Vertrauen und Verrat von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 15: Des Vaters Vermächtnis ---------------------------------- Die Schnauze des Wolfes kam mir immer näher. Er schnupperte an der Stelle, an der sich der Anhänger meiner Kette befand. Ich schluckte. Jetzt war meine letzte Chance. Mit vor Angst zitternder Stimme rief ich den Namen meines besten Freundes. „Kian!“ Mein bester Freund zuckte zusammen, bevor er sofort in meine Richtung sah und seine Augen weit aufriss. Er ging einen Schritt nach vorn. Olivia packte ihn an der Schulter und schaute ihn ernst an. „Lass es. Das ist gegen die Regeln.“, sagte sie streng, doch ihrem Gesicht konnte man ablesen, dass sie ihn gar nicht aufhalten wollte. Sie hätte wahrscheinlich schon längst eingegriffen, dürfte sie es. „Ich habe es dir schon einmal gesagt.“, zischte Kian mehr als nur wütend. „Diese bescheuerten Regeln sind mir scheißegal und ich denke nicht einmal im Traum daran, sie einzuhalten. Ich werde mich nie wieder unterordnen, weder irgendwelchen dummen Gesetzen noch meinem Großvater. Nicht jetzt und auch nicht irgendwann in der Zukunft! Ich lebe mein Leben so wie ich es will und lasse mir von niemandem mehr Vorschriften machen!“ Mit diesen Worten riss sich Kian von seiner Cousine los. Er beugte sich leicht nach vorn, bevor sein Körper die Form veränderte, die eines großen braunen Wolfes annahm. Ich sah, wie Dean und Alice erschrocken zurückwichen. Aber im selben Augenblick wie Kian seine Gestalt änderte, rannte er auch schon in meine Richtung. Er sprang auf den schwarzen Wolf zu und riss diesen von mir herunter. Die beiden Wölfe landeten einige Meter neben mir im Gras, standen sich gegenüber und knurrten gefährlich. Sie liefen im Kreis, als warteten sie darauf, dass einer von ihnen nachgab oder eine Schwachstelle zeigte. Nur mit Mühe gelang es mir, mich wieder aufzusetzen. Die Schmerzen in meiner linken Schulter hinderten mich daran, den ihr zugehörigen Arm zu nutzen. Zum Aufstehen reichte meine Kraft nicht mehr, weshalb ich einfach sitzen blieb, die beiden inzwischen kämpfenden Wölfe beobachtend, hoffend dass Kian nicht verletzt wurde. Gerade sprang der schwarze Wolf auf meinen besten Freund zu und warf ihn zu Boden. Doch Kian blieb nicht liegen. Er sprang sofort wieder auf und schnappte nach dem schwarzen Wolf, der aber einfach auswich, fast als hätte er schon vorher gewusst, was Kian vorhatte. Und nicht nur das: Der schwarze Wolf holte sogar zum Gegenschlag aus. Kian gelang es nicht mehr, rechtzeitig auszuweichen und die Zähne seines Gegners schlugen sich in eines seiner Vorderbeine. Doch im selben Augenblick fanden seine auch den Weg zu dem schwarzen Wolf. Diesmal konnte dieser nicht ausweichen und musste ebenfalls einen Treffer einstecken. Ich sah zurück zum Haus, wollte wissen, was die anderen taten. Alice hatte sich ihre Hände auf den Mund geschlagen und Tränen liefen über ihr kreidebleiches und inzwischen ganz verheult aussehendes Gesicht. Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Dean hatte es auch nicht viel besser erwischt. Auch sein Gesicht hatte schon lange keine gesunde Gesichtsfarbe mehr und er starrte geschockt und mit weit aufgerissenen Augen zwischen mir und den zwei kämpfenden Wölfen hin und her. Aber auch Maria White war schockiert, aber sie verkraftete das Ganze ein wenig besser. Und Olivia? Sie hatte ihre Probleme damit, die beiden grauen Wölfe davon abzuhalten, in die Nähe des Hauses zu kommen. Noch war sie in ihrer menschlichen Gestalt, aber das konnte sich jeden Augenblick ändern. Mein Blick wanderte wieder zu meinem besten Freund. Er und sein Gegner standen sich wieder wütend knurrend gegenüber und liefen langsam aufeinander zu, doch dann plötzlich hörte der schwarze Wolf auf zu knurren und legte sich direkt vor Kian auf den Boden. Im selben Augenblick verstummte auch Kian. Noch immer kampfbereit musterte er seinen Gegner, der - wie es schien - aufgegeben hatte, als warte er auf irgendetwas. Dann wendete Kian ganz langsam seinen Blick von dem schwarzen Wolf ab und lief auf mich zu. Direkt vor mir stoppte Kian, er war jetzt ein ganzes Stück größer als ich in meiner sitzenden Position, und schaute mich aus seinen braunen Augen heraus an, bevor er winselte und mit seiner Schnauze gegen meine unverletzte Schulter stupste. Zu meiner Überraschung hatte ich keine Angst mehr vor ihm, nicht das kleinste bisschen. Er war einfach nur noch Kian, mein bester Freund, und das obwohl er immer noch in seiner Wolfsgestalt war. Ich lächelte schwach und fuhr ihm mir meiner rechten Hand mehrfach über den Kopf. Im selben Augenblick wie ich das tat, bereute ich, dass ich das noch nicht früher getan hatte. Kians Fell war ganz weich und warm, völlig anders als ich erwartet hatte. Zuerst strich ich meinem besten Freund nur ein paar Mal durch das weiche Fell, dann zog ich ihn noch ein Stück näher an mich heran und knuddelte ihn einfach, was sich mit nur einem Arm als etwas kompliziert herausstellte. Kian knurrte zwar kurz, weil ihm mein Einfall scheinbar nicht so besonders gut gefiel, ließ es sich aber widerstandslos gefallen. Der schwarze Wolf, gegen den Kian gekämpft hatte, nahm die Form eines Mannes mittleren Alters an, mit schwarzem Haar und einem Bart. Die Narbe über einem der immer noch leuchtend gelben Augen blieb. Kian tat es ihm gleich und verwandelte sich ebenfalls wieder zurück, bevor er sich aus meinem Griff befreite und mich mit einem wütenden Blick, für die Aktion eben, strafte. „Seit wann bin ich dein persönliches Kuscheltier?“, fragte er leicht gereizt, „Ich kann mich nämlich nicht daran erinnern.“ Ich grinste ihn nur an. „Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt!“ Mein bester Freund seufzte und ich wusste, er hatte eben nachgegeben. Erst jetzt bemerkte ich, dass er verletzt war. Sein Körper wies viele Schrammen und andere kleine Wunden auf und sein einer Arm blutete so stark, dass sich sein weißes Hemd, eigentlich gehörte es mir, an dieser Stelle dunkelrot verfärbt hatte. Doch das war mir egal. Kians Gesundheit war mir wichtiger wie irgendein dummer Fetzen Stoff! Der Mann, der eigentlich ein Wolf war, kam auf Kian zugelaufen. „Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.“, sagte er und schaute zwischen mir und meinem besten Freund hin und her, dass ich mir nicht sicher war, mit wem von uns beiden er sprach. Dann lächelte der Mann plötzlich. „Nun ja, eigentlich könnte ich das ja zu euch beiden sagen… Um ehrlich zu sein, habe ich nicht erwartet, auch nur einen von euch noch einmal lebend anzutreffen, nach den Ereignissen vor sechs Jahren, und erst recht nicht gemeinsam.“ Diese Worte verwirrten mich. Kian und ich, wir sollten tot sein? Das verstand ich nicht. Doch bevor ich nachfragen konnte, sprach der Mann auch schon weiter, diesmal aber richtete er seine Worte direkt an mich. „Ich schätze, du weißt nicht, wer ich bin.“ Diese Worte machten mich wütend. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, bevor ich den Mörder meiner Mutter wütend anstarrte. „Als ob ich das wieder vergessen könnte!“, zischte ich. Für einen Augenblick vergaß ich über meine Wut sogar die Schmerzen in meiner linken Schulter und stand auf, was ein heftiges Pochen an der verletzten Stelle auslöste. Ich stöhnte kurz vor Schmerz, bevor ich spürte, wie ich von jemandem gestützt wurde. Als ich näher hinsah, erkannte ich, dass es Kian war, der mich erschrocken anschaute. „Geht es?“, fragte er besorgt. Ich nickte nur und befreite mich aus seinem Griff, doch kaum hatte ich das getan, setzte zu allem Übel auch noch ein leichtes Schwindelgefühl ein und ich geriet heftig ins Schwanken. Kian fing mich auf. „Von wegen es geht! Du kannst ja nicht einmal ohne Hilfe stehen!“ Der Mann seufzte. „Wie ich sehe, hat dein Vater seine Dummheit an dich vererbt, Kian.“ Mein bester Freund starrte zu Boden. „Du nennst es also dumm, wenn ich mit einem Menschen befreundet bin?“, fragte er. Der Mann nickte. „Früher oder später werden die Menschen dich verraten.“ „Du weißt genau, dass ich nicht mehr zurück zum Rudel kann.“, flüsterte Kian verletzt, „Also: Was soll ich dann tun? Wohin soll ich gehen? Für mich ist in dieser Welt kein Platz!“ „Ich weiß.“, antwortete der Mann, „Aber ausgerechnet der Sohn von Jack Stone? Konntest du dir nicht einen anderen Freund suchen? Einen ungefährlicheren?“ Kian schüttelte schwach seinen Kopf. „Alec ist mein bester Freund.“ Man brauchte nicht besonders intelligent zu sein, um herauszufinden, dass sich Kian und der Mann irgendwoher kannten. Und allem Anschein nach hatte der Mann auch Kians Vater gekannt, sehr gut sogar. Vielleicht waren sie Freunde gewesen… „Willst du es nicht wissen?“, fragte er Mann, „Was vor sechs Jahren wirklich geschehen ist? Der Tod deiner Eltern war kein Zufall. Es war Mord. Eiskalt geplanter Mord. Und weißt du auch, wer dahinter steckte?“ Ich spürte, wie Kian erstarrte. „M- Mord sagst du?“ Der Mann griff in seine Hosentasche und zog einen zerknitterten und schmutzigen Briefumschlag heraus. „Den hat dein Vater mir geschrieben, einen Tag vor seinem Tod.“ Zögerlich nahm Kian das Stück Papier entgegen. Dann sah er zurück zu dem Mann. Dieser deutete gerade auf Maria White. „Weißt du, wer diese Frau ist?“ Erneut schüttelte Kian seinen Kopf. „Ich weiß nur, dass ich sie schon einmal getroffen habe.“ „Sie ist die jüngere Schwester deiner Mutter.“ Kian schluckte. Seine Hände zitterten, als er vorsichtig in die Richtung der Frau sah. Sie, Dean, Alice und Olivia standen nur zwei Meter von uns entfernt und hatten somit wahrscheinlich das gesamte Gespräch mitbekommen. Die beiden grauen Wölfe waren inzwischen verschwunden. Jedenfalls konnte ich sie nirgendwo mehr sehen… „U- unmöglich!“, stotterte mein bester Freund, „D- das kann nicht sein!“ Wortlos verschwand die Frau in dem Haus und kam einige Minuten später mit einer kleinen Holztruhe zurück, die sie Kian wortlos hinhielt. „Ich glaube, den Brief brauchst du jetzt nicht mehr.“, sagte der Mann und nahm das Stück Papier zurück, damit Kian die Truhe entgegennehmen konnte. Das tat er auch. Vorsichtig öffnete er das quaderförmige Stück Holz und sah hinein. Im Inneren der Truhe befanden sich ein Brief und ein Ring, der mich irgendwie an meine Kette erinnerte. Kian setzte mich auf den Boden, bevor er sich neben mich kniete und nach dem Ring griff. „Das ist der Verlobungsring deiner Mutter.“, erklärte der Mann. Mein bester Freund legte das silbern glänzende Stück Metall wieder zurück und nahm den Brief heraus, welchen er auch gleich las. Besser gesagt, er versuchte es, doch schon nach einigen Minuten gab er auf. Mit einem bittenden Gesichtsausdruck hielt er ihn mir schließlich vor das Gesicht. „Kannst du das bitte vorlesen, Alec?“ Zuerst verwirrte mich diese Forderung, doch schnell verstand ich, wieso mich Kian darum bat. „Du kannst es nicht lesen, oder?“, stellte ich monoton fest. Kian nickte und starrte auf den Boden. „Ich glaube, ich habe verlernt, wie das funktioniert.“ „Bist du sicher, dass ich den Brief vorlesen soll?“, fragte ich, „Es geht mich ja eigentlich nichts an und ich weiß nicht, ob du es danach nicht bereuen wirst.“ Zu meiner Überraschung schüttelte Kian seinen Kopf. „Ich würde dir danach eh sagen, was in dem Brief steht, also kannst du ihn auch gleich lesen.“ Ich nickte und entfaltete das Stück Papier, bevor ich begann, laut und deutlich dessen Inhalt vorzulesen: „Mein geliebter Sohn Kian, da du diesen Brief liest, sind ich und deine Mutter wahrscheinlich tot. Es tut mir Leid, dass ich dir vieles nicht mehr persönlich sagen konnte, aber dazu fehlte mir einfach die Zeit. Bitte verzeih mir das. Ich weiß nicht, wie viel Zeit seit unserem Tod vergangen ist. Sicher bist du längst erwachsen und lebst dein eigenes Leben. Hast du noch Kontakt zu deinen Freunden? Alec scheint dir besonders wichtig zu sein. Ihr beide seid schon seit vier Jahren unzertrennlich und ich freue mich, dass du einen so guten Freund gefunden hast. Aber das ich nicht der wahre Grund, warum ich dir diesen Brief schreibe. Ich habe lange überlegt, wie ich es dir am besten beibringen soll und am Ende hat mir die Zeit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Verraten und verkauft. Ich kann es immer noch nicht fassen. Mein eigener Vater hat uns an den Feind verraten. So sehr sehnt er sich nach Macht, dass er selbst mich dafür aus dem Weg räumen lässt. Die ganze Zeit redet er davon, wie sehr er doch die Menschen hasst, und was tut er hinter dem Rücken des Rudels? Er gibt einem Forscher alle Daten über mich, woraufhin dieser beschließt, dass er uns auslöschen müsse. Und dieser Forscher ist kein anderer als der Vater deines besten Freundes: Jack Stone. Ich schreibe dir das nicht, damit du uns rächst oder ihn bis an dein Lebensende hasst. Im Gegenteil: Ich würde mich sogar freuen, wenn es dir gelingen würde, dich mit seiner Familie auszusprechen und ihr Frieden schließen könntet. Der wahre Grund dieses Briefes ist: Nachdem ich tot bin und mein Vater das zu Verantworten hat, ist er nicht mehr länger berechtigt, der Anführer des Rudels zu sein. Das bedeutet er wird verstoßen und dieser Posten geht an den nächsten männlichen Nachkommen. Und das bist du. Triff die richtigen Entscheidungen und führe das Rudel weise. Lass dich nicht durch die Regeln einschränken. Du kannst sie jederzeit ändern. Du hast die Macht dazu. Nutze sie klug. Und mach mir und deiner Mutter keine Schande, dein Vater.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)