Ewiges Eis von Melenya (- Für die der Regen weint) ================================================================================ „Ich verstehe dich nicht! Wie kannst du nur?!“ Ich laufe aus dem Haus. Draußen liegt noch eine weiße Röhre der Bauarbeiter. Wozu sie gebraucht wird, weiß ich nicht. Es ist mir auch einerlei. Ich setze mich kurz hinein, schlinge die Arme um meine Beine und schließe die Augen. DOch ich kann nicht lange so verharren, meine Mutter kommt und spricht mit meinem Vater. Ich muss hier weg. Es regnet, doch das ist mir egal. Meine Füße tragen mich weiter, aus dem Dorf, hinaus in den Wald. Erst auf einer Lichtung bleibe ich stehen und schließe erschöpft die Augen. Das kühle Nass prasselt auf mein Gesicht, meine Kleidung ist völlig durchnässt, doch ist es mir egal. Ich lasse mich auf die Knie fallen und grabe meine Hände in das weiche Moos. Warum denken Erwachsene immer, sie könnten einfach machen, was sie wollen? Uns reden sie ständig ein, wir sollen auf andere Rücksicht nehmen, und selbst kommen sie nicht einmal auf den Gedanken, dass sie so etwas in Erwägung ziehen könnten. Warum denken sie, sie können erst eine Familie auseinander reißen und sie dann wieder – einfach so – zusammensetzen? Ohne Erklärung? Ohne ein Wort zu uns? Meine Schwestern kommen damit besser klar, als ich selbst. Sie sind noch zu jung, um es wirklich zu verstehen. Ich lege den Kopf auf die Erde und verharre so, still und starr. Eine einsame Gestalt im Regen. Als meine Mutter gegangen ist, musste ich die Große sein, die sich um ihre Geschwister kümmert. Sie ist einfach gegangen. An einem Nachmittag, nach der Schule, bat mein Vater mich, kurz mit ihm zu sprechen. Die Angst, etwas angestellt zu haben, wurde bald von einem Kloß in meiner Kehle abgelöst. “Deine Mutter ist gegangen. Sie meint, sie könne so nicht mehr weiterleben. Es reiche ihr nicht, sie brauche mehr“, sagte er und ich sah die Tränen in seinen Augen, die er mühsam zurückzudrängen versuchte. //Schon wieder? Das hat sie doch erst vor eineinhalb Jahren abgezogen! Was soll das? Sie ist keine achtzehn mehr! Sie ist verheiratet und hat Kinder! Das ist kein Spiel! Warum tut sie so etwas? Kann sie sich nicht entscheiden? Jetzt reicht’s!’// ich wurde wütend, wütend und traurig. So viel bedeuteten wir ihr also. Gar nichts. Nicht genug. Mein Vater sprach weiter. „Ich habe ihr gesagt, dass ich diesmal nicht gehe. Wenn sie so denkt, soll sie gehen, habe ich ihr gesagt.“ Ich nickte. Dass er diesmal nicht ging, fand ich nur richtig. Letztes Mal hatte es genauso begonnen. Meine Mutter hatte ihm gesagt, es ginge so nicht weiter. Dann war er nach Hamburg gezogen. Sie hatten sich aber wieder zusammengetan, weil sie einander doch noch liebten. Und jetzt war das Ganze von vorn losgegangen. Ich umarmte ihn und er fing in meinen Armen zu weinen an. Doch ich konnte dies nicht. Die Tränen, die in mir waren, konnten nicht aufsteigen, sie blieben verschlossen, irgendwo tief in mir. Ich biss mir auf die Lippen und strich ihm immer wieder über den Rücken, unsere Rollen waren für einen Augenblick vertauscht, er war das hilflose Kind und ich die Erwachsene, die beteuerte, dass alles gut werde und dass wir es auch so schaffen würden. Ich Närrin. Natürlich hätten wir es schaffen können. Doch nun ist sie wiedergekommen. Es ist kaum eine Woche her, seit sie meinte, es ginge nicht mehr und jetzt ist sie wieder eingezogen. Seit gestern Abend. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Wie kann er uns allen das antun? Wie kann er ihr noch vertrauen? Als ich ihn heute Morgen fragte, ob sie jetzt etwa wieder hier wohne, meinte er, ja, das tue sie. Ich konnte spüren, wie sich zwischen meinen Augenbrauen eine steile Falte bildete. “Wie lange“, hatte ich gefragt, “wie lange, bis sie wieder abhaut? Wie lange, bis sie wieder dein Herz bricht? Wie lange, bis sie einen Neuen findet, den sie verarschen kann?“, hatte ich zornig und fassungslos gefragt. Er antwortete jedoch nur, dass ich sie das selbst fragen könne. Kopfschüttelnd wich ich vor ihm zurück. “Ich verstehe dich nicht! Wie kannst du nur?“, meine Stimme brach beinahe. Dann wandte ich mich um und lief fort. Das Moos unter meinen Füßen wird nasser und nasser, ich knie im Regen und lausche dem sanften Prasseln, dem leisen Rauschen, dem traurigen Glucksen des Wassers. Und auch wenn so viel Wasser und so viel Traurigkeit in mir und um mich herum ist, vermag ich es dennoch nicht, zu weinen. Ich bleibe weiterhin kalt, muss das Leben wohl hinnehmen, wie es ist. Doch werde ich es nicht zulassen, dass mein Herz, meine Seele noch einmal so verletzt wird. Sie soll abkühlen, vereisen. Niemals wird wieder jemand an sie herankommen. Ich habe sie verschlossen und den Schlüssel zerstört. Erst wenn jemand die Einzelteile des Schlüssels finden und sie zusammenfügen kann, erst dann werde ich wieder weinen. Bis dahin wird es der Regen für mich tun. Ich blicke in den Himmel. Dunkle Wolken bedecken ihn. Es wird noch lange Regen geben. Ich lege mich auf den Rücken und lasse ihn auf mein Gesicht niederfallen. Beruhigend. Er lässt einen vergessen. Ich will so gern alles einfach nicht mehr in mir tragen. Einfach nichts mehr wissen, von dem, was mich bedrückt, was mich so wütend und traurig macht. Die Lichtung füllt sich mit Wasser. Ich liege inmitten einer tiefen Senke. Das Wasser steigt und steigt. Als es meine Lippen berührt, merke ich, dass es salzig schmeckt. Es sind ungeweinte Tränen. Weiter steigt das Wasser, bis es mich vollkommen umgibt. Ich kann die Oberfläche nicht mehr erreichen, versuche es auch nicht. Ich sehe überall neben mir im Wasser plötzlich schemenhafte Gestalten, weibliche und männliche Personen, meist jung, doch einige sind auch schon sehr alt. Sie alle haben kalte Gesichter und blicken ins Nichts. Man kann sie sehen und sie berühren, doch ihre Herzen und Seelen sind vor der Welt verschlossen. Sie sind wie ich. Der Regen weint für jene, die es nicht vermögen. Doch wir sind nicht allein. Andere nennen uns seelenlos, kalt und unnahbar, doch wir sind nur eines: verletzt und einsam. Wer unsere Schlüssel findet und zusammensetzt, der findet in uns eine größere Liebe und Freude, als er sich jemals auszumalen gewagt hat. Wir stecken voller Empfindungen, doch sie sind verborgen, nur eine einzige Person kann uns öffnen. Für jeden ist es eine andere. Wer ihr niemals begegnet, muss ewig im Schatten seiner selbst leben. Ewig im Regen stehen und nicht weinen können. Ewiges Eis im Inneren tragen. Ich öffne meine Augen. Langsam stehe ich auf und reihe mich ein, in den traurigen Tanz der Einsamen, der Verletzten, derer, für die der Regen weint… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)