr das Leben eines Ketzers führtet, aber von nun an ist das anders.“, ich erhob den Blick und sah ihm schweigend entgegen. Domenico betrachtete wieder gedankenverloren seinen Wein. „Ihr werdet Euch einen Platz in einem katholischen Gasthaus suchen und außerdem eine Arbeit in einem christlichen Geschäft. Francesco wird Euch eine Liste mit ebensolchen zur Verfügung stellen. Von heute an werde ich Euch jeden Sonntag in der Kirche antreffen, so wie jeden Samstag hier, in der Deo Volente, wo ihr dann zusammen mit Francesco das Kopieren der heiligen Schrift beginnt. Dem werdet Ihr solange folgen, bis ich der Meinung bin, Ihr wärt es würdig, wieder in meine persönlichen Dienste treten zu dürfen.“, seine Augen wechselten zurück zu mir, eiskalt und drohend. „Ihr seid ab heute kein Diener der Deo Volente mehr, Falcon, sondern nur noch ein Knecht. Nicht mehr und nicht weniger.“, ich atmete tief durch, nickte aber und sah erneut weg. Was sollte ich auch anderes tun? Wenn ich widersprach, könnte er mich ernsthaft bestrafen. Da war es mir lieber, in die Kirche gehen zu müssen und ab und zu etwas zu kopieren. Doch Domenico war nicht fertig. Er trank einen Schluck und ich hatte bereits das Gefühl, dass ich gehen sollte, da erklärte er ruhig: „In meinen Augen, Falcon, seid Ihr wertlos. Ihr seid nichts mehr wert, nicht das Geringste. Ihr habt es verdient, im Dreck zu liegen und um Gnade zu flehen, so meine Ansicht. Ihr seid nicht nur gottlos, Ihr seid höhnisch.“ „Ich fürchte, ich kann Euch nicht folgen.“, unsicher sah ich Domenico an, dieser starrte nur in die süßlich riechende Flüssigkeit. „Ich habe Euch die Chance gegeben, Buße zu tun, aber Ihr habt diese Güte meinerseits mit Füßen getreten.“ „Wenn ihr die Folter meint, das ist lächerlich. Ihr könnt Euch nicht ausmalen, wie ich gelitten habe.“, zischte ich leise. Er seufzte schwer. Sein Atem brachte die Kerze auf dem Schreibtisch zum Flackern und zog seine Aufmerksamkeit in ihren Bann. „Selbst jetzt, zwei Wochen später, erkennt Ihr Gottes Liebe darin nicht. Es ist bedauerlich.“, Ich habe es mit einem Verrückten zu tun!, hallte es in meinem Kopf, sagen tat ich jedoch kein Wort. Domenico sah mich fast schon mitleidig an. „Eigentlich hatte ich vor, Euch in einem Jahr als freier Mann gehen zu lassen, Falcon. Aber der Monat oder die zwei Monate, die Ihr hier arbeitet, kann ich unmöglich als Buße ansehen. Sie werden wohl hinten dran gelegt werden müssen.“ Ich knurrte leise: „So war es nicht abgemacht.“ „Nein, allerdings, das ist wahr. Nun, wir könnten Euch ja büßen lassen. Dann würde die Zeit sich nicht verlängern. Was meint Ihr?“, ich blieb völlig verständnis- und regungslos stehen. Hinter mir, im Hausflur, hörte ich leise Stimmen. Scheinbar unterhielt sich Francesco mit einer der Wachen, die ihn aufgehalten hatten, zu uns nach oben zu kommen. Kurz lachte er, dann sprachen sie weiter. Es wirkte fast makaber auf mich, dass sie sich dort unten amüsierten, während ich am oberen Ende der Treppe stand und mein Herz vor sich hin raste. Als es etwas leiser wurde, erklärte Domenico unwahrscheinlich sanft: „Ich bin dafür, dass wir Euren Körper für das Strafen, was Ihr getan habt. Ich denke, Ihr wurdet bereits aufgeklärt, was Euer Vergehen war, das muss ich nicht länger vertiefen. Wenn Ihr bereit seid, die Sünde von Euch zu lösen um Platz für den heiligen Geist zu schaffen, bin ich bereit, Euch einen neuen, kleineren Auftrag zu geben.“ „Und wie stellt Ihr Euch das vor?“ Mein Misstrauen wuchs und der Geistliche nickte ernst. „Die Folter hat bereits ein gutes Stück getan, aber ich denke zwei Tage zu fasten, so wie einige Hiebe dürften den Rest tun.“ „Ich bin kein kleines Kind mehr, das man mit dem Rohrstock verprügeln muss, damit es lernt.“, knurrte ich sarkastisch. Meine Zeiten als Mönch waren vorbei und das sollten sie auch bleiben! Domenico lachte leicht: „Nein, aber Ihr seid ein Kind Gottes, das vom Weg abgekommen ist und es ist meine Aufgabe, Euch zu helfen, zurückzufinden. Und wie kann man das besser, als mit Schmerz und Demut?“ „Tut was Ihr nicht lassen könnt.“, entgegnete ich verächtlich. „Aber eines ist sicher: Ihr werdet mich nicht dressieren können. Ich tue das hier ein Jahr lang und dann bin ich weg, wie vereinbart. Es bringt nichts, den demütigen Hund zu spielen, denn Ihr wisst ohnehin, wie ich in Wahrheit bin und deswegen sage ich es Euch gleich: Ich tue das hier für mich, nicht für den Heiligen Vater. Vielleicht ist es ein Fehler, das zuzugeben, aber Ihr wisst ohnehin, wie ich denke. Ich glaube an ihn, ja, aber nicht an die Deo Volente.“ „Gut, dann ist es wohl abgemacht.“, Domenico lehnte sich etwas zurück und ich hatte das Gefühl, er hätte meine letzten Sätze einfach ignoriert. „Kommt morgen früh hier her und fordert Eure Strafe. Ihr dürft jetzt gehen.“ „Das werde ich nicht.“, platzt es sofort aus mir heraus. Domenico zog eine Augenbraue hoch. „Was werdet Ihr nicht, Falcon?“ „Ich werde gewiss nicht zu Euch kommen, um Euch darum zu bitten, mich zu züchtigen! Vielleicht könnt Ihr Nevar damit demütigen, mich aber nicht. Wenn Ihr mich bestrafen wollt, müsst Ihr es mit Zwang tun, so viel ist klar, denn ich bin mir keiner Schuld bewusst!“ „Fordert das Glück nicht heraus.“ „Ich habe keine Angst vor Euch, Domenico!“, gereizt richtete ich mich zu meiner ganzen Größe auf. „Und ich habe auch keine Angst vor meiner Vergangenheit. Ich suche lediglich einen Weg, neu anzufangen, mehr nicht! Vielleicht fürchte ich mich vor den Folgen von Fehlern, davor, welche zu machen. Aber gewiss nicht vor dem, was ich bereits getan habe.“ Der alte Mann erhob sich langsam und kam ebenso gemächlich auf mich zu, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. Als er vor mir stand, lächelte er mich an. In mir kochte es vor Zorn und ich kämpfte damit, ihm nicht an die Kehle zu gehen. Domenico beugte sich etwas runter, dann zischte er mir ins Ohr: „Oh, doch Falcon, nein, ‚Sullivan’, Ihr habt Angst. Vielleicht spürt Ihr es momentan nicht und wisst Ihr, wieso?“, er sprach noch leiser. „Weil Ihr mich viel, viel mehr hasst. Und das ist gut so. Deo iuvante. Deo volente. Oderint dum metuant.“, er richtete sich wieder auf und ging zurück zu dem Jesuskreuz, dabei plaudernd fortfahrend: „Mit Gottes Hilfe, mit Gottes Wille. Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten. Weise Worte, findet Ihr nicht?“, ich starrte seinen Rücken an und ballte die Fäuste, als der Geistliche die Zitate der Henry-Statue wiederholte. Das Kreuz betrachtend erklärte er: „Wir werden sehen, ob Ihr morgen früh hier erscheint, um Buße zu tun oder ob nicht. Ich verlange, dass Ihr binnen des nächsten Monats zehn mal hier vor meinem Schreibtisch kniet, mit einem Stock den Ihr bei Francesco erfragt. Ihr bittet mich um Verzeihung für Euer ungehorsames Verhalten, sowie um zehn Schläge. Wenn Ihr binnen der nächsten dreißig Tage zehn Mal erschienen seid, bin ich bereit, Euch den Monat als Buße anzurechnen und ihn nicht als weiteren zu Eurem Bußjahr hinzuzählen. Solltet Ihr nicht erscheinen, gilt unsere Abmachung einen Monat mehr. Ihr dürft jetzt gehen.“ Es dauerte, bis ich es schaffte, meinen Blick von ihm zu lösen und leicht taumelnd drehte ich mich herum. Als wäre ich benommen, ging ich hinaus und schloss leise die Tür, nicht wissend, was ich denken oder fühlen sollte. War das wirklich sein Ernst? Verlangte er ernsthaft, dass ich vor ihm niederkniete? Die Wachmänner warfen mir beide einen Blick zu, ehe sie sich wieder weg drehten, überzeugt davon, dass ich keine Gefahr war. Ich stieg die Treppe nur langsam hinunter, als würde jede der Stufen in meinen nackten Fußsohlen schmerzen und mir fiel auf, dass ich noch immer barfuß war. Sollte ich nun so zur Rum-Marie gehen? Gab es mein Zimmer überhaupt noch? Ich war seit zwei Wochen nicht dort gewesen und hatte mich nicht abgemeldet. Wo waren eigentlich meine Sachen? Verwirrt blieb ich dann im Flur stehen und mit einem Mal begann ich zu zittern. Domenico hatte Recht, ich hatte Angst vor ihm. Ich war glücklich gewesen als Kopist von Meister Pepe, ich wollte dieses Leben nicht wieder verlieren. Ich hatte Angst davor, gesucht zu werden und alles aufgeben zu müssen. Ich hatte Angst davor, in den Kerker von Annonce zu kommen und anschließend am dortigen Galgen zu hängen. Viel lieber wollte ich Brehms’ Sehenswürdigkeiten genießen, durch die engen Pfade laufen und verbotene Bücher lesen, um etwas über die Welt zu lernen. Ich ging wie betäubt bis zum Vorraum der Deo Volente und blieb an der Kerze stehen, diee unter dem Jesuskreuz stand. Ihre Flamme war entzündet und schien wieder nach der Figur greifen zu wollen. Wieder musste ich an das Fegefeuer denken und wieder daran, wie nah ich am Abgrund schritt. Wie könnte ich das ändern? Ich war nicht bereit, mich so dermaßen vor Domenico zu demütigen und was machte es schon, einen Monat mehr der Deo Volente zu dienen? Aber eine innere Stimme sagte mir, dass, wenn ich jetzt nicht tat, was er wollte, alles noch schlimmer werden würde. Der Mann war darauf aus, mich zu brechen und mir den Stolz zu nehmen, damit ich wieder so wurde, wie zu meiner Klosterzeit. Wenn ich ihm vorspielen würde, er hätte Recht, so wie Nevar es tat, dann war ich besser dran. Aber ich konnte es einfach nicht. Das letzte Jahr in Freiheit hatte mir Stolz und Würde gegeben, die zwei Schätze, die ich mir niemals wieder nehmen lassen würde. Ich musste einen Weg finden, dem auszuweichen und trotzdem zu bekommen, was ich wollte. Leider gab es nicht viele Ansprechpartner, an die ich mich wenden könnte, außer Nevar und Francesco. Ich würde zu einem von ihnen gehen, am nächsten Morgen und beraten. Orientierungslos sah ich zurück in die Richtung aus der ich gekommen war, doch ich hatte keine Idee, wo Francesco oder Nevar sich aufhalten könnten. Es gab noch zwei Türen, die ich nie zuvor betreten hatte, aber ich wollte nicht sinnlos umher streifen. Zuallererst wollte ich Ruhe haben und allein sein, also trat ich den Heimweg an, gespannt, ob es mein Zimmer noch gab. Umso weiter ich ging, desto bewusster wurde mir, wie gut ich eigentlich weggekommen war. Weder hatte er mich töten, noch foltern lassen, nur wieso nicht? Wieso ließ Domenico mich plötzlich leben? Nevar meinte, ich sollte mich wichtig für ihn machen, aber das war gar nicht nötig gewesen. Was hatte der alte Mann also vor? Bei dem Gedanken an Nevar wurde ich tieftraurig und ich fühlte mich unwohl. Ich wusste zwar nicht, was genau seine Strafe für einen Ausmaß hatte, aber laut seiner Reaktion ein sehr großes. Es war meine Schuld, allein meine und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich es wieder gut machen sollte. Der Steinboden von Brehms war eisig kalt, kälter als die Fliesen des Gildenhauses und die unsicheren Blicke der Menschen waren mir peinlich. Es war gegen Vormittag und gewiss ungewöhnlich, jemanden wie mich in solch einem Viertel zu sehen. Menschen mit blauen Flecken, abgetragenen Kleidern und bloßen, dreckigen Füßen gehörten ins Armenviertel. Stattdessen lief ich die Hauptstraßen entlang, um auf dem kürzesten Weg das Gasthaus zu erreichen. Immer wieder rempelte man mich an oder wich übertrieben angeekelt aus und als ich die Rum-Marie erreichte, war mir unglaublich heiß vor Scham. Marie erkannte mich sofort und war sichtlich froh, dass es mir gut ging. Sie stellte keine Fragen, sondern übergab mir nur meinen Schlüssel und betonte noch einmal, dass niemand im Zimmer gewesen war. Auf meinen verwirrten Blick hin erklärte sie mir, dass ein Mann da gewesen wäre und einen Monat im Voraus bezahlt hätte. Es war mir egal, wer das gewesen war und auch, wie viel Geld ich diesem Kerl nun schuldete, ich wollte nur noch schlafen. Im Zimmer angelangt fand ich einen vollständig aufgeräumten Raum vor, meine Stiefel, meinen Umhang und alles andere, was ich irgendwie besaß, sauber und ordentlich auf dem Bett liegend. Ich schob es beiseite und ließ mich hinein fallen, die Decke anstarrend und deprimiert. Eigentlich hatte ich stets das Gefühl von Heim gehabt, wenn ich durch die Tunnel zur Rum-Marie gegangen bin, doch diesmal war es anders gewesen. Ich hatte an die Blauröcke gedacht, die mir auflauerten, an die darauffolgende Folter und an das Verlangte von Domenico. Ich musste zurück zur Deo Volente und mit Francesco sprechen, mir eine Liste holen und ein Leben beginnen, das ich nicht wollte. Ich musste es aufgeben, hier her zu kommen, den Geruch von Erbsensuppe wahrzunehmen und die Wärme des Kamins zu genießen. Keine Rum-Marie mehr, kein Meister Pepe und auch keine Spionage. Ich musste alles fallen lassen, was ich mir aufgebaut und wofür ich gekämpft hatte. Nach einigem Schweigen drehte ich mich auf die Seite, leise stöhnend unter den Schmerzen meiner Verletzungen und starrte wieder auf meine Handgelenke. Wer war ich eigentlich? Sullivan O'Neil, der Mönch der nach den Wundern dieser Welt sucht? Son, der freie Abenteurer? Der Prinz, der sogar zu einer Tollen hält, nur, um ihr das Leben zu nehmen? Oder Falcon, der Diener der Inquisition und der Schoßhund von Domenico? Wer war ich eigentlich...? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)