Reset von halfJack (Matt / Mello) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- "Ich kann deine Gedanken lesen." Über den Bildschirm flackert zweitklassige Grafik, die sich vergeblich an der Darstellung von Dreidimensionalität abmüht. Der Dualshock vibriert zwischen meinen Fingern, als würde er vor Angst schlottern, um mir damit zu vermitteln, wie ich mich selbst zu fühlen habe. "Du spielst gern Konami-Spiele." "Was für ein simpler Trick", murmele ich und beuge mich nach vorn zu meiner Playstation. Ich entferne die Memorycard, zusätzlich ziehe ich den Anschluss des Controllers heraus und vertausche den Steckplatz. Jetzt liegt es an meinem Gegner, vor Angst zu erzittern. Er protestiert ungehalten, aber es hilft nichts. "Da staunst du, was?", sage ich grinsend. "Du Psycho." "Redest du schon wieder mit dem Fernseher?" "Jap", antworte ich Mello, der sich neben mir aufbaut, "er ist schließlich mein bester Freund, hört mir immer zu und ist nie schlecht gelaunt. Im Gegensatz zu manch anderen." Mello versetzt mir einen Tritt. "Dein einziger Freund bin ich, also mach die Kiste aus, wir müssen los." Was Mello sagt, wird zum sofortigen Gesetz. Er kann schnell zickig werden und ich habe keinen Bock, mich mit ihm zu streiten. Das ist keine Unterwürfigkeit, glaube ich, aber ich will mir auch nicht die Mühe machen, darüber nachzudenken. Mein nächstes Ziel besteht erst einmal darin, den nächsten Speicherpunkt zu finden. Dafür muss ich allerdings noch diesen Typen hier erledigen. Plötzlich wird mir schwarz vor Augen. Das heißt, der Bildschirm des Fernsehers wird schwarz. Mello hat ihn in einem Anflug von Selbstbehauptung ausgeschaltet, dieses Arschloch. Anstatt mich aufzuregen, nehme ich es einfach hin. Das war auch schon früher so. Als ich Mello kennen lernte, habe ich mich kein Stück für ihn interessiert. Damals vertrieb ich mir größtenteils die Zeit mit Tetris und fing später aus Langeweile zu rauchen an. Einige Sachen haben sich da mittlerweile geändert, zumindest in Hinblick auf den Fortschritt der Spieleindustrie und ein paar weitere kleine Details, die Mello zu der einzigen Bezugsperson machen, der ich jetzt noch meine Aufmerksamkeit schenke. Vielleicht liegt es daran, dass mir Mello irgendwann mal in einem Wutanfall gesagt hat, es würde ihn nerven, dass ich ihn nicht beachte. Um seine Worte zu unterstreichen, hatte er mir meine Zigarette von den Lippen gerissen und sie auf meinem Unterarm ausgedrückt. Sein resolutes Vorgehen rief in mir so etwas wie Bewunderung hervor. Jedenfalls denke ich das jetzt, während ich auf den schwarzen Bildschirm starre. "Meditierst du?", unterbricht Mello meine Gedanken genervt. Mit einem Seufzen erhebe ich mich und krame aus meiner Hosentasche eine zerdrückte Zigarettenschachtel hervor. Daraus blitzt mir nur die filterbesetzte Unterseite einer einzigen Zigarette entgegen. Mello hat sich eben das letzte Stück seiner Schokolade in den Mund geschoben, sich umgedreht und mit einer lässigen Bewegung das Papier über die Schulter geworfen. Meine leere Schachtel landet neben dem Schokoladenpapier bei dem ganzen anderen Müll, der sich über den Boden verteilt, bevor ich Mello mit einem Glimmstengel zwischen den Lippen folge. Keine Ahnung, wie lange ich mich dieses Mal mit meinem Konsolenspiel beschäftigt habe. Vermutlich sind viele Stunden vergangen. Meist ist es Mello, der mich wieder zurück in die Realität holt. Sobald ich meine Gedanken auf mich selbst richte, kommt es mir vor, als würde ich kurz Pause drücken, dann Eject, um die virtuelle Realität gegen meine eigene auszutauschen. Stöbere ich in meinen Erinnerungen, betätige ich sozusagen meine persönliche Rewindtaste wie bei einer Videokassette oder irgendeinem anderen Tape. In der Wirklichkeit fühlen sich meine Handlungen immer mechanisch und unecht an. Kaum zu glauben, dass das hier alles tatsächlich existiert. Dabei kommt es mir so vor, als würde manchmal ein großer Balken über meinem Kopf erscheinen, der mich wie in einem Rollenspiel um meine nächste Entscheidung bittet. Ehrlich gesagt, ich vergesse oft, dass ich immer nur ein einziges Mal gefragt werde. Somit kann ich mich auch nur einmal entscheiden. Und nichts rückgängig machen. "Willst du fahren?" "Nö", antworte ich, werfe mich auf den Beifahrersitz, lege die Füße hoch und schalte meine PSP ein. "Kannst du das Scheißteil nicht mal liegen lassen?" "Wieso? Im Auto habe ich doch sowieso nichts zu tun." Trotzdem schalte ich das Gerät ohne Umschweife wieder aus und verstaue es in einer meiner Taschen, während Mello den Motor anlässt. "Warum steckst du das Teil jetzt wieder weg?", fragt er gereizt. "Du hast dich doch eben drüber aufgeregt." Mello tritt die Kupplung durch und fährt danach den zweiten Gang bis sechzig Kilometer pro Stunde aus, bevor er sofort in den vierten schaltet. Die Beschleunigung lässt den Motor laut aufheulen. Dass Mello sauer ist, könnte nicht offensichtlicher sein. "Hab ich etwa gesagt, du sollst es ausmachen?" "Was ist denn jetzt dein Problem?" Meine Stimme klingt gleichzeitig gelangweilt und genervt. Mir ist klar, dass Mello es hasst, wenn ich in diesem Tonfall mit ihm rede, aber jetzt ist es schon zu spät. Wenn ich mehr darauf geachtet hätte, wäre ihm irgendein anderer Grund eingefallen, der ihn an die Decke gehen ließ. "Nur weil ich was sage, soll das noch lange keine Aufforderung sein." "Sorry, dass deine Worte nun mal wie ein Appell wirkten." "Kannst du eigentlich nur das machen, was man dir sagt?", wirft mir Mello zähneknirschend entgegen. "Wie wäre es denn mal mit selbstständigem Denken, persönlichen Entscheidungen, Eigenverantwortung? Kommen solche Begriffe in deinem Wortschatz überhaupt vor?" "Gerade hab ich doch auch selbstständig entschieden." Ich lasse das Fenster ein Stück herunter und zünde mir eine Zigarette an. "Wenn dir das nicht passt, warum regst du dich dann auf?" Ohne zu blinken wechselt Mello auf die Überholspur, wobei er beinahe das Rücklicht unseres Vordermannes mitnimmt. Während mein Fahrer also gerade munter ein paar Verkehrsregeln bricht, entgegnet er noch: "Ich rege mich nicht auf. Ganz im Gegenteil." Nun trieft Mellos Stimme fast vor Sarkasmus. "Es ist schon bemerkenswert, dass es Leute gibt, die neben ihrer Nullbockstimmung keinerlei Ziele haben. Abgesehen vom nächsten Quest in einem Videospiel. Deine Aufträge erledigst du nur, weil man das von dir erwartet, oder nicht?" "Leck mich, Mello. Du hast doch selbst keinen Bock, ohne faule Tricks deine Ziele zu erreichen." Ein letztes Mal ziehe ich an meiner Zigarette, so lang, als wollte ich gleich den Filter mit inhalieren, bevor ich den Rest der Kippe aus dem Fenster werfe. "Du bist nicht der Strebertyp, auch wenn du mehr Ehrgeiz haben magst als ich. Dann erzähl mir doch mal, wie deine eigenen Ziele aussehen. Glaubst du etwa, das würdest du nur für dich selbst tun? Wäre Near ein hirnverbrannter Volltrottel, dann wärst du auch mit weniger zufrieden." Mit einem Ruck setzt der Wagen von der rechten Spur rüber zur linken; ich höre Reifen, die über Asphalt schlittern, sehe ein paar helle Lichter, die glücklicherweise nichts mit meinem sofortigen Ableben zu tun haben, sondern von dem Auto herrühren, das gerade auf der linken Spur unterwegs war und damit Mellos Fahrstil behinderte, sodass ich das "glücklicherweise" wieder aus meinen Gedanken streiche; irgendjemand schreit: "Verfluchte Scheiße", was vermutlich ich selbst bin; dann starre ich in die entsetzten Augen eines anderen Fahrers, dessen Wagen ein paar Zentimeter vor meiner Autotür zum Stehen gekommen ist. "Da ist ein Auto", sage ich ziemlich blöd. "Hab ich nicht gesehen", meint Mello knapp, "war im toten Winkel." Der Einzige, der hier beinahe im toten Winkel gewesen wäre, bin ja wohl ich. Mello wirft den Motor, der durch die Vollbremsung verreckt ist, wieder an und fährt das letzte Stück auf den Parkplatz am Rand. Sofort ist der andere Typ ausgestiegen und zu uns herübergerannt, um energisch gegen das Fenster auf der Fahrerseite zu klopfen. Was für ein Vollidiot. Wozu will er sich jetzt noch aufregen? "Sind Sie wahnsinnig?", schreit der Kerl ungehalten, nachdem Mello das Fenster runtergelassen hat. "Sie können doch nicht einfach..." Er verstummt, als ihm Mello ungerührt den Lauf seiner Knarre gegen die Nase drückt. Das war ja mal wieder klar. "Schnauze halten", kommentiert Mello seine Aktion. "Wenn du nicht willst, dass ich ungemütlich werde, dann verpiss dich." Hoffentlich wird es nicht für uns ungemütlich, falls uns wegen dieser Sache die hiesige Sicherheitsinstanz auf die Pelle rückt. Mit einem Blick auf den Kerl, der uns beinahe reingefahren wäre, wird mir allerdings klar, dass der sich nicht an die Polizei wenden wird. Vermutlich wird er zuerst seine Klamotten wechseln wollen, weil er es vor Angst nicht mehr halten konnte. Mello kann manchmal furchteinflößend sein. Sobald der Kerl sich aus dem Staub gemacht hat, richtet sich Mellos wutgeladene Aufmerksamkeit wieder auf mich. "Ich muss mich ja wohl von niemandem über meine eigenen Motive aufklären lassen! Erst recht nicht von einem wie dir, der selbst nur so viel Elan aufbringt, damit es gerade zum Überleben reicht." Klasse, ich hasse solche Diskussionen. "Wenn man einer Fliege die Flügel ausreißt", meine ich schulterzuckend, "lebt sie auch länger." Verständnislos starrt mich Mello an, sodass ich hinzufüge: "Anstrengung fordert 'ne Menge Energie. Dann kommt es zu Verschleißerscheinungen. Weniger Beanspruchung, weniger Verschleiß, verstehst du?" Eine Pause tritt ein, in der Mello eine Augenbraue hebt. Darum sage ich nur: "Lass besser mich weiterfahren", und steige aus. Vielleicht denke ich schon seit Jahren nicht mehr so, weil Langeweile auch scheiße ist, womöglich sogar beschissener als die Aussicht, ruhig und lange zu leben. Ohne Protest tauscht Mello mit mir den Platz, während er energisch eine Tafel Schokolade entblättert. Oft schon habe ich vermutet, dass er wohl eine Menge Energie benötigt, um sich ständig über alles mögliche aufzuregen. Zurück auf der Straße, diesmal bin ich am Steuer, da erinnere ich mich an ein Spiel, das ich vor Ewigkeiten gezockt habe. Zu Beginn wurden einem etliche Fragen gestellt. Was ist dir wichtig? Was wünschst du dir? Wovor hast du Angst? Keine Ahnung, wovor ich Angst haben soll, das ist immer nur eine Frage des Moments, schließlich bin ich auch nur ein Mensch, der durchaus Schiss bekommt, wenn irgendein Unglück auf ihn zurast. Aber ansonsten? Meist gehe ich davon aus, dass sowieso nichts passiert, weil immer irgendwie alles gut wird. Aber so denken vermutlich alle Menschen. Jeder geht davon aus, es würde einen anderen treffen, obwohl wir es besser wissen müssten. Irgendeiner muss ja schließlich den Kopf hinhalten, doch es trifft sicher nicht einen selbst. Ich weiß auch nicht. Was wünschst du dir? Wünsche ich mir denn etwas, außer keine Langeweile und bloß nicht zu viel Aufregung? Das klingt, als wäre es ein Widerspruch. Wie auch immer. "Warum ist es dir eigentlich nicht zu blöd, mir zu helfen?", fragt Mello jetzt. "Du könntest es doch viel einfacher haben." Er kaut verbissen auf seiner Schokolade herum und starrt aus der Frontscheibe auf die Straße. Ich sehe nur kurz zu ihm hin, bevor ich meinen Blick wieder nach vorn richte. Was ist dir wichtig? "Vielleicht brauche ich sogar ein bisschen Antrieb", antworte ich, ohne groß darüber nachzudenken, "damit ich nicht versumpfe. Dann ist es auch gar nicht so schlimm, dass du so bist, wie du bist." "Ach, wie soll ich denn sein?" Anstrengend, denke ich, aber ich sage nichts. "Wie soll der ewige Zweite schon sein?", fragt Mello noch einmal, diesmal ein wenig bitter. Einer anderen Person als mir gegenüber würde er so etwas vermutlich nicht zugeben. Weil ich weiß, dass Mello keine Antwort hören will, rede ich einfach an irgendeiner Stelle weiter. "Du bist ganz anders als ich, was mir früher noch auf die Nerven ging, doch mittlerweile denke ich, dass du so etwas wie eine Ergänzung zu mir bist, um die Seite auszufüllen, die mir noch fehlt." "Red nicht wie 'ne Schwuchtel, sonst wird mir schlecht." "Eine bessere Beschreibung fällt mir nun mal nicht ein, also komm wieder runter. Man könnte das vielleicht mit diesem Asiakram vergleichen, der nötige Ausgleich zur eigenen Person und so." "Lass mich mit Feng Shui in Ruhe." "Das ist Tai Chi, kein Feng Shui", korrigiere ich, sodass Mello verächtlich schnaubt. "Du willst mir doch nicht erzählen, dass du den Unterschied kennst." "Aber sicher", erwidere ich grinsend. "Bei Tai Chi geht es um den Ausgleich der Widersprüche, Yin und Yang und so. Tekken-Spielen bildet eben doch." "Ich vertreibe also deine Langeweile", fasst Mello zusammen, "und sorge ein bisschen für Aufregung. Na danke." Was ich dann denke, spreche ich besser nicht aus. Ich weiß nun mal nicht, was ich von Mello halten soll. Manchmal habe ich das Gefühl, er würde mich einfach verstehen; wir würden uns anschweigen und würden dabei die Gedanken des anderen trotzdem kennen. Wahrscheinlich habe ich gerade nicht alle Tassen im Schrank, als ich mich sagen höre: "Es ist wie Tetris. Stell dir vor, du hast einen Gameboy und das Spiel und..." "Bescheuertes Beispiel." Damit hat er Recht, dennoch fahre ich fort, warum auch immer. "Obwohl sie zusammen gehören, sind sie überhaupt nicht miteinander zu vergleichen, Konsole und Modul, ohne das eine funktioniert das andere nicht." "Total bekloppt." "Eigentlich ist das Spiel unsinnig, immer nur dasselbe Zeug, aber man spielt es trotzdem und vertreibt sich damit die Zeit. Wenn man es genau nimmt, dann verändert sich das Spiel ständig. Schließlich gibt es immer neue Kombinationen. Und sowieso ist das ganze Leben ja auch nichts anderes als ein riesiges Aufbauspiel." "Wie tiefsinnig. Studier doch Philosophie, wenn du es so nötig hast." "Nur die Grafik ist halt viel besser." "Wenigstens etwas." Mello verschränkt die Arme vor der Brust, und ich frage mich, was ich hier eigentlich erzähle, rede aber trotzdem weiter, als hätte mir jemand ins Gehirn geschissen. "Unaufhaltsam kommt dann das Ende." "Game Over", ergänzt Mello theatralisch. "Eigentlich hat man nichts erreicht, aber man fängt trotzdem noch mal von vorn an." "Reset." "Verstehst du, was ich meine?" "Nein." Wenigstens ist Mello ehrlich. Ich weiß ja selbst nicht, worauf ich hinaus will. "Es ist, als wollte man abgesehen vom Spaß einem Spiel einen Sinn geben", erkläre ich, obwohl es besser wäre, endlich mal die Fresse zu halten. "Man verfolgt ein Ziel, aber wenn man ein Spiel gespielt hat, hatte es im Endeffekt doch keinen Sinn. Ob man gewinnt oder verliert, das spielt keine Rolle, vorbei ist vorbei." "Oh Mann", sagt Mello kopfschüttelnd und wirft sein zusammengeknülltes Schokoladenpapier auf die Rückbank. Ist wohl besser, dass er nichts weiter dazu sagt. "Weißt du", füge ich jetzt hinzu und versuche dabei nicht daran zu denken, was für ein Schwachsinn aus meinem Mund kommt, "charakterlich hättest du gar nicht anders werden können. Das wurde uns doch allen eingeimpft, dieses Denken. Man hat versucht uns zu formen, aber wir sind alle individuell. Darum ist es mir so egal, weil wir uns anstrengen sollen, aber es eigentlich gar nicht müssen, und ich wüsste auch gar nicht, wozu ich es tun sollte. Bei dir ist das eben genauso, bloß in die entgegengesetzte Richtung, also wurden wir beide so erzogen und das kannst du nicht ungeschehen machen." Mello schweigt. Ich wüsste auch nicht, was ich dazu jetzt sagen würde, zumindest an seiner Stelle. Da ich aber nicht er bin und somit kein Anwärter auf Gold oder Silber, sondern nur auf jämmerliche Bronze, was aber auch okay ist, weil das eben so ist, kann ich noch immer nicht die Klappe halten und frage stattdessen: "Kannst du dich erinnern, was Linda mal gesagt hat?" Mellos Schweigen interpretiere ich als Aufforderung zum Weitersprechen. "Wenn du dein Schicksal, Frauen reden ja immer über Schicksal und so einen Kram, jedenfalls meinte sie zu mir, wenn du dein Schicksal traurig findest, dann solltest du nicht deswegen weinen, sondern lachen. Du solltest lachen, denn wenn du weinst, merkst du, wie wenig du die Tränen wert gewesen wärst." Ich merke gerade, dass ich nie kapiert habe, was Linda eigentlich damit sagen wollte. "Du weißt schon, von wem du da redest?", wirft mir Mello nun entgegen. "Von einer Person, die in Panik geriet, wenn nur eine ihrer Hände nass war. Beide Hände waren in Ordnung, aber sie hatte Angst davor, wenn nur eine einzige nass war." "Sie bekam keine Angst davor. Ich erinnere mich auch daran. Einmal haben wir sie doch festgehalten und mit der Gießkanne ihre rechte Hand übergossen. Sie wurde schon irgendwie panisch, aber Angst war das nicht, sie fand es nun mal unangenehm, glaube ich." "Matt, sie hat uns die ganze Zeit angefleht, dass wir ihre andere Hand auch nass machen sollen, weil sie sonst geteilt wäre und nicht mehr unterscheiden könnte, was sie wirklich fühlt, und so ein Scheiß." "Ja ja, ich erinnere mich doch." "Außerdem isst sie gern Lakritze, der beste Beweis, dass sie nicht ganz dicht ist. Erzähl mir nicht, du hättest jemals auch nur ein Wort davon verstanden, was sie gequatscht hat." "Hör zu, vergiss es einfach." Ich spule zurück, Rewind, und entsinne mich, dass Linda auch gesagt hat, dass sie später mal heiraten will, unbedingt, aber erst, sobald sie genug Geld für die Scheidung zusammen hat. Das zumindest habe ich verstanden. Dann spule ich wieder in die Zukunft und für einen kurzen Moment erinnere ich mich daran, dass es im Apartment keinen Aschenbecher gibt und ich eine dieser kleinen Flaschen mit der viel zu salzigen Nachosauce mit Wasser gefüllt und aufs Fensterbrett gestellt habe. Wenn ich den Rest meiner Kippen in das Glas werfe, verlöschen sie immer mit einem leisen Zischen, ein Geräusch, das ich komischerweise sehr mag. Das Wasser hat sich mit der Zeit dunkler gefärbt und in der braunen Brühe der Saucenflasche schweben die Zigarettenfilter wie Embryos in einem Reagenzglas. Vielleicht wurden wir alle in unserer Erziehungsstätte oder Irrenanstalt, wie Mello sie manchmal liebevoll nennt, so herangezüchtet und konnten deshalb nie anders werden, als wir es heute sind, mit ganz dünnen Fäden an den Gelenken, die man kaum sieht, die aber so reißfest sind wie Angelschnüre oder Klaviersaiten. Werden wir womöglich alle auf diese Weise gelenkt und beherrscht? "Wenn es einen Gott gibt oder gab", rede ich vor mich her, während ich auf die weißen Markierungen starre, die in der Mitte der Straße vorbeisausen, "und er die Menschen nach seinem Abbild geformt hat, dann sind Puppen und Marionetten eine Möglichkeit für den Menschen, sich selbst als Gott zu bezeichnen, nicht wahr? Ich habe mich nur gerade gefragt, ob wir genauso gelenkt werden." Verdammt, ich klinge schon wieder so durchgeknallt, als hätte ich was eingeworfen. Trotzdem spinne ich meinen Gedanken weiter. Sind wir auch nur Puppen an unsichtbaren Fäden auf dem Holzboden eines Theaters, das sich Leben nennt? Ein Glück, dass ich das nicht mehr laut ausgesprochen habe. Gleichzeitig erinnere ich mich bei diesem Gedanken an ein Lied, das davon handelte, dass Puppen nicht weinen würden. Was auch immer man mit ihnen macht, man kann sie nicht verletzen. "Vielleicht sind Puppen eine Art perfekter Mensch." Mist, das habe ich jetzt wirklich laut gesagt. "Ich frage mich, ob der Mensch danach strebt, so zu sein, so unverletzlich und kalt wie eine Puppe. Und, es wäre ja immerhin möglich, wenn Gott das Gleiche wollte?" "Mit Sicherheit nicht", sagt Mello jetzt endlich. Vermutlich würde er mich lieber sofort einweisen lassen, dennoch frage ich ihn: "Wie kannst du dir da so sicher sein?" "Ganz einfach", antwortet er, "es gibt keinen Gott." Wenn ich davon ausgehe, dass wir nicht selbst entschieden haben, sondern von anderen Leuten zu dem gemacht wurden, was wir heute sind, durch unsere Aufgabe, durch die uns aufgedrückten Ideale, dann gibt es für jeden Einzelnen auf der Welt Götter, weil wir alle von jemandem abhängig sind und beeinflusst werden. Vielleicht ist es für uns Wunderkinder L. Vielleicht ist es für Mello auch einfach nur Near. Und als wollte er diese Idee bestätigen, sagt Mello nun mürrisch: "Du bist Near manchmal verdammt ähnlich, weißt du das? Der hält das Ganze hier auch nur für ein verfluchtes Schachspiel. Bloß dass Near sich für den König hält, der seine Untergebenen an unsichtbaren Fäden lenkt, sich selbst aber kein Stück bewegt. Ohne andere Menschen wäre er gar nichts." "Das ändert nicht die Tatsache, dass du einer seiner Läufer bist", entgegne ich ungerührt, "und ihm am Ende zum Sieg verhelfen wirst." "Nicht, wenn ich Kira seinen Namen verrate", erwidert Mello mit einem dreckigen Grinsen. "Sei nicht blöd, Mello. Es geht nicht darum, wer am Ende noch die meisten Spielfiguren hat. Nur das Gewinnen zählt. Ohne König wäre das Spiel verloren. Es heißt schließlich Schach und nicht Läufer." "Scheiße, das kümmert dich wohl nicht, was? Welche Rolle spielst du denn?" "Ich bin nur der Bauer, der dem Läufer den Arsch rettet, wenn's brenzlig wird." "Du hast einen Knall." Unruhig wackelt Mello mit dem Bein auf und ab, was mich früher noch ziemlich genervt hat, obwohl ich das oft genug selbst mache. "Du bist ein Idiot, Matt. Du kannst dein Leben nicht mal eben zwischenspeichern und was ausprobieren. Und wenn es nicht klappt, dann drückst du die Resettaste. Es gibt kein Continue, kapier das endlich." "Wenn ich ein Idiot bin, dann bist du ein Arschloch." Meine Stimme klingt keineswegs vorwurfsvoll, was auch gar nicht meine Absicht wäre. Und glücklicherweise tickt Mello nicht aus. Das ist wieder so ein Augenblick, in dem er versteht, was ich eigentlich meine, ohne dass ich mich besonders gut ausdrücken könnte. "Im Ernst", füge ich noch hinzu, "es verwundert mich nicht, dass du dich fragst, warum ich dir helfe und warum ich noch immer bei dir bin. Du bist nun mal ein echtes Charakterschwein. Doch du tust nicht so, als wärst du etwas anderes. Du bist ehrlich, was nicht heißen soll, dass du kein Lügner bist. Aber darum bist du mein Kumpel und darum folge ich dir. Mir ist doch klar, dass wir keine Spielfiguren sind und dass es kein Reset gibt. Das sollte dir aber auch klar sein." "Wieso?", fragt Mello tonlos, fast desinteressiert. "Na, dir sollte klar sein, dass nicht jeder ein König ist. Du solltest nicht vergessen, dass wir Puzzleteile bleiben." "In Nears scheiß Puzzlespiel meinst du wohl?" Mello klingt nicht so angepisst, wie er aufgrund dieser Tatsache normalerweise sein müsste. Darum stimme ich zu und sage: "Die Fäden haben eben andere Leute in der Hand." Danach sage ich nichts mehr und auch Mello schweigt. Es gibt kein Reset, ich weiß das. Die Welt besteht aus Göttern und Opfern, quasi Opferlämmern. Gewinner auf der einen und Verlierer auf der anderen Seite. Bis es soweit ist, dass man sich der Wahrheit stellen muss, glaubt man immer auf der Seite der Gewinner zu sein. Aber am Ende gibt es das nicht. Am Ende gibt es nur Verlierer. Mello weiß das vermutlich, umso dümmer wäre es von mir, das jetzt noch zu sagen. Darum lasse ich es bleiben und zünde mir stattdessen eine Zigarette an, während es draußen dunkel wird. Hosted by Animexx e.V. 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