Die Welt geht nicht unter von Lingo (- aber ich.) ================================================================================ Kapitel 1: Wutanfälle gefährden Leben. -------------------------------------- Kraftvoll stieß ich in die Pedale, um so schnell zu fahren, wie es mir möglich war. Jedoch war ich so spät losgefahren, dass Bree mittlerweile überall sein könnte. Sie hatte mehrere Wochen Zeit gehabt, schließlich war sie seit einer ziemlichen Weile nicht mehr aufzufinden und sie war auch schon immer recht schnell im Laufen gewesen. Nein, ich wusste wirklich nicht, wohin ich überhaupt fahren wollte, um nach ihr zu sehen. Die gesamte Suchaktion war für mich wohl auch nur ein Akt der Verzweiflung. Zu einem großen Teil Eigennutz, allerdings nicht vollständig, schließlich tat ich es auch für die anderen, die Bree gekannt hatten. Trotz der Tatsache, dass diese mittlerweile die Hoffnung aufgegeben hatten, sie jemals wiederzusehen. Ich konnte es schlicht und ergreifend nicht fassen – wie konnten sie nur nach vier Monaten Suche schon aufgeben? Selbst wenn es keinerlei Hinweise gab, wo sie stecken könnte, das fand ich reichlich übertrieben. Immerhin ging es um Bree. Ich vermisste meine Freundin so unglaublich sehr. Ohne sie fühlte ich mich einsam. Wirklich, einsam. Dabei hatte ich meine anderen Freunde trotzdem noch um mich herum. Es war nur der Gedanke, dass sie fehlte, der für mich schwer zu ertragen war, und ich konnte nur hoffen, dass ich nicht schon zu spät kam, um sie überhaupt noch finden zu können. Ohne groß darüber nachzudenken, lenkte ich mein klappriges, rotes Hollandrad in die Richtung unserer Tankstelle. „Unsere“ Tankstelle war uralt und mittlerweile auch verlassen, außerdem ganz am äußeren Ende der Stadt gelegen. Ich war seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Es hatte einfach jeglicher Grund gefehlt, seit der Besitzer verstorben und einer seiner arroganten Enkel, die nicht einmal hier wohnten, alles geerbt und eingehen lassen hatte. Doch kam mir der Weg noch immer so bekannt vor, wie damals, als ich mit knappen sechs Jahren zusammen mit Bree jeden Samstagmorgen dorthin gefahren war, um den Leuten Eis schleckend dabei zuzusehen, wie sie sich um ihre Autos kümmerten. Hin und wieder hatten wir unser Taschengeld sogar damit aufgebessert, dass wir für manche der Kunden, die uns zu dem Zeitpunkt wohl auch schon als die beiden Tankstellenmaskottchen angesehen hatten, die Autofenster säuberten. Kaum war die Schule anstrengender und zeitaufwendiger geworden, hatten diese Besuche jedoch aufgehört. Vielleicht auch nur wegen ihrer Mutter, die uns eines Sonntagmorgens völlig verschreckt mit nach Hause nahm, nachdem sie gesehen hatten, wo wir uns herumtrieben. Bis dahin hatte sie wohl geglaubt, wir hätten uns nur im nahe gelegenen Wäldchen zum Spielen verabredet. Knapp daneben. So lange wie damals hatte Bree nur selten Hausarrest bekommen und bei mir war es, nach einem kurzen und wütenden Telefonat unserer Erziehungsberechtigten, auch nicht anders gelaufen. Eltern. Seufzend stieg ich von meinem Rad ab, lehnte es gegen eine der schäbigen Zapfsäulen, die wirklich schon bessere Zeiten gesehen hatten, und sah mich nach langer Zeit mal wieder dort um. Alles hatte sich seit meinem letzten Besuch verändert. Im Großen und Ganzen blieb es zwar ähnlich; mit dem vergleichsweise großen Kassenhäuschen, in dem man immer allerhand Dinge (vor allem erinnere ich mich an das Eis am Stiel) erwerben konnte, den großen Zapfsäulen neben den Durchgängen für die Autos und der kleinen Selbstbedienungswaschanlage; jedoch sahen die Dinge selbst anders aus. Die Fenster und Türen des Häuschens waren mit Brettern versehen worden – womöglich, um so zu verhindern, dass jemand die Scheiben einschlug – und mehrere Spinnennetze zierten jede Ecke und schlangen sich einmal um die gesamte Regenrinne. Ich schauderte leicht. Mit Spinnen hatte ich immer schon meine Probleme gehabt und ich wollte diesen Tieren – wie nützlich sie laut einigen Leuten auch sein mochten – schlicht und ergreifend nicht zu nahe kommen. Zwar hatte ich keine Angst vor ihnen (das heißt, ich würde nicht schreiend wegrennen, sobald ich eine in meiner Nähe bemerkte), aber ich mochte sie trotzdem nicht. Absolut nicht; genauso wenig wie Insekten. Nach der dicken Staubschicht (die sich gleichmäßig auf dem gesamten Grund vor der Hütte erstreckte) zu urteilen, musste ich allerdings auch nicht in die Nähe der Türen kommen. Offensichtlich war hier seit Langem keiner mehr gewesen; ich hatte auch schon gehört, dass geplant wurde, das Haus abzureißen. Hier war Bree somit sicher nicht. Zumindest nicht in und vor der Hütte, weswegen ich mit vorsichtigen Schritten um das Häuschen herum lief. Vorsichtig musste ich sein, zumindest dann, wenn ich nicht eine der Scherben, die vor langer Zeit höchstwahrscheinlich einmal eine, wenn nicht mehrere, Bierflaschen gebildet hatten, nachher aus meinem Fuß angeln wollte. Kleine Gruppen von den Besuchern meiner Schule, meist aus den oberen Klassen, trafen sich hier hin und wieder und hinterließen derlei Andenken an alle, die nach ihnen ankamen. Jedoch meisterte ich meinen Weg und erreichte einen kleinen, steinigen Pfad in Richtung des Hains, den ich anstrebte. Eine gähnende Leere erstreckte sich in und um meiner Magengegend und verursachte mir ein unterschwellig unangenehmes Gefühl, das ich lieber nicht haben wollte; Hunger. Aber ich würde mein Schulbrot nicht auspacken; noch nicht. Nicht hier. წ Erschöpft ließ ich mich nach hinten fallen, gegen die harte Rinde des Baumes, auf den ich mich nur wenige Minuten vorher noch mühselig hochgezogen hatte. Er war schön groß und besaß vergleichsweise bequeme, breite Äste, weswegen ich ausgerechnet auf dieses schwer zu erklimmenden Monster von Baum geklettert war. Hier oben fühlte ich mich schon einmal sehr viel besser als unten am Fußboden, wo ich nicht anders könnte, als pausenlos das Gras um mich herum nach Insekten abzusuchen. Mitten im Wald war es schwer diesen Krabbeltieren aus dem Weg zu gehen. Das war auch der Grund, weswegen ich erst hier oben – mittlerweile inmitten des Hains, nahe der Tankstelle – wagte, meinen Proviant hervorzukramen. Bisher war meine Suche nach Bree reichlich schlecht verlaufen, aber wie konnte ich überhaupt erwarten, schneller etwas finden zu können als die örtliche Polizei mit ihren Suchhunden? Ich Depp, ich blöder. Lustlos biss ich in mein Schulbrot, als ich einen leisen, vermutlich unterdrückten Aufschrei hörte. Gleich im Anschluss das Geräusch eines dumpfen Aufpralls, gefolgt vom Rascheln einiger Blätter und der Flügelschläge der nun kreischend flüchtenden Vögel. Neugierig lehnte ich mich auf meinem Ast nach vorne, um mehr sehen zu können, jedoch war meine Sicht durch die vielen Verästelungen und Blätter stark eingeschränkt und ich konnte so auch nicht viel erkennen. Nicht viel, aber genug, um mir ein Bild von der Situation zu machen. Nur wenige Meter vor mir stand jemand. Es war wohl ein etwa 18 bis 20 jähriger Junge, groß, muskulös und – nach dem, was ich bisher gesehen hatte, zu urteilen – absolut rasend. Vor Wut schnaufend stand er da, mitten im Wald und betrachtete den Baum, der vor seinen Füßen lag. Ich hielt für einige Sekunden erstaunt und ohne es zu merken die Luft an, als mir klar wurde, dass der Fall des Baumes wohl den dumpfen Laut von gerade eben verursacht haben musste. Der Baum lag flach am Boden und es hatte den Großteil der Wurzeln, mit denen er in der Erde verankert gewesen war, mit aus dem Boden gerissen. Wild standen die einzelnen Wurzelenden in der trüben, warmen Luft; schwarz im düstren Licht des Waldes. Ungläubig besah ich den Jungen – suchte nach irgendeinem Hilfsmittel, wenn nicht sogar einer Planierraupe, die ihm dabei geholfen haben musste, aber nein. Da war nichts. Er stand mit bloßen Händen da und musterte sein Werk. Nach nicht mal einer Minute, die sich für mich in unglaubliche Längen zog, bückte er sich und schleuderte einen abgebrochenen Ast mehrere Meter weit in das Dickicht des Waldes, bis er absolut nicht mehr zu sehen war. Wie konnte man nur mit Hilfe seiner Hände – und wenn man noch so wütend war! – einen Baum mitsamt seinen Wurzeln aus der Erde reißen? Ich verstand es nicht. Nun erst recht in meiner Neugier geweckt, zog ich meine Beine, die ich bis eben noch hatte baumeln lassen, mit auf den Ast und kniete mich hin, um den Ast weiter entlang zu krabbeln und mir eine bessere Sicht zu ermöglichen; denn offensichtlich hatte ich es mit dem unglaublichen Hulk zu tun und das kam sicher nicht täglich vor. Nein, wirklich. Ich wollte sehen, was das für ein Kerl war, sein Gesicht interessierte mich. Das knacksende Geräusch, welches der dürre Zweig von sich gab, an dem die Schnalle eines meiner Schuhe hängen blieb und den ich gleich mit meiner nächsten Bewegung durchbrach, machte ihn allerdings zu früh auf mich aufmerksam. Zumindest bildete ich mir ein, dass es das tat, denn der Kopf des wutentbrannten – für mich wirklich schon cholerischen und auch rabiaten – Jungen schnellte in meine Richtung. Vermutlich hatte er mich kaum gesehen, als er auch schon verschwunden war. Ich blinzelte. Noch ein paar mal schloss ich die Augen, um sie gleich im Anschluss wieder zu öffnen – in der Erwartung, dass sie mir nur einen Streich gespielt hatten und der Junge gleich wieder auftauchte - , doch die Stelle vor dem gefällten Baum blieb leer. Erst das Zittern dünner Äste um mich herum, das es die ganze Zeit über aufgrund der herrschenden Windstille nicht gegeben hatte, brachte mich dazu, an den Stamm meines Baumes zu blicken – an dem er sich in unfassbarerer Geschwindigkeit hochwandte. Er kam auf mich zu, wie ich in einem Anflug von Panik feststellte. So schnell ich konnte zog ich mich den Ast entlang – auch wenn ich genau sehen konnte, dass dies in einer Sackgasse enden würde. Angst erfüllt bewegte ich mich auf das Ende des Astes zu. Das Ende, an dem ich nicht weiter kommen würde; festsitzen würde, wie eine Maus in der Falle. Das Ende, das ich erreichen und durch das ich nicht weiter können würde. Doch so weit kam es nicht. Denn ich verfehlte den Ast, nach dem ich um Halt suchend griff, um Längen und verlor das Gleichgewicht; rutschte aus; stürzte. Schwülwarme Luft sauste an mir vorbei, während ich fiel. Der Fall schien Ewigkeiten zu dauern und nicht enden zu wollen, bis ich aufkam. Der harte Aufprall am Boden, das Blut, meine Verletzungen… all das, was ich erwartet hatte, blieb aus. Stattdessen wurde die Wucht meines Aufpralls abgefedert. Mit Verwunderung öffnete ich meine Augen, die ich bis eben noch mit aller Kraft zugekniffen hatte, und ein Grinsen schlug mir entgegen. Ein zufriedenes Grinsen, während seine Augen auf mir lagen… als wäre ich nicht ich, ein recht junges Mädchen, das noch immer die Schulbank drückte, sondern eine extra große Portion seines Lieblingsessens. Appetitanregend. Er hatte mich gefangen und ich lag in seinen Armen. Kaum fiel mir dieser Fakt auf, zappelte ich wie um mein Leben, was den Druck, den seine Hände auf meine Arme und Beine ausübten, nur bestärkte. Sein Grinsen wurde breiter und schlug in ein krankhaft glückliches Lächeln um, als er die Zähne entblößte. Spitz; viel zu lang. «Na, was haben wir denn da?», frohlockte es ihm und ich versuchte noch einmal mich loszuwinden, während er mit seinen Zähnen immer näher kam. Die Hand, die mitsamt der Hilfe seines Armes meine Beine umschloss, ließ er sinken und ich prallte mit den Füßen hart auf dem Waldboden auf. Erstickt schnappte ich nach Luft, als ich auch schon seine Hand an meinem Kopf spürte. Erbarmungslos kräftig drückte er ihn mir zur Seite. Angeekelt fühlte ich seine Zunge, die mir über den Hals fuhr, ehe sie Platz machte und er mit einem schmatzenden Geräusch seine Zähne bleckte. Hilflos kniff ich die Augen zusammen. Ich würde sterben. Ich spürte es: Dieses sadistische, kranke, übermäßig starke Wesen würde mir jeden Moment den Kopf abbeißen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)