Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 25: Telefonate, Sehnsucht und Schlaflosigkeit ----------------------------------------------------- Das Kapitel ist recht inhaltslos, aber ich wollte die Zeit von Koljas Reha- Aufenthalt nicht allzu sehr raffen. Sehnsucht ist eine gute Sache ;) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße :) ________________________ »Deine Eltern haben mir deine Telefonnummer gegeben.« Na wunderbar. Etwas Besseres konnte er sich nicht vorstellen. »Toll«, war alles, was ihm dazu einfiel. Er saß an seinem Laptop und starrte auf das Worddokument, das er geöffnet hatte. Es handelte sich dabei um seine Bachelorarbeit und er grübelte gerade über einen viel zu langen Schachtelsatz nach. »…Geschäftsessen und… Sag mal, Jannis? Hörst du mir überhaupt zu?« »Ja, sicher«, murmelte Jannis abwesend, löschte den Satz und begann ihn umzuformulieren. »Wirklich nett von dir. Wir haben seit Ewigkeiten nicht miteinander geredet! Ich bin immer noch sauer, weil du einfach abgehauen bist!« Jannis verdrehte die Augen, als er sich vertippte. »Sieh mal, Jess. Ich hatte einfach keine Lust mehr darauf. Und ich habe jetzt sogar noch weniger Lust darauf. Daher interessieren mich irgendwelche Geschäftsessen nicht und generell will ich eigentlich nichts über das Thema ›meine Familie‹ oder ›Juristen‹ hören.« Jessika seufzte leise. »Aber ich werde bald eine Juristin sein«, gab sie zu bedenken. Jannis konnte es nicht fassen, dass er nach all den Jahren nun wirklich mit ihr telefonierte. Er verstand ohnehin nicht, wieso seine Eltern ihr nicht schon längst seine Nummer verraten hatten. Vielleicht hatte sie nie danach gefragt? Das war unwahrscheinlich. »Wieso haben meine Eltern dir eigentlich jetzt erst meine Nummer gegeben?«, fragte er undeutlich, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. Sein Gips behinderte ihn ziemlich beim Tippen. Er war entnervt und wollte das elende Ding endlich loswerden. Laut Dr. Mertens musste der Gips jedoch noch zwei Wochen sein Begleiter sein. Jannis fragte sich, wie er anständig an seiner Bachelorarbeit arbeiten sollte, wenn er in einer Stunde gerade mal drei Sätze schaffte. »Du bist wohl echt nicht auf dem Laufenden, was? Unsere Eltern haben sich vor etwa zwei Jahren komplett zerstritten. Es ging um einen Fall, der–« »Keine Juristendetails!«, ermahnte Jannis sie. Jessika verstummte. »Nun ja, jedenfalls haben sie nicht mehr miteinander geredet und letztens rief deine Mutter bei mir an. Es kam ein wenig überraschend. Ich dachte schon, dass ich nie wieder was von dir hören würde…« So war es eigentlich auch geplant gewesen. Jannis war ein Meister darin, vor Dingen davonzulaufen, die ihm unangenehm waren. Und das Thema Jessika gehörte eindeutig dazu. »Und du hast es dir immer noch nicht anders überlegt?«, fragte Jannis hoffnungsvoll. Jessika schwieg. »Nein. Nein, habe ich nicht.« Na toll. Er hatte es ja gewusst… »Wie geht’s dir eigentlich? Deine Eltern haben gesagt, du hättest einen Unfall gehabt?« In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis mit und Jannis seufzte. Er war noch nie gut darin gewesen, Jess einfach abzuschmettern. Sie war schlicht und ergreifend zu nett. Und sie mochte ihn. Und wie immer konnte Jannis schlecht damit umgehen, wenn Menschen ihn mochten. »Es geht mir gut. Ich hab nur einen Gips am Arm. Die Gehirnerschütterung hat sich schon wieder verflüchtigt«, erklärte er und griff nach einem Ordner mit Kopien, um eifrig darin herum zu wühlen. »Und wie ist das passiert?« Jannis hielt in seiner Bewegung inne und schwieg einen Moment. Wenn er jetzt sein Worddokument schließen würde, dann könnte er das Foto sehen… das Foto von ihm und Kolja beim Eislaufen. »Ich hab mich beim Motorradfahren nicht genug in die Kurve gelegt«, sagte er knapp und Jess fragte nicht weiter nach. Jannis hätte nicht gedacht, dass er einmal einen Menschen dermaßen vermissen könnte, dass es beinahe wehtat. Er ertappte sich dabei, wie er ihr Foto anstarrte und wie er Koljas SMS immer und immer wieder las. Das half nicht wirklich, aber er konnte kaum an etwas anderes denken. Und dabei waren erst drei Wochen vergangen, seit Kolja zur Reha gefahren war. Er schrieb ihm täglich, manchmal nur einmal, manchmal auch viermal. »Hier arbeitet ein Arzt namens Dr. Grausam. Ich bin also in guten Händen!« »Heute gab es Gemüselasagne. Deine hat sehr viel besser geschmeckt. Was machst du gerade?« »Ich vermisse dich.« »Wusstest du, dass zwei Drittel aller Menschen die Nase beim Küssen rechts halten? Ich hab versucht, mich dran zu erinnern, auf welcher Seite wir unsere Nasen hatten…« Kolja hatte ihm schon länger mehr keine Sätze dieser Art geschrieben. Aber diesmal freute sich Jannis darüber. Er musste lächeln. In seinem Gedächtnis hingen immer noch all diese sinnlosen Fakten über rosa Kuhmilch und schlafende Delphine. »Rechts. Eindeutig rechts. Und schreib mir nichts übers Küssen! Das ist unfair.«, war seine Antwort auf Koljas SMS gewesen. Jannis hatte noch nie in seinem Leben so viele SMS bekommen, geschrieben und so häufig telefoniert wie in dieser Zeit. Kolja hatte ihn auch schon nachts um halb drei angerufen. »Ich kann nicht schlafen… hab ich dich geweckt?« »Nein.« »Wieso bist du noch wach?« »Frag doch nicht so blöd!« Koljas Lachen durchs Telefon zu hören, war sehr anstrengend. Jannis wollte ihn dabei ansehen. Und überhaupt wollte er ihn umarmen und ihn küssen… Diese sentimentalen Gedanken fand er selbst peinlich, aber da es Kolja offenbar genauso ging, wurde es ein wenig erträglicher. Außerdem hatte er wenigstens Grund dazu, sich zu beklagen, Marek hingegen wimmerte schon, wenn er Sebastian zwei Tage lang nicht sehen konnte, weil sein Freund mit der Ausbildung beschäftigt war und ab und an auf kurze Exkursionen fuhr. »Ich hab viel nachzuholen«, hatte er Jannis klagend erklärt und ihn missmutig angesehen. »Ich nicht, oder was?«, hatte Jannis gemeckert und Marek hatte lachen müssen. Jannis hatte es beinahe verdrängt, dass Jessika nun seine Telefonnummer hatte, aber er wurde seit neustem immer öfter daran erinnert, weil Jessika ständig anrief. Sie erzählte ihm von ihrem Alltag und von ihrer ersten eigenen Wohnung, die nicht von ihren Eltern finanziert wurde. Jannis hatte keine Ahnung, was er ihr sagen könnte, damit sie ihn endlich nicht mehr mochte. Er konnte es ohnehin nicht fassen, dass sie nach über zwei Jahren der Funkstille immer noch nicht von ihm abgelassen hatte. Er kannte Jess, seit er dreizehn war. Seine Eltern hatten damals schon dauernd versucht, Jannis für sie zu begeistern und irgendwann hatte er nachgegeben. Sehr zur Freude ihrer beider Eltern und Jess. Der Versuch, mit ihr zu schlafen, war damals in einem Desaster geendet. Marek – der natürlich nicht wusste, dass er Schuld daran gewesen war, dass es nicht geklappt hatte – lachte immer noch darüber, dass Jannis die Sache mit dem Kondom nicht gebacken bekommen hatte. Seine Bachelorarbeit wuchs langsam aber sicher und Jannis bekam endlich den elenden Gips abgenommen. Sein Arm war merklich dünner geworden, weil er ihn nicht hatte bewegen können, und er fühlte sich steif an. Aber Dr. Mertens versicherte ihm, dass das wieder in Ordnung kommen würde. »Ich bin endlich den Gips los und brauche jetzt für eine SMS nicht mehr zwei Stunden.«, schrieb er Kolja, als er das Krankenhaus verließ und mit seinem schlaffen Arm nach Hause ging. »Ich hätte nicht gedacht, dass du ohne Gips schneller tippen kannst.« Jannis schnaubte und musste schmunzeln. Selbst per SMS war Kolja frech und unverschämt. »Ich bin immer für eine Überraschung gut. Morgen wird mein neuer Sessel geliefert. Wie läuft die Therapie?« Jannis hatte immer ein wenig Angst vor dieser Frage und er stellte sie nur selten. Eine Antwort- SMS, in der stand, dass die Chancen schlecht standen und Kolja keine Fortschritte machte, wollte er auf keinen Fall bekommen. »Dr. Grausam sagt, ich stelle mich gut an. Hab gestern mit den Zehen vom linken Fuß gewackelt. Wenn das mal kein Durchbruch ist ;)« Abends telefonierten sie drei ganze Stunden lang. Jannis hatte beschlossen, dass er wirklich alles über Kolja wissen wollte. Kolja wusste von diesem Vorhaben nichts, aber er lachte immer, wenn Jannis ihm aus heiterem Himmel eine Frage stellte. Jannis hatte sich unterdessen ein Notizbuch angeschafft und kritzelte darin herum, wenn er mit Kolja sprach. Das Büchlein war mittlerweile fast zur Hälfte gefüllt. Jede winzige Information über Kolja fand ihren Weg hinein. Wenn Kolja das wüsste, dann würde er Jannis entweder auslachen, oder ihn schwindelig knutschen. Jannis gefiel die zweite Vorstellung sehr gut, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen und so behielt er das kleine Geheimnis für sich. »Als wir uns kennen gelernt haben, hab ich dich dauernd mit Fragen bombardiert. Ist das jetzt die Quittung?«, fragte Kolja und Jannis hörte ihn schmunzeln. »Stört dich das?«, gab er unsicher zurück und hielt mit dem Bleistift inne, den er für seine Notizen benutzte. Dunkel kam ihm der Gedanken daran, dass er Informationen über Kolja offenbar dauerhaft festhalten wollte. Jannis erinnerte sich an die Metapher mit seinem Papierherz und stellte sich vor, wie Kolja seinen Namen dick und groß mit Bleistift hineingekritzelt hatte. Bleistiftspuren verblassten nicht… »Nein. Ich finde das ziemlich niedlich«, erklärte Kolja. »Ich bin nicht…« Jannis brach ab. Er sagte das jedes Mal, aber Kolja ließ ohnehin nicht locker. Jannis räusperte sich. »Marek plappert die ganze Zeit darüber, wie er Sebastian am besten entjungfern kann«, rutschte es ihm heraus. Im nächsten Moment lief er scharlachrot an. Was erzählte er Kolja so was? Er hasste es, über das Thema Sex zu reden. »Tatsächlich«, antwortete Kolja und Jannis hörte das unglaublich breite Grinsen deutlich in seiner Stimme. »Ähm… ja. Ist aber nicht der Rede wert, ich…« Wieso stammelte er immer noch ständig? Obwohl er Kolja nun schon seit mehreren Monaten kannte, brachte ihn der andere ständig aus dem Konzept, machte ihn verlegen und sorgte dauernd dafür, dass Jannis’ Herz wie verrückt hämmerte und sein Magen kribbelte. »Jannis, bist du nervös?« Herrgott, wieso musste Koljas Stimme so samtig weich sein? Man könnte meinen, er hätte sich ein wenig an den anderen gewöhnt. »Nein, wieso sollte ich?« Kolja lachte leise. »Weil du nicht gern über Sex redest vielleicht«, schlug Kolja prompt vor. Jannis fühlte sich ertappt. »Machst du dir auch Gedanken über so was?«, erkundigte sich Kolja leise und Jannis spürte, wie ihm plötzlich sehr heiß wurde. »Nein!« Das kam viel zu schnell und Jannis wusste, dass Kolja ihn ohnehin durchschaute. In Wahrheit träumte er ständig von diesen Dingen. Die letzte Nacht vor Koljas Abreise hatte nicht dazu beigetragen, dass seine Sehnsucht nach dem anderen besonders unschuldiger Natur war. Natürlich sprach er gern mit Kolja und hörte seine Stimme… aber er war so weit weg, dass Jannis ständig das Gefühl hatte, er müsste durchdrehen. Nach dieser Nacht war ihm die Sache furchtbar peinlich gewesen. Er hatte seine Stimme kaum im Zaun halten können. Kolja hatte das nicht im mindesten gestört, im Gegenteil. Als Jannis versucht hatte, sich den Mund zuzuhalten, hatte Kolja ihm sachte die Finger von den Lippen gezogen. »Ich will deine Stimme hören.« Als er sich an den Klang von Koljas Stimme in diesem Moment erinnerte, bekam er eine Gänsehaut. »Na ja… vielleicht hab ich mal… kurz drüber nachgedacht«, räumte er mit heiserer Stimme ein. »Wirklich? Kurz nur? Ich muss ständig daran denken«, meinte Kolja und seine Stimme klang schon wieder viel zu zärtlich. Jannis fragte sich dunkel, womit er so einen Menschen eigentlich verdient hatte. Kolja war schlichtweg zu gut für ihn. »Vielleicht auch… ein bisschen länger«, nuschelte Jannis und klappte sein Notizbuch zu. Er drehte sich auf seinem Bett auf den Rücken und schaute an die Decke. Einen Moment lang zögerte er, doch dann überwand er sich dazu, die Frage zu stellen, die ihn schon seit einiger Zeit beschäftigte. »Du hast doch sicher mit… also… du und Robert, ihr habt…« Er brach ab und schwieg. Sein Gesicht sah garantiert aus wie eine Verkehrsampel. »Robert und ich? Ja, wir haben miteinander geschlafen«, erklärte Kolja ganz sachlich. Ihm machte es natürlich kein bisschen aus darüber zu sprechen. »Du denkst hoffentlich nicht, dass ich’s eilig habe?«, wollte Kolja dann wissen. Jannis schloss die Augen. Er lag im Halbdunkel seines Schlafzimmers. Und sprach mit Kolja über Sex. Jannis konnte es nicht fassen. »Na ja… nein. Nicht wirklich. Es ist nur, damals, als du geklingelt hast, als Marek und ich… Wenn du nicht geklingelt hättest, dann wäre das… das erste Mal gewesen, dass ich…« Er brach wieder ab. Sollte man mit zweiundzwanzig nicht darüber erhaben sein, dass einem solche Gespräche peinlich waren? Scheinbar galt das für ihn nicht. Wenn er bedachte, dass schon dreizehnjährige Mädchen mehr über Sex geredet hatten als er in seinem gesamten Leben… »Weißt du… ich hasse es, jetzt nicht neben dir zu liegen. Du brauchst dir über nichts Gedanken machen. Weder darüber, dass es mir nicht fix genug geht, noch darüber, dass du noch nie Sex hattest.« »Musst du solche Sachen immer so direkt sagen?«, grummelte Jannis verlegen und zog sich die Brille von der Nase, um sie neben sich auf den Nachtschrank zu legen. »Ich bin halt sehr geradlinig«, erklärte Kolja amüsiert. Jannis schnaubte. »Ja, das ist mir schon aufgefallen… ich werd jetzt mal schlafen gehen. Morgen hab ich um acht Uni und danach setze ich mich wieder an meine Bachelorarbeit«, meinte er und unterdrückte ein Gähnen. »Ich werd garantiert wieder nicht schlafen können. Ich vermiss dich.« Jannis verschluckte sich an seiner eigenen Spucke. »Sag so was nicht, wenn ich gähne!« »Ok, ok. Tut mir Leid«, sagte Kolja liebevoll. Jannis brummte leise. »Ich dich auch… du Idiot! Gute Nacht.« Dann legte er auf und warf das Telefon ungehalten neben sich aufs Bett. Peinlich. All das war peinlich. Er drehte sich auf die Seite, zog die Decke über sich und schloss die Augen. Wieso hatte er überhaupt aufgelegt? Er wusste, dass er ohnehin wieder nicht einschlafen konnte. Noch mindestens zwei Monate… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)