Shin no yuri von ChiisaiYume (Todeslilie) ================================================================================ Kapitel 1: Letters ------------------ Das erste, was ich morgens immer tat, war es, in unseren Briefkasten zu sehen. Doch auch heute war wieder nichts interessantes dabei. Ich liess die Werbung und die beiden Briefe an meinen Bruder wieder darin verschwinden und kehrte niedergeschlagen ins Haus zurück. Sie hatte schon seit Wochen nicht geschrieben. Ich vermisste es, ihre warmen Worte zu lesen, die mir immer Mut machen konnten. Ich wollte ihre Witze wieder lesen, ihre absolut albernen Vergleiche mit allem Möglichen. Gefrustet ging ich auf mein Zimmer und schaltete meinen Laptop an. Während er auf startete zog ich mich an und danach suchte ich in meinen zahlreichen E-Mails nach einer mit der richtigen Adresse. Aber auch hier war nichts dabei. Es war, als hätte sie mich vergessen. Völlig unvorsichtig warf ich alles was ich heute für den Unterricht brauchen würde in meine Schultasche und ging dann nach unten um zu frühstücken. Naja, Frühstücken war vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich nahm mir eigentlich nur ein altes Stück Brot auf dem ich auf dem Weg in die Schule herum kaute. An der Busstation setzte ich mich auf die Bank und wartete. Der Winter war gerade dabei zu Ende zu gehen, ich war froh darüber. Ich hasste den Winter. Im Winter war ich oft krank, ging kaum aus dem Haus und verschanzte mich wann immer möglich in meinem Zimmer. In diesen Tagen heiterten mich in der Regel nur die lieben Worte Sayuris auf, die sie immer in ihre Briefe schrieb. Der Bus kam nach knapp sieben Minuten und wie immer um diese Uhrzeit gab es noch mehr als genug freie Plätze. Ich liess mich in einen der unbequemen Sitze fallen und schloss die Augen. Ich wäre heute am liebsten zu Hause geblieben. Ich hatte einfach keinen Nerv für die gut gelaunten Leute in meiner Klasse. Eigentlich kam ich mit allen gut klar. Aber heute hatte ich das Gefühl, es einfach nicht ertragen zu können. Und dann war da auch noch Naoki. Vor knapp vier Wochen hatte ich mit ihm Schluss gemacht. Ich hatte ihn mit einer Anderen erwischt. Das habe ich ihm aber nie gesagt. Als Grund gab ich ihm nur, dass ich ihn nicht mehr liebte, was eine glatte Lüge war. Aber lieber machte ich mit ihm Schluss als er mit mir. Das mit Naoki war das letzte gewesen, was ich ihr in einem Brief geschrieben hatte. In dem Brief, den sie nie beantwortet hat. Sayuri. Ich vermisste sie. Und gleichzeitig fragte ich mich, wie man jemanden vermissen kann, den man noch nie gesehen hat, mit dem man nicht einmal gesprochen hat. Als ich das Klassenzimmer betrat kam mir auch schon Ayako entgegen. Obwohl ich sie schon länger kannte als jeden anderen in diesem Raum, verstand ich mich mit ihr nicht besser als mit ihnen. Wir waren Freunde, weiter nichts. Sie umarmte mich stürmisch und begann davon zu schwärmen, wie toll ihr Freund doch war. Sie war ein ziemlich unsensibler Mensch, deshalb merkte sie nicht, wie weh es mir tat, sie über ihren Freund sprechen zu hören. Ich hatte ihren Freund noch nie gesehen, aber trotzdem hätte ich ihn zeichnen können, so viel sprach sie über ihn. Beim Mittagessen bekam ich es leider irgendwie fertig, gegen über von Naoki zu sitzen. Ich konzentrierte mich auf mein Essen, versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich weinen wollte. Ich war die erste, die aufstand als es zur nächsten Stunde klingelte. Ayako folgte mir sofort und gemeinsam gingen wir zu unserer Englischklasse. Während der ganzen Stunde dachte ich über Naoki nach. Sollte ich vielleicht versuchen, ihn zurück zu gewinnen? Ich liebte ihn noch, das wusste ich. Ich würde mich besser fühlen, könnte ich wieder seine Freundin sein. Aber würde er mich nochmal betrügen, könnte ich es nicht ertragen. Als plötzlich alle um mich herum zu jubeln begannen, zwang ich mich, meine Aufmerksamkeit dem kleinen kahlköpfigen Lehrer zu widmen, der jetzt gerade wiederholte, dass wir den Rest des Tages frei hatten, da unser Geschichtslehrer einen Notfall gehabt hätte und keiner so kurzfristig einspringen konnte. Anscheinend war die Stunde zu ende, denn alle standen auf, packten ihre Sachen zusammen. Ich war die letzte, die das Klassenzimmer verliess. Zu Hause fand ich eine Notiz von meiner Mutter, auf der sie mich informierte, dass mein Bruder einen Drei-tage-Urlaub in den Onsen machte und erst morgen zurück kehren würde und meine Eltern zum Abendessen bei Freunden eingeladen sein würden. Ich überlegte mir, ob ich nicht eine Party organisieren sollte, wenn ich schon mal Sturmfrei hatte, verwarf die Idee aber gleich wieder, da ich nicht sicher sei konnte, wann meine Eltern heim kamen. Ich fand neben dem Kühlschrank mein Essen. Während es in der Mikrowelle warm wurde, sah ich nach draussen. Es war stock dunkel. Ich konnte noch nicht mal das gegenüber liegenden Haus sehen. Und es regnete in Strömen. Das Prasseln auf dem Dach war gleichmässig, einschläfernd. Doch gleichzeitig jagte es mir einen Schauer über den Rücken. Es war laut, so als wollte es Aufmerksamkeit und ich hatte beinahe das Gefühl, es wollte das Dach eindrücken. Ohne es zu merken, hatte ich gehorcht, war leise geworden. Und umso mehr erschrak ich, als es klingelte. Ich zögerte einen Moment, bevor ich an die Tür ging. Vor mir stand ein triefend nasses Mädchen. Sie hatte ihre Arme um ihren Körper geschlungen, schaute mich aus ungewöhnlich hellen Augen ängstlich an. Sie zitterte. Hinter ihr in der Dunkelheit regnete es in Strömen; ich konnte die Tropfen auf dem Dach hören. Es war, als forderte der Regen das Mädchen, verfolgte es, so, als flüchtete das Mädchen vor ihm. Ohne weiter lange zu überlegen zog ich sie ins Haus. „Warte hier!“, rief ich ihr über die Schultern zurück, als ich die Treppe hinauf rannte. Im Badezimmer nahm ich das erst beste Handtuch und trocknete dann erst mal ihre Haare. Sie waren lang, reichten fast bist zu den Kniekehlen, und wunderbar weich. Ich wollte ihr die Kleidung ausziehen, damit sie sich nicht eine Erkältung oder so was ein fing, aber sie stiess meinen Arm zurück und zog sich selbst aus. Ihre Kleidung sammelte ich anschliessend ein; es war nicht viel, eine Jeans – die mir nicht mal in tausend Jahren gegangen wäre – und eine enge, dunkle Bluse. Ich warf alles in die Badewanne und führte das Mädchen dann sanft ins Wohnzimmer zu einem Sessel. Zitternd setzte sie sich, sagte noch immer nichts. Ich fragte mich, ob sie wohl stumm sei, als sie zögern anfing zu sprechen: „Ich ... heisse Sayuri.“ „Sa ... yuri.“ Ich wiederholte den Namen ganz langsam, bis mir wirklich bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte. „Ich hab mir dich ... ganz anders vorgestellt.“, sagte ich lächelnd. Sie erwiderte es, wenn auch scheu. „Ich hol dir was zum anziehen!“, sagte ich schnell und holte in meinem Zimmer meinen Lieblings Trainer. Sie zog ihn an und setzte sich wieder mir gegenüber in den Sessel. „Entschuldige, dass ich so plötzlich hier auftauche, wo wir uns doch noch nie gesehen haben.“, flüsterte sie mit gesenktem Kopf. „Hey!“, versuchte ich sie zu beruhigen und ging auf sie zu um sie zu umarmen, „Mach dir keine Vorwürfe, ich-“ „Nein!“ Sie schrie beinahe und wich so weit vor mir zurück wie sie nur konnte. Ich erschrak im ersten Moment, ging dann aber wieder zu meinem Sessel und flüsterte eine Entschuldigung. Einen Moment lang war es still zwischen uns, man hörte nur draussen den Regen in der Dunkelheit prasseln; es liess mich schaudern. Doch dann sah sie mir fest in die Augen und sagte: „Bitte berühre mich nicht, ich ... fürchte mich davor.“ Meine Augen wurden weit. Sie fürchtete sich vor Berührungen. Wie sie mir in diesem Moment Leid tat. Aber warum hatte sie das nicht schon erwähnt, als ich sie ins Haus gezogen hatte? War es ihr in diesem Moment einfach egal gewesen? Wahrscheinlich. Ich dachte nicht weiter darüber nach als sie mit zitternden Händen begann, ihre Haare zu flechten. Ich stand auf, stellte mich hinter sie und fragte: „Darf ich?“ Nach einem kurzen Zögern nickte sie und ich begann ihre Haare vorsichtig in drei Teile zu teilen, darauf bedacht, ihre Haut nicht zu berühren. Ihre Haare hatten einen seltsamen Farbton. Es war nicht direkt weiss, ging sogar fast ins Graue über, was es aber auch nicht wirklich traf. Es schimmerte leicht bläulich und glänzte ungewöhnlich stark. Einige Stunden später starrte ich auf ihren schlafenden Körper neben mir. Sie hatte darauf bestanden, nicht auf dem Bett neben mir zu schlafen und es vorgezogen auf dem harten Boden zu liegen. Also hatte ich kurzerhand mein Bett zur Seite geschoben und die Matratze mit einigem Abstand neben die ihre gelegt. An ihren tiefen, regelmässigen Atemzügen erkannte ich, dass sie wirklich schlief. Das war also das Mädchen, das all die Zeit meine beste Freundin und Vertraute gewesen war. So lange hatten wir uns per Briefe unsere grössten Geheimnisse und Sorgen geschrieben, einander geholfen. Ich wusste es und doch war es schwierig diese beiden als eine Person zu sehen. Sie waren so grundverschieden. Das Mädchen das mich immer mit ihren Sätzen in den Briefen aufheitern konnte und das Mädchen das hier lag, zusammen gekauert schlafend. Ich fragte mich ernsthaft, warum Sayuri her gekommen war. Sie hatte immer so penetrant darauf bestanden, dass wir uns nicht treffen. Und jetzt kam sie einfach so hier her. Sie hatte Angst, das erkannte sogar ein Blinder, es war ihr dick und fett auf die Stirn geschrieben. Aber darüber reden wollte sie nicht. Auch das war mir klar. Aber um ehrlich zu sein, ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Ich mit einem verstörten Mädchen und einer Familie, die, keine Ahnung wie, auf sie reagieren würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)