Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 17: Fröhliche Weihnachten --------------------------------- So. Ein sehr kurzes, inhaltsträchtiges Kapitel, für das ihr mir alle den Kopf abreißen werdet. Ich wünsche trotzdem viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße und einen guten Start in die Woche :) ____________________________ »Die Züge fallen aus… Bis zum fünften Januar.« »Und was soll das nun heißen?« »Das soll heißen, dass ich mit dem Zug nicht kommen kann. Was denn sonst?« Er konnte es nicht fassen. Seine Mutter tat gerade so, als hätte er selbst die Schienen manipuliert, damit die Züge auch bloß nicht dahin fuhren, wo er hinfahren musste. Nicht, dass er besonders traurig darüber wäre, dass überall Baustellen waren, aber dass seine Mutter nun so vorwurfsvoll mit ihm sprach, als wäre er verantwortlich… das nervte ihn gewaltig. »Du warst schon zum Geburtstag deines Vaters nicht da«, erinnerte ihn seine Mutter frostig wie der Dezemberabend draußen. »Ja, ich erinnere mich dunkel«, gab er ungehalten zurück, »wenn es am dreiundzwanzigsten nicht schneit, dann werde ich gefahren. Von einem… Freund.« Seine Mutter schwieg einen Moment lang und Jannis hoffte beinahe schon, dass es am dreiundzwanzigsten richtig stürmen und schneien würde. Er war ohnehin skeptisch, was Koljas Motorrad anging, aber er war noch nie auf so einem Ding gefahren. Vielleicht war es ja nicht so schlimm, wie er es sich vorstellte. Eigentlich stellte er es sich hauptsächlich windig vor. »Aha. Na hoffentlich kann dein Freund anständig fahren«, sagte seine Mutter schnippisch. Jannis beschloss, dass er auf dieses Gespräch keine Lust mehr hatte, »Ich denke schon. Ich werd am dreiundzwanzigsten Bescheid sagen, wie das Wetter aussieht und ob ich kommen kann. Bis dann!« Und er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Er ging ins Schlafzimmer und setzte sich an seinen Laptop. Lana sprang auf seinen Schoß und bohrte ihre Krallen durch seine Hose. Er grummelte leise und warf ihr einen strengen Blick zu, doch sie schnurrte nur zufrieden und drückte ihre beiden Vorderpfoten abwechselnd in seinen Bauch. Er fand drei neue Emails und runzelte leicht die Stirn. Eine davon war von Kolja und sie enthielt einen Anhang. Verwirrt öffnete er sie. »Danke für den schönen Abend!« Ausnahmsweise eine sehr kurze und prägnante Nachricht von Kolja. Normalerweise neigte er dazu, viel zu reden. Jannis öffnete den Anhang und lief im nächsten Moment scharlachrot an. Auf seinem Desktop öffnete sich das Foto, welches Kolja von ihnen beiden geschossen hatte. Seine Wangen waren auf dem Bild arg gerötet, Koljas Kussmund konnte sein Schmunzeln nicht ganz verbergen und seine blonden Haare schauten unter seiner grässlichen, grünen Strickmütze hervor. Jannis hatte den Mauspfeil schon auf ›löschen‹ geschoben, als er es sich doch anders überlegte. Außer ihm sah ja niemand, wie bescheuert er auf diesem Bild aussah… Marek kam an diesem Abend zum Essen zu ihm. Er schnappte sich eine Wolldecke von Jannis, kuschelte sich in den Sessel und ließ sich von Jannis eine Tasse Tee reichen. Er sah nicht besonders gut gelaunt aus und Jannis wusste wieso. Es gab eine Zeit im Jahr, zu der Marek brummig wurde. Und das war Weihnachten. Seit er sieben Jahre alt war, hatte er niemanden mehr gehabt, mit dem er Weihnachten hätte feiern können. Selbst nachdem er Jannis kennen gelernt hatte, hatte sich das nicht geändert, da Jannis jedes Jahr dieses schreckliche Truthahnessen über sich hatte ergehen lassen. Meistens hatten er und Marek sich erst nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag sehen können. Und schon damals hatten sie abgemacht, sich nichts zu schenken, da sie beide nichts von all diesem Weihnachtsbrumborium hielten. Er beobachtete Marek dabei, wie er schweigend seinen Tee schlürfte. Dann hatte er plötzlich den Drang etwas zu sagen, das ihm just in diesem Augenblick in den Sinn kam. »Wie wäre es, wenn wir nächstes Jahr zu zweit Weihnachten feiern? Ich fahr nicht mehr zu meinen Eltern, da hab ich sowieso keine Lust drauf. Und wir kaufen einen Baum und schenken uns doch mal was…« Marek blinzelte und sah ihn über den Rand seiner Teetasse hinweg an. »Wir hassen Weihnachten«, erinnerte Marek ihn verwundert. Jannis zuckte mit den Schultern. »Wir hassen es doch nur, weil wir nie richtig feiern konnten. Mit Familie oder Leuten, die wir mögen«, gab er zurück. Marek schwieg einen Moment, dann lächelte er kaum merklich und nahm noch einen Schluck Tee. »Kolja hat ja einen ziemlichen Einfluss auf dich«, sagte er. Nun war es an Jannis zu blinzeln. »Was hat das mit Kolja zu tun? Ich hab keine Lust auf meine Eltern und auf Anitas Truthahn, du bist immer schlecht drauf, weil du Weihnachten allein bist…«, sagte er. Marek kicherte leise und stellte seine Teetasse beiseite. »Ja, ok. Das hat nichts mit Kolja zu tun«, meinte Marek, doch das amüsierte Funkeln in seinen Augen strafte die Aussage Lügen. »Vielleicht wäre es wirklich nett mit dir zu feiern. Wir könnten Kekse backen. Oder Lebkuchen. Und Lichterketten aufhängen und Weihnachtslieder hören«, überlegte Marek laut. Jannis meinte ein ziemlich vorfreudiges Funkeln in Mareks Augen zu sehen, was ihn ungemein freute. Es war ohnehin Zeit, dass er sich von seinen Eltern löste. Sie würden niemals stolz auf ihn sein, soviel war sicher. Er hätte es schon früher tun sollen. Aber aus irgendwelchen seltsamen Gründen war ihm der Gedanke erst wirklich klar und vernünftig erschienen, seit er… ja. Seit er mehr mit Kolja zu tun hatte. Seit er gesehen hatte, wie eine richtige Familie sein sollte. Er hasste jedes Treffen mit seinen Eltern, er war froh über jede Möglichkeit, diesen Treffen zu entkommen. Dieses Weihnachten noch und dann war es genug. »Danke, dass du das vorgeschlagen hast«, sagte Marek leise und lächelte zu ihm herüber, »ich freu mich grade das erste Mal auf Weihnachten.« Jannis lächelte zurück. Ja, wenn er darüber nachdachte, dann gefiel ihm dieser Gedanke wirklich gut. Vielleicht würde er Weihnachten dann das erste Mal in seinem Leben genießen. Wie es sich herausstellte, konnte das Wetter Jannis nicht besonders gut leiden. Der dreiundzwanzigste Dezember brach klar und sonnig und klirrend kalt an. Keine Spur von Schnee, Regen, oder auch nur dem leichtesten Hauch von Frost. Brummend frühstückte er, dann schrieb er Kolja eine SMS und fragte ihn, ob sein Angebot mit dem Motorrad noch stand. Natürlich tat es das… was hatte er auch anderes erwartet? Kolja war einfach zu nett. Wohl oder übel rief Jannis seine Mutter an und erklärte ihr, dass er nun tatsächlich kommen würde. Dunkel kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht tagelang bei seinen Eltern feststecken würde, wenn es nach Weihnachten schneite oder Kolja keine Zeit hatte, dann kam er nicht weg. Eine wirklich grausige Vorstellung, die seine Laune noch weiter in die Tiefe zog. »Das Angebot steht noch«, erklärte Kolja, als sie sich mittags trafen. Jannis sah ihn verwirrt an, den Motorradhelm in den Händen und dick eingehüllt in mehrere Schichten Kleidung. »Welches Angebot?«, fragte er und betrachtete den kobaltblauen Helm in seinen Händen. Damit würde er garantiert total bescheuert aussehen. Aber Gott sei Dank saß er hinter Kolja und niemand kannte ihn… Unschlüssig hob er den Helm und zog ihn sich über den Kopf. Es war ein wenig eng im Helm und seine Wangen wurden leicht zusammen gedrückt. Peinlicher konnte es kaum werden. Kolja schmunzelte amüsiert, streckte die Hände aus und versiegelte den Verschluss des Helms unter Jannis’ Kinn. »Dass du Weihnachten bei uns feiern kannst«, erwiderte Kolja und setzte seinen eigenen schwarzen Helm auf. Dann klappte er das Visier hoch und zog sich Handschuhe an. Jannis musste zugeben, dass Kolja in seiner schwarzen Motorradkluft ziemlich gut aussah. Der Helm verhinderte Gott sei Dank, dass Kolja seine errötenden Wangen sah, während er dies dachte. »Danke, das ist nett. Aber ich hab gestern einen Deal mit Marek gemacht. Dieses Weihnachten ist das letzte mit meinen Eltern und nächstes Jahr feiere ich dann mit ihm zusammen«, sagte er und musterte nun das Motorrad, das passend zu Koljas Helm pechschwarz war und so aussah, als würde Kolja es regelmäßig putzen. Kolja lächelte. »Na ok. Dann drück ich dir schon mal die Daumen, dass deine Eltern diese Nachricht nicht allzu schlecht aufnehmen«, sagte er, setzte sich rücklings auf die Maschine und Jannis zögerte einen Moment, dann nahm er hinter Kolja auf dem Motorrad Platz. »Danke. Aber ich glaube, dieses Daumendrücken ist vergeblich«, sagte er grimmig und schaute nach unten, wo er zwei kurze Stangen sah, auf denen er seine Füße abstellen konnte. »Es gibt nichts, worauf du achten musst, außer einer Sache«, sagte Kolja von vorne und Jannis beugte sich leicht zur Seite. Seine Hände ruhten auf Koljas Hüften. »Du musst dich in den Kurven mit mir zur Seite lehnen. Egal wie tief das Ding runtergeht, ok? Man kippt nicht um, aber wenn du dich in die andere Richtung lehnst, dann fliegen wir aus der Kurve«, erklärte Kolja. Jannis nickte seufzend. »Das werd ich wohl grad noch schaffen«, sagte er und war in Gedanken schon wieder bei dem bevorstehenden Essen mit seinen Eltern. Motorradfahren war nicht so schlecht, wie Jannis gedacht hatte. Es zog zwar ziemlich, aber durch seine dicke Kleidung drang kaum Kälte. Die Kurven, die sie fuhren, waren nicht so schlimm, wie er gedacht hatte. Als sie schließlich auf der Autobahn waren, ging es ohnehin nur noch geradeaus. Jannis beobachtete, wie sich die Motorradfahrer gegenseitig grüßten, wenn sie aneinander vorbeifuhren. Kolja streckte dann eine Hand aus, als würde er beim Fahrradfahren abbiegen wollen. Jannis fand das merkwürdig, aber er hatte von diesen Dingen natürlich keine Ahnung. Jannis wusste, dass es kaum noch zehn Minuten waren, bis sie ankommen würde. Als Kolja sich in die Kurve der schneckenartigen Autobahnausfahrt legte, bemerkte Jannis das erste Mal, was Kolja gemeint hatte. Die Kurve war extrem eng und es ging ununterbrochen im Kreis, als würden sie in einer ewigen Spirale fahren. Die Maschine lag so tief auf der Seite, dass Jannis unweigerlich Angst in sich hochkochen spürte. Er bemerkte kaum, wie er sich gegen die Kurvenrichtung legte. Das Motorrad schlingerte, Jannis sah noch das Ende der Ausfahrt auf sie zukommen. Dann spürte er nur noch, wie das Motorrad unter ihm wegsackte und er durch die Luft flog. Er krachte auf den Boden, dumpf hörte er von irgendwo ein lautes Krachen, ein Scheppern und ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Körper, als er noch ein Stück weiterrollte und mit dem linken Arm gegen einen Baum stieß. Alles um ihn herum drehte sich, sein Herz hämmerte heftig und schmerzhaft. Vor seinen Augen verschwamm der Rasen, auf dem er gelandet war. Er wollte den Kopf heben, doch alles tat weh und er fühlte, wie sein ganzer Körper heftig zitterte. Der Schmerz in seinem Arm wurde beinahe unerträglich und er dachte benebelt ›Fröhliche Weihnachten‹, bevor ihm schließlich schwarz vor Augen wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)