Die Welt geht nicht unter von Lingo (- aber ich.) ================================================================================ Kapitel 2: Timing gleich Null ----------------------------- Gibt es eigentlich auch Momente, in denen die Zeit still steht und sich strickt weigert, etwas so schnell an den Menschen vorbeiziehen zu lassen, wie es sich manche gewünscht hätten? Oder auch so langsam? Meine Antwort darauf wäre wohl immer ein entschiedenes Ja; ganz auf diesen Moment im Wald bezogen. Wie lange stand ich denn auch dort, im Wald, direkt vor dem mir völlig fremden Kerl und versuchte verzweifelt, von ihm loszukommen, während er seine ungebremste Wut geballt auf mich losließ? Ehrlich; ich konnte es nicht sagen. Vermutlich hatte mein Zeitgefühl einfach der Todesangst Platz gemacht, so wie fast alles andere an mir es auch getan hatte. Wem erginge es denn nicht so, wenn er sich von der völligen Sicherheit gepackt sah, gleich um einen Kopf kürzer gemacht zu werden? Mit nur wenigen Zentimetern Abstand zwischen meinem Hals und seinen Zähnen rangelte ich verzweifelt um – wie es mir schien – mein Leben, doch lockerte sich sein eiserner Griff nicht. Ich hatte mich mit meinem ersten Eindruck wohl doch nicht geirrt, seine Parallelen zu diesem tobenden Kerl namens »Hulk« waren unverkennbar. Denn auch wenn er nicht so aussah, war er übermenschlich stark. Arnold Schwarzenegger wäre grün vor Neid – ebenso wie John Rambo. »Lass mich los!«, zischte ich ihm energisch entgegen und der gleich darauf folgende Versuch, ihm einen gehörigen Tritt zu versetzen, war längst nicht der erste dieser Art. Leider wurde aus ihm gerade mal ein weiterer Tritt in die Luft; denn wieder einmal verfehlte ich den Psychopathen. All das Adrenalin musste mir bereits so stark zu Kopfe gestiegen sein, dass ich wirklich zu nichts mehr fähig war; klar denken, zielen, regelmäßiges Atmen… ich bekam absolut nichts auf die Reihe. Mit riesiger Wahrscheinlichkeit waren diese unregelmäßigen Atemzüge die Letzten, die ich jemals machen würde. Mein Ende schien mit diesem Monstrum an Mensch gekommen zu sein und setzte meiner Suche nach Bree ein frühzeitiges Ende. Verflixt! Am Ende hätte ich den Großteil meines Lebens in der Schule verbracht; keine einzige Leistung aus meinem Leben vorzubringen; während Bree in Vergessenheit geriet und wirklich noch starb, weil ich sie nicht mehr finden würde! Die Arme verbliebe dort, wo auch immer sie gerade war, ohne, dass die anderen überhaupt weitersuchten, diese elendigen Jammerlappen. Erfolglos versuchte ich die Tränen zu unterdrücken, die sich allein bei diesem Gedanken schon ihren Weg nach Draußen bahnten. Es war alles umsonst gewesen. Vermutlich waren – wenn überhaupt - erst wenige Sekunden verstrichen, seit ich meinen sicheren Sitzplatz verloren hatte, jedoch kam es mir wie eine geschlagene Ewigkeit vor, die ich ausschließlich damit verbracht hatte, mir meine eigene Dummheit einzugestehen. Meine Suchidee war schrecklich gewesen, denn die Aktion war - unbestreitbar – den Bach runter gegangen. Selbst dann, wenn Bree noch lebte, sanken mit meinem Tod doch wohl die Chancen darauf, dass sie dies noch lange täte. Ruppig packte er mich jedoch plötzlich an den Armen und drehte mich so, dass ich ihm nicht länger den Rücken zuwenden konnte, wieder einmal so stark und schnell, dass ich mir wie ein wehrloses Kleinkind vorkam. »Lass mich verdammt noch mal los!«, stieß ich diesem Ekel erneut entgegen und presste meine Handflächen mit aller Kraft gegen seine Brust, in der Absicht, ihn von mir wegzudrücken. Mein ganzer Erfolg beschränkte sich jedoch darauf, dass ich seinen Hemdstoff zerknitterte und zusammendrückte; ihn selbst jedoch um keinen Millimeter bewegte, geschweige denn verletzte, bis- Mit einem Mal konnte ich kaum mehr sagen, was um mich herum geschah. Jeglicher Handgriff, der meine Arme bis vor einer tausendstel Sekunde noch schraubstockartig umfasst hatte, lockerte sich von einem Moment auf den nächsten, während ich knapp wahrnahm, wie meine Füße den Halt verloren und sich vom Waldboden in sausender Geschwindigkeit entfernten. Achtlos wurde ich irgendwo auf den matschigen Waldboden geschleudert, landete dafür aber noch vergleichsweise sanft im Morast. Jeder einzelne Knochen meiner linken Seite schmerzte und Flecken von Matsch, Lehm und Grünzeug vereinten sich auf meiner Kleidung zu einem fröhlichen Farbenspiel aus Braun, Schwarz und Grün, ein ekliger Anblick, während ich nun erst recht mit den Tränen zu kämpfen hatte. Momentan fiel mir kein Zeitpunkt ein, zu dem es mir schlechter ergangen war, als in diesem Augenblick und doch hatte ich völlig andere Sorgen. »Hör auf!« Eine laute, durchaus hohe Stimme gellte fauchend durch den Wald und entfachte ein gewaltiges Geflatter hunderter Flügelschläge, als wohl alle Vögel, die sich in den umliegenden Bäumen aufgehalten hatten, erneut Reißaus nahmen. Verwundert sah ich mich nach dem Ursprung des Befehls um, immerhin war der Junge von vorneherein ausgeschlossen, und stützte mich vorsichtshalber an den Fuß des Baumes hinter mir. Wie ich erstaunt feststellte, lag meine neue Bekanntschaft, Hulk, ebenso am Boden wie ich, wenn auch ein wenig wütender, als ich es je hätte sein können. Seine Wut steigerte sich zusehends in eine Ekstase; wenn auch nur seine Mimik dies verriet. »Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dich jetzt zu verköstigen? Jetzt! Du Feigling!«, ertönte die ungehaltene Mädchenstimme erneut. Sie spie die einzelnen Worte zwischen geschlossenen Zähnen förmlich aus und mit jeder Silbe kam ein größerer Teil ihrer Verachtung zum Ausdruck. Sie ließ auch nicht lange auf sich warten, ehe sie geräuschlos zu einer Art Fallstart ansetzte und sich auf ihn stürzte. Was ging hier nur vor? Dass ich alleine auf der Suche nach meiner Schulkameradin umhergezogen war, war eine Sache; aber ich hätte damit doch niemals derartige Folgen erwartet. Höllisch schmerzte mir der Rücken und bereitete mir das eigenartige Gefühl, dass meine Rippen oder auch Rückenwirbel unter der nächsten Bewegung, die ich täte, zerbersten würden wie ein zu stark gebogenes Stück Plastik. Wie oft hatte man nach einer kurzen Wanderung – und was hatte ich anderes unternommen? – mit Aussichten auf einen Bandscheibenvorfall zu kämpfen? Wenn nicht sogar auf Schlimmeres. Selbst wenn ich zumindest nicht mehr Gefahr lief, durch den Jungen von der Last meines Kopfes befreit zu werden, hätte ich mir wirklich ein schöneres Ende vorstellen können. Vorsichtig musterte ich das Geäst um mich herum. Anstatt mir über meinen körperlichen Zustand Gedanken zu machen, wäre es sicherlich um einiges weiser, all meine Aufmerksamkeit wieder dem Treiben vor mir zukommen zu lassen, so dachte ich mir. Denn obwohl Hulk mittlerweile abgelenkt zu sein schien, konnte ich die Möglichkeit, dass er sich jeden Moment wieder aufrappelte und auf mich zuschritte, nicht komplett ausschließen. Von meinem neuen, schlammigen Sitzplatz aus konnte ich die neu dazugekommene Gestalt nur von hinten sehen, war mir allerdings sicher, aufgrund der kleinen, zierlichen Statur und der weit in den Rücken hinabreichenden, braunen Haare, sagen zu können, dass es sich um ein Mädchen handelte. Eines in schäbigem Zustand; fügte ich gedanklich hinzu, mit einem Blick auf die losen Blätter und andere Waldrückstände, die sich in ihrem Haar unschwer finden ließen. Fairerweise musste man jedoch vermutlich gestehen, dass ich momentan keinen Deut besser aussah. Sie schien mir auf Anhieb sympathischer als der Junge, auch wenn ich nicht sagen konnte, warum ich so empfand. Vielleicht wegen dieses Anflugs von Vertrautheit, den ich bei ihrem Anblick verspürte. Wahrscheinlich verdankte sie es allerdings eher der Tatsache, dass ich ohne sie damals bereits tot gewesen wäre, und so eine Art Dank empfand. »Du kannst nicht alles so machen, wie es Dir in den Kram passt!«, brachte sie dann jedoch unter einem solch starken, unterdrückten Zorn hervor, der sich vorwurfsvoll mit einem jammernden Ton mischte, dass sich jegliche Vertrautheit, die ich noch vor Kurzem für sie empfunden hatte, in Luft auflöste. »Von Anfang an hast du uns nur Lügen aufgetischt – ausschließlich! Diego - und alle anderen - haben dir vertraut und du machst dir daraus gar nichts?«, schrie sie ihm weiter entgegen, wobei ich schwor, hören zu können, wie sie während des Sprechens das Gesicht verzog. Was sie ihm entgegen stieß, waren reine Vorwürfe, unterstrichen mit vor Wut zitternder Stimme, wobei es sie offensichtlich nicht scherte wie laut sie war. Schließlich hatte ich es noch immer nicht geschafft, sie von vorne zu betrachten, als das Mädchen den noch immer am Boden verharrenden Kerl, »Riley!« knurrend, noch fester gen Boden stieß. Meine Einschätzung war allerdings fehlerfrei. Wie ich nicht anders erwartet hätte, ließ Riley so etwas nicht auf sich sitzen und schleuderte sein Gegenüber, wieder ohne ein anderes Hilfsmittel als seine Planierraupenarme, kraftvoll und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken gegen einen nahe gelegenen Baum, sobald er auch nur wieder auf den Beinen war. Hätte ich es nicht gesehen, hätte ich es bestimmt geleugnet, aber… ich hatte es gesehen und es war nicht das erste Mal, dass er vor meinen Augen etwas Derartiges vollbrachte. Zweifelsohne war er Angst einflößend, obwohl ich erst jetzt bemerkte, dass ich am ganzen Körper zitterte wie Espenlaub. Vor Schmerzen stöhnte die Fremde unterdrückt auf, als sie gegen die harte, alte Baumrinde prallte, - er musste beim Wurf eine unglaubliche Wucht an den Tag gelegt haben –, doch mit dem nächsten Wimpernschlag, den ich tat, war sie auch schon nicht mehr völlig alleine dort. Ohne, dass ich sagen konnte, wann zum Teufel er zu ihr gerannt war, stand Riley, der Hulk, vor ihr und drückte sie mühelos, aber gewaltsam, gegen die Borke. Dabei umfasste er unnachgiebig ihre Kehle, als wolle er sie ersticken, was jedoch nicht wirklich zu funktionieren schien, denn röchelnde Geräusche und dergleichen blieben aus. War sie bereits tot, durch den Aufprall? Hoffentlich nicht. Schwindelerregende Übelkeit stieß in mir hoch, als ich daran dachte, was wohl als nächstes passieren würde, wenn keiner einschritt. Immerhin war sie doch kleiner als er, es sah chancenlos aus. Das Problem war nur, dass außer mir niemand zugegen war und ich mich nicht sonderlich hilfreich fühlte. Murrend stellte ich außerdem fest, dass ich mich in einer ziemlichen Zwickmühle befand. Offensichtlich war ich nicht die Richtige, um Retter in der Not zu spielen, allerdings war ich die Einzige, die es überhaupt konnte - und wollte nicht mit ansehen, wie jemand mutwillig vor meinen Augen mordete. Erst recht nicht, wenn ich für das Opfer eine gewisse Sympathie aufbringen konnte. Mühselig und verkrampft rappelte ich mich auf, um wenig später wackelig auf meinen Beinen zu stehen und mich umblicken zu können. Vermutlich hätte ich Grips und Köpfchen damit bewiesen, diese Gelegenheit zu nutzen und möglichst schnell das Weite zu suchen – fernab jeglicher Schwerverbrecher -, jedoch dachte ich nicht so weit; mir kam diese Option nicht einmal in den Sinn. Stattdessen trat ich entschlossen auf die beiden zu, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. Obwohl ich keine Hilfe für Bree dargestellt hatte, würde ich nun jemandem helfen können. Bei diesem Mädchen war es nicht zu spät. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)