Merry Christmas am Arsch von Skeru_Seven (Oder so) ================================================================================ ✗✗✗ --- Heute war Weihnachten, das Fest der Liebe, an dem man eigentlich irgendwo mit seiner Familie herumsitzen, essen bis zum Umfallen und sich gegenseitig mit Päckchen bombardieren sollte. Die Betonung lag auf eigentlich, bei mir war das zum Beispiel nicht der Fall. Gründe dafür gab es genug. Meine Eltern hatten mich vor einem halben Jahr auf die Straße gesetzt, weil ich angeblich mit Drogen gedealt hatte. Seitdem hatte ich von ihnen nichts mehr gehört und ganz ehrlich: Ich konnte sehr gut darauf verzichten. Diese Anschuldigung stimmte nämlich überhaupt nicht, aber irgendein Idiot aus meinem Jahrgang hatte sich dafür rächen wollen, dass ich ihm die Freundin ausgespannt hatte, und sein Plan war leider aufgegangen. Die Tussi war von einem auf den anderen Tag davon, ich wäre beinahe von der Schule geflogen und meine Eltern warfen mich raus. Schöne Voraussetzungen für mein weiteres Leben. Zum Glück gab es noch Leute, die mich gut genug kannten, um das nicht glauben zu können, wie mein Klassenkamerad Jerry. Er beschwätzte so lange seine Eltern, bis sie mich bei sich daheim aufnahmen, damit ich nicht sonstwo landete. Immerhin wollten meine Verwandten nun auch nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich war den drei verdammt dankbar, dass ich bei ihnen wohnen durfte, immerhin nahm nicht jeder jemanden bis auf unbestimmte Zeit bei sich auf, und sie konnten auch von Tag zu Tag weniger glauben, dass ich wirklich ein gemeingefährlicher Drogendealer sein sollte, für den mich so viele Leute hielten. Also sprach eigentlich nichts dagegen, Weihnachten mit meiner 'neuen' Familie zu feiern. Sie hätten sicher keine Probleme gehabt, inzwischen war ich für sie wie ein zweiter Sohn geworden. Nur ich stand mir mal wieder selbst im Weg. Irgendwie kam es mir nämlich nicht richtig vor, so zu tun, als wäre es das Normalste auf der Welt, immer und überall dabei zu sein. Als Jerrys Mutter am 19. Dezember auch noch ins Krankenhaus musste, über Weihnachten dort bleiben würde und es geplant wurde, die Feiertage größtenteils dort zu verbringen, fasste ich einen Entschluss. Ich würde zuhause bleiben. Ganz einfach, weil ich mir sonst wieder wie ein Eindringling vorkam, obwohl mir Jerrys Familie nie dieses Gefühl vermittelt hatte, das ging allein von mir selbst aus. Natürlich kam dann alles wieder anders als erwartet, denn Jerry weigerte sich strikt, mich hier zu lassen und da ich auf keinen Fall mitkommen wollte, blieb er einfach da. Und machte mir ein noch schlechteres Gewissen als ich ohnehin schon hatte. Danke, Kumpel. Also saßen wir zu zweit im Wohnzimmer, hatten notdürftig einige der Pflanzen dekorativ mit roten Kugeln und Lametta behängt – um einen richtigen Weihnachtsbaum zu kaufen, hatte leider die Zeit gefehlt –, um wenigstens ein kleines bisschen Weihnachtsstimmung zu erzeugen und warteten, dass irgendetwas passierte. „Geiles Fest, oder, Jukka?“, fragte mich Jerry und schien darauf zu hoffen, dass ich etwas tat, um die Atmosphäre zu lockern. „Hm“, brummte ich leise, zuckte unbestimmt mit den Schultern und widmete mich wieder der Tätigkeit, Löcher in die Wand zu starren. Ich wollte im Moment nicht viel reden, ich fühlte mich nämlich schuldig, weil Jerry im Augenblick hier hockte, sich sicher zu Tode langweilte und den Alleinunterhalter spielen musste. Ohne mich wäre er mit seinem Vater zu seiner Mutter gefahren und sie könnten zu dritt im Krankenhaus die Bescherung veranstalten. Aber er hatte sich mal wieder für mich verpflichtet gefühlt, frei nach dem Motto 'Einen Freund lässt man nicht im Stich', in diesem Fall allein im Haus, bis er durchdreht. „Alles scheiße.“ „Was?“ Etwas irritiert blickte mich Jerry an. „Naja, finde ich jetzt nicht.“ „Doch. Deine Mutter liegt im Krankenhaus, du musst wegen mir hier sitzen und... es schneit nicht einmal.“ Zwar war der letzte Punkt nicht unbedingt ausschlaggebend, aber ich wollte Jerry nicht nur mit den privaten Problemen die Ohren volljammern. Immerhin wusste er selbst darüber am besten Bescheid. „Mach dir deshalb mal keine Sorgen. Dass sie sich die Hand gebrochen hat, ist zwar bescheuert, vor allem jetzt, aber daran lässt sich nichts ändern. Dann habe ich mich freiwillig entschieden hier zu bleiben, es hat mich niemand bestochen oder dazu gezwungen, okay? Und wegen deinem Schneeproblem... du kannst ja Papierschnipsel verstreuen, vielleicht hilft es ja was.“ Typisch Jerry, er hatte immer sehr gewöhnungsbedürftigen Vorschläge als Lösung für alles und jeden parat, die ich mir rund um die Uhr anhören durfte. Wessen Idee es also gewesen war, als improvisiertes Essen Chips und Cola zu holen, musste sicher nicht extra erwähnt werden. Jerry meinte, wenn es schon kein richtiges Essen gab, dann wenigstens welches, von dem man theoretisch zunahm, dann kam automatisch das Weihnachstfeeling auch hier an. „Ach, komm Jukka, guck nicht so melodramatisch, es ist Weihnachten, ich bin da, mein Vater wird auch bald wiederkommen...“ Plötzlich stockte er, anscheinend war ihm etwas aufgefallen. „Vermisst du deine Familie?“ „Nein.“ Musste er jetzt von ihnen reden? An diese Idioten, die ihr Kind wegen Verdächtigungen eines Irren, den sie nicht einmal persönlich kannten, einfach rauswarfen, wollte ich nicht denken. Und der Rest war ja mindestens genauso hohl. „Die können mir gestohlen bleiben.“ Und warum schaffte ich es dann trotzdem nicht, hier bei Jerry komplett wie zuhause zu fühlen? Warum konnte ich nicht mit ihnen Weihnachten feiern? Warum konnte ich nicht über meinen eigenen Schatten springen und aufhören, so lange über etwas nachzudenken, bis gar nichts mehr für mich Sinn ergab? „So siehst du aber nicht aus.“ Vorsichtig legte er mir einen Arm um die Schulter. Normalerweise tat er das nicht, weil er wusste, dass ich damit nicht besonders zurecht kam und er selbst hielt sich auch lieber an Worte, aber in diesem Fall schien es seiner Meinung nach wohl nicht angebracht zu sein, das Thema totzureden. Und ich war ihm dankbar dafür. Wenn das nämlich der Fall gewesen wäre, hätte es möglicherweise nicht lange gedauert und ich hätte trotz meiner Vorsätze geheult und Jerry damit ziemlich überfordert. Genauso wie mich. Solange niemand weinte, konnte man eine Situation schließlich immer irgendwie meistern. Einige Zeit saßen wir so schweigend da, bis Jerry, dem die Stille irgendwann unangenehm wurde, sich räusperte. „Ich hol kurz dein Geschenk, dauert nicht lange.“ Er stand auf, schob sich noch schnell einen Chip in den Mund und verschwand, um bestimmt aus einem sicheren Versteck in seinem Zimmer das zu holen, was er für mich gekauft hatte. Wir hatten extra ausgemacht, nicht mehr als 15€ für den anderen auszugeben, weil ich sozusagen Taschengeld von seinen Eltern bekam – auf mein eigenes Konto hatte ich netterweise keinen Zugriff mehr –, wenn ich danach fragte und es war mir unangenehm, nach so viel zu fragen, selbst wenn es für Jerry bestimmt war. Zum Glück wusste er das. Das für ihn bestimmte Geschenk lag in der Tasche, die ich immer bei mir hatte und die nun vor dem Sofa auf dem Boden lag. Hoffentlich freute er sich über das, was er bekam. „Hier.“ Lächelnd kehrte er zurück und drückte er mir etwas in die Hand; es fühlte sich verdächtig nach zwei nicht sehr dicken Büchern an. „Hoffentlich hast du die noch nicht, ich kenn mich da leider nicht so aus und die Frau an der Kasse hat mich auch noch verwirrt, als sie meinte, manche wären unter neuem Titel nochmal erschienen.“ Spätestens jetzt wusste ich, was er mir geschenkt hatte. Vorsichtig entfernte ich das Papier und wirklich, ich hielt zwei Fear Street Bücher in den Händen. Beide befanden sich nicht in meinem Besitz; eins davon kannte ich zwar schon, aber das sagte ich Jerry nicht, immerhin hatte er sich die Mühe gemacht, die auszuwählen, die er noch nie bei mir gesehen hatte. Er überließ ungerne etwas dem Zufall. „Danke, Jerry.“ Ich würde es nie bereuen, ihn gegen meine Familie 'eingetauscht' zu haben. Er wusste wenigstens, was ich mochte. Das Geschenk für ihn sah vom Format fast genauso aus, war aber definitiv kein Buch, da Jerry nicht gerne las und ich keinen Sinn dahinter sah, ihn ausgerechnet an Weihnachten damit zu konfrontieren oder ihn sogar umerziehen zu wollen. Das sollten lieber seine Eltern versuchen. Um die Spannung für sich zu steigern, ließ sich Jerry wirklich Zeit mit dem Auspacken, freute sich dafür aber umso mehr, als er endlich entdeckte, was er nun sein Eigen nennen durfte: Die zweite Staffel von Queer as folk. Eigentlich etwas seltsam, dass sich ein Junge, der immer wieder beteuerte, absolut hetero zu sein, sich so eine Serie ansah, aber Jerry begründete es immer damit, dass er Melanie und Lindsay so sympathisch fand. Zwar hätte er, wenn er lesbische Frauen so toll fand, meiner Meinung eher auf The L Word zurückgreifen sollen, aber da er selbst entscheiden sollte, womit er seine Zeit verbrachte, hielt ich mich da dezent raus. Solange er nicht von mir verlangte, immer mitzusehen, störte es mich nicht. Für meinen Geschmack kamen eindeutig zu viele Sexszenen dort vor, das verkrafteten meine Nerven nicht. Und das lag nicht daran, dass sie sich zwischen Männern abspielten, sondern insgesamt, ich gehörte einfach zur etwas prüden Sorte Mensch, womit mich Jerry gerne aufzog. Aber er durfte das, dafür ärgerte ich ihn manchmal, wenn wir wieder eine Lektüre in der Schule lasen und er fast daran verzweifelte, weil sie ihm zu viele Buchstaben enthielt. „Danke, Jukka, du bist ein Engel.“ Er lachte und griff nach der Coladose, die die ganze Zeit bedenklich nahe an der Tischkante gestanden hatte. Das sagte er öfter zu mir, aber eher im Kontext, dass ich genauso unschuldig beim Thema Sex wie eins dieser weißen Flatterdinger war. „Los, trink auch mal ein bisschen, ich hab es nicht nur für mich gekauft.“ Ungeduldig schlug mir Jerry mit einer frischen Dose gegen den Oberarm, damit ich sie an mich nahm und seiner Aufforderung nachkam. Aber seine Chips konnte er allein essen, wer wollte schon Chips an Weihnachten? Höchstens an Silvester, aber das dauerte noch eine Woche. Weinachten, das Fest der Liebe. Ruhig und besinnlich. Nicht bei uns. Jerry hatte irgendwann genug von meiner Wortkargheit, weshalb er den CD-Player anschaltete, sodass lautstark Alesana durch das Wohnzimmer dröhnte, während er sich mit dem Ersatzessen vollstopfte und gleichzeitig darüber nachdachte, ob er es überlebte, wenn er mich zwang, mehr als drei Folgen QAF mit ihm anzusehen . Hoffentlich tat er das nicht, sonst schlug ich ihn mit meinen Büchern nieder. Und dann würden wir zumindest den ersten Weihnachtsfeiertag wirklich alle gemeinsam im Krankenhaus feiern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)