Urlaub mit Nachwirkungen von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 2: Wie lerne ich Hintertupfingen am besten kennen? ---------------------------------------------------------- So viel ich wusste, stimmte die Nummer mit der im Prospekt überein und da dieses 'Dorf' scheinbar nur aus einer Straße bestand, musste das hier wirklich unser Zuhause für die nächsten Tage sein. Dumm nur, dass ich keine Ahnung hatte, was nun zu tun war. Sollte man irgendjemanden anrufen? Sich auf die Rasenfläche neben dem Haus stellen und schreien, bis jemand kam und einem half? Oder tauchten die Besitzer hiervon erst in zwei Stunden auf und wir durften solange im Auto warten und uns aufregen, dass der Stau nicht ewig gedauert hatte? Meine Großmutter war mir gefolgt, allerdings nicht zehn Meter vor der Tür stehen geblieben, sondern stand nun direkt davor und versuchte einen Zettel zu entziffern, der mit Tesafilm an die Tür geklebt worden war. Anscheinend ohne Erfolg, zumindest deutete ich so ihre ausbleibende Reaktion. Vielleicht sollte ich ihr helfen, immerhin kannte ich mich mit schlimmer Schrift aus, ich hatte schließlich Freunde. An Familie Wagner: Bitte warten Sie kurz, ich bin gleich wieder da! „Na toll, da kommt man mal pünktlich und dann ist keiner da.“ Sollte ich mich verarscht fühlen? Lieber nicht, das half auch nichts, wenn ich mich nun unnötig aufregte. Meine Großeltern konnten die Leute auch nicht herzaubern, also mussten wir wohl ein bisschen warten. Wieso benutzte man nicht die neuste Technik und warnte per Handy vor, dass man ankam? Da mussten die Vermieter nicht rund um die Uhr das Haus beobachten und man stand nicht plötzlich vor verschlossener Tür, weil irgendwer vielleicht auf dem Klo war. „Naja, warten wir halt kurz im Auto“, sagte meine Großmutter, weil uns keine bessere Alternative einfiel, nur hatte ich nach der langen Fahrt keine Lust mehr, mich hinzusetzen und mich mit Musik beschallen zu lassen. Während meine Großeltern es sich also im Auto bequem machten und erst einmal Kaffee aus der mitgenommenen Thermoskanne tranken, ging ich zuerst ein wenig hin und her, um mich aufzulockern. Lange Autofahrten waren nicht so mein Fall, aber bei einem Urlaub unvermeidbar. Nach knapp einer Viertelstunde tauchte immer noch kein Mensch auf, der irgendwie den Anschein erweckte, zu diesem Haus zu gehören, was ich dann doch etwas unverschämt fand. Wenn ich jetzt dringend aufs Klo müsste, hätte ich theoretisch ein Problem. Etwas Schwarzes auf einem Skateboard flitzte die Straße entlang und im ersten Moment dachte ich, ich hätte meinen Farbsinn verloren, bis mir auffiel, dass die Person einfach komplett schwarz gekleidet war. Damit hätte ich nicht unbedingt gerechnet, immerhin befanden wir uns hier auf dem Land, in einem Kaff, das sogar die Bezeichnung Käffchen kaum verdiente, und dann sah man Leute, die man selbst bei uns kaum zu Gesicht bekam. Sollte ich mich geehrt fühlen oder mich fragen, was da wohl falsch lief. Vielleicht ein Feriengast, der von seinen Eltern gezwungen worden war, mitzufahren? Oder einer der Anwohner hatte Fasnacht verpasst und holte es deswegen nach, nachfragen würde ich da nicht, das ging mich dann doch nichts an. Allerdings rollte das Skateboardmännchen nicht wie erwartet die Straße weiter entlang, sondern sah zu mir und meinen Großeltern, die immer noch ihr kleines Picknick im Auto abhielten, legte eine in meinen Augen gewagte Drehung hin und näherte sich uns. Ich musste ein Grinsen unterdrücken, sogar seine Schnürsenkel durften nichts anderes als schwarz sein, wurde ihm das nicht auf Dauer zu langweilig? „Hi, ich bin Kai“; stellte er sich vor, nachdem er haarschaft vor mir gebremst hatte, sodass ich unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten war, „Seid ihr die Familie Wagner?“ „Ja“, sagte ich schnell, obwohl ich ja eigentlich nicht Wagner hieß, aber um es nicht zu kompliziert zu machen, ließ ich dieses Detail im Augenblick unter den Tisch fallen. Er sah hoffentlich, dass meine Großeltern zu alt waren, um als meine biologischen Eltern durchzugehen, vielleicht dachte er sich dann seinen Teil. „Warum?“ „Ich bin der Sohn von den Vermietern von dem Ferienhaus da und soll dir und deinen Großeltern - sind doch deine Großeltern, oder? – die Wohnung zeigen. Wartet ihr schon lange? Ich wollte ja schneller wieder da sein, aber ich wurde aufgehalten.“ Er grinste mich verzeihend an und wartete wohl auf eine Reaktion von mir. „Aha.“ Wahrscheinlich hieß das, was ihn aufgehalten hatte, entweder potentielle Freundin oder Internet, kannte ich doch alles nur zu gut. „Dann sag ich mal meinen Großeltern Bescheid.“ Er hatte das tatsächlich richtig beobachtet, ansonsten hätte ich meiner Oma ein Kompliment machen können, wie jung sie auf andere Menschen wirkte. Erleichter über das Auftauchen von Kai, wegen dem wir endlich unsere Wohnung kennen lernen durften, schlenderte ich zum Wagenfenster, klopfte dagegen, bis mein Großvater die Scheibe hinunterkurbelte, und verkündete ihnen, dass Kai die Arbeit seiner Eltern übernahm und uns in unsere Ferienwohnung lassen würde. „Mit dem Schlüssel können sie auch gleich die Außentür aufschließen“, verriet uns Kai gleich als erstes und demonstrierte uns das auch sofort seine Aussage, als hätte er den Verdacht, wir könnten es ansonsten nicht nachvollziehen. Hielt er Stadtmenschen etwa für doof? Anscheinend hatte er meine Gedanken erraten, denn er drehte sich zu mir um. „Es gab wirklich schon Gäste, die spät am Abend zu uns nach Hause gekommen sind und wissen wollten, wie sie denn durch die Eingangstür kommen. Aber die haben auch das Sofa auf den Balkon geschoben und dann nicht mehr durch die Tür bekommen. Bei denen kann man sich nur wundern und die kommen jedes Jahr wieder hier her, vielleicht triffst du sie ja.“ Worauf ich garantiert nicht scharf war, ich wollte hier meine Ruhe vom Terror zuhause nicht auf neue störende Mitmenschen treffen. Reichte meine Familie – mit Ausnahme meiner anwesenden Großeltern – da nicht? Kai ging nicht weiter auf die Gäste der ganz besonderen Art ein, sondern blieb vor der ersten Tür auf der rechten Seite des Flurs stehen, öffnete auch diese und winkte uns einladend zu sich, da wir uns nicht sofort in Bewegung setzten. Der erste Eindruck unserer Unterkunft für die nächsten fünf Tage war weder besonders positiv noch negativ. Wenn man hineinkam, stand man praktisch schon in der Küche mit direktem Blick auf die Terrassentür. Auf der rechten Seite ging eine Tür zu einem kleinen Bad ab, links begrüßten uns zwei Sofas samt Fernseher und die zwei Schlafzimmer. Wie erwartet hatte man hier wirklich nicht viel Platz für sich, aber ich hatte auch nicht vor, den ganzen Tag hier abzuhängen und mich zu langweilen, meine Großeltern genauso wenig. „Also, falls irgendwas ist, wir wohnen in dem hässlichen, blauen Haus, das kann man gar nicht übersehen“, informierte uns Kai über sein Zuhause. „Und bitte lassen Sie das Sofa an seinem Platz stehen.“ Warum er bei diesem Satz ausgerechnet mich so auffordernd angrinste, fand ich etwas übertrieben, da ich der letzte war, der aus Spaß an der Freude Sofas entführte und auf dem Balkon oder der Terrasse aussetzte. Das traute ich wennschon eher ihm selbst zu. Immerhin hätte er mich vorhin beinahe angefahren. Kaum war Kai aus der Wohnung verschwunden, fingen wir an, unser Gepäck nach drinnen zu holen und auszupacken. Ich bekam das etwas kleinere Schlafzimmer mit Blick aus dem Fenster auf ein paar krumme Tannen, die wie zufällig in der Gegend herumstanden, und einem Bett, das im Gegensatz zu dem in meinem Zimmer daheim nicht so schmal war, dass ich öfters nachts aufwachte, weil ich plötzlich Bekanntschaft mit meinem Teppich geschlossen hatte. Immerhin sollte das hier ein Doppelbett sein und kein kleines Holzbänkchen für Menschen, die einem Spargel Konkurrenz machten. Den Inhalt meines Rucksacks verteilte ich auf den hölzernen Nachtschränkchen neben dem Bett und der Kommode, die anstatt eines Schranks die Wand neben der Tür in Anspruch nahm. Mehr Ablageflächen gab es leider nicht, da für ein Regal kein Platz war und niemand auf die Idee gekommen war, Sideboards an den Wänden festzumachen. Zur Not hinterließ ich meine Sachen noch auf dem Wohnzimmertisch, das würde meinen Großeltern nichts ausmachen. Nur meinen Eltern, die das zum Glück nicht sehen konnten, außer ich schoss ein paar Beweisfotos mit meinem Handy, um sie zu ärgern, dass ihr Sohn sich nicht vorbildlich in Anwesenheit anderer benahm. Meine Klamotten landeten in den Schubladen in der Kommode, der Koffer passte geradeso unter das Bett, nun konnte ich machen; was ich wollte. Etwas polterte im Wohnbereich und da fiel mir ein, dass ich möglicherweise meinen Großeltern helfen sollte, die Sachen aus dem Auto im Haus zu verteilen. Immerhin war ich kein kleines Egoistenkind, das sich überall hinfahren ließ und dann nicht mit anpackte, weil mir ja ein Fingernageleckchen abbrechen könnte. „Oma, braucht ihr Hilfe?“ „Nein, Christian, nicht nötig.“ Das sagten sie immer, selbst wenn ihnen fast das Haus vor der Nase zusammenstürzte, also ein indirektes Zeichen für 'Wir haben ein Problem, aber du brauchst uns trotzdem nicht zu helfen'. Das konnten sie gleich vergessen. Motiviert stürzte ich mich auf die Aufgabe und war schon nach zehn Minuten mit den Nerven am Ende, weil meine Großeltern so viel unnötiges Zeug mitgenommen hatte, dass ich sicher noch in zehn Tagen hier stand, zwischen Auto und Wohnung hin und her rannte und Kaffeekannen, Plastikflaschen, einen Eierkocher und vieles mehr zu meiner Großmutter trug, die es an den richtigen Platz stellte. Schlimmer als ein Einzug in ein neues Zuhause, weil man genau dasselbe in ein paar Tagen noch einmal machen durfte, nur in die umgekehrte Richtung. Schließlich war das Auto leer, meine Großeltern geschafft und ich nicht mehr bereit, in dieser Wohnung zu bleiben, ich wollte endlich raus und etwas sehen, und zwar nicht nur das Innenleben des Kofferraums. Da meine Großeltern sowieso erst einmal eine längere Pause von der Fahrt und vom Einräumen brauchten, verkündete ich ihnen, dass ich mir ein bisschen die Gegend anschauen würde. Immerhin wollte ich wissen, ob das hier nur aussah wie der kleinste Ort hinter dem Mond oder tatsächlich einer war. Bei letzterem hätte es sich ausgezahlt, den ganzen Vorrat an Kaugummi mitgeschleppt zu haben, ansonsten wäre ich vermutlich irgendwann durch meine Entzugserscheinungen durchgedreht. Mit einer Packung Kaugummi in der Hosentasche und meinem Discman samt CD in der Hand verließ ich das Ferienhaus, das ich bei Gelegenheit ebenfalls komplett unter die Lupe nehmen würde und blieb an der Straße stehen. Von hier konnte man wirklich ein Haus in einem undefinierbaren Blauton sehen; Kai hatte zwar etwas übertrieben, ich kannte schlimmeres, aber es musste ihnen doch schon peinlich sein, da sonst die restlichen Häuser alle durch schlichtes Weiß überzeugten. Naja, jeder hatte einen anderen Geschmack, das war auch gut so und ich konnte sowieso nichts daran ändern, also nicht länger nachdenken. Ich schob mir zwei Stück meines 'Lieblingsessen' in den Mund, verkabelte mich mit Keane und machte mich auf den Weg. Natürlich nicht in die Richtung, aus der wir gekommen waren, da gab es wirklich nichts, sondern dort hin, wo Kais Haus schon mehr als auffällig stand und um Aufmerksamkeit bettelte. Aus irgendeinem Grund schien sich außer mir niemand draußen aufzuhalten. Entweder herrschte hier ein ungeschriebenes Gesetz, wann die Mittagsruhe begann, hier wohnte sonst einfach kein Menschen oder sie waren allein von Aliens entführt worden, während ich den Essenskorb nach drinnen geschleppt hatte. Wir waren hier auf dem Land, hier war alles möglich, immerhin sah Kai nicht wie der durchschnittliche Typ vom Land aus, wie man ihn sich in allen schönen Klischees vorstellte. Ich würde es sicher nicht vermissen, allerdings würde ich auch kaum etwas mit ihm unternehmen, sicher war er einer dieser dauernd beschäftigten Personen und außerdem hatte er ein Skateboard, mit dem er seine Freizeit verbringen konnte. Während ich leise die Anfangszeilen von Everybody’s changing mitsummte und hoffte, dass mich keiner hörte, weil ich einfach weder singen noch summen konnte, erreichte ich langsam das Ende des Ortes Grünau, was mich gar nicht so überraschte. Ich durfte hier keine Stadt wie Köln oder Hamburg erwarten, aber dass ich nicht einmal einen Bäcker gesichtet hatte, wunderte mich dann doch – vielleicht tarnte er sich auch nur extrem vorteilhaft –, denn was sollten die faulen Feriengäste denn sonst zum Frühstück essen? Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass hinter der Biegung, die die Straße hier machte, alles, was man brauchen konnte, nur darauf wartete, von mir entdeckt zu werden. Vielleicht fand ich da nicht nur den Bäcker, sondern auch einen Supermarkt, Klamottenläden, Geschäfte mit extrem billigen Sachen und ein Schwimmbad. Oder den Sinn des Lebens, der dort auf der Wiese bei den Schafen Urlaub machte, ich sollte aufhören, mir seltsame Dinge zusammenzudenken, die Landluft schien meinem Kopf zu schaden. Oder ich benutzte ihn zuhause einfach für die faschen Dinge und war deswegen nicht daran gewöhnt. Auf jeden Fall entdeckte ich keins der genannten Objekte, nur eine weite Ebene mit Gras, Bäumen, Tieren aller Art und zwischendrin mal ein paar Häusern. Schade aber auch, das bedeutete, zum Einkaufen mussten wir für jeden kleinen Gegenstand das Auto benutzen, da es nicht so aussah, als befand sich ein weitere Stadt in unmittelbarer Nähe. Und meine Großeltern gingen zwar gerne wandern – dafür waren sie schließlich auch hier her gekommen –, aber nicht mit einem Berg Konservendosen oder Milchpackungen unterm Arm. Weil ich keine Lust hatte, die Straße weiter entlang zu laufen und mich zu vergewissern, dass da tatsächlich erst in einer halben Stunde die nächste Zivilisation auf mich wartete, hockte ich mich ins Gras, betrachtete den Himmel, hörte mir ein Lied nach dem anderen an und versuchte einfach an nichts zu denken. Das hatte ich schon die ganze Zeit machen wollen, da ich zuhause fast dazu gezwungen wurde, ständig meinen Verstand anzustellen, egal ob ich in der Schule hockte, zuhause herumlief, sogar beim Einschlafen dachte ich dauernd nach, wie ich das Problem mit Biankas und meiner eher angespannten Beziehung beheben konnte, was ich am nächsten Tag alles machen sollte oder wie ich die letzte Mathehausaufgabe, die noch unbeendet auf meinem Schreibtisch auf mich wartete, lösen könnte. So lief das immer ab, weshalb mir diese freie Zeit wirklich gelegen kam. Einfach die Wolken bewundern, sich über die grelle Sonne aufregen und es dabei belassen. Keine nervigen Geschwister, keine Eltern, die mich mit einem Berg Verantwortung beluden, keine Schule, kein gar nichts. Nur ich. Und mein Discman natürlich, der ausnahmsweise noch kein einziges Mal protestiert hatte. Jemand tippte mir auf die Schulter; erschrocken fuhr ich hoch, riss mir die Ohrstöpsel aus den Ohren und wollte denjenigen gerade etwas unfreundlich darauf hinweisen, dass ich im Augenblick nicht ansprechbar war, aber dann hielt ich doch den Mund. Hinter mir stand Kai mit seinem Board unter dem Arm, immer noch in seiner scheinbaren Lieblingsfarbe gekleidet und grinste mich an. Der grinste wohl öfter so, zumindest öfter als ich. Nicht, weil ich ein ich depressives, pessimistisches kleines Sonstwaskind war, sondern weil es in meiner normalen Umgebung momentan nicht so viel zum Grinsen gab, da verlernte man das leicht. „Hi“, begrüßte er mich und stellte sein Fortbewegungsmittel neben sich ab. Deswegen hatte ich ihn nicht gehört, er hatte sich angeschlichen, damit die Rollen auf dem Asphalt keine verdächtigen Geräusche machten. Netter Junge. „Hallo.“ Das fing ja nicht so besonders fließend an, obwohl ich eigentlich sonst kein besonders großes Problem hatte, mich mit anderen zu unterhalten. Nur musste der andere mir ein Thema vorgeben, danach gab es keine Schwierigkeiten mehr. Mit einer schlichten Begrüßung konnte ich gar nichts anfangen. „Ist der Himmel so interessant?“ „Nein, eigentlich nicht, aber sonst gibt es irgendwie nichts, was man hier machen kann.“ Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern. Sicher konnte man hier etwas unternehmen, nur hatte ich es noch nicht gefunden. „Du suchst ja auch am falschen Ende“, erklärte mir Kai und deutete in der Richtung, aus der ich vor wenigen Minuten erst gekommen war. „Hier ist wirklich nichts los, aber wenn du bei unserem Haus diese kleine Straße reingehst, findest du vielleicht was.“ Bei denen man Haus war eine Straße? Die hatte ich gar nicht gesehen, musste also ziemlich klein sein, wie so vieles hier in diesem Käffchen. „Wie heißt du eigentlich?“, wollte Kai unvermittelt wissen. „Meinen Namen kennst du ja schon.“ Daran hatte ich gar nicht gedacht, mich vielleicht mal vorzustellen. Meine Eltern hätten einen Herzinfarkt bei diesem Verhalten bekommen. Mir war es gar nicht aufgefallen. „Ich heiße Christian.“ „Darf ich dich Chris nenne? Christian ist so lang und... naja, nicht mehr so topmodern.“ „Ungerne.“ Wie oft in meinem Leben hatte ich diese Frage schon gehört? Zu oft und genauso oft hatte ich höflich, aber bestimmt klargemacht, was ich davon hielt. „Ich mag den Namen Chris nicht, der klingt einfach blödsinnig und so möchtegerncool.“ Zwar stand ich mit dieser Meinung irgendwie allein da – die ganze Welt schien ihn 'voll geil und so' zu finden –, so kam es mir meistens vor, aber es ging hier um meinen Namen, der da verunstaltet wurde. „Kannst mich aber auch Martin nennen, ist mein toller Zweitname.“ Für den auch meine Eltern verantwortlich waren. „Okay...“ Von diesem Angebot schien Kai nicht so begeistert zu sein, aber so hieß ich nun mal, konnte nichts dafür. Ansonsten hätte ich meine Eltern schon längst verklagt. „Ist deine Familie irgendwie sehr gläubig?“ „Was?“ Wie kam er denn da drauf? „Nicht dass ich wüsste, wieso sollten sie?“ „Naja, Christian heißt ja 'der Christ' und Martin von Sankt Martin. Verstehst du?“ Oha, der tat aber einer gebildet, vermutete man auf den ersten Blick gar nicht. Aber vielleicht hatte er hier so wenig zu tun, dass er Lexika auswendig lernte... „Ja, aber wahrscheinlich ist ihnen einfach nichts Besseres eingefallen. Meine Eltern sind ungefähr so christlich wie alle anderen, die nur an Weihnachten und Ostern in die Kirche gehen.“ „Dann ist gut.“ Über diese Tatsache schien Kai erleichtert. Hatte er schlechte Erfahrung mit gemeingefährlichen Sekten gesammelt oder was? „Wir hatten mal streng katholische Feriengäste, die haben befürchtet, ich könnte ihre Kinder verhexen oder so etwas bescheuertes.“ Er verdrehte leicht genervt die Augen. „Nicht alle Katholiken sind so.“ Betti war katholisch und lebte trotzdem nicht hinterm Mond, genauso wie ihre Familie. Nur ignorierten das viele Leute und behaupteten automatisch, alle Katholiken hingen geistig noch irgendwo im Mittelalter ab, das ging mir ziemlich auf den Geist, obwohl ich nicht mal getauft war und mich für Religionen eigentlich nicht so sehr interessierte. „Hab ich auch gar nicht gemeint“, beschwichtigt Kai mich sofort, weil er wohl befürchtet, wir könnten bei unserem ersten richtigen Gespräch gleich in eine stundenlange Debatte über Themen geraten, über die man nicht einmal mit Bekannten unbedingt streiten sollte. „Ich wollte es nur sagen. Also meine Familie ist wahrscheinlich ungefähr so religiös wie unsere Nachbarskatze und du darfst mich auch nicht Chrissy nennen, das finde ich genauso schrecklich“, versuchte ich etwas ungeschickt auf das vorherige Thema zurückzukehren. „Dann überleg ich mir einfach einen Namen für dich. Wie wärs mit... Chrima?“ Mein versucht böser Blick brachte ihn eher zum Lachen statt zum Aufhören, meinen Namen auseinander zubauen und katastrophal wieder zusammenzusetzen. „Scheint dir nicht so zu gefallen. Gefällt dir Machri besser?“ „Hör einfach auf damit und sag Christian zu mir, sonst ignoriere ich dich einfach“, erklärt ich ihm, obwohl mich das dumm Gefühl beschlich, dass man den Kerl nicht ignorieren konnte, wenn er damit nicht einverstanden war. „Ich versuche, mich daran zu halten.“ Sein Gesichtsausdruck sprach zwar eine ganz andere Sprache – er würde mich jetzt erst recht Chris rufen –, aber selbst meine Geschwister hielten sich nicht an diese Regel, die ich selbst schon vor Jahren aufgestellt hatte. „Soll ich dir dann ein bisschen die Gegend zeigen oder willst du lieber allein hier herumgurken?“, erkundigte sich Kai, während er ein wenig sein Skateboard mit dem Fuß vor- und zurückschob, was auf einer Wiese nicht so einwandfrei funktionierte. „Kannst du machen, wenn du willst.“ Ich wollte mir nachher nicht anhören müssen, jemand zum Fremdenführer degradiert zu haben, aber zu zweit mit jemandem, der Ahnung hatte, war das doch besser als allein. Zum Schluss verlief ich mich vielleicht auf irgendeinem Weizenfeld oder fiel in einen kleinen Bach. Tatsächlich verlief neben dem coolen Haus der Familie Herzbach eine extrem kleine Straße, die auf einen ebenfalls kleinen Marktplatz führte, wo es wirklich einen Bäcker gab, dafür kein Geschäft, nur noch drei oder vier Wohnhäuser. Vielleicht waren es auch Ferienhäuser, so genau fragte ich nicht nach. „Und sonst? Gibt’s hier wirklich nicht mehr?“ Irgendwie konnte ich mir das schlecht vorstellen. „Nein, leider nicht. Hier wohnen so wenige Leute, da rentiert sich das alles gar nicht. Hier hält nicht mal der Schulbus, so unbedeutend sind wir.“ Ich merkte Kai an, dass diese Abgeschiedenheit ihm gar nicht gefiel. Musste aber auch ätzend sein, hier sozusagen festzuhocken, ohne Auto lief hier wirklich nichts. Etwas mehr hatte ich mir da schon erhofft, nicht gleich ein riesiges Programm, aber wenigstens einen Eisladen durfte man erwarten, oder? „Wenn man die Straße, wo wir vorhin waren, weitergehen, kommt man irgendwann zu einem See, da kann man baden, aber die richtigen Sachen sind erst in Burgheim und das ist mit dem Auto zwanzig Minuten von hier entfernt. Sorry, aber wirklich viel außer chillen und Kühe ansehen kann man hier nicht unbedingt machen.“ „Wie lang braucht man bis zum See?“ „Nicht lange, zu Fuß höchstens eine halbe Stunde.“ Was verstand der Junge unter nicht lange? Allerdings musste man in Grünau wohl etwas anders denken als im Rest von Deutschland, wenn man so sehr am Arsch der Welt lebte. „Mit dem Fahrrad sogar nur zehn.“ Kai hatte meine ungläubige Miene über seine Definition von Zeit erkannt, dem fiel aber auch alles auf. „Wenn du willst, können wir da hingehen, da ist um diese Uhrzeit zwar noch nicht so viel los, aber wenn aus zehn kleinen Käffern die Leute antanzen, wird das irgendwann voll, du wirst es merken.“ Das befürchtete ich auch, dabei mochte ich es eher, wenn man in Ruhe herumschwimmen konnte statt sich mit kleinen Kindern und frechen Senioren um die besten Orte zum Tauchen schlagen zu müssen. „Können wir machen, ich frag meine Großeltern vorher noch.“ Nicht dass ich jetzt drei Stunden mit Kai verschwand und sie sich unnötig Sorgen machten, das musste nicht sein. Nicht im Urlaub. „Okay, ich hol dich in einer Viertelstunde bei dir ab. Kannst du skaten?“ „Nicht so besonders gut.“ Dass ich mich dabei immer ungewollt auf die Fresse legte, verschwieg ich lieber. Zum Schluss lachte er mich noch aus und das mochte ich gar nicht. „Dann nimmst du einfach mein Fahrrad oder kannst du kein Fahrrad fahren?“ „Klar kann ich das.“ Stellte er denn alles von mir in Frage? Sah ich so aus, als wäre ich unfähig, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen? Hoffentlich nicht, sonst drehte er mir am See noch Schwimmflügelchen an. Eilig flitze ich zu unserer Wohnung, klingelte meine Großeltern aus ihrem Mittagsschläfchen, informierte sie über meine weiteren Pläne für den Tag und begann zu packen. Meine ziemlich unstylische Badehose – meine Mutter hatte sie mir gekauft, das erklärte alles –, Handtuch mit Blümchenmuster – ebenfalls nicht mein Werk –, Sonnencreme, Essen, damit ich dort nicht verhungerte und vorsichtshalber meinen Discman, falls Kai sich dazu entschied, mir das Ohr abzukauen. Reden war zwar schön und gut, aber irgendwann reichte es auch mir, obwohl mich meine männlichen Klassenkameraden gerne als Labertasche bezeichneten, dabei quasselte ich deutlich weniger als gewisse weibliche Wesen an dem Plätzen in der Schule um mich herum. Meinen Großeltern machte es nicht aus, dass ich den ersten Tag ohne sie verbrachte, da sie sich sowieso erst einmal ausruhen wollte und sie es freute, dass ich gleich jemanden gefunden hatte, mit dem ich Zeit verbringen konnte, falls ich mal keine Lust auf sie hatte und Abwechslung brauchte. Überpünktlich klopfte Kai gegen die Terrassentür, was mich auch nicht unbedingt dazu brachte, meine Glas Apfelsaft schneller zu trinken. Es war mir schon einmal passiert, dass ich mich vom zu schnellen Trinken übergeben hatte und das musste ich nicht noch einmal wiederholen, vor allem nicht vor Kai. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)