Die Welt geht nicht unter von Lingo (- aber ich.) ================================================================================ Prolog: Von wegen chancenlos! ----------------------------- «…Ich möchte euch also bitten, nun alle für einen Moment die Augen zu schließen und an unsere geliebte Mitschülerin zu denken.», beendete die Direktorin ihre Rede, kurz bevor sie ihren Kopf senkte und ihrer eigenen Anweisung folgte. Ihre Hände hatte sie, das Mikrophon umklammernd, auf Bauchhöhe gehalten und sah alles in allem so ruhig aus, dass es die anderen anzustecken schien. Da zeigte sich ihr Studiengang in Psychologie doch wieder einmal… Sie wusste eigentlich immer, wie sie sich zu verhalten hatte – so auch jetzt, wo es sonst keiner tat. Viele der um mich herum Versammelten befolgten ihre Bitte schweigend und machten sich scheinbar Gedanken über sie. Worüber sie wirklich nachdachten, konnte allerdings keiner sagen. Vermutlich taten viele von ihnen nur auf eine heuchlerische Weise so, als ob sie an Bree dachten, während sie ihre Gedanken an das heutige Fernsehprogramm und ähnlich wichtige Dinge verschwendeten. Sie hatten sie womöglich nicht einmal alle gekannt. Ich weigerte mich, da mitzumachen, schloss nicht einmal die Augen, sondern besah meine Mitschüler, die um mich herum versammelt standen – die Blicke zu Boden gesenkt. Bree war schon seit mehreren Wochen verschwunden und wir hatten keinerlei Informationen, wohin sie gegangen war. Die Polizei war nicht nur informiert, sondern völlig involviert; sie hatten Suchtrupps nach ihr losgeschickt, es gab Vermisstenanzeigen und in unserer Nachbarschaft hatten sich einige unserer Nachbarn zusammengerafft, um sich gemeinsam auf die Suche zu machen – aber es war zwecklos. Meine Freundin war spurlos verschwunden, von einem Tag auf den anderen, und die Suche war nun so weit fehlgeschlagen, dass unsere Direktorin Dr. Lacy – auf diesen Doktortitel bestand sie – unser heutiges Treffen für „überaus notwendig erachtet“ hatte und sich die gesamte Schule hier hatte versammeln müssen. Seufzend verdrehte ich die Augen und wandte mich von der Bühne, auf der Dr. Lacy stand, ab, um die Aula zu verlassen. Die Blicke der anderen, die sich verwirrt vom Boden lösten und zu mir schnellten, ignorierte ich dabei völlig. Es wunderte mich nicht, dass sie es mitbekommen hatten, wie ich mitten in der Schweigeminute durch die Schlange lief, aber sie hatten mir doch nichts zu sagen. Schon gar nichts von wegen: «Das gehört sich so nicht – wir trauern gemeinsam.», «Mach das doch nicht.» oder gar «Vermisst du deine beste Freundin so wenig, dass du nicht mal an sie denken willst?». Tatsächlich war ich das nun schon oft genug gefragt worden. Dabei hatte ich mich unseren hirnverbrannten – wie ich sie seit Neuestem fand – Nachbarn angeschlossen und die halbe Stadt mit Vermisstenmeldungen tapeziert, wenn nicht sogar die gesamte. Das würdigten sie natürlich mit keinem Blick, immerhin hatte es bisher auch nichts geholfen. Ich konnte vielen der anderen ansehen, dass sie es mittlerweile aufgegeben hatten. Für sie war Bree vermutlich unwiderruflich tot. Wie konnten sie so etwas auch nur glauben! Ich war mir sicher, dass irgendetwas mit ihr passiert war, aber doch nichts Tödliches, das konnte nicht sein – Nein. Auch wenn es eine Tatsache war, dass es in letzter Zeit in und um meiner Heimatstadt, Seattle, was dies betraf, fürchterlich zugegangen war, musste man doch nicht immer gleich das Schlimmste vermuten. Auch wenn es mehr Vermisste und Tote als in den letzten 50 Jahren gegeben hatte und die Chance bestand, dass sich Bree einfach in diese Gruppe von Tatopfern eingereiht hatte, tat ich diesen Gedanken ab. Trotzig marschierte ich den gepflasterten Weg zu den Parkplätzen hinunter und ließ mich auf eine niedrige Mauer fallen. Keiner hinderte mich daran. Sie wussten, wie nah ich Bree immer schon gestanden hatte und „zeigten völliges Verständnis“ für Trotzreaktionen meinerseits. Ich wartete nur noch darauf, dass sie mich zum Schulpsychologen schickten. Sollten sie doch alle glauben, Bree sei tot. Ich würde es nicht und ich würde die Suche auch sicher nicht beenden, ehe ich sie wieder gefunden hatte; ehe ich sicher wusste, dass es ihr gut ging. Immerhin war Bree immer so gewesen, dass sie sich öfters etwas von anderen hatte sagen lassen; eine gewisse Führung hatte sie immer freudig entgegengenommen. Wenn sie jetzt ganz allein war, niemanden hatte, würde sie sich bestimmt jemanden wünschen, der ihr half. Verflucht, was machte ich hier überhaupt? Zu sitzen brachte nichts, rein gar nichts! Es half auch nichts, ein Treffen für die gesamte Schülerschaft in Gang zu setzen oder Predigten zu halten, dass dies alles nicht passiert wäre, würde man die polizeiliche Aktivität zu Zeiten wie diesen verstärken. All die Reden, auf die die Erwachsenen in letzter Zeit gekommen waren, halfen nichts. Vor allem, weil Bree nicht tot war. Sie war es nicht. Die Ausgewachsenen meiner Art wollten das nur nicht einsehen. Es machte mich wütend. Wütend auf mich, weil ich so unausstehlich und nutzlos geworden war, und wütend auf all die anderen, die es wagten, die Suche so einfach aufzugeben. Bree an den Nagel zu hängen. Von wegen die Hoffnung stirbt zuletzt; sie war hier doch schon sehr früh untergegangen! Jeder einzelne der anderen schien sich von den Abendnachrichten, die mittlerweile jeglichen Kriminalroman an Blutrünstigkeit übertrafen, beeinflussen zu lassen und jeder einzelne schob die Schuld für Brees vermeintlichen Tod auch noch ihren Eltern zu; da sie sich für ihr Kind immer schon viel mehr Zeit hätten nehmen müssen. Schwachsinn. Ich musste etwas tun, irgendetwas. Ehe ich wirklich wusste, was in mich gefahren war, hatte ich auch schon mein Fahrrad aus dem Ständer der Schule gehoben, das Schloss geöffnet und bretterte aus der Stadt hinaus. In meiner Schultasche hatte ich Geld, Essen, Trinken und ein Handy – einer Suche außerhalb der Stadt stand nichts entgegen. Ich musste es einfach versuchen. Wie konnte man auch nur erwarten, dass ich meine Freundin so schnell alleine ließ? Außerdem könnte ich nun wohl Ewigkeiten darauf warten, dass mir jemand der Erwachsenen bei meiner Suche half; am Ende landete ich doch sicher bei einem Hirnklempner. Selbst ihre Eltern waren mittlerweile niedergeschlagene, beinahe emotionslose Wesen, die sich langsam aber sicher der Apathie hingaben. Zwar klopften sie mir, wann immer sie mich sahen, aufmunternd auf die Schulter, aber ich konnte bis auf dieses aufmunternde Lächeln ihrerseits nichts erwarten. Man nahm mich nicht ernst, ich wurde nur bemitleidet. Es war schon lange an der Zeit, dass ich das alles selbst in die Hand nahm. Und das würde ich nun - verdammt noch einmal - tun! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)