Shin no yuri von ChiisaiYume (Todeslilie) ================================================================================ Kapitel 3: White crow --------------------- Wir verbrachten tatsächlich den ganzen Vormittag damit, Sayuri Klamotten zu kaufen. Am Ende trug sie anstatt meiner Sachen ein hübsches Winterkleid mit Kapuze, dicke Strümpfe und edle, Knie hohe Stiefel. Sie sah wirklich fantastisch aus. Für ins Kino reichte es nicht mehr, aber wir gingen in ein kleines Café und tranken eine heisse Schokolade. Sie erzählte eine Menge über sich. Dass sie eigentlich nicht so eine fröhliche Person war, wie sie mich in ihren Briefen immer hatte glauben lassen. Dass sie viele Probleme gehabt hatte, ihr ganzes Leben lang. Viele solche Sachen erzählte sie mir und sah dabei so traurig aus. Sie wollte nichts genaueres über ihre Probleme erzählen, auch als ich sie fragte nicht. Ich akzeptierte das, war aber trotzdem enttäuscht. Ich hatte gehofft, sie besser kennen zu lernen. Vielleicht würde sie mir ja irgendwann später etwas erzählen. Über sich und ihre Probleme. Ich sah per Zufall, dass draussen vor dem Fenster Namiko, ein Mädchen aus meiner Klasse, vorbei lief. Sie fiel mir nur wegen der Schuluniform auf. Dass sie hier war, bedeutete, die Schule war zu Ende. Wir konnten also wieder nach Hause. Hastig schlürften wir unsere Tassen leer und machten uns auf den Weg. Meine Eltern nahmen die Tatsache, dass Sayuri einige Tage hier bei uns verbringen würde, unerwartet gelassen auf. Wir schleiften eine Matratze in mein Zimmer und ich machten in meinem Schrank ein wenig Platz für ihre heute neu gekauften Klamotten. In den nächsten Tagen wurde Sayuri immer aufgeschlossener. Sie berührte mich noch immer nicht, aber sie sprach und lächelte mehr. Manchmal lachte sie sogar richtig. Wir waren schon zum dritten Mal hier in der Bibliothek. Und jedes Mal las sie diese Bücher über das menschliche Herz. Noch nie hatte ich sie etwas anderes lesen sehen. Ich konnte wirklich nicht verstehen, was sie so besonders interessant an ihnen fand. Und weil ich sowieso jedes Mal nur da sass und ihr beim lesen zu sah, vereinbarten wir, dass ich sie in ein paar Stunden wieder hier abholen sollte. Ich fuhr mit der Bahn nach Hause und lud dort schnell meine Tasche ab. Dann machte ich mich wieder auf den Weg. Der Wald war nur einige Minuten entfernt, selbst wenn man so langsam ging wie ich. Ich kannte mich gut aus hier. Und ich wusste genau wo ich durch musste um an mein Ziel zu gelangen. Ich hatte den Platz entdeckt als ich mich als Kind beim spielen verlaufen habe. Ich fragte mich heute noch, wie ich es geschafft hatte, mich in einen Wald hinein zu verlaufen. Keine Ahnung ob sonst noch irgendjemand diesen Ort kannte, aber für mich war es immer so eine Art Geheimversteck gewesen und ich hatte nie jemanden dort gesehen. Ich wusste noch immer nicht, warum Sayuri zu mir gekommen war an jenem Abend, sie hatte es mir noch nicht erzählt. Auch das mit der Angst vor Berührungen hatte sie noch nicht geklärt. Sie war mir bis jetzt immer ausgewichen. Ich verstand sie wirklich überhaupt nicht. In letzter Zeit war sie immer so fröhlich und offen, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als versuchte sie etwas vor mir zu verbergen. Und sie tat es gut. Ich wollte es wissen. Wirklich. Aber sie liess nichts aus sich raus holen. Der Wald wurde immer lichter, bis ich endlich am Ufer des schmalen Baches stand. Es war so friedlich hier. Es sah nicht wirklich besonders aus, sogar eher unauffällig normal, aber ich mochte es hier schon immer. Es war kalt und ich bemerkte wie mein Körper abwehrend darauf reagierte und wie er immer schwächer wurde. Plötzlich bemerkte ich auf der anderen Seite im Schatten eines Baumes an dessen Stamm lehnend jemanden sitzen. „Hallo?“, rief ich hinüber. Und ich bekam keine Antwort. Es rührte sich auch nichts. Die Person dort drüben schien zu schlafen. Aber hier draussen würde er erfrieren. Einen Moment lang zögerte ich, dann zog ich meine Schuhe aus, krempelte die Jeans hoch und trat mit den Schuhen unter den Armen ins kalte Wasser. Die Eiseskälte schmerzte auf meiner Haut wie tausend Nadeln und meine Beine waren nahe daran taub zu werden oder zu Eisblöcken zu gefrieren. Ich konnte den Unterschied nicht mehr erkennen. Trotzdem ging ich weiter. Ich hatte Glück, dass der Bach nur sehr schmal und nur Knie tief war. So hatte ich kaum Mühe auf die andere Seite zu kommen. Als ich aus dem Bach trat, fühlten sich meine Beine an wie Holzklötze und waren beinahe schon blau. Es war ein Junge, oder vielleicht auch schon eher ein Mann, der dort hockte und er schlief tatsächlich. Er atmete regelmässig, seine Brust hob und senkte sich in einem stetigen Rhythmus. Ich ging näher an ihn ran, zog mir unterwegs meine Schuhe wieder an. Ich hörte eine Krähe schreien, sie musste wohl in den Ästen des Baumes sitzen. Er hatte ein so schönes Gesicht, es wirkte beinahe unecht. Seine langen, dichten Wimpern, die gerade Nase, der schön geschwungene Mund. Das alles liess ihn fast schon weiblich erscheinen. So wunderschön. Obwohl er wie ein Schlafender aussah, hatte ich das Gefühl von Leere, wenn ich ihn ansah, ganz so, als ob er seine Augen niemals wieder öffnen würde. Aber dennoch nicht tot. Ich musste ihn wohl mitnehmen. Es war viel zu kalt hier um zu schlafen. Und Schuhe trug er auch keine an den Füssen. Er musste fürchterlich frieren. Es war mir ein Rätsel wie er bei dieser Kälte überhaupt schlafen konnte, geschweige denn nicht aufwachte. Einige Meter flussaufwärts gab es eine Brücke. Dort schleifte ich ihn hin, ich konnte ihn schliesslich schlecht tragen. Aber überraschenderweise war er nicht schwer. Es machte mir keine Mühe, ihn zu ziehen. Ich schleifte ihn durch den ganzen Wald, versuchte so gut es ging zu verhindern, dass ich ihn dabei verletzte und wunderte mich die ganze Zeit, warum er noch nicht aufgewacht war. Unterwegs hörte ich immer wieder Krähen schreien. Ich wusste selbst nicht so genau, warum ich ihn mitgenommen hatte, aber irgendwie hatte ich das Gefühl für ihn verantwortlich zu sein. Und hätte ich ihn dort gelassen, hätte ich mir sowieso nur Vorwürfe gemacht. Als ich mit ihm an den Häusern vorbei kam, starrten mich alle Leute blöd an. Keiner sagte irgendwas zu mir, keiner half mir. Aber alle flüsterten miteinander, einige schüttelten den Kopf. Was sollte ich schon grossartig dagegen tun? Nichts. Also ignorierte ich sie einfach alle. Obwohl, ein bisschen peinlich war es mir trotzdem. Ich schleppte ihn ins Gästezimmer und legte ihn dort auf das kleine Bett vor dem Fenster. Er war noch immer nicht aufgewacht, nicht ein Mal. Er hatte nicht geblinzelt, gezuckt oder sonst irgendwelche Zeichen gegeben, dass er irgendwie da war. Und er tat es auch jetzt nicht. Lag nur da und schlief, unverändert zu vorhin als ich ihn im Schatten des Baumes sitzen gesehen hatte. Ich berührte seine Stirn, er hatte kein Fieber. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass er sogar eher gar keine Temperatur besass. Ganz so, als wäre da nichts. Ich bemerkte die Hitze im Raum, es war richtig stickig. Das kam daher, dass hier nie jemand lüftete, da dieses Zimmer eigentlich nie gebraucht wurde. Ich stützte mich auf dem Bett ab und griff über ihn um das Fenster zu öffnen. Als ich wieder neben dem Bett kniete, flog ein Vogel auf den Fenstersims. Zuerst dachte ich, es sei eine Taube. Doch ich sah ein zweites Mal hin, zu dem seltsamen Vogel der da hockte und mich anstarrte. Er war grösser als eine Taube und hatte auch sonst so gut wie keine Ähnlichkeiten mit einer. Ich brauchte einen Moment ehe ich begriff, dass ich da eine Krähe vor mir hatte. Eine schneeweisse Krähe. Automatisch streckte ich die Hand nach ihr aus. Es gab keine weissen Krähen. Krähen waren schwarz. Schwarz wie die Nacht. Also wie konnte es eine weisse geben? Die Krähe blieb sitzen bis meine Fingerspitzen nur noch wenige Zentimeter von ihrem Schnabel entfernt waren, dann flatterte sie ein kurzes Stück in die Luft, nur um sofort wieder auf den Fenstersims zu hocken als ich meine Hand zurück zog. Sie beobachtete mich. Ich versuchte mich wieder auf den Jungen auf dem Bett zu konzentrieren und bemerkte, dass er doch einige Schnittwunden von den Ästen und Wurzeln im Wald davon getragen hatte. Schnell holte ich Salben und Pflaster und was nicht noch alles und begann, seine Verletzungen so gut wie möglich zu behandeln. Es waren alles ganz kleine Verletzungen, Schnitte und Schrammen, aber es waren viele. Während ich mein Bestes tat, spürte ich die ganze Zeit den Blick der Krähe auf mir. Als ich fertig war, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Ich hatte das Gefühl, ihm helfen zu müssen und gleichzeitig war mir bewusst, dass er nicht krank sein konnte oder so was. Und nur damit ich etwas zu tun hatte, holte ich dann einen nassen Waschlappen und begann, ihm die Arme und das Gesicht zu waschen. Ich strich ihm vorsichtig die Nacht schwarzen Strähnen aus der Stirn, als eine Hand mein Handgelenk packte und seine Augen sich öffneten. Es waren dunkle Augen. Nicht schwarze, nur dunkle. Und sie schienen perfekt in sein Gesicht zu passen. „Was wird das?“, fragte er. Seine Stimme war tief und leise. „N-nichts. Tut mir Leid! Ich wollte nur helfen!“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Bis mir einfiel, dass ich gar nichts getan hatte, für das ich mich hätte rechtfertigen müssen. Ich hatte ihm geholfen. Eigentlich müsste er sich bei mir entschuldigen anstatt mich an zu meckern. Er liess meine Hand los und setzte sich auf. „Danke dass du mir geholfen hast.“ Er lächelte. Was ihn noch schöner machte. „Dürfte ich deine Toilette benutzen?“ „Klar! Erste Tür links.“, antwortete ich ihm. Er stand auf, lief an mir vorbei und verliess den Raum. Ich hörte seine hastigen Schritte auf der Treppe... Moment! Auf der Treppe? Ich stand auf, rannte ihm hinter her, bis auf die Strasse. Er blieb nicht stehen als ich nach ihm rief (auch wenn ich seinen Namen nicht kannte). Also hetzte ich ihm nach. Ich war schneller als er und holte ihn noch vor der nächsten Ecke ein. Meine Hand packte seinen Ärmel und er musste wohl oder übel stehen bleiben. „Mann, was willst du?“, schrie er mich an. Er sprach so ganz anders als vorhin. Richtig unhöflich. Über mir schrie eine Krähe und ich wusste, ohne rauf zu sehen, dass es die weisse war. Mir wurde klar, dass der Blick der Krähe mir nicht mehr gefolgt war, seit der Junge – dessen Name ich noch immer nicht wusste – aufgewacht war. „Du kannst so nicht nach draussen. Sonst holst du dir noch was. Du hast bis vor einigen Minuten noch geschlafen oder im Koma gelegen oder was weiss ich! Du bleibst hier!“ Ich wusste selber nicht, warum ich das sagte und es war auch schneller raus als ich darüber nachdenken konnte. Und es war masslos übertrieben von mir, ihm solche Vorschriften machen zu wollen. Was wusste ich schon?! War es nicht sowieso einfacher, ihn jetzt gehen zu lassen? „Du kannst mich mal! Ich-“ „Hisa.“ Ich drehte mich um. „Sayuri!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)