Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 5: Vergeltung auf Umwegen --------------------------------- Edoras war immer schon ein gespaltenes Land. Was sonst sollte man auch von einem Flecken Erde erwarten, der den beständigen, fortwährenden Besitzansprüchen und Zänkereien einer groß auffächernden Familie unterlag? Augustine Calée, die Urahnin der Linie, hatte vor Ewigkeiten mit einem halb zerrissenen Beiboot das Land erreicht und statt tot zusammen zu brechen, einen mythologisch fundierten Kampf aufgenommen. Sie hat sich der Bestie gestellt, die den Landstrich seit Jahrhunderten terrorisierte und letztlich trug sie einen Drachenkopf als Trophäe durch die Dörfer und Städte. Von diesem Punkt an war es kaum ein Jahr, bis sich die Dörfer und Gemeinden einigten, ein Reich gründeten und Augustine auf den Thron dessen setzten. Damit war die Calée-Linie begründet, ein Geblüt, das viele Jahrhunderte in Frieden herrschen und dem Land Wohlstand bringen sollte. Doch Macht, das zeigt die Geschichte wieder und wieder, verdirbt den Charakter früher oder später. Bei den Calées dauerte es eben mehrere Generationen, doch auch bei ihnen wurde der Punkt erreicht, an dem die Familie zu groß geworden war, an dem es nicht mehr genug Land zu verwalten gab, um alle Clanmitglieder zufrieden zu stellen. Der Punkt, an dem Rivalitäten und Feindschaften ausbrachen, die das Land wieder in jene kleinen Fetzen zerrissen, welche sie vor dem Königsthron schon waren. Viele Jahrzehnte brandete das Unheil wie die dem Mond unterworfene Flut auf und ab. Attentate in menschenleeren Wäldern, Giftanschläge bei gut bezahlten Dienstmägden, offene Kriege und Belagerungen. Am Ende einer langen Blutfehde gab es nur noch zwei Vertreter der Calées. Isabelle, mit zwanzig Jahren blutjung, und doch von ihrem Volk geliebt und verehrt. Sie war die Nichte Germonts, eines Mannes, der weit weniger geliebt, dafür aber zu Recht gefürchtet wurde. Germonts Regiment war strikt und eisern, das Land ächzte unter einem fast drakonischen Strafsystem. Gut bezahlt wurde nur das Militär – selbst der Klerus und Adel hatten finstere Zeiten unter seiner Obhut erlitten. Über Jahre hinweg bekriegten die letzten Calées einander. Isabelle aus reiner Notwendigkeit der Verteidigung heraus, Germont aus dem Wissen, dass sein eigenes Volk ihn irgendwann exekutieren und zu ihr überlaufen würde, wenn er nicht selbst dafür Sorge trüge, dass es nur noch einen atmenden Calée gäbe. Der Kampf spitzte sich zu und während Isabelle auf die Liebe ihres Volkes hoffte, setzte Germont auf Zwangsrekrutierungen. Wie sich zeigte, war er mit seiner Taktik erfolgreicher. Bis zum Winter hatte er Isabelle in eine Feste zurückgeschlagen, war tief in ihr Land eingedrungen und belagerte die schier uneinnehmbar wirkenden Mauern mit seiner Legion, hoffend, dass ihnen vor Mangel an Wasser und Proviant der Verstand durch die Finger gleiten würde. Ein Angriff auf die Festung war völlig undenkbar. Nun war Isabelle jedoch eine streng religiöse Frau, Zeit ihres Lebens in dem Wissen erzogen worden, dass die Götter über sie wachten. Ein Glaube, der ihrem Onkel wenig bedeutete, den sie selbst jedoch mit Inbrunst verfolgte. Unter ihren Höflingen hieß es, niemand nehme die Gesetze der Götter so ernst, wie Isabelle. Sie kniete täglich nieder und sprach ihr Gebet zu jenen, die droben wachten, sicher, das dem so war. Auch zu Zeiten der Belagerung kniete die junge Königin jeden Tag nieder, bat um Stärke, um Beistand, um Gerechtigkeit. Lange Zeit schien es, als würden die Götter ihren Tod fordern, doch das Blatt wendete sich. Es war ein kalter Wintertag, voll von stürmischen Winden und unablässigem Schnee, als ein Gelehrter das Lager Germonts aufsuchte. „Mein Lord, ich bitte euch, zeigt Gnade und lasst sie in unser Kloster fliehen! In Kontemplation und Einheit mit den Göttern wird sie Frieden finden und ihr könnt regieren, wie es euch beliebt!“ Germont aber, in rasendem Zorn über die Dreistigkeit eines solchen Vorschlages, zerschmetterte den tönernen Adler an der Wand, den der Priester als Gastgeschenk mitgebracht hatte. „Und zulassen, dass diese Vettel selbst aus dicksten Mauern heraus meine Herrschaft in Frage stellt?“ schrie er voll der Empörung dem Priester entgegen. Der Geistliche erkannte, welchem Wahn er gegenüber stand und bedauerte. Germont gleichermaßen wie sich selbst, denn was mit ihm geschehen würde, das war ihm klar geworden, als er das ungestüme Flackern des Hasses in den Augen dieses Mannes sah. So viel tollkühne Verachtung konnte nicht ewig unbemerkt bleiben, so viel Hass konnte nicht ewig folgenlos bleiben. Die Götter würden sich seiner annehmen, dessen war der Priester sich sicher, und er schrie seine Gewissheit hinaus, als die Flammen ihn läuterten. Isabelle aber sah, was ihr Blutsverwandter einem Geweihten antat. Sie sah die Rauchsäule am Himmel und roch den Gestank verkohlten Fleisches. Von Kummer und Wut getrieben, riss sie sich vom Fenster los und eilte tränenschwerer Augen durch die Gänge, stieß Diener und Höflinge zur Seite und sperrte sich in ihrer Kammer ein. Die schweren Holzplanken verhinderten jedes Eindringen – und auch, das die Geräusche ihrer Trauer hinaus fanden. Haltlos beweinte sie die ganze Nacht das Schicksal des Landes, einer ganzen Welt, eines Mannes. Sie weinte über all das Leid und Elend, das eine einzige Blutlinie so aufrechten Menschen gebracht hatte und verfluchte den Thron auf ewig. Ein letztes Mal faltete sie die Hände zum Gebet, zitternde Finger, die Halt suchend sich ineinander klammerten, während ein leises, unheilvolles Flüstern die Wände durchtränkte. Sie betete zu Mermerus, dem Sonnengott, dem großen Richter über die Seelen der Verstorbenen... und den Gott der Rache. Germont solle nicht ungeschont und ungesühnt davon kommen, er solle Sühne erleiden für das Leid, das er über ein unbedarftes Volk brachte. Selbst die Mythen und Legenden sind sich nicht einig, was in jener Nacht geschah. Manche sprechen davon, dass Isabelle von den Göttern enttäuscht einen bitteren Entschluss fasste. Andere behaupten, Mermerus persönlich sei ihr erschienen und habe geantwortet. Doch als die junge Königin in den frühsten Stunden des Morgens aus ihrer Kammer trat, da war sie nicht die Frau, die jene betreten hatte. Eine Todgeweihte, aber nie hatte man den Stolz oder die Kampfeslust tiefer in ihren Augen funkeln sehen. Es heißt, die Rede, die sie vor ihren Männern und Frauen hielt, sei so bewegend gewesen, dass manche in Tränen auf die Knie gebrochen seien. Einst gab es Abschriften ihrer Worte, doch der Strudel der Gezeiten hat sie vernichtet. Ihre Soldaten rüsteten zum Kampf. Mit leeren Mägen und flauem Verstand, von Hunger und Erschöpfung aufgezehrt. Doch als sie die Burgtore öffneten, die Zugbrücke herab ließen, da stürmten sie wie die Flut aus dem Wall und brachen über das im Morgengrauen nur langsam erwachende Lager der feindlichen Armee hinweg. Unzählige fielen, ehe Germont und seine Generäle auch nur annähernd Ordnung in das eigene Heer bringen konnten. Der Gegenschlag erfolgte rasch und vernichtend. Die Mehrheit der Angreifer wurde getötet, ehe auch nur die ersten Sonnenstrahlen über die östlichen Wipfel brachen. Schließlich standen Isabelle und Germont einander gegenüber. Ein Zweikampf entbrannte, der kaum kürzer oder schmachvoller hätte sein können. Der kriegsgestählte Veteran, erfahren aus unzähligen Kämpfen und Schlachten, bezwang seine Nichte mühelos. „Ein paar letzte Worte, ehe ich deine Leiche für die Krähen hier lasse?“ heischte er sie an, gleichermaßen zornig wie triumphierend. „Es wird der Tag kommen, an dem du bereust, mich getötet zu haben. Du wirst flehen, betteln, wüten und schreien. Aber dir wird keine Gnade zuteil werden...“ „Ach? Und wer soll dich rächen, Nichte? Du, oder deine Männer?“ „Warte nur ab, wir werden alle zugegen sein!“ In dem Glauben, seine Nichte habe letztlich doch noch den Verstand verloren, drang ein heiseres Lachen aus der Kehle des Königs, ehe er ihr mit dem Schwert die Kehle aufriss. Königliches Blut quoll in dichten Wellen aus dem Riss, ein abscheulicher Anblick, wie das hübsche junge Ding zugrunde ging. Germont jedoch, frei von Skrupel und Mitleid, stieß sie in den Dreck zu den Leibern ihrer Kameraden und, wie er es versprochen hatte, ließ sie und alle Gefallenen zurück, um den Wölfen der Wälder und den Krähen des Himmels einen Fraß zu bescheren, ein Festmahl. Für den König war es von diesem Punkt an ein Leichtes, den verbliebenen Teil von Edoras zu erobern. Niemand kommandierte mehr die Truppen, die zur Verteidigung zurückgelassen wurden. Germont feierte in Isabelles alter Hauptstadt mit einem pompösen Gelage seinen Siegeszug und die erneute Krönung, doch wie es schon wenige Wochen später den Anschein hatte, ließen ihn Isabelles Worte nicht zur Ruhe kommen. Schwere Träume, geplagt von den Schreien der Soldaten und der unheilvollen Drohung der bezwungenen Feindin, rissen ihn jede Nacht wieder aus dem Schlaf. Des Tages wirkte er unausgeglichen, nervös, seine Herrschaft wurde zunehmend härter. Bald schon brannten Tempel und mussten die Anhänger des alten Glaubens um ihr Leben fürchten. Die alte Festung auf dem Hügel, die einstmals Schauplatz war, wurde aus der Ferne mit Katapulten beschossen, bis kein Stein mehr auf dem Anderen ruhte, der Wald um die Burg herum wurde in Brand gesteckt, bis keine Pflanze je mehr dort würde wachsen wollen. Es waren furchtbare Jahre, für Land und Volk gleichermaßen, in denen der König seiner Paraneua frönte und der einstige Wohlstand in Schall und Rauch verging. Irgendwann nach den blutig niedergeschlagenen Unruhen eines in Angst und Zorn aufbegehrenden Volkes erreichte ein altes Schiff das Land. Unscheinbar und von einem Sturm auf hoher See mitgenommen, schaffte es mit letzter Kraft den Weg in den Hafen. Die Crew lud Gewürze und Stoffe ab, wie sie es schon seit Jahren getan hatte, doch dieses Mal verließ ein junger Mann über die Planke das Schiff. Ein blinder Passagier, der sich erst nach der Hälfte der Reise gezeigt hatte und fortan für die Überfahrt arbeiten musste. Er hatte wenig gesprochen, sie wussten im Grunde nichts über den Fremden. Auch in der Hafenstadt Edoras‘ hielt er sich nicht lange auf und zog landeinwärts. Viele vermuteten, er sei ein Freibeuter, dessen Schiff und Crew verloren gingen. Andere meinten, es müsse sich um einen gesuchen Dieb handeln, der der Steckbriefe wegen seines Landes entfloh, um andernorts neue Beute zu schlagen. Tatsächlich jedoch lagen sie alle falsch. Janos war das Mitglied einer alten Bruderschaft, die ihre Familien, ihre Heimat und ihren Besitz aufgaben, um ihrem einzigen Ziel zu dienen. Was genau die Bruderschaft bezweckte, war nur deren Führern klar – zu denen Janos nicht gehörte. Er war ein Werkzeug, wie die meisten Brüder. Er bekam eine Order und zog aus, sie zu erfüllen. Als er Edoras erreichte, befand er sich gerade auf dem Rückweg zu seinem Orden. Im Westen lag seinen Informationen nach ein neues Schiff vor Anker, auf das zu schleichen er anstrebte. Wenn man kein Geld besaß und kein Vermögen anhäufte, war es schwierig, eine Überfahrt zu bekommen. Janos jedoch sollte die Stadt Westhafen nie erreichen. In einer der unzähligen Tavernen lauschte er den Gesprächen an Nachbartischen, wie er es immer gerne tat. Leichter erfuhr man nie, was in den Köpfen der Menschen und einem Land vor sich ging. Man musste nur eine Taverne aufsuchen, sich unbedarft daneben setzen und zuhören. Die Geschichte Germonts erschien ihm nicht Recht. Auf solchen Pfaden sollte kein Mann wandeln und Erfolg haben dürfen. Andererseits war sein Auftrag getan und er auf dem Rückweg, grausame Fürsten und unzurechnungsfähige Könige gab es in der Welt zuhauf. Er war nur ein Mann, weder willens, noch befähigt oder authorisiert, in diesen Teil der Welt oder der Geschichte einzugreifen. Dennoch verstand er die Frustration der Männer, spendierte ihnen eine Runde und ging zu Bett. Das Schicksal sollte sich erst wenden, als am Folgetag der Bruder ausziehen wollte, hin zum nächsten Ort und seiner Bestimmung entgegen, wie er selbst glaubte. Doch kaum, das er zwei Schritte aus der Stadt hinaus getan, sprang ihn ein Affe an. Von dem wenigen, das zu besitzen ihm gestattet war, stahl das freche Tier ausgerechnet seinen Dolch. Jonas selbst war verwundert, wie spielend leicht die Schnalle des Gürtels nachgab und prompt jagte das Tier mit der Waffe davon. Manche Rätseln, ob es sich bei dem Affen um Lenikki selbst gehandelt habe, denn obgleich in Edoras Affen beheimatet sind, gibt es mehrheitlich Beschreibungen des Tieres, die nicht so Recht zu den dort Lebenden passen wollen. Janos stürzte dem Dieb hinterdrein und versuchte mehrfach, ihn zu packen, doch der Affe war flink und wenig und überaus gewitzt. Er wartete, bis Janos nah war und jagte dann erneut davon – als würde er sich für den Dolch nicht interessieren, sondern nur für das Spiel mit diesem Tölpel, der ihm nachrannte. So kam es, dass der Bruder zurück in die Stadt jagte und durch die schweren Tore eines gewaltigen Hauses brach. Von dem Affen fehlte jede Spur, doch seinen Dolch fand er nur zu rasch. Völlig unbedarft lag er auf einem großen, hölzernen Tisch, bescherte einen Stapel Pergamente gegen den Wind, der durch sein Eindringen herein zog. Ehrfürchtig blickte Jonas empor und bestaunte die gewaltige Bibliothek, die sich vor ihm auftat. Männer in Mönchskutten eilten umher, die Gesichter durch die tief herabgezogenen Kapuzen verhüllt. Stillschweigend sortierten und archivierten sie, manche saßen an anderen Tischen und schrieben, die Federn von Zeit zu Zeit sorgfältig in das Tintenfass führend. Mit tiefstem Respekt vor so viel Wissen und Geschichte, schlich sich Janos zu jenem Tisch, um seine Waffe zu holen und den Frieden der vermeindlichen Abtei wiederherzustellen. Als er jedoch seine Waffe wieder an sich nahm, da fiel sein Blick auf ein Bildnis, das unter dem Dolch geruht hatte. Nur kurz wurde ihm die Sicht gewährt, ehe plötzlich ein Stapel anderer Pergamente darauf landete, ein weiterer stiller Archivar den gesamten Stapel griff und davon führte. „Herr, verzeiht aber... Herr...!“ versuchte Janos ihn zum Stillstand zu bewegen, doch musste er dem Fremden nun nacheilen. Insgeheim fragte er sich, ob das nun ein Missverständnis oder Zeugnis völliger Unfreundlichkeit war. Hatten sich in seiner Heimat nicht alle Männer mit freundlichem Lächeln umgekehrt, wenn man einen Herrn um Verzeihung bat? Hier schien das nicht der Fall zu sein. Einmal mehr lobte er die Sitten der eigenen Heimat, und überdies drohte ihm der Fremde mit den Pergamenten fast zu entwischen. Er spurtete, setzte ein paar rasche Schritte nach und folgte ihm um eine Kreuzung, die... vor einer Wand endete. „Was in der Götter Namen geht hier vor?“ flüsterte Janos und spürte, wie Angst sich in ihm ausbreitete. Von den Pergamenten, dem Archivar oder auch nur einem Gang, wohin er hätte laufen können, fehlte jede Spur. Eine Weile prüfte Janos, ob es hinter den Regalen Geheimgänge gab, doch er hörte nur Holz und massiven Stein. Sich sicher, in einem verfluchten Haus zu sein, machte er sich eiligst auf den Rückweg. Er hatte fast die Tore erreicht, da blieb er ebenso abrupt in seinem eben noch raschen Schritt stehen. Es war, als hätte ihn jemand gerufen. Still, leise, eine fast geisterhafte Stimme. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Was, wenn die Flüche und Erscheinungen, die diesen Ort quälten, nun auf ihn aufmerksam geworden waren? Was, wenn sie ihn holen und auf ewig verdammen wollten? Dennoch befand er sich für unfähig, auch nur einen weiteren Schritt voran zu gehen. Er neigte den Schopf, versuchte mit Blicken zu erhaschen, woher das Flüstern gedrungen war und fand einen Pfad zu einer offenen Tür, die ihm vorher nicht aufgefallen. Vorsichtig wandte er sich um, bewegte sich wider besseren Wissens darauf zu. Er betrat eine weitere Bibliothek, jedoch weit kleiner und voller Gemälde und Statuen. Wie von fremder Magie geführt, bewegte er sich durch den ganzen Raum und hielt letztlich vor einer Büste inne. Er erkannte das Bild von den Pergamenten, erkannte das sanft fallende Haar, die ebenmäßigen Züge eines jungen Gesichtes. Es war jener erhabene Moment, in dem sich Janos aus den fernen Landen im Anblick Isabelle Calées verlor. Einer der Archivare trat nach einigen Minuten ein und hielt, überrascht von der Gegenwart eines Fremden, inne. „Wer seid ihr? Was habt ihr hier verloren? Wie seid ihr hier herein gekommen?“ verlangte der Herr zu wissen. Janos schrak fürchterlich zusammen, blickte zu dem Fremden und begann sich zu erklären. Ein Affe habe seinen Dolch gestohlen und ihn hierher gebracht. Er wollte nicht stören, aber seinen Besitz sehr wohl zurück erlangen. Also sei er durch die offene Eingangspforte eingetreten. Da habe er ein bezauberndes Bild erblickt und sei dem Archivar gefolgt, der es fortgetragen habe. Doch der verschwand einfach. Auf dem Weg heraus sei ihm dann jene Tür aufgefallen und nun habe ihn die Skulptur verzaubert. Der Archivar lauschte der Geschichte, ohne eine Miene zu verziehen. Alte, weise Augen ruhten unter einer faltigen Stirn und folgten jeder Bewegung Janos‘, als würde er gleich zur Attacke ansetzen. Als der Eindringling sich nach der Idendität der Frau erkundigte, zog erstmals soetwas wie ein Lächeln auf die Lippen des Wissenshüters. „Das ist Isabelle Calée. Sie war einst Königin von Edoras, ehe ihr Onkel sie im Kampf bezwang, ihre Kehle öffnete und sie zusammen mit ihren tapferen Männern auf dem Schlachtfeld zurück ließ. Heute ist das verbranntes Land und von der Burg, in der sie Monate ausharrten, steht kein Stein mehr. Nur der Hügel und die Gräben sind noch da.“ Janos Blick fuhr zurück zu der Skulptur. Das war also Isabelle. Welch Liebreiz selbst eine kalte Steinstatue von ihr vermitteln konnte... Der Archivar erklärte ihm, wie sehr das Volk sie geliebt habe und berichtete von den letzten Tagen der früheren Königin, während er ihn dem Ausgang zuführte. Als der Wissenshüter mit einem schweren Schlüssel die Eingangspforte öffnete, staunte Janos nicht schlecht. Er wollte gerade gehen, da hielt der Alte ihn zurück. Ein merkwürdiges Lächeln lag auf den faltigen Lippen, während die erschöpften Augen ein lebhaftes Funkeln zeigten. „Diese Tür, junger Herr, ist zu jedem Tag und jeder Stunde verschlossen und kein Bruder meines Hauses würde wagen, die kostbaren Pergamente offen auf den Tischen herum liegen zu lassen.“ Mit jenen Worten löste sich der Griff der dünnen, ausgemerkelten Finger, ehe die Tür sich schloss und der Schlüssel sie versiegelte. Janos aber blieb zurück, verwirrt und zweifelnd. Was war hier geschehen? War ein Archivar schlampig gewesen, oder hatte die stickige Luft der Bibliothek nicht mehr ertragen wollen? Gut möglich, gut möglich... Doch Zweifel gärten in seinem Innersten. Die Tage zogen dahin und Janos zog weiter durch das Land, stetig auf Westhafen zu. Dabei passierte er auch die alte Hauptstadt des Landes. Seit Tagen schon, seit dem Besuch der Bibliothek, ging ihm das Abbild Isabelles nicht mehr aus dem Kopf. Er besuchte, was von ihrem Schloss noch übrig war, brachte Stunden in den hiesigen Archiven zu und besah sich die Geschichte der jungen Frau, lernte von ihr, lernte über sie. Es ist nicht bekannt, was in jenen Stunden geschah. Janos hatte sich in einem kleinen Abteil des Archivs eingeschlossen, doch als am späten Abend ein Bruder den Raum öffnete, fand er ihn leer vor. Tage später, so erzählte sich das einfache Volk vom Lande, sah man einen Mann herum streifen, scheinbar wirr über Äcker und Felder stolpern. Er rührte keines Mannes Hund und keines Bauern Frucht an, doch wie rasch er wieder verschwand, erstaunte einen Jeden. Wochen später erzählte in Westhafen eine Karawane von Händlern, die über die alte Burg gezogen waren, dass dort unzähliges Grünzeug die zarten Blätter aus dem kohleschwarzen Boden schoben. Sie berichteten, dass der alte Burggraben, an dem sie Wasser hatten schöpfen wollen, verschwunden sei und wo einstmals die Trümmer der Burg gewesen, erhebe sich nun ein Baum, so gewaltig, dass er von Elben hätte stammen müssen. Unter den mächtigen Wurzeln jedoch sei ein Stein gelegen, der alte Runen zur Inschrift trägt. Man habe sie nicht übersetzen können, doch die Anordnung des Baumes, des Steines und des Erdhügels darunter habe sehr nach einem Grab ausgesehen, einem Grab von Unzähligen. Die ganze Ebene sei übersäht davon, doch unter jenem Baume habe nur eines gelegen. In den Tagen und Wochen darauf steigerte er sich der bereits heillos wirkende Wahn Germonts noch weiter. Er sprach zu seinen Höflingen und Beratern von Schatten in der Nacht, von einem Flüstern am Fenster und Stimmen aus dem Dunkel unter seinem Bett. Man befand ihn für wahnsinnig, doch niemand wagte es auszusprechen oder gegen ihn vorzugehen. Zu oft hatte er gezeigt, was mit Zweiflern und Verrätern geschah, zu grausam waren die Strafen gewesen. Eines Nachts aber, da verschwand Germont. Ein Schrei alarmierte die Wachen, der Schrei eines panischen Mannes. Sie stürmten in sein Zimmer und fanden es zu ihrem Entsetzen leer. Die Fenster, von schweren Eisengittern verriegelt, waren unversehrt. Das Bettzeug zerwühlt, das Laken ruhte halb auf dem Boden – unter das Bett gezogen. Doch dort fand man nichts, nur einen der Schuhe seiner Majestät. Niemand weiß, über welche Fähigkeiten die Mitglieder der Bruderschaft verfügten. Daher kann auch niemand mit Gewissheit sagen, ob Janos sich der Magie bediente, um den König zu entführen. Was danach geschah, ist unklar. Edoras zerfiel wieder in kleine Ländereien und Stadtstaaten, die souverän regierten. Sie wählten zwar einen König, doch dieser musste sich fortan mit der nicht länger zu untergrabenden Authorität der einzelnen Fürstentümer herum schlagen, die fortan einen Rat bildeten. Was mit dem König geschah, darum ranken sich die Mythen. Der Größte und Populärste jedoch spricht von den Worten Isabelles und einer Liebe, die den Tod überwand. Tief in der Nacht schleifte Janos den Wahnsinnigen am Haar durch das Unterholz. Er schrie und kreischte, verfluchte seinen Peiniger und drohte ihm mit dem Schafott, dem Galgen, der Streckbank. Doch nichts ließ den Bruder innehalten. Nicht ein einziges Wort wechselte er mit dem Fremden, zeigte weder Respekt vor dessen Krone und Ausdrucksweise, noch vor der Macht, die ihm einstmals innewohnte. Tage waren sie auf diese Weise unterwegs. Tage, in denen Janos sein Mündel nieder schlug, wann immer dessen Geplärre unerwünscht oder lästig wurde. Schließlich kam der Moment, an dem Germont nicht mehr schrie und wütete. Er erkannte die Gegend, in der sie sich befanden und all sein Verfolgungswahn schlug um. Der König begann zu befehlen, dass er ihn zurück bringen solle. Anfangs. Irgendwann, als er die Statur bereits durch neue Sprossen frischer Bäume und die Hügel zahlloser Gräber schleppte, da flehte er darum, diesen Ort verlassen zu dürfen. Doch Janos Gehör blieb verschlossen für die klagenden Worte eines Mannes, der sich seinen schlimmsten Ängsten konfrontiert sah. Der Bruder zog den Fremden bis hinauf auf den Hügel, zum Standpunkt der alten Burg. Neben dem höchsten Grab, das einzeln erhaben über den anderen wachte, ließ er ihn auf die weiche Erde fallen. „Wir haben uns heute hier versammelt, um Gericht zu halten.“ sprach Janos und bemerkte am Kratzen seiner Stimme erstmals, seit wie vielen Tagen er schon kein einziges Wort mehr gesprochen hatte. Germont jedoch starrte fassungslos zu seinem Peiniger empor, die Augen weit aufgerissen, starr vor Angst, hauchte er nur ein einziges Wort hervor: „Wir?“ Da schnellten die Wurzeln des mächtigen Baumes aus dem Erdreich. Die Krone, die den ganzen Berg überspannte, schien sich herab zu neigen, als wolle sie den Anblick vor der Welt verstecken. Die Wurzeln schlangen sich um Germonts Handgelenke, seine Knöchel, zerrten ihn in die Höhe und rissen ihn wieder zu Boden herab, bis er mit dem Gesicht im Erdreich ruhte und hustend versuchte, dennoch den Blick zu seinem Richter zu heben. Er wollte die Hand vorstrecken, den Fremden berühren, ihn um Gnade bitten. Ihm war nicht einmal klar, dass er die ganze Zeit hysterisch schrie, Flüche und Gebete spie, dass er bettelte und winselte. „Germont Calée, ihr seid zahlloser Verbrechen angeklagt, die die anwesenden Zeugen gegen euch vorbrachten. Kraft königlicher Weisung, verurteile ich euch zum Tode.“ „Zeugen? Was für Zeugen? Seid ihr des Wahnsinns?“ krächzte der König panisch, da erfüllte ein Leuchten die Ebenen, dass sein Anblick jedes Sterblichen Blut gefrieren ließ. Aus den Hunderten von Hügeln erhoben sich kleine Lichter, formten Arme und Beine aus, Köpfe, Rüstungen, alte Schwerter und Wappenschilde. Ein Heer erhob sich. Aus den Sprossen der neuen Bäume aber, drangen weitere Lichter empor und formten die Seelen derer, die unter der Schreckensherrschaft Germonts ihr Ende gefunden hatten. Der ganze Platz, niedergebrannt und verschändelt, füllte sich mit der Legion gestrafter Seelen, deren Leben durch sein Handeln zu früh ein Ende fanden. Aus dem Meer der Gepeinigten jedoch trat sie hervor, Isabelle, Königin von Edoras. „Es wird der Tag kommen, an dem du bereust, mich getötet zu haben. Du wirst flehen, betteln, wüten und schreien. Aber dir wird keine Gnade zuteil werden...“ flüsterte die geisthafte Stimme der Königin die Worte, die Germont seit jenen Tagen verfolgt hatten. „Bitte, bitte helft mir! Ich gebe euch alles, alles was ihr verlangt!“ flehte der König in seiner Panik Janos an. Erneut versuchte er den Arm zu ihm zu strecken. Doch der Fremde blieb stehen, die Miene ungerührt. Isabelle trat vor, hob die Hand auf die Schulter des Lebenden, strich darüber hinweg, ohne sie zu berührten. Janos wandte ihr den Schopf zu, neigte in Demut und Ergebenheit das Haupt, und doch zog ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen auf. Isabelle jedoch schritt an ihm vorbei, erhob sich wie die Figur des Richters selbst vor Germont. „In den Tiefen sollst du Verdammung erfahren!“ Mit jenen Worten rissen die Wurzeln den König auf den Boden, zogen ihn tiefer und es ward, als würde das Erdreich sich öffnen, um ihn zu verschlingen. Tief in die Erde zogen sie den schreienden und strampelnden Leib, vorbei an den Kellern der alten Burg, bis in die Grundfesten der Erde, wo er niemals von Ereshkigal gefunden werden würde, verdammt, auf ewig vom Erdreich zerquetscht und den Gezeiten zerfressen zu werden. Isabelle aber wandte sich Janos zu. „Es ist getan... du bist frei.“ Doch der Bruder lehnte ab. „Nach allem, was ich sah und weiß, gibt es keine Freiheit mehr für mich.“ Er senkte in Kummer das Haupt, glaubend, dass für ihn keine Erlösung warten würde. Isabelle jedoch ertrug den Anblick nicht. Sie erinnerte sich der Güte, die sie einst inne hatte, erinnerte sich der Wärme eines schlagenden Herzens, das längst zu Staub zerfallen war. Mit wenigen, beherzten Schritten trat sie vor ihren Erlöser, den Erlöser so vieler Seelen. „Wenn das dein Wille ist, begleite mich.“ Sie hob die Hand an seine Wange. Eiseskälte durchströmte seinen Leib, ließ ihn spüren, wie sich der Tod anfühlte. Janos aber wusste, dass er seinen Platz gefunden und sein Schicksal erfüllt hatte, spürte es in den Tiefen seiner Seele. Er neigte das Haupt zum Kuss. Während die Erlösten von Edoras ihr neues Königspaar feierten, entschwanden die Seelen nach und nach. Sie hatten Buße getan und waren befreit. Mermerus gewährte ihnen Eingang in sein Reich und an Isabelles Seite würde Janos ruhen, auf alle Zeit. Von seinem Leib fand man nie auch nur eine Spur, doch schon mit den ersten Strahlen der Sonne, die der neue Tag mit sich brachte, fielen die Blicke der Welt auf einen Wald, so gewaltig, dass er unmöglich nur das Werk Phylias sein konnte. Bis heute, so heißt es, ist in Edoras Wäldern ein jeder willkommen, der aufrechten Herzens wandelt, während alle Unholde und Schinder in seinen Weiten verloren gehen. Der Wald gilt als von Geistern beseelt und mancher Wanderer, der sich verirrte, berichtet noch heute von den gespenstischen Erscheinungen eines Königspaares, welche ihm den rechten Pfad wiesen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)