Shin no yuri von ChiisaiYume (Todeslilie) ================================================================================ Prolog: Sayuri -------------- Ich tue das hier nur, weil ich mich einsam fühle. Ich halte das nicht mehr aus. Die Gemeinheiten meiner Klasse. Ich habe keine Freunde. Obwohl ich mich immer bemüht habe. Da! Endlich finde ich eine Seite, mit Brieffreundschaftsanfragen. Ich klicke mich durch. Sie alle interessieren mich nicht. Überall steht dasselbe. Dass sie eine Freundschaft wollen, die nie endet und so einen Schwachsinn. So was will ich nicht. Das ist keine echte Freundschaft. Das ist etwas, was Leute ins Internet stellen, um sich die Langeweile zu vertreiben. Nur ein einziger Eintrag erweckt meine Neugier: Ich fühle mich allein. Kann jemand mit mir schreiben? Alles was ich brauche ist ein klein bisschen Vertrauen. Ich schreibe ihr sofort via e-Mail. Sie antwortet nicht. Ich schreibe eine zweite. Sie antwortet wieder nicht. Es macht mich traurig, dass sie nicht antwortet. Ich will, dass sie antwortet. Ich schreibe weiter. Jeden Tag. Immer weiter. Und irgendwann kommt ihre Antwort: Danke dass du dich um mich bemühst. Das freut mich. Ich will deine Freundin sein. Mein Name ist Sayuri Kapitel 1: Letters ------------------ Das erste, was ich morgens immer tat, war es, in unseren Briefkasten zu sehen. Doch auch heute war wieder nichts interessantes dabei. Ich liess die Werbung und die beiden Briefe an meinen Bruder wieder darin verschwinden und kehrte niedergeschlagen ins Haus zurück. Sie hatte schon seit Wochen nicht geschrieben. Ich vermisste es, ihre warmen Worte zu lesen, die mir immer Mut machen konnten. Ich wollte ihre Witze wieder lesen, ihre absolut albernen Vergleiche mit allem Möglichen. Gefrustet ging ich auf mein Zimmer und schaltete meinen Laptop an. Während er auf startete zog ich mich an und danach suchte ich in meinen zahlreichen E-Mails nach einer mit der richtigen Adresse. Aber auch hier war nichts dabei. Es war, als hätte sie mich vergessen. Völlig unvorsichtig warf ich alles was ich heute für den Unterricht brauchen würde in meine Schultasche und ging dann nach unten um zu frühstücken. Naja, Frühstücken war vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich nahm mir eigentlich nur ein altes Stück Brot auf dem ich auf dem Weg in die Schule herum kaute. An der Busstation setzte ich mich auf die Bank und wartete. Der Winter war gerade dabei zu Ende zu gehen, ich war froh darüber. Ich hasste den Winter. Im Winter war ich oft krank, ging kaum aus dem Haus und verschanzte mich wann immer möglich in meinem Zimmer. In diesen Tagen heiterten mich in der Regel nur die lieben Worte Sayuris auf, die sie immer in ihre Briefe schrieb. Der Bus kam nach knapp sieben Minuten und wie immer um diese Uhrzeit gab es noch mehr als genug freie Plätze. Ich liess mich in einen der unbequemen Sitze fallen und schloss die Augen. Ich wäre heute am liebsten zu Hause geblieben. Ich hatte einfach keinen Nerv für die gut gelaunten Leute in meiner Klasse. Eigentlich kam ich mit allen gut klar. Aber heute hatte ich das Gefühl, es einfach nicht ertragen zu können. Und dann war da auch noch Naoki. Vor knapp vier Wochen hatte ich mit ihm Schluss gemacht. Ich hatte ihn mit einer Anderen erwischt. Das habe ich ihm aber nie gesagt. Als Grund gab ich ihm nur, dass ich ihn nicht mehr liebte, was eine glatte Lüge war. Aber lieber machte ich mit ihm Schluss als er mit mir. Das mit Naoki war das letzte gewesen, was ich ihr in einem Brief geschrieben hatte. In dem Brief, den sie nie beantwortet hat. Sayuri. Ich vermisste sie. Und gleichzeitig fragte ich mich, wie man jemanden vermissen kann, den man noch nie gesehen hat, mit dem man nicht einmal gesprochen hat. Als ich das Klassenzimmer betrat kam mir auch schon Ayako entgegen. Obwohl ich sie schon länger kannte als jeden anderen in diesem Raum, verstand ich mich mit ihr nicht besser als mit ihnen. Wir waren Freunde, weiter nichts. Sie umarmte mich stürmisch und begann davon zu schwärmen, wie toll ihr Freund doch war. Sie war ein ziemlich unsensibler Mensch, deshalb merkte sie nicht, wie weh es mir tat, sie über ihren Freund sprechen zu hören. Ich hatte ihren Freund noch nie gesehen, aber trotzdem hätte ich ihn zeichnen können, so viel sprach sie über ihn. Beim Mittagessen bekam ich es leider irgendwie fertig, gegen über von Naoki zu sitzen. Ich konzentrierte mich auf mein Essen, versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich weinen wollte. Ich war die erste, die aufstand als es zur nächsten Stunde klingelte. Ayako folgte mir sofort und gemeinsam gingen wir zu unserer Englischklasse. Während der ganzen Stunde dachte ich über Naoki nach. Sollte ich vielleicht versuchen, ihn zurück zu gewinnen? Ich liebte ihn noch, das wusste ich. Ich würde mich besser fühlen, könnte ich wieder seine Freundin sein. Aber würde er mich nochmal betrügen, könnte ich es nicht ertragen. Als plötzlich alle um mich herum zu jubeln begannen, zwang ich mich, meine Aufmerksamkeit dem kleinen kahlköpfigen Lehrer zu widmen, der jetzt gerade wiederholte, dass wir den Rest des Tages frei hatten, da unser Geschichtslehrer einen Notfall gehabt hätte und keiner so kurzfristig einspringen konnte. Anscheinend war die Stunde zu ende, denn alle standen auf, packten ihre Sachen zusammen. Ich war die letzte, die das Klassenzimmer verliess. Zu Hause fand ich eine Notiz von meiner Mutter, auf der sie mich informierte, dass mein Bruder einen Drei-tage-Urlaub in den Onsen machte und erst morgen zurück kehren würde und meine Eltern zum Abendessen bei Freunden eingeladen sein würden. Ich überlegte mir, ob ich nicht eine Party organisieren sollte, wenn ich schon mal Sturmfrei hatte, verwarf die Idee aber gleich wieder, da ich nicht sicher sei konnte, wann meine Eltern heim kamen. Ich fand neben dem Kühlschrank mein Essen. Während es in der Mikrowelle warm wurde, sah ich nach draussen. Es war stock dunkel. Ich konnte noch nicht mal das gegenüber liegenden Haus sehen. Und es regnete in Strömen. Das Prasseln auf dem Dach war gleichmässig, einschläfernd. Doch gleichzeitig jagte es mir einen Schauer über den Rücken. Es war laut, so als wollte es Aufmerksamkeit und ich hatte beinahe das Gefühl, es wollte das Dach eindrücken. Ohne es zu merken, hatte ich gehorcht, war leise geworden. Und umso mehr erschrak ich, als es klingelte. Ich zögerte einen Moment, bevor ich an die Tür ging. Vor mir stand ein triefend nasses Mädchen. Sie hatte ihre Arme um ihren Körper geschlungen, schaute mich aus ungewöhnlich hellen Augen ängstlich an. Sie zitterte. Hinter ihr in der Dunkelheit regnete es in Strömen; ich konnte die Tropfen auf dem Dach hören. Es war, als forderte der Regen das Mädchen, verfolgte es, so, als flüchtete das Mädchen vor ihm. Ohne weiter lange zu überlegen zog ich sie ins Haus. „Warte hier!“, rief ich ihr über die Schultern zurück, als ich die Treppe hinauf rannte. Im Badezimmer nahm ich das erst beste Handtuch und trocknete dann erst mal ihre Haare. Sie waren lang, reichten fast bist zu den Kniekehlen, und wunderbar weich. Ich wollte ihr die Kleidung ausziehen, damit sie sich nicht eine Erkältung oder so was ein fing, aber sie stiess meinen Arm zurück und zog sich selbst aus. Ihre Kleidung sammelte ich anschliessend ein; es war nicht viel, eine Jeans – die mir nicht mal in tausend Jahren gegangen wäre – und eine enge, dunkle Bluse. Ich warf alles in die Badewanne und führte das Mädchen dann sanft ins Wohnzimmer zu einem Sessel. Zitternd setzte sie sich, sagte noch immer nichts. Ich fragte mich, ob sie wohl stumm sei, als sie zögern anfing zu sprechen: „Ich ... heisse Sayuri.“ „Sa ... yuri.“ Ich wiederholte den Namen ganz langsam, bis mir wirklich bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte. „Ich hab mir dich ... ganz anders vorgestellt.“, sagte ich lächelnd. Sie erwiderte es, wenn auch scheu. „Ich hol dir was zum anziehen!“, sagte ich schnell und holte in meinem Zimmer meinen Lieblings Trainer. Sie zog ihn an und setzte sich wieder mir gegenüber in den Sessel. „Entschuldige, dass ich so plötzlich hier auftauche, wo wir uns doch noch nie gesehen haben.“, flüsterte sie mit gesenktem Kopf. „Hey!“, versuchte ich sie zu beruhigen und ging auf sie zu um sie zu umarmen, „Mach dir keine Vorwürfe, ich-“ „Nein!“ Sie schrie beinahe und wich so weit vor mir zurück wie sie nur konnte. Ich erschrak im ersten Moment, ging dann aber wieder zu meinem Sessel und flüsterte eine Entschuldigung. Einen Moment lang war es still zwischen uns, man hörte nur draussen den Regen in der Dunkelheit prasseln; es liess mich schaudern. Doch dann sah sie mir fest in die Augen und sagte: „Bitte berühre mich nicht, ich ... fürchte mich davor.“ Meine Augen wurden weit. Sie fürchtete sich vor Berührungen. Wie sie mir in diesem Moment Leid tat. Aber warum hatte sie das nicht schon erwähnt, als ich sie ins Haus gezogen hatte? War es ihr in diesem Moment einfach egal gewesen? Wahrscheinlich. Ich dachte nicht weiter darüber nach als sie mit zitternden Händen begann, ihre Haare zu flechten. Ich stand auf, stellte mich hinter sie und fragte: „Darf ich?“ Nach einem kurzen Zögern nickte sie und ich begann ihre Haare vorsichtig in drei Teile zu teilen, darauf bedacht, ihre Haut nicht zu berühren. Ihre Haare hatten einen seltsamen Farbton. Es war nicht direkt weiss, ging sogar fast ins Graue über, was es aber auch nicht wirklich traf. Es schimmerte leicht bläulich und glänzte ungewöhnlich stark. Einige Stunden später starrte ich auf ihren schlafenden Körper neben mir. Sie hatte darauf bestanden, nicht auf dem Bett neben mir zu schlafen und es vorgezogen auf dem harten Boden zu liegen. Also hatte ich kurzerhand mein Bett zur Seite geschoben und die Matratze mit einigem Abstand neben die ihre gelegt. An ihren tiefen, regelmässigen Atemzügen erkannte ich, dass sie wirklich schlief. Das war also das Mädchen, das all die Zeit meine beste Freundin und Vertraute gewesen war. So lange hatten wir uns per Briefe unsere grössten Geheimnisse und Sorgen geschrieben, einander geholfen. Ich wusste es und doch war es schwierig diese beiden als eine Person zu sehen. Sie waren so grundverschieden. Das Mädchen das mich immer mit ihren Sätzen in den Briefen aufheitern konnte und das Mädchen das hier lag, zusammen gekauert schlafend. Ich fragte mich ernsthaft, warum Sayuri her gekommen war. Sie hatte immer so penetrant darauf bestanden, dass wir uns nicht treffen. Und jetzt kam sie einfach so hier her. Sie hatte Angst, das erkannte sogar ein Blinder, es war ihr dick und fett auf die Stirn geschrieben. Aber darüber reden wollte sie nicht. Auch das war mir klar. Aber um ehrlich zu sein, ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Ich mit einem verstörten Mädchen und einer Familie, die, keine Ahnung wie, auf sie reagieren würde. Kapitel 2: Confession --------------------- Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder wachte ich auf, machte mir Gedanken über Sayuri. Dem entsprechend sah ich am Morgen dann auch aus. Als ich aufwachte schlief Sayuri noch, also schlich ich mich so leise wie möglich aus dem Zimmer und ging ins Bad um mich für die Schule fertig zu machen – wo ich dann einen kräftigen Schock bekam als ich mein Gesicht im Spiegel sah. Ich versuchte die Augenringe und all die anderen unschönen Überbleibsel meiner fast schlaflosen Nacht zu überschminken, aber das gelang mir nicht sonderlich gut. Als ich zumindest halbwegs zufrieden war, ging ich in die Küche und ass drei Stück Brot. Keine Ahnung warum ich plötzlich Lust hatte, etwas zu essen, hatte ich sonst nie am Morgen. Auf dem Weg nach oben kam Sayuri mir im übergrossen T-Shirt meines Bruders entgegen, das ich gestern ausgeliehen hatte. Sie rieb sich die Augen und blieb dann stehen als sie mich sah. „Danke dass ich hier übernachten durfte.“ „Schon okay. Willst du was essen?“ „N, nicht nötig! Ist schon in Ordnung!“, wehrte sie ab, aber ihr grummelnder Bauch verriet sie. Ihre Wangen wurden ganz leicht rot. Aber ich lachte nur und sagte: „Unten steht Brot, Marmelade und so 'n Zeug auf dem Tisch. Wenn du noch was brauchst, sollte alles im Kühlschrank sein. Bedien dich einfach!“ Ich lief an ihr vorbei, zurück in mein Zimmer um meine Schuluniform anzuziehen. Dabei fiel mir ein, dass Sayuri ja nicht den ganzen Tag in dem übergrossen Riesen-Hemd meines Bruders rum laufen konnte. Also legte ich ihr auch etwas raus. Einen warmen Pulli und eine Röhrenjeans. Dann ging ich runter und sagte ihr, sie solle sich oben umziehen. Sie antwortete nicht, ging nur aus der Küche. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihr. Sie war so ganz anders als ich sie mir vorgestellt hatte. Und dennoch, ich spürte, dass ich sie genauso gern mochte, wie das Mädchen, mit der ich seit Jahren meine Geheimnisse teilte. Draussen vor der Hintertür hörte ich die Stimmen meiner Eltern. Sie hatten gestern also dort übernachtet. „Unfassbar! Dieses Mädchen! Hat einfach eine Wildfremde bei sich übernachten lassen. Es sei ihre Freundin, hat sie gesagt! Und ihre armen Eltern kannten dieses Mädchen noch nicht mal!!“ Das war meine Mutter. Und ich war es, die langsam begann, an Farbe zu verlieren. Wie konnte es sein, dass sie schon von Sayuri wussten?! „Schatz, du hast jetzt die ganze Fahrt darüber gemeckert. Wir sollten froh sein, dass unsere Tochter so ein gutes Mädchen ist. Hisa würde so was nie tun!“ Also doch nicht ich. Aber es klang trotz allem nicht so, als ob sie begeistert davon wären, fänden sie heraus, dass ich genau das gleiche getan hatte. „Stimmt. Du hast recht. Aber trotzdem...“ Ich drehte mich um und rief Sayuri so leise wie möglich zu. Ich erklärte ihr ganz kurz die Situation und dann zogen wir Mäntel und Schuhe an und verliessen das Haus in dem Moment, in dem meine Eltern es durch den Hintereingang betraten. Würden sie jetzt herausfinden, dass Sayuri hier übernachtet hatte, nachdem sie sich so über wen auch immer aufgeregt hatten, würden sie Sayuri vermutlich sogar auf die Strasse setzten. Zuerst gingen wir in Richtung der Bushaltestelle, bis mir einfiel, dass ich sie schlecht in die Schule mitnehmen konnte. Und ich hatte sowieso meine Schultasche Zuhause liegen gelassen. Ich blieb stehen, überlegte mir, wo wir hin sollten. „Hisa!“ Jemand rief nach mir. Eine Hand legte sich auf meine Schultern noch bevor ich mich nach der Stimme umdrehen konnte. „Zen!“ Er stand jetzt vor uns, lachte. Er lachte meistens. „Gehst du nicht zur Schule?“, fragte ich. Ich hatte jetzt absolut keine Lust mit ihm zu reden. Er überlegte einen Moment, sah mich an und antwortete dann: „Nein. Du auch nicht, oder?“ Er schien Sayuri gar nicht erst bemerkt zu haben. „Nein, nicht wirklich!“ Ich wusste, dass er in mich verliebt war. Obwohl, begriffen hatte ich es nie ganz. Er war einer der beliebtesten Jungs an unserer Schule, er könnte wahrscheinlich jede haben. „Wo wollt ihr hin?“ Er sprach endlich mit uns beiden. „Keine Ahnung!“, sagte ich ehrlich und zuckte mit den Schultern. „Dann, wollt ihr zu mir?“, fragte er unvermittelt. Er war immer so spontan und hatte die seltsamsten Ideen. In der Regel mochte ich solche Menschen nicht besonders, doch in diesem Fall kam es mir gerade recht. Es war hier draussen sowieso zu kalt für mich. Ich sollte nie zu lange in der Kälte sein. Das tat mir nicht gut. Einmal bin ich sogar schon kollabiert deswegen. Auf dem Weg zu Zen sprach er mich plötzlich auf Sayuri an: „Willst du mir nicht deine hübsche Begleiterin vorstellen?“ Jetzt schleimte er auch noch. Ich hatte ihn nie gut gekannt, aber jetzt wurde er mir echt unsympathisch. Ich hasste es wenn Leute anfingen zu schleimen. „Sayuri, Zen. Zen, Sayuri.“, sagte ich einfach. Er streckte ihr seine Hand entgegen und ging einen Schritt auf sie zu. Ich wollte irgendwas sagen, damit Sayuri ihn nicht berühren musste, aber da stand sie schon vor mir und schüttelte ihm lächelnd die Hand. Ich starrte sie perplex an. Was war denn das? Was sollte das? Sie hatte mir doch gesagt, sie hätte Angst vor Berührungen. Hatte sie mich etwa angelogen? Aber nein, diese Angst in ihren Augen, als ich sie gestern berühren wollte, konnte nicht gespielt gewesen sein. Sie war echt gewesen, da war ich mir sicher. Ich wollte sie danach fragen, aber vor Zen konnte ich das unmöglich tun. Ich musste warten, bis wir allein waren. Zen hatte ein grosses Haus, viel grösser als unseres, und wunderschön. Er war wahrscheinlich gar keine so schlechte Partie, gut aussehen, wohlhabend und das alles. Es gab sicher viele Frauen, die sich ihre Männer danach aussuchten. Zen brachte uns in Wohnzimmer und ging dann in die Küche um etwas zu Trinken zu holen. Ich wollte Sayuri gerade auf ihre 'Lüge' ansprechen, als jemand überrascht fragte: „Wer seid ihr denn?“ Hinter mir stand eine bildschöne Frau, vielleicht drei, vier Jahre älter als ich. „Ich ... bin Hisa.“, antwortete ich ihr, „Eine Schulfreundin von Zen. Und das ist Sayuri, meine beste Freundin.“ „Hisa also, hu... Ich bin Zens Schwester.“ Sie schien einen Moment zu überlegen, sagte dann: „Zen braucht bestimmt Hilfe in der Küche. Er ist nicht wirklich sehr geschickt mit solchen Dingen. Geh ihm doch mal ein bisschen zur Hand, ja? Ach, und richte ihm bitte aus, dass ihm nicht mehr als das helfen kann. Und dass er sich gefälligst Mühe geben soll!“ „Klar!“ Ich stand auf und ging aus dem Raum. Ich musste nicht lange nach der Küche suchen, sie war beinahe gegen über. Zen war erstaunt, mich zu sehen, bedankte sich aber, dass ich ihm helfen wollte. Als ich ihm ausrichtete, was seine Schwester gesagt hatte, seufzte er, und fuhr sich mit der einen Hand durch die Haare. Ich verstand ganz und gar nicht, was das, was seine Schwester gesagt hatte, zu bedeuten hatte, und seine Reaktion erst recht nicht. Er murmelte irgendwas und richtete dann seinen Blick auf mich. „Ich sag es dir jetzt einfach: Ich liebe dich und ich-“ Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich rannte ins Wohnzimmer, schnappte mir, ungeachtete ihrer – wenn überhaupt vorhandenen – Angst vor Berührungen, Sayuris Hand und wollte aus dem Haus laufen. Aber ich konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen. Und Schmerz fuhr mir durch alle Glieder. Beim Herzen war es am schlimmsten. Ich wollte schreien, so heftig war es, aber es ging nicht. Aus meiner Kehle kam noch nicht mal ein Röcheln. Stattdessen wurde mir einen kurzen Moment lang schwarz vor Augen. So kurz nur, dass ich noch nicht mal Zeit hatte darauf zu reagieren. Und als ich wieder sehen konnte, war auch der Schmerz vorbei. Sayuri hatte ihre Hand aus meiner gerissen. Ich rannte zum Ausgang, Sayuri folgte mir. Aber ich berührte sie nicht wieder. Hinter mir hörte ich Zens Schwester nach mir rufen. Ich ignorierte sie, rannte weiter. So lange, bis Sayuri völlig ausser Atem rief: „Bitte! .... warte, ich .... kann ... nicht mehr!“ Ich blieb stehen, sah mich nach ihr um. Sie stand einige Meter hinter mir, vorn über gebeugt auf die Knie gestützt, und atmete lautstark ein und aus. „Tut mir Leid!“, entschuldigte ich mich. „Schon gut!“ Sie lächelte „Aber weswegen bist du denn plötzlich so durchgedreht?“ Was soll's, ihr konnte ich es ja erzählen. „Also-“ „Was tust du denn hier?“ Irgendwie war ich froh, die Stimme meines Bruders zu hören. Was wahrscheinlich eine Prämiere war. Wir erweckten nach aussen hin schnell den Eindruck wie typische streitende Geschwister. Wir zankten uns oft, diskutierten über die kleinsten Dinge und stritten über alles, über das es sich streiten lässt. Vorwiegend beklagte ich mich darüber, dass er ständig neue Freundinnen hatte und ich wegen ihm auf der Strasse immer als 'die kleine Schwester des untreuen Vollidioten Shin' erkannt wurde. Aber eigentlich war ich nur eifersüchtig, dass ihm jemand näher war als ich. Und ich glaubte, er wusste das auch. Allgemein war bekannt, dass mein Bruder einen ziemlich miserablen und verdorbenen Charakter hatte, aber er versuchte immer, unter all den Streitereien, mir zu helfen so gut es ging. Einmal, als ich noch in der Grundschule war, hatte er einen Jungen aus meiner Klasse ziemlich schlimm verprügelt, weil er mich geärgert und bei allen schlecht gemacht hatte. Er hat bis heute nie was dazu gesagt. Nur mir hat er immer versichert, dass das absolut nichts mit mir zu tun gehabt hatte. Klar, es ist keine Meisterleistung einen beinahe zehn Jahre jüngeren Jungen zu verprügeln und sicher auch nichts lobenswertes. Aber auch mein Bruder war damals noch lange nicht allwissend und er wusste nicht, wie er mir anders helfen konnte. Und ich war ihm auch wirklich dankbar, dass er mir hatte helfen wollen. Ich fand es einfach nur süss. „Shin!“, rief ich aus. „Wer ist denn die Schönheit neben dir?“, fragte er und sah an mir vorbei zu Sayuri. Kannte man ihn nicht, könnte man meinen, er würde schleimen, aber ich war sicher, dass er das vollkommen ernst gemeint hatte. „Ich werde es dir erklären, also ich-“ „Steigt ein!“, befahl er und öffnete die Beifahrertür seines neuen Autos. Allerdings nicht ohne uns vorher vor dem zu warnen, was passieren würde, wäre das Auto später in einem anderen Zustand als es jetzt war. Er liebte sein neues Auto. Vor drei Monaten hatte er es secondhand gekauft mit dem Geld, das er sich über Monate angespart hatte. Ich selbst durfte nur selten darin fahren und seine schnellen Beziehungen schon gar nicht. „Also kurz gesagt hast du Angst, dass Mum und Dad mitbekommen, dass du ein Mädchen, das sie nicht kennen, bei dir hast übernachten lassen, ohne dass sie davon wussten.“, fasste er meine Geschichte zusammen. Als ich bestätigend nickte, schob er seine immer vorhandene Sonnenbrille nach oben und lachte lauthals. „Was?“, fragte ich beleidigt. „Also erstens“, er hatte Mühe zu sprechen während er noch lachte, „hab' ich schon tausend mal so was gemacht. Und zweitens hättest du doch einfach wieder zurück ins Haus spazieren können und sagen, dass Sayuri eine Weile bleiben wird, ganz einfach! Du hättest sogar noch sagen können, du hättest frei, damit sie sich nicht gefragt hätten wo du so früh mit ihr her kommst.“ „Oh!“, machte ich überrascht. An so was hatte ich noch überhaupt nicht gedacht. „Jetzt ist es aber zu spät.“, fuhr er fort, „Ihr müsst warten, bis die Schule zu Ende ist und dann zurück gehen.“ „Und was sollen wir so lange tun?“ Mein Bruder seufzte nur wendete den Wagen und sagte dann: „Mädchensachen halt. Shopping, Kino oder so was! Ich fahr euch ins einfach ins Einkaufszentrum und lade euch dort ab.“ „Danke Bruderherz!“, sagte ich und küsste ihn überschwänglich auf die Wange. „Hey, lass das!“, motzte er. Er tat immer so, als würde ich ihn nerven und er mich nicht mögen. Aber ich wusste, dass er die ganze Zeit auf mich aufpasste. Kapitel 3: White crow --------------------- Wir verbrachten tatsächlich den ganzen Vormittag damit, Sayuri Klamotten zu kaufen. Am Ende trug sie anstatt meiner Sachen ein hübsches Winterkleid mit Kapuze, dicke Strümpfe und edle, Knie hohe Stiefel. Sie sah wirklich fantastisch aus. Für ins Kino reichte es nicht mehr, aber wir gingen in ein kleines Café und tranken eine heisse Schokolade. Sie erzählte eine Menge über sich. Dass sie eigentlich nicht so eine fröhliche Person war, wie sie mich in ihren Briefen immer hatte glauben lassen. Dass sie viele Probleme gehabt hatte, ihr ganzes Leben lang. Viele solche Sachen erzählte sie mir und sah dabei so traurig aus. Sie wollte nichts genaueres über ihre Probleme erzählen, auch als ich sie fragte nicht. Ich akzeptierte das, war aber trotzdem enttäuscht. Ich hatte gehofft, sie besser kennen zu lernen. Vielleicht würde sie mir ja irgendwann später etwas erzählen. Über sich und ihre Probleme. Ich sah per Zufall, dass draussen vor dem Fenster Namiko, ein Mädchen aus meiner Klasse, vorbei lief. Sie fiel mir nur wegen der Schuluniform auf. Dass sie hier war, bedeutete, die Schule war zu Ende. Wir konnten also wieder nach Hause. Hastig schlürften wir unsere Tassen leer und machten uns auf den Weg. Meine Eltern nahmen die Tatsache, dass Sayuri einige Tage hier bei uns verbringen würde, unerwartet gelassen auf. Wir schleiften eine Matratze in mein Zimmer und ich machten in meinem Schrank ein wenig Platz für ihre heute neu gekauften Klamotten. In den nächsten Tagen wurde Sayuri immer aufgeschlossener. Sie berührte mich noch immer nicht, aber sie sprach und lächelte mehr. Manchmal lachte sie sogar richtig. Wir waren schon zum dritten Mal hier in der Bibliothek. Und jedes Mal las sie diese Bücher über das menschliche Herz. Noch nie hatte ich sie etwas anderes lesen sehen. Ich konnte wirklich nicht verstehen, was sie so besonders interessant an ihnen fand. Und weil ich sowieso jedes Mal nur da sass und ihr beim lesen zu sah, vereinbarten wir, dass ich sie in ein paar Stunden wieder hier abholen sollte. Ich fuhr mit der Bahn nach Hause und lud dort schnell meine Tasche ab. Dann machte ich mich wieder auf den Weg. Der Wald war nur einige Minuten entfernt, selbst wenn man so langsam ging wie ich. Ich kannte mich gut aus hier. Und ich wusste genau wo ich durch musste um an mein Ziel zu gelangen. Ich hatte den Platz entdeckt als ich mich als Kind beim spielen verlaufen habe. Ich fragte mich heute noch, wie ich es geschafft hatte, mich in einen Wald hinein zu verlaufen. Keine Ahnung ob sonst noch irgendjemand diesen Ort kannte, aber für mich war es immer so eine Art Geheimversteck gewesen und ich hatte nie jemanden dort gesehen. Ich wusste noch immer nicht, warum Sayuri zu mir gekommen war an jenem Abend, sie hatte es mir noch nicht erzählt. Auch das mit der Angst vor Berührungen hatte sie noch nicht geklärt. Sie war mir bis jetzt immer ausgewichen. Ich verstand sie wirklich überhaupt nicht. In letzter Zeit war sie immer so fröhlich und offen, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als versuchte sie etwas vor mir zu verbergen. Und sie tat es gut. Ich wollte es wissen. Wirklich. Aber sie liess nichts aus sich raus holen. Der Wald wurde immer lichter, bis ich endlich am Ufer des schmalen Baches stand. Es war so friedlich hier. Es sah nicht wirklich besonders aus, sogar eher unauffällig normal, aber ich mochte es hier schon immer. Es war kalt und ich bemerkte wie mein Körper abwehrend darauf reagierte und wie er immer schwächer wurde. Plötzlich bemerkte ich auf der anderen Seite im Schatten eines Baumes an dessen Stamm lehnend jemanden sitzen. „Hallo?“, rief ich hinüber. Und ich bekam keine Antwort. Es rührte sich auch nichts. Die Person dort drüben schien zu schlafen. Aber hier draussen würde er erfrieren. Einen Moment lang zögerte ich, dann zog ich meine Schuhe aus, krempelte die Jeans hoch und trat mit den Schuhen unter den Armen ins kalte Wasser. Die Eiseskälte schmerzte auf meiner Haut wie tausend Nadeln und meine Beine waren nahe daran taub zu werden oder zu Eisblöcken zu gefrieren. Ich konnte den Unterschied nicht mehr erkennen. Trotzdem ging ich weiter. Ich hatte Glück, dass der Bach nur sehr schmal und nur Knie tief war. So hatte ich kaum Mühe auf die andere Seite zu kommen. Als ich aus dem Bach trat, fühlten sich meine Beine an wie Holzklötze und waren beinahe schon blau. Es war ein Junge, oder vielleicht auch schon eher ein Mann, der dort hockte und er schlief tatsächlich. Er atmete regelmässig, seine Brust hob und senkte sich in einem stetigen Rhythmus. Ich ging näher an ihn ran, zog mir unterwegs meine Schuhe wieder an. Ich hörte eine Krähe schreien, sie musste wohl in den Ästen des Baumes sitzen. Er hatte ein so schönes Gesicht, es wirkte beinahe unecht. Seine langen, dichten Wimpern, die gerade Nase, der schön geschwungene Mund. Das alles liess ihn fast schon weiblich erscheinen. So wunderschön. Obwohl er wie ein Schlafender aussah, hatte ich das Gefühl von Leere, wenn ich ihn ansah, ganz so, als ob er seine Augen niemals wieder öffnen würde. Aber dennoch nicht tot. Ich musste ihn wohl mitnehmen. Es war viel zu kalt hier um zu schlafen. Und Schuhe trug er auch keine an den Füssen. Er musste fürchterlich frieren. Es war mir ein Rätsel wie er bei dieser Kälte überhaupt schlafen konnte, geschweige denn nicht aufwachte. Einige Meter flussaufwärts gab es eine Brücke. Dort schleifte ich ihn hin, ich konnte ihn schliesslich schlecht tragen. Aber überraschenderweise war er nicht schwer. Es machte mir keine Mühe, ihn zu ziehen. Ich schleifte ihn durch den ganzen Wald, versuchte so gut es ging zu verhindern, dass ich ihn dabei verletzte und wunderte mich die ganze Zeit, warum er noch nicht aufgewacht war. Unterwegs hörte ich immer wieder Krähen schreien. Ich wusste selbst nicht so genau, warum ich ihn mitgenommen hatte, aber irgendwie hatte ich das Gefühl für ihn verantwortlich zu sein. Und hätte ich ihn dort gelassen, hätte ich mir sowieso nur Vorwürfe gemacht. Als ich mit ihm an den Häusern vorbei kam, starrten mich alle Leute blöd an. Keiner sagte irgendwas zu mir, keiner half mir. Aber alle flüsterten miteinander, einige schüttelten den Kopf. Was sollte ich schon grossartig dagegen tun? Nichts. Also ignorierte ich sie einfach alle. Obwohl, ein bisschen peinlich war es mir trotzdem. Ich schleppte ihn ins Gästezimmer und legte ihn dort auf das kleine Bett vor dem Fenster. Er war noch immer nicht aufgewacht, nicht ein Mal. Er hatte nicht geblinzelt, gezuckt oder sonst irgendwelche Zeichen gegeben, dass er irgendwie da war. Und er tat es auch jetzt nicht. Lag nur da und schlief, unverändert zu vorhin als ich ihn im Schatten des Baumes sitzen gesehen hatte. Ich berührte seine Stirn, er hatte kein Fieber. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass er sogar eher gar keine Temperatur besass. Ganz so, als wäre da nichts. Ich bemerkte die Hitze im Raum, es war richtig stickig. Das kam daher, dass hier nie jemand lüftete, da dieses Zimmer eigentlich nie gebraucht wurde. Ich stützte mich auf dem Bett ab und griff über ihn um das Fenster zu öffnen. Als ich wieder neben dem Bett kniete, flog ein Vogel auf den Fenstersims. Zuerst dachte ich, es sei eine Taube. Doch ich sah ein zweites Mal hin, zu dem seltsamen Vogel der da hockte und mich anstarrte. Er war grösser als eine Taube und hatte auch sonst so gut wie keine Ähnlichkeiten mit einer. Ich brauchte einen Moment ehe ich begriff, dass ich da eine Krähe vor mir hatte. Eine schneeweisse Krähe. Automatisch streckte ich die Hand nach ihr aus. Es gab keine weissen Krähen. Krähen waren schwarz. Schwarz wie die Nacht. Also wie konnte es eine weisse geben? Die Krähe blieb sitzen bis meine Fingerspitzen nur noch wenige Zentimeter von ihrem Schnabel entfernt waren, dann flatterte sie ein kurzes Stück in die Luft, nur um sofort wieder auf den Fenstersims zu hocken als ich meine Hand zurück zog. Sie beobachtete mich. Ich versuchte mich wieder auf den Jungen auf dem Bett zu konzentrieren und bemerkte, dass er doch einige Schnittwunden von den Ästen und Wurzeln im Wald davon getragen hatte. Schnell holte ich Salben und Pflaster und was nicht noch alles und begann, seine Verletzungen so gut wie möglich zu behandeln. Es waren alles ganz kleine Verletzungen, Schnitte und Schrammen, aber es waren viele. Während ich mein Bestes tat, spürte ich die ganze Zeit den Blick der Krähe auf mir. Als ich fertig war, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Ich hatte das Gefühl, ihm helfen zu müssen und gleichzeitig war mir bewusst, dass er nicht krank sein konnte oder so was. Und nur damit ich etwas zu tun hatte, holte ich dann einen nassen Waschlappen und begann, ihm die Arme und das Gesicht zu waschen. Ich strich ihm vorsichtig die Nacht schwarzen Strähnen aus der Stirn, als eine Hand mein Handgelenk packte und seine Augen sich öffneten. Es waren dunkle Augen. Nicht schwarze, nur dunkle. Und sie schienen perfekt in sein Gesicht zu passen. „Was wird das?“, fragte er. Seine Stimme war tief und leise. „N-nichts. Tut mir Leid! Ich wollte nur helfen!“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Bis mir einfiel, dass ich gar nichts getan hatte, für das ich mich hätte rechtfertigen müssen. Ich hatte ihm geholfen. Eigentlich müsste er sich bei mir entschuldigen anstatt mich an zu meckern. Er liess meine Hand los und setzte sich auf. „Danke dass du mir geholfen hast.“ Er lächelte. Was ihn noch schöner machte. „Dürfte ich deine Toilette benutzen?“ „Klar! Erste Tür links.“, antwortete ich ihm. Er stand auf, lief an mir vorbei und verliess den Raum. Ich hörte seine hastigen Schritte auf der Treppe... Moment! Auf der Treppe? Ich stand auf, rannte ihm hinter her, bis auf die Strasse. Er blieb nicht stehen als ich nach ihm rief (auch wenn ich seinen Namen nicht kannte). Also hetzte ich ihm nach. Ich war schneller als er und holte ihn noch vor der nächsten Ecke ein. Meine Hand packte seinen Ärmel und er musste wohl oder übel stehen bleiben. „Mann, was willst du?“, schrie er mich an. Er sprach so ganz anders als vorhin. Richtig unhöflich. Über mir schrie eine Krähe und ich wusste, ohne rauf zu sehen, dass es die weisse war. Mir wurde klar, dass der Blick der Krähe mir nicht mehr gefolgt war, seit der Junge – dessen Name ich noch immer nicht wusste – aufgewacht war. „Du kannst so nicht nach draussen. Sonst holst du dir noch was. Du hast bis vor einigen Minuten noch geschlafen oder im Koma gelegen oder was weiss ich! Du bleibst hier!“ Ich wusste selber nicht, warum ich das sagte und es war auch schneller raus als ich darüber nachdenken konnte. Und es war masslos übertrieben von mir, ihm solche Vorschriften machen zu wollen. Was wusste ich schon?! War es nicht sowieso einfacher, ihn jetzt gehen zu lassen? „Du kannst mich mal! Ich-“ „Hisa.“ Ich drehte mich um. „Sayuri!“ Kapitel 4: The reason why ------------------------- Ich hatte Sayuri völlig vergessen. Ich hätte sie doch abholen müssen! „Wer ist das?“, fragte sie mich und sah während dem den Jungen an, dessen Ärmel ich noch immer krampfhaft festhielt. „Keine Ahnung. Er hat mir seinen Namen noch immer nicht verraten. Ich hab' ihn schlafend im Wald gefunden und mit genommen, dass er nicht erfriert.“ „Sprich nicht von mir als wäre ich ein Ding!“, fuhr er mich an. „Und jetzt?“, fragte Sayuri weiter. „Jetzt wollte er weglaufen.“ „Und du hast ihn nicht gelassen?“ „Natürlich nicht. Wäre er irgendwo kollabiert, hätte ich Schuld gehabt!“ „Hättest du nicht.“ „Nein. Aber ich hätte mich schuldig gefühlt.“ „Hey! Ich bin hier, okay?!“, rief er aufgebracht, „Mir ist egal, wer sich hier wie fühlt! Entscheidet euch einfach, was ihr tun wollt. Und im Idealfall könntest du mich loslassen, so dass ich gehen kann.“ „Du bleibst!“, befahl ich über die Schultern und wandte mich wieder Sayuri zu: „Sorry, dass ich dich nicht abholen gekommen bin, ich hab' die Zeit vollkommen vergessen.“ „Kein Problem. Aber ich denke, es wird schwierig werden, den da hier zu behalten, wenn er nicht freiwillig bleibt.“ „Stimmt. Er bleibt trotzdem!“, beschloss ich. „Ich bin immer noch kein Ding, verdammt!“ „Ist ja gut, wir haben es verstanden!“, erwiderte ich genervt. „Lass mich jetzt end-“ Plötzlich war sein Blick in den Himmel gerichtet. Er sah ernst drein, Falten zwischen den Augenbrauen. Und einen Moment später war der Himmel mit dicken, dunklen Wolken behangen und es begann in Strömen zu regnen. Der Regen war warm, beinahe zu warm für normalen Regen. In Sekundenschnelle waren wir alle drei triefend nass. Aber der Regen war seltsam. Und dann begriff ich: der Regen war schwarz. Unmöglich eigentlich. Genauso unmöglich wie eine schneeweisse Krähe. Die Tropfen auf meiner Handfläche hinterliessen schwarze Punkte und in meiner hohlen Hand sammelte sich ein kleiner schwarzer See. Langsam fragte ich mich ob ich entweder was an den Augen hatte oder mich langsam selbst einliefern sollte. „Siehst du das auch?“, flüsterte ich. „Ja. Und jetzt ist es zu spät.“, sagte er ruhig. Ich verstand nicht. „Zu spät?“ „Ich hätte nicht gedacht, dass er hier auftauchen würde. Frage mich nur, wie er mich gefunden hat.“ „Was bitte faselst du die ganze Zeit?“ Ich verstand überhaupt gar nichts. „Hier bist du also!“ Eine weitere Stimme erklang. Ich kannte sie nicht. Sie kam von hinter Sayuri. Ich drehte mich um. Sayuri rannte schon in meine Richtung. Und weiter hinten stand tatsächlich ein Mann. Er trug einen langen, schwarzen Mantel, der im Wind wehte. Er lächelte. Ich fröstelte. Sayuri stand hinter mich, weinte. Ihre Tränen vermischten sich mit dem schwarzen Regen auf ihren Wangen. „Wenn ich mich vorstellen darf: Ich bin Yuudai. Und ich bin hier um jemanden abzuholen. Wenn du so freundlich wärst?“ Er streckte die Hand aus und kam näher. Er lächelte noch immer. „Warum sollte ich?“, sagte der Junge hinter mir spöttisch lächelnd. Er schob mich hinter sich. Sayuri sah ihn überrascht an, sagte aber nichts. Der Mantelmann, Yuudai, blieb stehen, hob erstaunt die Augenbrauen. „Eine Krähe? Was für eine Überraschung! Aber eine gute. Ich liebe solche Zufälle!“ „Du wolltest nicht mich? Du bist nicht meinetwegen hier?“, fragte der Junge. Jetzt war er der Überraschte. „Aber nein! Ich kam wegen der 'weissen Lilie', einem 'Licht des Herzens'. Aber dich werde ich in diesem Fall auch gleich mitnehmen.“, sagte Yuudai lächelnd. Er war wieder näher gekommen. Er stand jetzt nah genug, dass ich ihn genau sehen konnte. Und was ich sah, liess mich schaudern. Er war nicht nass. Er war trocken geblieben. In all diesem Regen war er kein bisschen nass geworden. „Warte!“ Der Junge stellte sich ihm in den Weg „Sie?! Sie ist eine Lilie?“ Er zeigte auf mich. Doch Yuudai – bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass er nicht viel älter als ich sein konnte – schüttelte nur leise lachend den Kopf. „Aber nicht doch. Das Mädchen hinter ihr ist die weisse Lilie!“ Der Junge drehte sich um, sah Sayuri entsetzt an. Diese jedoch sah mich an. Hilflos. Der Blick erinnerte mich an den, den sie hatte, als sie an jenem Abend zu mir gekommen war. „Shit!“, fluchte der Junge und sagte uns dann: „Lauft, okay? Fragt nicht, tut es einfach!“, fügte er noch hinzu als ich den Mund aufmachte um nach zu fragen. Das machte mich wütend. Ich verstand überhaupt nicht, was hier abging. Zuerst hatte er mich angeschrien, wollte verschwinden und jetzt kommandierte er mich herum. So was konnte ich überhaupt gar nicht leiden! „Du sagst mir jetzt sofort, was hier los ist, oder ich rühre mich keinen Zentimeter!“, schrie ich. Beide Männer sahen mich überrascht an, mit hoch gezogenen Augenbrauen. Ich hatte auf mich aufmerksam machen wollen, aber wie sie beide mich jetzt ansahen, war irgendwie unangenehm. So … forschend. Der eine erfreut, der andere irgendwie … negativ. „Du bist eine!“, flüsterte Yuudai, „Du bist eine!“ In dem Moment schleuderte ihn irgendwas nach hinten und dann hatte der Junge ihm den Fuss in die Kehle gedrückt und zischte: „Verschwinde!“ Er setzte den Fuss wieder auf den Boden und Yuudai stand auf und ging mit einer Verbeugung und den Worten: „Es war schön, eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Bis auf bald!“ Mit ihm verschwand auch der Regen. Plötzlich gaben meine Beine unter mir nach. Ich kippte um und sass dann auf dem nassen Boden. „Hisa!“, schrie Sayuri. „Ich mach das! Und übrigens, ich bin Yukio.“, sagte er und hob mich hoch. Ich hatte nicht genug Kraft um zu widersprechen. Keine Ahnung warum ich plötzlich so schwach geworden war. Im Haus legte er mich aufs Sofa und er und Sayuri nahmen gegenüber von mir Platz. Dann fing auf einmal Sayuri wieder an zu weinen. Wie seltsam, dass sie das so mitnahm. „Was ist denn?“, fragte ich leise. „Der Mann. Er war der Grund, warum ich hier her kommen musste. Seit Woche schon hat er mich verfolgt. Hat mich immer wieder gefragt, ob ich nicht mit ihm kommen wollte. Ich hätte doch sowieso niemand mehr, der mich vermissen könnte.“ „Du … hast niemanden?“, fragte ich. „Ja. Meine Eltern sind … schon lange tot.“ Yukio sah sie an. Auch ihr Blick flackerte kurz zu ihm, richtete sich dann wieder zu Boden. „Geschwister hatte ich keine. Und andere Verwandten wollten nichts mit mir zu tun haben. Also habe ich allein gelebt. Der Mann hat irgendwann versucht, mich mit Gewalt mit zu zerren. Aber weil ich geschrien habe, sind immer Leute gekommen und er hat mich losgelassen. Aber dann, einmal, sah ich ihn mit einer Menge Leute vor dem Haus stehen, in dem ich mein Appartement habe und auf meine Wohnung zeigen. Ich bekam Angst und bin durch den Keller geflüchtet. Ich hatte gerade genug Geld um bis hier her zu kommen. Ich dachte, er würde mich vergessen. Ich hätte nie gedacht, dass er mir bis hier her folgen würde. Ich … dachte, dass... Ich hatte keine Ahnung wo ich hätte hin sollen, wirklich! Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid!“ Sie schluchzte, vergrub das Gesicht in den Händen und verkrampfte ihre Finger in ihren Haaren. Sie zitterte. Ich wäre so gern aufgestanden und hätte sie in den Arm genommen. Aber erstens konnte ich mich nicht bewegen und zweitens hatte ich Angst, dass sie davor zurück scheuen würde. Yukio aber legte seinen Arm um ihre Schulter wie selbstverständlich. Sie wehrte sich nicht dagegen, schaute ihn aber an, als würde sie auf irgendetwas warten. „Ist schon gut.“, sagte er sanft und sie gab sich offensichtlich damit zufrieden, denn sie senkte ihr Tränen verklebtes Gesicht wieder. „Das war der Grund warum ich gekommen bin. Ich habe dich ausgenutzt, weil ich einen sicheren Ort brauchte.“, flüsterte sie leise. „Nein.“, widersprach ich ihr, „Ich bin froh, dass ich die Person war, zu der du gekommen bist. Das bedeutet, dass du mir vertraust. Ich freue mich. Wirklich!“ Sie sah auf, lächelte. „Danke!“, wisperte sie. Ich lächelte zu ihr zurück. Kapitel 5: The curse -------------------- Seit diesem Vorfall sprach Sayuri wieder weniger. Sie vermied auch meinen Blick. Stattdessen hatte ich das Gefühl, dass ihre Blicke und die von Yukio sich umso mehr kreuzten. Es schien mir, als würden sie die ganze Zeit miteinander sprechen. Über Dinge, über die ich nichts wissen durfte. Ich fühlte mich verletzt und hintergangen. Ich war immer der Meinung gewesen, unter Freunden verheimlichte man sich nichts. Und ja, auch Yukio war zu meinem Freund geworden. Und er wohnte jetzt auch hier. An diesem Abend, als das mit Yuudai passiert war, war mein Bruder nach Hause gekommen, als Yukio und Sayuri und ich noch immer im Wohnzimmer sassen. Als er mich sah, wurde sein Blick sofort ernst, was ich bisher noch nie bei ihm gesehen hatte. Aber er sah mich nicht mehr an. Jetzt sah er Yukio an. Die beiden sahen sich fest in die Augen. Es war wie ein stummes Zwiegespräch zwischen den beiden. Shin setzte sich auch zu uns, was der Grund war, warum wir nicht mehr über Yuudai und das alles sprechen konnten, obwohl ich noch viel Fragen hatte. Auf alle Fälle hatte ich Yukios hier sein erst erklären müssen, als meine Eltern nach Hause kamen. Und aus irgend einem mir unerfindlichen Grund schlugen sie sogar von sich aus vor, dass er hier wohnen sollte, nachdem Yukio und Shin – was mich wirklich überrascht hatte – mit ihnen gesprochen hatten. Ich hätte nie gedacht, dass mein Bruder sich dafür einsetzen würde, dass ausgerechnet ein Junge und noch dazu ein fremder hier wohnen durfte. Aber irgendwie hatte ich sowieso das Gefühl, dass Shin anders war als sonst. Viel ernster. Yukio wohnte also bei uns. Und so bewohnte er wieder das kleine Gästezimmer. Mein Bruder sah seit dem viel öfter bei mir vorbei, fragte mich, wie es mir ging und so weiter. Es war nervig, aber auch irgendwie süss. Was mich verwirrte war, dass ich nicht wusste, warum er das tat. Normalerweise mied er mich und jetzt plötzlich, seit er Yukio das erste Mal gesehen hatte, kümmerte er sich um mich wie verrückt. Ich sprach ihn einmal darauf an, aber er wich mir aus, fragte mich, was ich denn meinte. Ich hatte sowieso allgemein das Gefühl, ziemlich aussen vor gelassen zu werden. Aber ich traute mich, vor allem bei Sayuri und Yukio, einfach nicht zu fragen. Ich hatte Angst, dass sie sich dadurch nur noch mehr abschotten würden. Ich kam gerade vom Supermarkt zurück und hatte alle Einkäufe in der Küche verstaut. Ich war müde. Das war ich viel in letzter Zeit. Ich fühlte mich auch oft einfach nur schwach. So lief ich, ziemlich langsam und kraftlos, die Treppe hinauf. Doch vor meiner Zimmertür blieb ich stehen. Ich hörte die Stimmen von Sayuri und Yukio. Sie sprachen leise, flüsterten. Ich verstand sie kaum. Aber dennoch wollte ich nicht rein gehen. Ich war mir sicher, sie würden sofort aufhören zu sprechen, würde ich eintreten. Ich wollte wissen, über was sie sprachen, wenn ich nicht dabei war. „Hisa? Was tust du hier?“ Das war mein Bruder. „Shin.“ Ich fühlte mich ertappt. Doch er lächelte. „Wenn du es wissen willst, dann frag sie doch einfach.“ „Aber-“ „Kein aber. Geh! Sie werden schon ehrlich sein, glaub mir.“ Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Er machte mir enorm viel Mut mit seinem Lächeln. Er schien wie eine vollkommen andere Person als mein Bruder, den ich bisher gekannt hatte. „Danke!“, sagte ich lächelnd und ging in mein Zimmer hinein. „Sorry dass ich störe.“, begann ich, „Aber ich will jetzt endlich wissen, was ihr die ganze Zeit vor mir geheim haltet!“ Die beiden tauschten einen Blick aus und diesmal versuchten sie noch nicht mal, es zu verbergen. Dann sagte Yukio: „Weisst du-“ „Nein!“ Ich liess ihn gar nicht erst du Ende sprechen, „Ich will es jetzt wissen! Sofort!“ „Hisa, bitte! Zwing mich nicht, es auszusprechen. Ich will nicht!“, bat mich Sayuri. Aber was konnte schon so schrecklich sein, dass sie Angst davor hatte, es auszusprechen. „Sag es mir! Ihm hast du es schliesslich auch erzählen können!“ „Nein.“, widersprach sie mir, „Er wusste es bereits.“ „Aber ich bin doch deine beste Freundin! Bitte erzähl es mir! Ich will dir auch helfen können! Bitte!“ Jetzt war ich diejenige, die bettelte. „Tut mir Leid. Aber es ist anscheinend nicht so, dass du meine beste Freundin bist.“ Ich starrte sie an. Ich konnte nichts sagen, nichts entgegnen. Nicht auf ihre Worte. Was sollte ich da schon grossartig antworten? Sie hatte klar und deutlich gesagt, dass ich für sie nicht ihre beste Freundin war. Tränen stiegen mir in die Augen. Es war lange her, dass ich wegen etwas anderem als körperlichem Schmerz geweint hatte und jetzt schmerzte es umso mehr. Ich hielt die Tränen nicht auf als sie meine Wangen hinunter kullerten. „Mag sein dass du das so siehst.“, sagte ich langsam, „Aber für mich bist du meine beste Freundin. Und deshalb will ich dir helfen. Und jetzt sag mir verdammt noch mal was hier los ist oder ich werde ernsthaft wütend!“ Jetzt schrie ich beinahe. Ich musste ein seltsames Bild abgeben. Wie ich da stand, weinte und gleichzeitig verzweifelt schrie. „Hisa...“ Sie schloss einen kurzen Moment die Augen, atmete tief durch, dann sah sie mir fest in die Augen und begann zu erklären: „Als ich dir am Abend als ich gekommen bin gesagt habe, dass ich Angst vor Berührungen hätte, war das halbwegs eine Lüge. Ich habe keine Angst vor Berührungen im allgemeinen. Ich habe Angst davor, was mit Menschen passiert, die ich berühre.“ „Die du … berührst?“ Ich verstand nicht. Jetzt noch weniger als zuvor. Sie nickte, zog ihre Knie an. Sie sah verletzlich aus, wie sie da so sass und begann zu zittern. Sie war einen Moment ruhig, ehe sie weiter erzählte: „Ich … habe Angst davor, dass ich für einen Menschen stark empfinde. Egal ob ich mich verliebe, ob ich jemanden hasse, Mitleid mit jemanden habe, oder … eine beste Freundin. Ich habe Angst vor solchen Gefühlen. Weil ich, weil ich … ich … ich...“ Sie begann zu weinen. Sie drückte ihren Kopf mit beiden Händen auf die Knie. Ihre Finger verkrallten sich in ihren Haaren. Ich wollte zu ihr hin, sie umarmen, sie trösten, ihr helfen, irgendwie. Doch sie schrie: „Bleib weg!“ Ihre Stimme klang hysterisch, beinahe verrückt. „Du stirbst.“, flüsterte sie. „Was für ein Quatsch!“, winkte ich ab und umarmte sie. Eine Schmerzwelle fuhr durch meinen Körper, schüttelte ihn, es hörte nicht auf. Mein Herz. Es war, als würde es brennen, in Flammen stehen. Ich konnte mich nicht bewegen, nur meine Augen waren weit aufgerissen Mein Blick irrte ihm Raum herum, ich konnte nichts erfassen, alles verschwamm, wollte ich es fokussieren. Ich hatte Angst wie noch nie bisher. Und dann war es schwarz. Ich sah nichts mehr. Ich suchte nach etwas, irgendetwas, das ich sehen konnte. Ich wurde panisch, wollte schreien, doch es ging nicht. Ich stand nur da, litt unglaubliche Schmerzen und drehte beinahe durch. „Hisa!“, war das erste, das ich wieder hörte. Arme, die mich fest hielten war das erste, das ich wieder spürte. Ich klammerte mich an Yukio, zitterte, die Augen noch immer weit aufgerissen. Dann weinte ich, als der Schock nachliess. Es war so gewesen wie damals in Zens Haus, nur tausend mal schlimmer. „Yukio! Yukio!“ Ich hatte keine Ahnung ob ich ihm weh tat, so fest hielt ich ihn. Aber im Moment bezweifelte ich, dass ich allein stehen konnte. „Ist schon in Ordnung. Ist wieder gut. Wirklich!“ Er strich mir sanft über den Kopf, hielt mich fest und ich war ihm so dankbar dafür. „Was war das?“, fragte ich flüsternd. „Sayuri.“, sagte er nur. Und ich konnte nicht anders als ihm einfach zu glauben. Ich wollte nicht, aber, so unglaublich es sich auch anhören mochte, es leuchtete mir mehr ein als es jede logische Erklärung in diesem Fall hätte tun können. „Aber, was ist passiert?“, fragte ich weiter, noch immer flüsternd. „Du bist gerade gestorben.“, sagte er schlicht. Es erschreckte mich nicht mehr und ich fragte mich ernsthaft, warum. Und dennoch, dass ich gerade gestorben sein sollte, war vollkommen unmöglich und unlogisch. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was am Tod so anders sein sollte als an diesen Höllenqualen, die ich erlebt hatte. „Das kann nicht sein.“, widersprach ich ihm schwach. „Was Sayuri vorhin sagen wollte, war, dass jedes Mal, wenn sie eine Person, für die sie, egal in welchem Zusammenhang, stark empfindet, berührt, stirbt diese Person. Das ist ihr, wie soll ich sagen, Fluch? Das trifft es vielleicht.“ „Und warum lebe ich noch? Wenn ich doch gerade gestorben bin?“, fragte ich. Ich klammerte mich noch immer an Yukio. Ich suchte nach Überraschung, Angst oder so etwas in mir drin. Wie konnte ich nur so etwas glauben? Doch da war nichts. Es war, als würde ich das ganze von weit weg beobachten, so wie wenn man in einem Kino sitzt. Ich fühlte keine Verwirrung, fand nichts von all dem, was er erzählte seltsam. „Weil du besonders bist.“, antwortete er auf meine Frage. Ich war einen Moment still. Mir fiel der Abend ein, an dem Yuudai gekommen war. „Ihre Eltern?“, fragte ich. „Ja. Sie hat sie getötet als sie gerade in dem Alter war, in dem man Gefühlte beginnt zu verstehen.“ Es war still zwischen uns, bis Sayuri wieder etwas sagte: „Es tut mir Leid. Willst du sehen, was mich immer daran erinnert, was ich bin und was ich tue?“ Ich gab ihr keine Antwort, aber sie erwartete auch keine. Und so zog sie sich ihr Hemd über den Kopf, öffnete den BH. Yukio stand da, sah ernst Sayuri an. Auch ich sah hin. Was sie uns zeigen wollte, war ein Tattoo. Es begann an ihrem rechten Handgelenk, wo eine Lilie auf ihrer Haut verewigt war. Der Stiel der Pflanze schlang sich um ihren Arm herum immer weiter hinauf. Bis zu ihrer Schulter. Dort wurde aus dem Stiel die Wurzel, die seltsamerweise Dornen hatte. Die Wurzel reichte über beide Schlüsselbeine und auf ihrer linken Brust, direkt übe ihrem Herzen, bildete die Wurzel einen Kneul. Es sah aus, als würde er ihr unter die Haut tauchen. Das ganze Tattoo war mit einer dünnen, schwarzen Linie umrandet und schattiert und innen war es schneeweiss. „Ein Tattoo?“, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiss nicht, was es ist. Ich habe das schon seit ich geboren wurde. Aber ein Muttermal kann es ganz offensichtlich nicht sein. Ich habe es mir einfach gemacht und mir einfach selbst gesagt, dass ich vermutlich gezeichnet bin.“ „Gezeichnet.“, wiederholte ich. Das Wort machte mir Angst. Kapitel 6: Fear --------------- Es fiel mir schwer mit Sayuri zu sprechen, nachdem sie mir von ihrem 'Fluch' erzählt hatte. Automatisch versuchte ich, ihr nicht zu oft über den Weg zu laufen. Und wenn ich einmal mit ihr zusammen war, dann suchte ich immer nach einem Weg, dass Yukio auch dabei war. Zuerst hatte ich auch ihn gemieden, aber dann hatte er mich gefragt, warum ich Sayuri aus dem Weg ging. Und ich hatte ihm erzählt, dass ich Angst vor ihr hatte. Angst vor dem, was sie war, was sie tat. Aber es war noch mehr. Seit ich von ihrem Geheimnis wusste, schien mein Körper irgendwie abstossend auf sie zu reagieren. Ich spürte ganz genau, wie ich panisch wurde in ihrer Nähe, einfach nur weg wollte. Weg von ihr. Ich wollte das nicht. Ich wollte keine Angst vor ihr haben. Ich wollte in ihrer Nähe sein. Ich wollte, dass ich bei ihr sein konnte, ohne das Gefühl zu haben, vor einem Monster zu stehen. In dieser Zeit weinte ich oft. Immer dann, wenn ich allen war. Wenn meine Familie nicht da war. Wenn Sayuri und Yukio nicht da waren. Einmal erwischte mich Yukio. Ich sass auf dem Boden zusammen gekauert, das Gesicht in die Hände gelegt. Ich hörte nicht, wie er eintrat. „Hisa?“, fragte er sanft. Doch ich erschrak trotzdem. Ich zuckte zusammen, versuchte mir hektisch die Tränen von den Wangen zu wischen. Aber da kniete er schon neben mir, nahm mich in den Arm. Ich war verwirrt, zuerst. Und ich dachte mir noch, dass mir so was eigentlich peinlich sein müsste. Aber das war es nicht. Im Gegenteil. Es half mir. Meine Arme bewegten sich von alleine als sie sich um Yukio schlangen und meine Finger sich in seinem Pulli verkrallten. Ich konnte nicht sagen, wie lange wir da am Boden zusammen sassen, als ich ihn los liess und flüsterte: „Ist in Ordnung, es geht wieder.“ „Sicher?“ Er sah mir besorgt in die Augen. Ich nickte. Er liess mich auch los, rückte aber nicht von mir weg. Und irgendwann begann ich zu erzählen. „Ich glaube dir nicht.“, sagte er ruhig, als er sich alles angehört hatte, oftmals unterbrochen durch weitere Tränenausbrüche und Schluchzern. Unten öffnete und schloss sich eine Tür. Man hörte eine fluchende Stimme. Mein Bruder war wieder zu Hause. „Du glaubst mir nicht?“ Ich verstand nicht. „Nein. Du hast keine Angst vor Sayuri.“ „Doch.“ Natürlich hatte ich Angst. Schreckliche Angst. „Ich habe Angst vor dem, was sie tut. Ich habe Angst davor, zu sterben.“ „Nein.“ Er schüttelte den Kopf, „Du hast weder Angst davor zu sterben, noch vor Sayuri.“ Ich war schon wieder den Tränen nahe. Warum wollte er nur nicht verstehen? Warum nicht? „Was ist es dann? Sag es mir! Was ist es, vor dem ich Angst habe? Bitte, ich...“ Jetzt weinte ich wieder. Ich war so schwach. So schrecklich schwach. „Du hast Angst vor der Tatsache, dass du eben nicht stirbst.“ Es war still, eine kurze Ewigkeit lang. Es war, als hallten seine Worte im Raum nach. Ich hörte sie, wie ein Echo, immer wieder. Und ich verstand, dass er Recht hatte. Ich begann wieder zu zittern. Und er nahm mich wieder in den Arm. Meine Augen waren weit offen, als ich die Wahrheit erkannte. Ich hatte nicht Angst vor Sayuri. Ich hatte Angst vor mir selbst. Am selben Abend ging ich raus um einen Spaziergang zu machen. Um nach zu denken. Ich hatte Sayuri seit dem Gespräch mit Yukio nicht gesehen. Und ich war auch in gewisser Weise beinahe froh darüber. Ich hätte es nicht ertragen, ihr in die Augen sehen zu müssen. Ich ekelte mich vor mir selbst. Ich hasste mich dafür, dass ich sie als Monster gesehen hatte, obwohl ich diejenige war, die ihre eigenen Freundin verstossen hatte. Es war kalt draussen. Viel zu kalt für mich. Eigentlich. Aber das mir in Moment so ziemlich egal. Ich hatte in Sayuris Augen gesehen, wie sie gelitten hatte, die Zeit in der ich sie mied. Sie hatte sich schuldig gefühlt. Verantwortlich für dieses ganze Chaos. Dabei war ich diejenige gewesen, die alles falsch gemacht hatte. Von Anfang an. An dem Abend, an dem sie mir alles erzählt hatte, war ich aus dem Zimmer gerannt. Ich war einfach gegangen. Ich hätte bleiben müssen. Mir alles anhören. Sie anlächeln. Ihr sagen, es würde mir nichts ausmachen. Ich hätte sie beschützen müssen. Und obwohl es alles gelogen gewesen wäre, ich hätte es tun müssen. Und hätte es nur dazu gedient, ihr ein besseres Gefühl zu geben. Ich spürte, wie die Kälte mich langsam schwach machte. Ich zitterte. Und meine Hände spürte ich schon fast nicht mehr. Ich musste zurück. Sofort. Von weitem sah ich vor dem Haus zwei Leute stehen. Und ich bemerkte, dass es anfing zu regnen. Zuerst nur ganz fein und dann, innerhalb von noch nicht mal einer Minute, regnete es so stark, dass ich kaum vier Meter weit sehen konnte. Es war schwarz um mich herum. Mich fröstelte, als ich begriff, was das bedeutete. Meine Schritte wurden schneller, dann rannte ich. Bald sah ich den ersten Rücken. „Yukio!“, rief ich. Ich klammerte mich an seinen Arm, sah zu ihm auf. Und ich schrie. Ich wollte mich von Yuudai los reissen, doch es war schon zu spät. Er packte meine Schultern, hielt mich fest. „Yukio!“, schrie ich. Diesmal in Panik. Ich sah hinüber, wo er stehen musste. Ich sah nur schlecht auf die Distanz, doch ich erkannte ganz sicher, dass das nicht Yukio war. „Shin! Lauf!“, schrie ich. Ich wusste, er würde nicht weg laufen, aber ich konnte nicht einfach nichts tun. Ich schrie weiter. Aber meine Stimme wurde so stark von dem prasselnden Regen gedämpft, dass ich bezweifelte, dass er mich hören konnte. Ich sah, wie er näher kam, langsam. Seine Schritte waren sicher. „Yuudai.“, sagte er langsam, aber deutlich, „Lass sie los.“ Yuudai lachte nur. Und ich fragte mich, woher Shin Yuudais Namen kannte. „Komm nicht näher, Shin.“, lachte Yuudai und würgte mich mit seine Unterarm. Ich keuchte, bekam fast keine Luft mehr. Shin kam noch zwei Schritte näher, blieb dann stehen. Jetzt konnte ich ihn besser sehen. Und ich sah, dass auch er keinen Tropfen Regen ab bekam. Er war vollkommen trocken, wie Yuudai. „Shi...in.“, krächzte ich. „Lass sie los!“, wiederholte er nur. Yuudai lachte wieder. „Hättest du mir nicht eher sagen können, dass sie eine von uns ist? Es hätte einiges so viel einfacher gemacht.“ Eine von uns? Was sollte das bedeuten. Ich sei eine von ihnen? „Ich wusste immer, dass du es warst. Niemand sonst hat die Phönixe so gehasst wie du. Du warst schon immer der einzige, der davon überzeugt war, menschlich zu sein wäre etwas besseres.“ Yuudai sprach in einem abschätzigen Ton. Und er sagte Dinge, die ich noch nicht mal im Ansatz verstand. „Hättest du sie nicht versteckt, wären der Professor und die anderen vielleicht schon viel weiter gekommen. Aber nein, du musstest wieder einmal deinen Willen haben, du … M-mm. Das tust du nicht. Bleib schön da stehen.“, fügte er schaden freudig hinzu, als mein Bruder dabei war, einen Schritt auf uns zu zu machen. Und gleichzeitig drückte er mir seinen Unterarm noch fester um in den Hals. Meine Hände flogen zu seinem Arm, versuchten, ihn weg zu ziehen. Aber ich hatte schon keine Kraft mehr. Wegen der Kälte, vor allen Dingen. „Weisst du, Shin, vielleicht sollte ich sie einfach zuerst privat verhören. Übergebe ich sie jetzt gleich dem Professor, sehe ich sie nie wieder. Und das wäre doch eine Schande. Sie ist doch ein so schönes Kind.“ Er sah kurz zu mir runter, leckte sich die Lippen. „Yuudai. Du lässt sie jetzt los oder ich mach ernst!“ Der Zorn in Shins Stimme erschreckte mich. Es war nicht wie der Ärger, wenn ich ihn nervte. Shin meinte das ernst. Yuudai schien das überhaupt nicht zu bemerken. „Du? Ernst machen?“, spottete er, „Hast du's überhaupt noch drauf? Wie lang hast du es nicht mehr getan? 6 Jahre? 8? was willst du mir schon anhaben!“ Shin ballte die Fäuste. Er hatte Zornesfalten auf der Stirn. „Also Shin, es war schön, dich wieder gesehen zu haben. Aber ich habe noch wichtige Dinge zu erledigen. Wir sehen uns!“ Ich spürte einen Schmerz im Genick und hörte noch Shins Stimme hilflos „Nein!“ schreien. Dann war alles schwarz und ich lag in den Armen das Mannes, den ich am meisten hasste, für den Zorn, den er in die Stimme meines Bruders gemischt hatte. Kapitel 7: Dying deathless -------------------------- Das erste, was ich bemerkte, als ich aufwachte, war, dass meine Fuss-und Handgelenke gefesselt waren und ich auf einem Stuhl sass. In mir stieg Panik auf, als der Blick meines Bruders wieder in meiner Erinnerung auf flackerte. Er hatte hilflos da gestanden, die Fäuste geballt und, ich war mir nicht ganz sicher, hatte er auch noch geweint? „Na, gefällt dir deine Residenz?“ Mit einem lauten Lachen trat Yuudai ein. Sofort richtete sich meine Wut gegen ihn. Es war mir egal, dass er mich entführt hatte – naja, zumindest bis zu einem bestimmten Grad hin – aber dass er es vor den Augen meines Bruders getan hatte, für das hasste ich ihn. „Verschwinde!“, schrie ich, „Lass mich allein!“ Er lachte wieder. „Ziemlich dreist, wenn man bedenkt, in welcher Situation du dich befindest. Sieh dich an! Du bist an einen Stuhl gefesselt, kleine Hisa. Und selbst wärst du es nicht, dieses Zimmer befindet sich in einem Bannkreis. Hier kommst du nicht raus, wenn ich es nicht will!“ Er sah arrogant auf mich hinab. Und ich bemerkte, wie hilflos ich wirklich war. „Hast du dich endlich ein bisschen beruhigt? Na dann, du hast meine Frage nicht beantwortet, wie gefällt es dir?“ Ich konnte genau hören, dass die Frage nicht freundlich gemeint war. Er tat das nur, dass mir noch viel mehr bewusst wurde, wie viel kleiner ich im Moment war als er. Aber es wirkte. Ich sah mich zum ersten Mal richtig im Raum um. Naja, also eigentlich gab es nicht viel, nach dem man sich hätte umsehen können. Das Zimmer war kahl. Es hatte weisse Wände, einen weissen Boden, eine weisse Decke. Es gab weder Möbel, noch Bilder oder Fenster. Nur einen weissen Stuhl, auf dem ich sass und eine alte Glühbirne. Es erinnerte mich irgendwie an ein Verhörungszimmer der alten Filme, die manchmal noch spät abends im Fernsehen kommen. Wo die Leute gefoltert wurden und... Ich sollte nicht solche Gedanken haben! Ich schauderte. Eine Antwort gab ich ihm keine. Stattdessen sah ich verächtlich weg. „Du antwortest nicht? Na gut, dann kannst du auch nur zuhören. Dir hat ja anscheinend noch niemand wirklich was erzählt. Wie anstrengend! Immer muss ich allen hinterher räumen!“ Er seufzte. Ich sagte nichts. Wartete. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn er mir endlich die Wahrheit über dieses ganze Chaos erzählen würde. Ich wollte es wissen, wirklich. Ich hatte es satt, immer nur so viel mit zu bekommen, wie es andere gerade für richtig hielten. Klar, nach den Erklärungen von Sayuri – obwohl es ein Riesen-Schock gewesen war – hatte ich mir alles einigermassen erklären können. Aber ich hatte damals schon gewusst, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Und ich hatte versucht, mich darauf ein zu stellen und mich zu gedulden. Irgendwann mussten mir die beiden schliesslich was erzählen. Aber ich hatte mich da wohl geirrt. Ich hörte mir das Ganze lieber von so einem hassenswerten Idioten wie Yuudai an als gar nicht. Ich war wohl doch nicht so geduldig, wie ich gedacht hatte... „Sie haben dir über die weisse Lilie etwas erzählt, nicht? Dieser unverschämt kluge Landstreicher und die Lilie selbst. Sie haben dir sicher erzählt, dass alle Menschen sterben, für die sie starke Gefühle hat und sie berührt. Das ist war. Aber weisst du was? Das ist noch nicht mal alles. Sie haben dir etwas verschwiegen. Was heisst etwas?! Eigentlich haben sie dir alles ausser einigen kleinen Details verschwiegen.“ Ich wurde hellhörig. Mein Kopf zuckte ein kleines bisschen nach oben. Ich hörte ihm zu. „Ganz so einfach ist es nämlich nicht. Denk mal nach, stirbt der Mensch einfach so? Nein, tut er nicht. Irgendetwas muss ihn umbringen. Und es ist tatsächlich so, dass die weisse Lilie den Körper angreift. Genauer, das Herz. Berührt die Lilie einen Menschen, für den sie viel fühlt, entfacht sie eine Flamme in dessen Herz, die es verbrennt. Es bleibt ein Häufchen Asche vom Herzen übrig. Das seltsame daran ist, dass das Feuer nicht weiter wütet. Es erlischt einfach, mit dem Herzen zusammen. Und zur gleichen Zeit wird der Körper von der Lilie lahm gelegt. Du kannst nichts mehr tun. Dich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht schreien. Nur leiden. Leiden und auf den Tod warten.“ Jetzt sah ich auf. Ich sah ihm direkt in die Augen. Er lächelte arrogant auf mich hinab, keine Spur von Mitleid in seinen Augen. Er lächelte nur kalt. „Wie ich sehe, schenkt mir die Madam endlich die Aufmerksamkeit, die mir gebührt. Willst du noch mehr hören? Über all das, was dir deine sogenannten Freunde nicht erzählten? Alles, was ich dir erzählen werde? Findest du sie nicht ein bisschen pathetisch? Deine 'Freunde'?“ Er lachte schon wieder. Es schmerzte, als ich mir selbst eingestehen musste, dass er irgendwo recht hatte. Wie konnte ich Leute meine Freunde nennen, die mir nicht vertrauen konnten? Wie konnte ich ihnen vertrauen? „Du fragst dich jetzt sicher, wie du das überleben konntest, nicht wahr? Ich werde es dir sagen.“ Er beugte sich zu mir hinab. Mein Atme ging schneller als er mir näher kam. „Geh weg!“, wollte ich schreien, doch ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt. Ich wollte, dass er weg ging. Weg von mir, so weit weg wie möglich. Sein Gesicht war jetzt neben meinem, seine Lippen an meinem Ohr. Ich spürte seinen Atem, als er mir zu flüsterte: „Das Geheimnis ist: Du hast es nicht überlebt!“ Für einen Moment wurde mir schlecht. Was er da sagte, bedeutete, dass ich gestorben war. Das konnte nicht sein. Ich war nicht gestorben. Ich lebte. Er sagte nichts weiter. Lachte nur leise und gehässig und verliess dann den Raum. Die weisse Tür fiel leise ins Schloss als ich zu begriffen begann, wie gross das alles wirklich war. Ich wartete bis er das nächste Mal auftauchte. Ich konnte nicht einmal annähernd einschätzen, wie lange das dauerte. Aber als er dann die Tür wieder öffnete, war ich auf eine seltsame Weise glücklich. „Warum bin ich nicht tot?“ Das war im Moment das einzige, das ich wissen wollte. Ich hatte mich entschieden ihm zu glauben, für den Augenblick zumindest. Mir blieb nichts anderes übrig. Sonst würde ich hier durchdrehen. Er lächelte mich an, arrogant, abschätzig. „Weil du ein Phönix bist.“ Sofort flackerte das Bild eines roten Vogels mit flammenden Flügeln vor meinen Augen auf. Der Phönix. Der Feuervogel, der aus seiner eigenen Asche wieder aufersteht. „Was … ist das?“ „Menschen. Eigentlich. Es sind Menschen, die Magie besitzen. Nicht annähernd so viel wie andere Kreaturen sie einst besassen, aber dennoch genug. Und das besondere an ihnen ist, dass sie nicht-“ „Sie sterben nicht, nicht wahr?“, unterbrach ich ihn. Es war klar, auf was er hinaus wollte. Dass ich ein Monster war. Etwas unmenschliches. „Doch, sie sterben. Natürlich tun sie dass. Nichts natürliches stirbt nicht.“ Er sah mich mit so einem abschätzigen Blick an, dass es mich würgte, als ich fragte: „Aber, was...?“ „Phönixe sterben, aber sie können nicht tot sein. Ihrem Körper ist es unmöglich tot zu sein. Es geht nicht. Als Phönix stirbst du und dann, bevor du tot bist, lebst du wieder.“ Ich starrte ihn an. Was er da sagte, war … völlig irr. „Du glaubst mir nicht. Gut. Ich kann es dir beweisen.“ Er grinste böse. Dann schnellte seine Hand vor und bevor ich es überhaupt erfassen konnte, hatte er mir ein Messer in den Bauch gerammt. „Vielleicht solltest du es in Erwägung ziehen, mir von jetzt an besser zu zu hören und mir mehr zu glauben, findest du nicht? Du musst wissen, nur weil wir Phönixe nicht sterben, heisst das noch lange nicht, dass wir keine Schmerzen empfinden.“ Er drehte das Messer mit einem Ruck. Ich spuckte Blut. Mein Kopf war leer. Ich konnte nichts denken, mich auf nichts konzentrieren. Da war nur Schmerz. Überall Schmerz. Alles war Schmerz. Langsam zog er das Messer aus meinem Bauch. „Es wird nicht mehr lange dauern, keine Angst. Und wenn du wieder richtig denken kannst, dann, wenn die Schmerzen verschwinden, überlege dir, ob du mir endlich richtig zuhören willst. Denkst du nicht, dass es für uns beide Vorteile hätte?“ Ich verstand nur schlecht, was er mir sagte, geschweige denn begriff ich, von was er sprach. Da war nur Schmerz. Und dieses unendliche Gefühl der Ewigkeit. Kapitel 8: Truth ---------------- „Du lebst noch.“, war das erste das er sagte, als er den weissen Raum wieder betrat. Ich sagte nichts. Was hätte es schon genutzt? Ich wusste jetzt, dass er mich zumindest im Punkte Unsterblichkeit nicht angelogen hatte. Und er wusste das genau. „Willst du es jetzt zu Ende hören?“, fragte er. Seine Stimme klang freundlich, aber sein abschätziges Lächeln lag noch immer auf seinen Lippen. „Erzähl.“, sagte ich. Ich wusste nicht, was er mit mir vor hatte. Aber ich war mir sicher, dass er nicht log. Ich wollte es wissen. Alles. „Endlich hast du begriffen, wer hier wem zu zu hören hat.“ Er beugte sich zu mir hinab, legte mir seinen Zeigefinger unter das Kinn, so dass ich ihn anschauen musste. „Aber mein Wunsch wäre es jetzt noch, dass du mich anschauen würdest.“ Ich spuckte ihm ins Gesicht. Er nahm es gelassen, wischte sich die Spucke von der Wange, grinste und strich mit zwei Fingern über meinen Bauch. „Es scheint wieder alles geheilt zu sein.“ Mehr musste er nicht sagen. Sofort stieg in mir die Panik auf. Panik vor diesen Schmerzen, die das Sterben gewesen waren. Ich sah ihm in die Augen. „Ja ja, nur ein paar Worte und sogar ein kleiner Dickschädel wie du ist überzeugt.“ Und schon wieder machte er sich über mich lustig. „Wo waren wir? Ach ja, genau, wir haben dir bewiesen, dass du nicht sein tot kannst. Es hat schon seine Vorteile, wenn man nicht tot sein kann, nicht wahr? Du kannst alles tun, was du willst, ohne an Konsequenzen denken zu müssen. Aber das ist nicht das einzige, was Phönixe auszeichnet. Sie haben noch etwas ganz anderes. Sie besitzen Magie.“ „Magie, so wie Zauberkraft?“, fragte ich. Ich wollte nicht fragen, nicht neugierig wirken, aber ich konnte nicht anders. Ich musste es wissen. „Nicht ganz. Magie ist eine, für ungeübte Augen unsichtbare, Kugel um den Menschen der sie besitzt. Die Magie hat bei jedem eine andere Farbe. Meine ist schwarz.“ Das passt, dachte ich. Seine Magie war so schwarz wie die tiefsten Abgründe seiner hässlichen Seele. „Diese Magie kann man dann einsetzen wie man will, weiss man, wie man es anstellen muss. Willst du wissen, welche Farbe deine Magie hat?“ Er wusste, dass ich es wissen wollte. Und er grinste mich wieder arrogant an. „Sag es mir.“, sagte ich mit leiser Stimme. Ich hasste es, mich ihm so unter zu ordnen. „Sie hat noch keine Farbe. Weil du noch nicht ausgebildet bist. Aber du solltest dich ausbilden lassen. Denn weisst du, Magie kann gefährlich sein, hat man sie nicht unter Kontrolle. Gefährlich für dich und für dein Umfeld.“ „Wo?“, fragte ich. „Bei anderen Phönixen. Einige von ihnen sind sogar noch jünger als du und einzelne älter als 400 Jahre.“ Er wartete einen Moment, als wollte er mir Zeit lassen, nachzudenken. Dann fuhr er fort: „Deine kleine Freundin, die weisse Lilie. Weisst du, was die Phönixe früher mit Wesen wie sie eines ist, getan haben? Nein? Sie haben sie gefangen. Eingesperrt und nur frei gelassen, wenn sie gegen eine andere Spezies oder ein anderes Land Krieg führten. Die weissen Lilien, oder die 'Lichter des Herzens', wie man sie auch nannte, hatten damals immer solche Angst und Wut, dass sich das einfach gegen jeden richtete. So konnten die Phönixe einfach nur zusehen, wie die Lilien jeden einzelnen gegnerischen Soldaten hin streckten. So haben sie viele Schlachten gewonnen, denn sie waren die einzigen, die nicht tot waren nach der Berührung einer weissen Lilie. Doch auch die Lilien verloren zu grosser Zahl ihre Leben, da sie, im Gegensatz zu uns Phönixen, nicht unsterblich waren. Deswegen stellten die Phönixe künstlich neue Kriegswaffen her, in Form von Menschen. Was, denkst du, wird Sayuri tun, fände sie heraus, dass auch du eine der von ihr so verhassten Phönixe bist?“ Mir wurde schlecht, stellte ich mir ihre Reaktion vor. Sie war schon jetzt distanziert zu mir gewesen, wüsste sie das, würde sie mich vermutlich hassen. „Du weinst. Ich habe dieses menschliche Gefühl nie verstanden. Das, welches einen veranlasst zu weinen. Es ist sinnlos. Nur nervig.“ „Das ist es nicht.“, entgegnete ich leise, „Es ist nicht sinnlos. Es zeigt, dass dir ein Mensch wichtig ist. Dass es dich verletzt, wenn er weg ist, dass du ihn vermisst. Du kannst es nicht als nervig abstempeln, nur weil du es nicht verstehst. Es ist ganz und gar unmöglich dass du es verstehst, denn du hast genauso eine schwarze Seele wie deine Magie schwarz ist und lässt niemanden auch nur annähernd an dich heran. Keiner kann dir wichtig sein, weil du keinem wichtig bist. Und deshalb kannst du das Gefühl, das Bedürfnis zu weinen, zu schreien, nicht verstehen. Das wirst du nie, wenn-“ Seine Hand schnellte vor, klatschte in mein Gesicht. Mein Kopf flog zur Seite und einen Moment lang sah ich schwarz. Er pochte, als der Schmerz begann, sich in ihm auszubreiten. „Ich warne dich! Glaub nicht, nur weil du ein Phönix bist wie ich, dir so was heraus nehmen zu können. Vergiss nicht, dass du noch immer an diesem Stuhl hier gefesselt bist.“ Und damit verliess er den Raum ein drittes Mal. Und während er draussen war, fielen mir vor Müdigkeit, Verwirrung und der Erinnerung an den Schmerz die Augen zu. Ich träumte wild, farbig vor allem. Ich hatte, als ich aufwachte, keine Ahnung mehr, von wem ich geträumt hatte. Ich konnte mich lediglich an die stechenden Farben erinnern überall rund um mich herum. Und ich musste mich noch nicht mal fragen, was das zu bedeuten hatte, ich wusste es einfach. Die Farben stellten die Magie einzelner Leute dar. „Dein Bruder. Shin. Er hat dir nie etwas erzählt, obwohl es seine Pflicht gewesen wäre.“ Ich hatte nicht bemerkt, dass er im Raum gewesen war, als ich aufwachte, aber jetzt lief er um mich herum und blieb vor mir stehen. „Was meinst du damit?“ Ich ahnte schon, was kommen würde, aber ich hoffte noch immer, dass es nicht so war. „Er ist ein Phönix. Früher war er in unserer Organisation. Er lernte, wie er seine Magie kontrollieren und einsetzen konnte. Aber er war schon immer unzufrieden damit. Er meinte, er wolle ein richtiger Mensch sein. Ohne diese Fähigkeiten der Phönixe. Trotzdem, er war immer einer der Besten, schon mit vier Jahren, als er beitrat. Und als dann seine kleine Schwester geboren wurde, trat er aus. Er wollte sicher gehen dass es dir gut geht. Er hat seit dem Tag deiner Geburt nicht einmal Magie benutzt. Nur um dich nicht zu verraten. Er war bei deiner Geburt dabei, sah sofort deine Magie um dich herum. Wir alle spürten auch, dass ein neuer Phönix geboren worden war und suchten ihn. Doch wir fanden nichts, was bedeuten, dass jemand ihn beschützte, dich beschützte. In den ganzen 17 Jahren haben wir dich nicht gefunden und jetzt, per Zufall, stolpere ich über dich und eine Krähe, während ich die Lilie verfolge!“ Ich wollte fragen, was er mit der Krähe meinte, aber diesmal konnte ich schweigen. Zumindest das bisschen Würde wollte ich mir bewahren. „Aber Shin hat einen Fehler gemacht. Er hat dir nie etwas gesagt. Hätte er dir alles erzählt, wäre es für dich so viel einfacher gewesen. Du würdest jetzt nicht hier sitzen, könntest dir aussuchen, was du mit deiner Magie anstellen willst und dieses ganze Theater wäre gar nicht erst entstanden.“ „Sind meine Eltern...?“ Das war etwas, was ich wissen musste. „Nein. Das Phönix Gen ist nicht erblich. Es wird per Zufall entschieden, wer als Phönix geboren wird. Und dann wirst du deine Fähigkeiten dein ganzes, zugegeben, ziemlich langes Leben nicht mehr los. Ein Geschwisterpaar Phönixe ist beim Phönixgeschlecht etwa so selten wie Drillinge bei Menschen.“ Es gab mir zu denken, das, was er alles erzählt hatte. Aber überrascht hatte mich nichts mehr. Ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt und das Schlimmste war eingetreten. Später kam er dann erneut in den weissen Raum. „Du kannst jetzt gehen.“, sagte er und ich hatte einen Moment ehe ich begriff, was er damit meinte. „Was?“ Ich konnte nicht glauben, dass er das wirklich tun wollte. „Ja. Es wird langsam langweilig, mit dir. Du bist überhaupt nicht mehr überrascht oder geschockt. Und ich kann dich schlecht jeden Tag töten um dein schmerzverzerrtes Gesicht zu sehen...“ Ich spürte förmlich, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich, als er das sagte. „Ausserdem war es nur meine Pflicht, dir alles zu erzählen. Jetzt kannst du gehen.“ Mit diesen Worten ging er wieder aus dem Raum und im nächsten Moment stand ich vor unserem Haus. Ich verlor beinahe das Gleichgewicht; meine Fussgelenke schmerzten von den Fesseln. Mit zitternden Beinen ging ich zur Haustür, drückte die Türklinke mit ebenfalls schmerzenden Händen hinunter und betrat das Haus. Plötzlich wurde mir schwindlig. „Hisa!“ Yukio rief nach mir. Es machte mich glücklich, seine Stimme zu hören. Ich war wieder zurück. Kapitel 9: The last lie ----------------------- Als ich aufwachte war mein Shirt bis zu der Brust hinauf geschoben. Ich lag auf der Couch bei uns zu Hause und Yukio strich mit zwei Fingern über meinen Bauch. „Hey!“, rief ich und schlug seine Hand weg. „Tut mir Leid. Ich wollte nur nachsehen, ob irgendwelche Spuren zurück geblieben sind.“ Also wusste er es. „Es ist alles weg.“, flüsterte ich mit gesenktem Kopf und schob mein Shirt wieder zurecht. „Was hat er dir alles erzählt?“, fragte Yukio und sah mir in die Augen. Ich sagte es ihm. Alles jedes einzelne Wort, das Yuudai gesagt hatte. Und als ich ihm erzählte, wie er mich erstochen hatte, ballte er die Fäuste. „Schon gut!“, versuchte ich ihn zu besänftigen. Aber er sah mich nur an, als verstünde er nicht, wie man auch nur daran denken konnte, so was zu vergessen. Dann liess er mich zu Ende erzählen. „Und er hat dich wirklich einfach so gehen lassen?“ Yukio konzentrierte sich einen Moment und sagte dann: „Er ist nicht hier. Da stimmt was nicht!“ „Und wenn schon!“, warf ich ein, „Ich bin froh, dass ich wieder hier bin. Alles andere ist mir im Moment herzlich egal.“ „Du hast Recht.“ Er lächelte. „Tut mir Leid. Ich freue mich auch, dass du wieder da bist. Ich hatte Angst um dich!“ Und dann küsste er mich. Zuerst war ich überrascht, aber dann liess ich mich fallen. Der Kuss war sanft. Und mein Herz schlug wie verrückt dabei. „Hisa!“ Shins Stimme kam aus dem Flur und Yukio liess mich los. Ich starrte ihn an. Er wich meinem Blick aus. „Hisa!“ Diesmal klang er erleichtert, als er rein kam und meinen Namen ein zweites Mal rief. Ich stand auf, lief ihm entgegen und schlang meine Arme um ihn. „Wo ist Sayuri?“, fragte ich als wir uns los liessen. Beide antworteten mir zu erst nicht und sahen zu Boden. „Sie sagte, sie müsste was erledigen, nach dem sie erfahren hatte, dass Yuudai dich mitgenommen hatte. Seit dem haben wir sie beide nicht mehr gesehen.“, antwortete mir schliesslich Yukio. Am nächsten Morgen sass mein Bruder am Küchentisch mit einem Brief in der Hand. Ich ahnte schon, von wem er war. „Sie sagt, sie wird nicht wieder kommen und sie entschuldigt sich für alles.“ Er gab mir den Brief. Ich las ihn, es stand genau dass drin, was er gesagt hatte. Keine kitschigen Worte, nur zwei Sätze. Sie war verschwunden. Einfach gegangen. Weil sie sich die Schuld für alles gab. Wie hypnotisiert drehte ich mich um und lief in mein Zimmer. Ich bemerkte noch nicht mal, wie ich an Yukio vorbei ging. Ich setzte mich in meinem Zimmer auf den Boden, zog die Beine an und schlang die Arme darum. So sass ich da, wartete auf … ja, was eigentlich? Auf nichts wahrscheinlich. Sie hatte mich allein gelassen. Ich war ihr egal. Ich sass da, machte mir Vorwürfe. Bis es an der Tür klopfte. „Ich bin es, Yukio. Darf ich?“ Ich gab keine Antwort. Die Tür öffnete sich langsam, ich hörte es am leisen Quietschen, aber ich sah nicht auf. Erst, als er sich vor mich setzte, hob ich meinen Kopf ein wenig. „Was willst du?“, fragte ich. „Sie hat noch eine Nachricht hinterlassen. Sie sagt, sie wird jeden Tag eine Nachricht einwerfen um uns wissen zu lassen, dass es ihr gut geht. Und du sollst dir keine Sorgen machen.“ „Aber wenn sie das wirklich tun wird, dann könnte ich sie abfangen.“ Hoffnung keimte in mir auf. Ich wollte nicht, dass sie weg war. Dazu hatte ich sie in diesen letzten, unglaublichen Tagen viel zu lieb gewonnen. Viel lieber noch, als ich sie sowieso schon von den Briefen hatte. „Das ist wahr. Das könntest du wirklich tun. Aber denkst du nicht, dass Sayuri einen Grund hatte, zu gehen? Und wenn du ihr wirklich egal wärst, würde sie sich nicht die Mühe machen, dich beruhigen zu können, oder? Warum lässt du es nicht einfach so wie es ist. Vorübergehend zumindest?“ Was er sagte, gab mir zu denken. Er hatte recht. Ich war ihr nicht egal. Es schmerzte, aber ich wusste, dass ich sie in Ruhe lassen musste. Im Moment zumindest. „In Ordnung.“ Er legte mir den Arm um die Schultern, drückte mich an sich. Und es tat gut. Wirklich. Es half mir. „Was hältst du davon, wenn wir was zusammen machen? Um dich aufzuheitern?“, schlug er vor. Ich sah zu ihm auf. Lud er mich etwa ein? Zu einem Date? Mir fiel die Szene von gestern wieder ein. Als er mich geküsst hatte. „j- ja, von mir aus.“ Er stand auf, hielt mir seine Hand hin. Er lächelte glücklich. Vielleicht wollte er mich wirklich nur aufheitern. Nichts weiter. Fünf Minuten später liefen wir die Strasse entlang. Es war schon fast Nacht. Ich war den ganzen Tag in meinem Zimmer gehockt. Wir gingen etwas Essen und im Laufe des Abends schaffte er es, mich immer mehr abzulenken. Ich war ihm dankbar dafür, denn jetzt fühlte ich mich schon viel besser. Am nächsten Nachmittag gingen wir ins Kino und am Tag darauf schlenderten wir durch die Stadt. Er gab sich wirklich Mühe. Ich hatte mich bei ihm unter gehakt, ging dicht an seiner Seite und fragte mich unwillkürlich, ob wir wohl wie ein Paar wirkten. Ich wusste selbst nicht, ob wir eines waren, aber ich bemerkte, dass ich es mir wünschte. Ich wollte wirklich mit Yukio zusammen sein. Es war anders als mit Naoki. Bei ihm hatte ich einfach das Gefühlt gehabt, dass er anders war als die anderen, ich mochte ihn gerne, sehr sogar. Vielleicht liebte ich ihn sogar wirklich ein bisschen. Aber Yukio... Ich konnte mir schon beinahe nicht mehr vorstellen, was zu tun den ganzen Tag ohne ihn. Nach nur dieser kurzen Zeit, die ich mit ihm verbracht hatte. Die Sonne wurde plötzlich von dunklen Wolken verdeckt und es begann zu regnen. Wir stellten uns schnell unter ein Dach eines teuren Restaurants, von wo wir aber schnell weg gescheucht wurden. „Dort drüben, okay?“, fragte Yukio. Ich stand wie versteinert da, starrte auf die andere Strassenseite und sagte zu ihm: „Geh schon mal vor, ich muss noch was erledigen.“ Er gab mir zuerst keine Antwort, sah mich an. „Na gut.“, sagte er schliesslich, „Ich warte im Café auf dich.“, und ging davon. Schnell rannte ich über die Strasse, in eine Seitengasse. Ich wusste nicht, warum ich freiwillig zu ihm ging, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich es musste. Bevor ich nur etwas fragen konnte, hatte er mich auch schon an den Schultern gepackt und an die Wand gedrückt. „Yuudai.“ Sein Name liess noch immer einen Schauer über meinen Rücken laufen. „Ich hatte vergessen, dir etwas wichtiges zu erzählen.“, sagte er, sein überhebliches Grinsen auf den Lippen. Er kam näher an mich ran, bis sein Mund neben meinem Ohr war. „Yukio ist der am meisten unmenschlichste von uns allen.“, flüsterte er. Und dann war er weg. Ich war allein. Mehr denn je. Auch er hatte gelogen. Yukio. Die einzige Person, von der ich gedacht hatte, wäre noch ehrlich zu mir. Yukio. Mein Bruder hatte mir nie die Wahrheit gesagt, Sayuri war verschwunden, jetzt auch noch er. Yukio. Tränen rannen mir über die Wangen, meine Augen waren aufgerissen, als ich auf die Strasse rannte. Der Regen wurde langsam sanfter als ich durch die Stadt rannte. Keine Ahnung wo hin. Nur in die andere Richtung wie Yukio. Als ich stehen blieb, erkannte ich, zu meinem Erstaunen, tatsächlich meine Umgebung wieder. Ich war lange gerannt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich jetzt noch auskennen würde. Aber die Tür vor der ich stand, war mir sehr wohl bekannt. Ich klingelte. „Ich wollte mir dir sprechen.“, sagte ich, als die Tür auf ging. Kapitel 10: Home ---------------- Zen machte ein überraschtes Gesicht als er mich sah, sagte aber: „Klar, komm rein!“ Ich trat an ihm vorbei, ging ins Wohnzimmer, ohne dass er auch nur ein Wort gesagt hatte. „Also, was wolltest du sagen?“, fragte er mich als wir uns gegenüber sassen. Ich sah ihm fest in die Augen als ich ihm antwortete. „Ich liebe dich. Willst mit mir zusammen sein?“ Es waren zwei simple Sätze. Nicht schwer zu sagen, wenn man sie nicht wirklich ernst meinte. Ich wusste nicht ob er in meinen Augen die Lüge erkannte, oder die steife Sturheit, die mich im Moment vollkommen einnahm. Er brauchte einen Moment ehe er wirklich verstand, was ich gesagt hatte. Doch dann war sein Gesicht plötzlich voller Glück und er antwortete: „Natürlich! Ich dachte wirklich, du hättest mich ab serviert, vor ein paar Tagen!“ Ich fühlte mich schrecklich, dafür, dass ich ihn so benutzte. Aber ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. „Kann ich noch was fragen?“, fragte ich. Er nickte, wartete. „Könnte ich für die nächste Zeit … hier wohnen?“ Es war das, weswegen ich überhaupt erst gekommen war, aber ich fühlte mich sofort noch schlechter, als ich es gesagt hatte. „Klar!“, stimmte er sofort zu. Er war ein bisschen rot geworden, als ich gefragt hatte, aber er war sichtlich begeistert von der Idee, mit mir unter einem Dach zu wohnen. „Danke!“ Ich versuchte zu lächeln, und es echt aussehen zu lassen. Ob mir das gelang war die andere Frage, aber er schien es gar nicht zu bemerken. Ohne lange zu fackeln zeigte er mir das Gästezimmer. Es war das Zimmer neben seiner Schwester und dürftig eingerichtet. Aber es war mehr als genug für mich. „Sollen wir deine Sachen holen?“, fragte Zen. „Nein!“ Ich schrie beinahe. Ich wollte nicht dort hin. Ich konnte nicht. Er war sichtlich erstaunt, sagte dann aber: „Stress zu hause, hm?“ Ich gab ihm keine Antwort, nickte nur. „Na gut. Du kannst die alte Schuluniform meiner Schwester ausleihen, wenn du willst, zumindest für ein paar Tage.“ Die Schule. Natürlich. Ich war seit Tagen nicht mehr zur Schule gegangen, hatte noch nicht mal dran gedacht. Wie sollte ich das erklären? Ich glaubte kaum, dass meine Eltern mich decken würden und mein Bruder … er würde es auch nicht. Nicht nachdem ich heute einfach verschwunden war. „Danke.“, sagte ich. Ich war ihm dankbar. Einfach dafür, dass er keine Fragen stellte. Es einfach so hin nahm. Mich einfach so hin nahm. Ich schlief nicht gut in dieser Nacht. Immer wieder erinnerte ich mich an all die Lügen, all die Dinge, die mir so wichtige Menschen einfach verschwiegen hatten. Die ich alle von einem Fremden erfahren musste. Selbst im Traum verfolgte mich das alles. Am Morgen, auf dem Weg zur Schule, hielt Zen meine Hand als wir durch das Schultor gingen. Wir hatte keine sonderlich grosse Schule, weshalb auch jeder immer über jede Beziehung Bescheid weiss. Und so wurden wir die ganze Zeit angestarrt. Weil alle wussten, dass ich mich gerade erst von Naoki getrennt hatte. Ich wich ihren Blicken nicht aus, starrte stur nach vorne. Einmal drückte Zen meine Hand, wollte mir sagen, dass ich mir nichts daraus machen solle. Ich lächelte zu ihm hoch, dankend. Obwohl ich wusste, dass ich das nicht gebraucht hätte. Seine stumme Hilfe. Es wäre nicht nötig gewesen. Im Klassenzimmer setzte ich mich an meinen Platz und bis der Lehrer kam, sass Zen auch noch auf meiner Tischplatte und sprach mit mir. Zwei Sekunden nach dem er gegangen war, wusste ich schon nicht mehr, über was. Die ganze Stunde über spürte ich Blicke, von über all. Alle beobachteten mich. Und es war mir egal. Zwei Tage später ging es mir wieder ein wenig besser. Ich lachte wieder. Selten, aber ich tat es. Ich wusste nicht genau, ob ich lachte, damit Zen oder wer auch immer endlich zufrieden war, oder ob ich es tat, weil ich es wirklich wollte. Aber egal, aus welchem Grund, ich fühlte irgendwas dabei. Das war gut. Ich mochte auch Zen immer mehr. Er war anders als die anderen, die nie über den Status 'Freunde' hinaus gekommen waren. Ich war mir sicher, dass ich ihn nicht liebte, aber vielleicht würde es irgendwann soweit sein und ich konnte endlich wieder anfangen, mein Leben normal zu leben. Vielleicht würde Zen mir helfen können, zu vergessen. Zen und ich sassen in der Mensa, als ich Naoki eintreten sah. Er sah mich an, ich konnte seinen Blick nicht deuten. „Ich komme gleich wieder!“, sagte in diesem Moment Zen, stand auf und ging davon. Als er aus dem Raum war, sass sofort Naoki an seinen Platz. „Du bist also schon wieder vergeben?“, fragte er. „Offensichtlich.“ Ich wollte nicht mit ihm reden. Er gehörte zu meiner Vergangenheit. Wie alles, was vor Yukio und all dem passiert war. „Du liebst mich noch, stimmt's?“, fragte er gerade heraus. Er wirkte so anders als ich ihn in Erinnerung hatte, dass ich beinahe das Gefühl hatte, einer anderen Person gegenüber zu sitzen. „Nein.“ Ich konnte sogar ehrlich antworten. Ich liebte ihn nicht mehr. Ich liebte niemanden. „Bist du dir da sicher? Ich denke, du hast gelogen, als wir uns getrennt haben.“ „Und wenn schon.“ „Was hältst du davon, wenn du uns eine zweite Chance gibst und wir noch mal zusammen kommen?“ Er hatte ein so arrogantes Lächeln aufgesetzt, dass er mich für einen Moment an Yuudai erinnerte und ein so starkes Gefühl von Hass brodelte in mir auf, dass ich aufstand und ihm mitten ins Gesicht schlug. „Lass mich! Ich habe nichts mehr mit dir zu tun! Du gehörst zu meiner Vergangenheit! Also lass mich in Ruhe und verschwinde einfach aus meinem Leben!“ Ich schrie ihn an und es war mir egal dass das ganze Schulhaus zu hörte. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich wirklich ihn meinte, oder all diese anderen Dinge. Tränen standen mir in den Augen als der ganze Schmerz wieder zurück kehrte. „Hisa, beruhige dich.“ Zen stand hinter mir, nahm mich in den Arm und führte mich aus der Mensa, weg von dem perplexen Naoki. Auf dem Weg zu ihm nach Hause entschuldigte ich mich bei Zen. Die anderen würden jetzt auch nicht gerade gut von ihm denken. Ich war mitten im Sprechen, als ich stehen blieb. Ich wollte ihn nicht sehen. Verschwinde, schrie ich ihn in Gedanken an. Doch er blieb stehen, verschwand nicht. „Was ist los?“, fragte mich Zen, als ich nicht mehr weiter lief. Ich beachtete ihn nicht. „Was willst du? Ich komme nicht zurück! Ich will das nicht, verstehst du? Ich will das alles gar nicht!“ „Ich bin nicht gekommen um dich zurück zu bringen. Ich wollte nur deine Hilfe.“ Er sah so unendlich traurig aus. „Wer ist das?“ Zen sah verwirrt zwischen mir und Yukio hin und her. „Bitte!“ Yukio flehte. Er sah so zerstört aus. Ich wollte zu ihm hin, ihm helfen, weil, weil... ich ihn liebte. Ich konnte es nicht länger leugnen. Es war nun mal eine Tatsache. Und es war der Grund dafür, dass der Schmerz als ich herausgefunden hatte, dass auch er nicht ganz ehrlich gewesen war, nur noch um so grösser war. „Was ist hier los? Hisa?“ Zen stand hilflos da, wusste nicht, was er tun sollte. Er schüttelte mich. Ich reagierte nicht. Meine Augen waren auf Yukio gerichtet. „Was ist los?“, fragte jetzt auch ich, aber an Yukio gerichtet. Er sah auf seine Füsse und antwortete dann leise: „Sayuri schreibt nicht mehr. Wir können sie nicht finden.“ Eine riesige Angst machte sich in meiner Brust breit. Sayuri. „Warum?“, fragte ich hoffnungsvoll. Ich wusste, er würde mir keine Antwort darauf geben können und dennoch, vielleicht... Doch er schüttelte nur den Kopf. „Hisa! Hisa, bitte!“ Zen. Er schüttelte mich noch immer, auf eine Antwort hoffend. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Es tut mir Leid.“, flüsterte ich und ging an ihm vorbei auf Yukio zu. Ich rannte mit ihm zurück, zurück zu meinem zu Hause und ich fühlte endlich, dass ich nie irgendwo anders hatte sein wollen. Kapitel 11: Yukio ----------------- Es tat gut, neben Yukio durch die Stadt zu rennen. Ich fühlte mich ihm so nahe, und irgendwie frei. Bis es mir wieder einfiel. Ich blieb stehen, zog ihn an seiner Hand, sodass er stehen blieb. „Was ist los?“, fragte er und drehte sich zu mir um. „Was … bist du?“ fragte ich. Ich sah ihm in die Augen und hoffte, er sah, dass ich keinen Schritt tun würde bevor ich es nicht wusste. Er war einen Moment still, überlegte, trennte seinen Blick aber nicht von meinem. Dann drehte er sich wieder um, zog an meiner Hand und führte mich in eine dunkle Seitenstrassen, einige Male um Ecken, dann blieb er stehen. Es war eng, so tief im Gassenlabyrinth, von dem ich noch nicht mal gewusst hatte, dass es existiert. Auf beiden Seiten standen Rückwände von Häusern, beide jedoch ohne Fenster. „Also, ich verlange eine Erklärung. Versuch nicht, dich raus zu reden oder mir irgendeine beschissene Geschichte auf zu drücken. Ich weiss, dass du nicht vollkommen menschlich bist. Yuudai hat das erzählt.“, stellte ich klar. Ich war mir selbst nicht sicher, warum ich das mit Yuudai hinzugefügt hatte. Yukio grinste nur hochmütig. „Ach so, du glaubst als einem Idioten wie Yuudai?“ „Ja, da mir ja sonst niemand die Wahrheit erzählt!“, schnappte ich. Er hatte einen gequälten Ausdruck auf dem Gesicht. „Das stimmt nicht.“, sagte er plötzlich, den Kopf gesenkt. Ich wusste nicht, auf was ich das beziehen sollte. „Was?“ „Es stimmt nicht, dass ich nicht vollkommen menschlich bin.“ „Ich glaube dir nicht.“, sagte ich sofort. Obwohl ich mich fragte, ob er vielleicht doch ehrlich war und Yuudai mir nur etwas hatte einreden wollen. „Es stimmt nicht, dass ich nicht vollkommen menschlich bin.“, wiederholte er, „Ich bin … überhaupt nicht menschlich.“ Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Was?“, wisperte ich, „Nicht … menschlich?“ Wie konnte das sein? „Ich zeig es dir. Du wolltest es wissen.“ Er trat einen Schritt zurück und es verging einen Moment ohne dass einer von uns etwas sagte. Plötzlich hörte ich ein flatterndes Geräusch und hob den Kopf. Nicht weit über uns schwebte die weisse Krähe. Auf einmal kam mir der Gedanke, dass ich sie immer gesehen hatte, während dieser Tage, sogar als ich wieder in die Schule gegangen war. Aber ich hatte sie nie bewusst wahr genommen. Und dann erschlaffte Yukios Körper und er rutschte an der Wand entlang nach unten. Sein Kopf war auf seine Brust gesunken, die Augen geschlossen. „Yukio!“, schrie ich, ging vor ihm auf die Knie. Da flog mir die Krähe vor das Gesicht, sah mir in die Augen. Ich hatte einen Moment ehe ich begriff. „Yukio?“, diesmal war es eine Frage. Die Krähe nickte, so sah es für mich zumindest aus. Entweder ich verstand jetzt endlich, was mit Yukio los war, oder ich wurde verrückt. Langsam bewegte ich meine Hände auf die Krähe zu, wollte sie zu fassen bekommen. Doch dann flog sie plötzlich weg, im selben Moment, in dem Yukio die Augen öffnete, mich mit ernstem Blick ansah. „Was war das?“, fragte ich nach einer Weile. „Ich kann meine Seele in den Körper der Krähe schicken.“, erklärte er. Obwohl ich daraus auch nicht wirklich schlau wurde. Anscheinend sah er mir das an, denn er fuhr fort: „Ich wurde von euch Phönixen erschaffen. Als Waffe, weil die weissen Lilien immer öfter starben und sehr selten wurden. Sie haben all ihre Kenntnisse in solche wie mich verwendet. Wir sind unsterblich, können nicht verletzt werden und besitzen etwa das dreifache an Magie als ein überdurchschnittlicher Phönix.“ Er unterbrach sich, sah mich an. Das, was er erzählt hatte, stimmte genau mit dem überein, was Yuudai gesagt hatte. Also war Yukio einer derjenigen, die solche wie Sayuri ersetzt hatten. „Ich bin nicht menschlich, das habe ich dir ja schon gesagt. Sie haben uns Gefühle wie Menschen gegeben, ihr Aussehen. Aber das macht niemanden zum Menschen. Unser Intellekt und unsere Gehirnfunktionen übersteigen die eines Menschen oder eines Phönix um ein Vielfaches. Sie haben uns so erschaffen, dass unsere Seele nicht fest im Körper verankert ist, wie es bei Menschen und auch bei Phönixen normalerweise der Fall ist. Wie weiss ich nicht, aber sie schufen eine Bindung mit uns und jeweils einer Krähe und deshalb kann ich meine Seele in die Krähe schicken und eine gewisse Zeit in ihr leben.“ „Die Seele der Krähe, was ist damit?“, fragte ich. Keine Ahnung warum es mich so interessierte. „Die bleibt im Körper der Krähe. Wir teilen dann quasi einen Körper.“, erklärte er. „Warum sind es Krähen?“ Theoretisch gesehen hätte man auch eine Fisch nehmen können. „Weil die Krähen unter den Tieren mit dem grössten Intellekt die skrupellosesten und kleinsten sind.“ „Aber wenn du doch von Phönixen geschaffen wurdest um ihnen zu dienen, warum tust du es nicht? Also ich meine, warum musst du nicht?“ „Du weisst, dass es nicht mehr viele Phönixe gibt. Sie wurden grössten Teils vernichtet. Von Krähen, wie sie uns nennen. Sie hatten uns mit so viel Magie und was weiss ich noch alles voll gestopft, dass wir sie ohne Probleme besiegen konnten. Sie hatten uns einen eigenen Willen gegeben, weil es ohne nicht funktioniert hätte, das war ihr Fehler. Wir löschten sie aus. Aber genauso wie die Lilien, sind auch die Phönixe etwas Natürliches. Sie werden geboren, und deshalb gibt es jetzt noch einige auf der Welt.“ „Dann … bist du … schon so alt?“ „Ja, obwohl ich es nicht mehr genau weiss, so lange ist es her. Deine Fragen sind alle völlig unzusammenhängend, süss!“ Er lächelte mich an. Ich musste mich eine Weile sammeln, dann hob ich den Kopf, lächelte zu ihm zurück. „Lass uns gehen!“ Ich hatte die Wahrheit wissen wollen, wirklich. Aber ich hatte nicht geahnt, dass es so heftig sein würde. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mir Yukio nicht unmenschlich vorstellen. Als eine … Kreatur oder so was. Es ging nicht. Als wir durch die Haustür gingen, kam mir mein Bruder entgegen, umarmte mich. Ich konnte es nicht erwidern, wartete, bis er mich los liess. Ich liebte ihn, das konnte ich nicht leugnen, wollte ich auch gar nicht. Aber wir mussten zuerst mit einander sprechen und alles klären. Wahrscheinlich hatte er meine Steifheit mitbekommen, aber er sagte nichts. Wir gingen ins Wohnzimmer, setzten uns hin. „Wo suchen wir zuerst?“, fragte ich. „Der Plan war, dass wir uns aufteilen.“, sagte Shin. „Na gut. Wer geht wo hin?“, fragte ich weiter. „Ich suche mit dem Auto und Yukio...“, fing Shin an, hielt dann aber inne, um Yukio einen fragenden Blick zu zu werfen. Yukio lächelte nur und beendete dann, an mich gerichtet, Shins Satz: „...und ich werde als Krähe suchen.“ Mir entging auch dieser Blick nicht, den Shin Yukio zu warf, ungläubig. Yukio nickte nur. „Dann suche ich in-“ „Nein.“, unterbrach mich mein Bruder, „Du musst auf Yukios Körper aufpassen. Auch wenn er nicht sterben kann. Jeder Regel kennt eine Ausnahme. Und in seinem Fall ist es sein seelenloser Körper. Diesen kann man nämlich töten. Und dann stirbt auch seine Seele.“ Ich sah Yukio an. „Warum hast du mir das nicht gesagt?“ „Weil ich nicht wollte, dass du dir Sorgen machst.“, erklärte er mit einem schwachen, schuldbewussten Lächeln. Und ich konnte nicht anders als ihm Recht zu geben. Ich machte mir Sorgen. Ich nahm es ihm nicht übel. „Na gut.“, gab ich mich geschlagen, „Dann bleib ich hier.“ „Kannst du mir sagen, wo Sayuri gern war? Irgendwas, was sie erwähnt hat oder so?“ „Nein, sorry … obwohl, sie war oft in der Bibliothek. Aber ansonsten weiss ich echt nichts.“ Ich hätte gern mehr geholfen. Aber sie hatte nie wirklich über sich gesprochen. „Gut, dann fange ich dort an. Bis später!“, verabschiedete sich Shin. „Nein, warte!“ Da war noch etwas, was ich ihn unbedingt fragen wollte. „Weiss Sayuri das alles? Alles, was ich weiss?“, fragte ich. Es war Yukio, der mir die Antwort gab. „Nein. Sie weiss nur von ihren eigenen Fähigkeiten. Ansonsten hat sie keine Ahnung.“ „Ach so.“, flüsterte ich. Es war einen kurzen Moment still, doch dann verliess mein Bruder das Haus um nach ihr zu suchen. Auch Yukio legte sich aufs Sofa und einen Augenblick später waren seine Augen geschlossen und draussen kreischte eine Krähe. Ich wartete, Stunden. Aber keiner meldete sich bei mir. Ich sass die meiste Zeit bei Yukio. Gerade hatte ich mir etwas zu trinken geholt, setzte mich wieder neben ihn. Er war so schön. Ich fuhr mit meinen Fingern über sein Gesicht, so sanft ich konnte. Ich ging mit meinem Gesicht näher an seines ran, um alles genau betrachten zu können. Und plötzlich lagen meine Lippen an seinen. Seine Hand an meinem Hinterkopf drückte mich zu ihm hin. Nach dem ersten Schreck genoss ich es. Es tat gut. Ich liebte ihn. Ich liebte ihn wirklich. Handyklingeln unterbrach uns. Ich griff in meine Hosentasche, nahm an, noch hoch rot. „Ja?“ „Hisa? Hisa, ich bin es, Sayuri! Hilf mir! Hilf mir, bitte! Hisa, hilf mir! Ich bin bei der Kir-“ Beep, beep. Kapitel 12: Under the church ---------------------------- „Sayuri! Sayuri!“ Ich schrie in mein Handy, doch mir antwortete nur ein monotones beep, beep. „Was ist los? Was ist mit Sayuri?“, fragte Yukio alarmiert. Ich gab ihm keine Antwort, stattdessen stand ich auf, schnappte mir meine Jacke und rannte aus dem Haus, die Strasse entlang. In wenigen Sekunden hatte Yukio aufgeholt und rannte neben mir. „Wo ist sie?“, fragte er. „Bei der Kirche wahrscheinlich. Sie konnte nicht zu Ende sprechen, aber ich bin mir ziemlich sicher.“ Wir rannten den ganzen Weg, doch es erschien mir überhaupt nicht anstrengend. Ich konnte nichts anderes tun, als die ganze Zeit über Sayuris Anruf nach zu denken. Warum hatte sie nicht früher angerufen, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte? Wenn sie doch so grosse Angst hatte? Ich verstand es nicht. Als wir ankamen stiessen wir sofort die grossen Kirchentüren auf und traten ein. Aber Sayuri war nicht da. Ein alter Mann sass auf einem der Bänke und ein Paar betete auf dem Boden hockend, sonst war keiner in der Kirche. Wir verschwendeten nicht mehr Zeit und gingen wieder hinaus. Wir rannten um das Gebäude herum, Seite an Seite, bis ich plötzlich allein war und Yukio von hinten rief: „Warte mal Hisa! Ich glaube, ich habe es gefunden!“ sofort drehte ich mich um, rannte zu ihm zurück. Und tatsächlich, im Boden war eine Falltür eingebaut. Ich hatte sie zuerst nicht entdeckt, weil sie von Erde und Steinen beinahe perfekt versteckt war. Eine Holztreppe führte senkrecht nach unten. Wir kletterten eine lange Zeit und als wir unten ankamen, mussten wir noch eine ganze Weile Gängen entlang gehen, bis wir endlich auf eine Tür stiessen. Ohne zu zögern stiess ich sie auf. Und da sass sie. Sayuri. Sie sass am Boden zusammen gekauert da. Zitterte, am ganzen Leib. Ich wollte zu ihr hin, um sie zu umarmen, aber sie schrie: „Nein! Komm nicht näher!“ und ich erinnerte mich wieder daran, dass ich sie ja nicht berühren konnte, ohne zu sterben. Also blieb ich einige Schritte von ihr entfernt stehen und fragte sanft: „Was ist los?“ „Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid!“, schluchzte sie, während sich ihre Hände in ihr Kleid verkrampften. „Was? Was tut dir Leid?“ „Es tut mir Leid!“, wiederholte sie sich. „Tstststs. Es ist doch immer wieder schön, alte Freunde wieder zu finden, nicht wahr, kleine Hisa?“ Ich erkannte die Stimme sofort. Yuudai. „Was willst du hier?“, fragte ich in den Schatten auf der anderen Seite des Raumes. „Was ich hier will? Naja, weisst du, es ist mehr so, dass ich euch eingeladen habe, als dass ich euch hier aufgelauert habe, also ist die Frage doch eher ein bisschen beleidigend, findest du nicht?“ Er trat aus dem Schatten, sein hässliches Grinsen auf den Lippen wie an dem Tag, an dem er mich erstochen hatte. Und dann sickerte die Bedeutung seiner Worte in mein Bewusstsein. „Sayuri?“, fragte ich mit leiser Stimme. „Es tut mir Leid!“, schluchzte sie und diesmal verstand ich sogar warum. Sie hatte uns verraten. Yukios Hand war plötzlich um meine und er zog mich mit. Doch ich rannte schon freiwillig, war sogar ein bisschen schneller als er. Bis ich gegen etwas stiess. Es war, als wäre ich in eine Wand gerannt. Und es schmerzte auch genauso. Ich sah auf, doch da war nichts. Langsam streckte ich meine Hand aus. Und tatsächlich, sie traf auf Widerstand. Dort war eine Wand, aber eine unsichtbare. „Was hast du getan?“, schrie ich Yuudai an. „Hast du ernsthaft geglaubt, ich würde euch einfach wieder gehen lassen, jetzt, wo ihr mich endlich besuchen kommt?“ Er lachte „Natürlich nicht! Ich habe einen Bannkreis geschaffen. Keiner kommt hier raus, ohne dass ich es will.“ Er lachte wieder. Ein gehässiges Lachen. „Ein Bannkreis kann nur von der Person gebrochen werden, die ihn geschaffen hat, oder von jemandem, der nicht darin gefangen ist.“, erklärte mir Yukio. „Verdammt!“, fluchte ich durch meine Zähne hin durch und schlug mit meinen Fäusten gegen die unsichtbare Wand. „Hilfe! Ist da niemand?! Wir brauchen Hilfe!“, schrie ich. „Das hat keinen Zweck. Erstens ist ein Bannkreis schalldicht und zweitens ist hier sowieso niemand.“ Ich sah Hilfe suchend in Yukios Richtung, doch der schüttelte nur den Kopf und sagte: „Er hat Recht.“ „Weisst du“, begann Yuudai seelenruhig, „alles, was ich will, bist eigentlich nur du. Wenn du also freiwillig mit kommst, könnte ich deine Freunde freilassen. Was hältst du davon?“ „Warum sollte ich?!“, schrie ich ihn sofort wieder an. Ich fühlte mich so nutzlos. So machtlos. Ich wollte etwas tun, irgendetwas, doch ich konnte es nicht. „Na, versteh doch. Deine Freundin hier hat zwar eine herausragend nützliche Gabe, doch auch sie ist nur ein Mensch und braucht daher Wasser, Nahrung, Luft.“ Er grinste böse „Und das alles ist nur knapp hier drinnen vorhanden.“ Ich sah in Sayuris Richtung. „Seit wann hast du nichts mehr getrunken?“, fragte ich. Jetzt, da ich richtig hin sah, konnte ich deutlich die Abmagerung ihres sowieso schon dünnen Körpers erkennen. „Oh, sie ist schon eine ganze Weile bei mir.“, sagte Yuudai ganz beiläufig. „Nein!“ Ich konnte mir nicht sicher sein, aber von Yuudais Worten her und der Verfassung von Sayuri konnte ich mir ausrechnen, dass es bald drei Tage sein würden. „Sie weiss noch nicht mal was hier los ist! Also lass sie gehen! Sie hat nichts damit zu tun, dass-“ „Natürlich hat sie etwas damit zu tun. Sie ist einer der wenigen weissen Lilien, deren Standpunkt ich kenne. Und noch dazu ist hier direkt vor meiner Nase. Und sie war diejenige, die mich gesucht und gebeten hat, dich in Ruhe zu lassen. Sie hat gesagt, sie würde mit mir kommen, würde ich mich nicht mehr um dich kümmern. Ich habe dieses Angebot natürlich sofort angenommen und ihr dann gesagt, sie soll dich anrufen.“ „Das würde sie nie tun, wenn sie freiwillig mit dir mit gegangen ist.“, widersprach Yukio. „Ich habe ihr einfach gesagt, sie soll sich absichern, dass es dir gut ginge. Sonst könnte sie mir bis alle Ewigkeit vorhalten, dass sie sich nicht sicher sein könnte, dass es dir gut geht. Irgend so was habe ich ihr, glaube ich, er erzählt. Ich ballte die Fäuste, biss meine Zähne wütend zusammen. Doch am Ende gab es keine andere Lösung. Ich entspannte meine Hände, atmete tief durch und ging in Yuudais Richtung. Sobald Yukio bemerkt hatte, was ich tat, schrie er nach mir und rannte mir nach. Auch ich begann zu rennen. Ich musste zu Yuudai kommen, bevor Yukio mich erwischte. Sayuri würde sterben, hätte ich das nicht getan. Obwohl sie uns betrogen hatte, mochte ich sie noch immer genauso sehr. Und trotz allem wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass Yukio mich erreichen könnte und mich beschützte. Yuudais Hände waren die ersten, die mich berührten. Ich hielt die Tränen zurück als er mit mir aus der Tür ging, aus der er wahrscheinlich gekommen war. Yukios Stimme blieb hinter uns zurück. Ganz plötzlich nahm ich Yuudais Hand. Es war, als hätte ich das Bedürfnis dazu und zur selben Zeit wollte ich es auch wieder nicht. Ich wollte ihn berühren und schreckte gleichzeitig davor zurück. Er führte mich in ein Zimmer, dass höchst wahrscheinlich seines war. „Eine weise Entscheidung, die du da gefällt hast.“, sagte er, „Du wirst erst mal hier wohnen, bis du ein eigenes Zimmer bekommst. Denn ab heute bist du Mitglied der Organisation der Phönixe.“ Und in dem Moment konnte ich mich nicht mehr zurück halten. Ich wusste keine Gründe mehr, warum ich ihn verabscheuen sollte, obwohl diese Abscheu da war, und ich konnte mir gleichzeitig nicht mehr vorstellen, wie ich ihn je hatte verabscheuen können. In diesem Augenblick war alles was ich wollte er. Ich drückte ihn auf das Bett, sass auf ihn drauf. „Wow! Der Fluch hat echt gut gewirkt!“, sagte er zu sich selbst und dann zu mir: „Du kannst jetzt aufhören!“ „Ich verstehe dich nicht.“, sagte ich und begann, sein Hemd auf zu knöpfen. „Stopp!“, schrie eine Stimme. Ich hörte nicht auf sie, knöpfte stattdessen meine eigen Bluse auf. Da packten mich zwei Hände um die Taille und hoben mich von Yuudai herunter. Ich wollte das nicht. Ich wollte zurück zu ihm. Aber gleichzeitig war ich den beiden Händen verdammt dankbar. Ich wehrte mich, kratzte Yukio mit meinen Fingernägeln, biss ihn, aber er liess mich nicht los. Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich mich so sehr dagegen wehrte. Aber da war etwas, das mich mit Yuudai verband. Ich wollte zu Yuudai, aber er ekelte mich im selben Gedanken an. Kapitel 13: Decision -------------------- Etwas berührte mich auf der Brust und im nächsten Moment waren alle positiven Gefühle für Yuudai verschwunden. Ich drehte mich um und liess mich von Yukio umarmen. „Danke!“, flüsterte ich. „Ich denke, ich sollte hier einiges aufklären!“, unterbrach eine tiefe, heisere Stimme. Ich bemerkte einen Mann mit einem Stock in der Tür stehen. „Hör zu und unterbrich mich nicht!“, befahl er, „Er hat dich verflucht. Darum warst du kurzzeitig so angezogen von Yuudai. Ich habe den Fluch gelöst.“ Ich hatte, trotz meiner Überraschung, eine riesen Rede erwartet, nach dem er mir, so von sich selbst überzeugt, befohlen hatte, ruhig zu sein und ihm zu zu hören. Mir entging nicht, wie abschätzig er von Yukio sprach. Er musste ein Phönix sein. Und er musste mehr wissen. „Kann ich … etwas fragen?“ „Mach nur!“, sagte er, ein wenig ungeduldig sogar. Wobei mir in diesem Moment auffiel, dass es unmöglich so ruhig sein konnte. Yuudais Stimme fehlte, er hätte sicher schon lange irgendwas zum ganzen gesagt. Und dann entdeckte ich Yuudai auf seinem Bett liegen, bewusstlos. Es musste der alte Mann gewesen sein, Yukio hatte mich ja die ganze Zeit festgehalten. Ein seltsamer alter Mann. „Was ist denn nun?“, jetzt war er eindeutig ungeduldig. „Also, Yuudai erzählte mir, dass Phönixe nicht sterbe könnten, aber Yukio hat gesagt, dass sie einmal ausgelöscht worden waren. Wie ist das möglich?“ „Ganz einfach. Yuudai hat gelogen. Phönixe können sterben. Durch Erfrierung. Eiswasser, begraben in Schnee und so 'n Zeug. Und Phönixe können sterben durch Magie. Entweder die eines anderen oder die eigenen.“ „Die eigene?“ „Genau. Wenn du deine Magie immer benutzt, wird sie irgendwann aufgebraucht sein und dann stirbst du wie ein Mensch ohne Luft. Benutzt du deine Magie aber nie, staut sie sich auf und droht dich zu ersticken. Auch dann stirbst du. In beiden Fällen wir dein Körper zu Asche, die durch die Welt fliegt. Dadurch werden übrigens auch neue Phönixe geboren. Gelangt die Asche eines Phönix in Berührung mit der Haut einer schwangeren Frau, wird ihr Kind als Phönix geboren.“ Er erzählt das wie ein Biologielehrer irgendein Pflanzenwachstum oder so was. „Deshalb sind Geschwister so etwas seltenes.“, murmelte ich vor mich hin. „Genau.“, antwortete er abwesend, während er sich in der Nase bohrte. Seltsamer und ekliger alter Mann. „Aber willst doch noch etwas wissen.“, bemerkte er dann, „Spuck's aus, sonst verschwinde ich bevor du fragen kannst.“ „Also ich... wollte wissen, wann meine Magie ihre Farbe bekommt.“, fragte ich kleinlaut. Ich wunderte mich ehrlich, warum ich mich diesem seltsamen und ekligen alten Mann so unter ordnete. „Was für eine überaus dumme Frage. Natürlich hat deine Magie bereits eine Farbe. Woher hast du diesen Schwachsinn?!“, antwortete er mit abschätzigem Blick. „Yuudai hat gesagt, meine Magie sei noch nicht ausgebildet und deshalb sei noch keine Farbe zu erkennen.“ „Deine Magie ist weiss.“ Es war zu meinem Erstaunen Yukio, der mir antwortete, „Das reinste Weiss, das ich je gesehen habe.“ Er lächelte mich an und ich lächelte dankbar zurück. „Die Krähe hat Recht. Deine Magie ist weiss wie eine weisse Lilie oder die Krähenform deines kleinen Freundes hier.“, bestätigte der Alte. Ich musste beinahe lachen, wegen der Ironie in seinen Worten, denn der Alte war aller höchstens halb so gross wie Yukio. „Du musst dich entscheiden.“, sagte der Alte plötzlich. „Entscheiden?“ „Du musst dich entscheiden, ob du der Organisation beitrittst oder nicht. Trittst du bei mit unseren Regeln leben. Ob du mit ihnen einverstanden bist oder nicht. Du wirst bei uns deine Augen trainieren, deine Magie kennen, verstehen und nutzen lernen und kämpfen. Es gibt vieles, was es zu lernen gibt. Dementsprechend wirst du viel Zeit hier unten verbringen. Trittst du uns nicht bei, gilt für dich nur eine Regel. Du darfst deine Magie niemals benutzen.“ Ich hatte mich schon entschieden. Es ist doch wohl völlig offensichtlich, was ich wählen würde. Doch dann sagte er noch etwas, das mich nachdenken liess. „Vergiss aber nicht. Trittst du nicht bei, kannst du deine Magie nicht anwenden. Du wirst also früher oder später sterben.“ Er hatte Recht. Nachdem, was er vorher erzählt hatte, bedeutete das nicht anwenden der Magie den Tod des Phönixes. Ich schluckte. Ich sah Yukio in die Augen, nach einer Antwort suchend. „Du musst das selbst entscheiden. Aber ich bleibe bei dir. Versprochen. Egal, wie du dich entscheidest.“, sagte er leise. In diesem Moment drängten sich zwei Männer an uns vorbei. Sie sprachen kein Wort als sie Yuudai hoch hoben und das Zimmer wieder verliessen. „Was war das?“ Ich wusste nicht, wie ich anders hätte fragen können. „Er wird bestraft. Weil er unsere Regeln missachtet hat.“, antwortete er einfach. „Wie? Wie wird es bestraft?“ Ich hatte das Gefühl, es war wichtig, das zu wissen. „Er wird begraben. In Schnee.“ „Was bitte ist das für eine Bestrafung? Ich meine, er ist ein Phönix. Das sollte ihm doch nichts ausmachen, oder?“, fragte ich. „Sag mal, bist du wirklich so dumm, oder tust du nur so?“, fragte er arrogant und mit einer Augenbraue hoch gezogen, „Achtest du dich überhaupt nicht auf die Warnungen deines Körpers?!“ Jetzt fühlte ich mich echt dumm. Zumal ich noch nicht mal verstand, was genau er mir sagen wollte. Wäre ich in irgendeinem Manga, hätte ich jetzt wahrscheinlich einige duzend Fragezeichen über meinem Kopf schweben. „Dein Körper wird schwach, wenn es kalt ist. Du hast das Gefühl, deine Kräfte werden dir ausgesaugt, du wirst müde, bist oft krank und das alles. Du kannst mir nicht erzählen, dass dir das alles noch gar nie aufgefallen ist.“, warf er mir ungläubig vor. „Klar ist mir das aufgefallen. Aber was hat das damit zu tun?“ „Das einzig Natürliche, das uns töten kann, ist die Kälte. Das habe ich dir doch vorhin gesagt. Wirft man einen Phönix ins Eiswasser ist er in weniger als einer Minute tot. Genauso, wenn man ihn in Schnee begräbt. Jetzt verstanden?“ Ja, ich hatte verstanden. Sie würden Yuudai töten. „Was für ein Verbrechen hat er denn genau begangen?“ Es seltsam, ihn jetzt plötzlich zu verteidigen. Aber der Tod? Das war eindeutig übertrieben. „Er hat eine Regel gebrochen. Die Regel lautet: Kein Phönix darf gezwungen werden, der Organisation beizutreten. Hätten wir jemanden unfreiwillig hier, könnte dieser jemand beginnen, uns von innen heraus zu vernichten. Hier gibt es keine anderen Strafen ausser den Tod.“ Das war ganz offensichtlich sein letztes Wort dazu, denn er verliess mit den Worten „Ich erwarte deine Antwort.“ das Zimmer. Nach einer Weile gingen auch Yukio und ich. Draussen fanden wir, zu meiner Überraschung Shin und Sayuri im Gang stehend. Sie umarmten sich, küssten sich. Und als ob das nicht schon Neuigkeiten genug gewesen wären, erinnerte ich mich in diesem Moment an Sayuris Fluch. Ich konnte, und wollte, mir gar nicht erst vorstellen, wie schmerzvoll es für Shin sein musste. Wie viele Tode er starb. Aber ich wollte mich nicht einmischen. Die zwei sahen glücklich aus. Sie hatten es verdient. Wir vier liefen zusammen nach Hause. Ich hielt Yukios Hand. Weder Shin noch Sayuri fragten mich, was der Alte mit erzählt hatte, doch noch am selben Abend erklärten Yukio, ich und Shin Sayuri alles über die Phönixe. Das meiste an Sprechen übernahmen Shin und Yukio. Ich war still, sagte selten etwas, dachte nach. Ich hatte eine Entscheidung zu fällen. Und ich würde sie fällen. Noch heute Nacht. Epilog: Funeral --------------- AUS SAYURIS SICHT: Sie alle stehen da. Warten darauf, dass es zu Ende geht und sie wieder gehen können. Sie haben es nicht verdient, hier zu sein. Ich weine nicht, nicht ein einziges Mal, während ich seine Hand halte, um die Kraft dazu zu bekommen. Hätte ich ihn nicht, hielte ich das hier nicht aus. Ich habe ihn geheiratet, zwei Jahre nach dem dieses ganze Chaos gewesen ist. Shin. Ich weiss nicht, was ich getan hätte, wäre er damals nicht da gewesen. An dem Tag, an dem ich Hisa, Yukio und ihn betrogen habe, ist er es gewesen, der mich in den Arm genommen hat, mir geholfen hat. Und ich habe ihn verletzt. Weil ich ihn liebte. Er hat nie etwas gesagt, bis heute nicht. Doch ich weiss auch so, dass ich ihn gerade jetzt, in diesem Moment, noch mal umbrachte. Als mir alles erklärt wurde, begriff ich endlich, was für Fehler ich gemacht hatte, bis zu diesem Zeitpunkt. Was passiert ist, war meine Schuld, und ich wusste das schon damals. Und ich konnte dennoch nie etwas gut machen. Nicht ansatzweise. Jetzt stehen wir hier. Neben all diesen Fremden, die vorgeben, ihre Familie zu sein, sich um sie zu sorgen. Ich hasse sie dafür. Wir sind ihre Familie. Wir allein. Sie hat das selbst gesagt. Auch sie hat geheiratet. Zur selben Zeit wie wir. Es war eine Doppelhochzeit. Ich lächle bei dem Gedanken. Es ist eine der schönsten Erinnerungen, die ich habe. Ich wünschte nur, sie wäre noch hier um sie mit mir zu teilen. Die Entscheidung, die sie getroffen hat. Ich kann mich noch genau erinnern, als sie es am Morgen ganz plötzlich gesagt hat. Wir alle wussten, was das bedeutete, und keiner von uns hat irgendwas dazu gesagt, aber wir alle blieben bei ihr. Es war uns allen klar, dass das irgendwann passieren würde, unausweichlich. Und dennoch, wir zerbrachen, als es wirklich eintrat. Ich höre den Gesang des Pfarrers; er singt, um sie zu geleiten, auf ihrer Reise. Einige Münder bewegen sich dazu. Doch wir wissen, dass es keine Reise für sie gibt. Sie bringen den Sarg, getragen von vier Männern. Alle starren ihn an. Aber nicht des Sargs oder ihretwegen. Sondern wegen der schneeweissen Krähe, die darauf hockt, den Kopf gesenkt, still, wartend. Es erstaunt mich nicht, dass er in dieser Form kommt. Es ist mir klar gewesen. Mir, sowie Shin. Als der Sarg in die Erde gesenkt wird, erhebt sich die Krähe und flattert auf den Grabstein. Alle Blicke folgen ihr, keiner denkt mehr an die Tote, nur Shin und ich. Unsere Blicke wenden sich nicht von dem Sarg ab, auch wenn wir beide wissen, dass er leer ist. Auch die Krähe sieht hinunter in das Grab. Dann, Schaufel für Schaufel, wird sie begraben. Ganz langsam. Jeder verabschiedet sich ein letztes Mal. Wir nicht. Wir haben uns schon verabschiedet. Das hier ist nur noch das endgültige für alle anderen. Während immer mehr Erde auf dem Sarg zu liegen kommt, bewegt sich die Krähe nicht. Nur eine einzelne Träne entwischt ihrem Auge. Und wieder richten sich alle Blicke auf die Krähe. Sie fragen sich, wie sie weiss sein kann, wie sie weinen kann. Doch die Krähe scheint sie gar nicht erst wahr zu nehmen. Sie starrt in das Grab, wie eine Statue hockt sie da. Und dann, ganz plötzlich, erhebt sie sich in die Luft und fliegt in Richtung des angrenzenden Parks davon. Sie steuert auf einen Baum zu, in dessen Schatten ein Mann sitzt, schlafend, anscheinend. Ich weiss, wir werden ihn eine lange Zeit nicht sehen, aber ich hoffe inständig, dass es ihm bald möglich sein wird, zu uns zurück zu kehren. Auch wir drehen uns um, als die Krähe sich auf die Schulter des Mannes setzt und weitere, bittere Tränen weint. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)