Sein Wille geschehe von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 2: II ------------- Dean hatte das Gefühl, ein Lastwagen hätte ihn überrollt. Seine Muskeln rebellierten, sein Kopf dröhnte, sein ganzer Körper fühlte sich an wie Blei. Jede Bewegung war schon fast eine Qual. Somit stieß er auch gleich einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sich auf die Matratze seines Bettes darnieder legen konnte. Mit Anzug, Schuhen und den typischen Geruch vom frittierten Fett, das sich beim Besuch eines Fastfood-Ladens ganz in der Nähe an seiner Kleidung festgesetzt hatte. Dean war es vollkommen einerlei. „Du solltest langsam mal etwas Schlaf finden“, hörte er von irgendwo die mahnend-besorgte Stimme seines Bruders, der gerade die Tür zum Motelzimmer hinter sich schloss. „Sonst brichst du irgendwann zusammen.“ Dean wollte verächtlich schnauben, aber bloß ein seltsames Geräusch verließ seine Lippen, das nicht mal er selbst richtig zuordnen konnte. Tatsache war jedoch, dass Sam Recht hatte. Im Grunde hatte er eigentlich sogar ziemlich oft Recht, aber Dean gab dies nur sehr selten öffentlich zu. Ebenso dieses Mal hielt er sich zurück, auch wenn er seinem Bruder stillschweigend zustimmte. Schlaf. Ruhe. Das klang wie Musik in Deans Ohren. Aber unglücklicherweise war das einfacher gesagt als getan. Schon seit Wochen fand er keine Entspannung mehr. Stattdessen lief er ständig auf Hochtouren, als hätte er eine Überdosis Koffein oder gar schlimmeres intus. Und wenn er es dann doch mal schaffte, seine Augen zu schließen und so etwas ähnliches wie Schlaf zu finden, sah er jedes Mal diese Bilder vor sich. Albträume, die immer wiederkehrten. Von Teufeln und Dämonen. Von Jo, wie sie blutüberströmt auf dem Boden sitzt. Von Ellen und den Tränen in ihren Augen. Von dem Geheul der Höllenhunde. Und von dem brennenden Foto im Kamin. All das bedrängte und quälte ihn. Ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Auch Sam litt unter Albträumen, das war Dean nur allzu bewusst. Oft hörte er ihn mitten in der Nacht eindeutige Geräusche von sich geben. Tief saßen die Wunden, die ihnen in Carthage zugefügt worden waren. Und sie würden lange brauchen, um zu heilen. „Was ist das denn nun für eine Sache, die hier in Davenport läuft?“, vernahm Dean erneut Sams Stimme. Verwundert runzelte er daraufhin die Stirn und dachte im ersten Moment, die Frage wäre an ihn gerichtet, aber als er sich schließlich dazu zwang, seinen Oberkörper aufzurichten, bemerkte er überrascht, dass Castiel im Zimmer war. War er etwa schon vor ihnen hier gewesen? Oder war er gerade erst aufgetaucht, als es Dean in seinem Halbschlaf gar nicht mitbekommen hatte? „Ich kann es dir nicht genau sagen“, hatte sich Castiel soeben an Sam gewandt. „Aber die Omen lassen auf etwas Großes deuten.“ Sam seufzte, angesichts dieser spärlichen Antwort wenig zufrieden. „Das bringt uns auch nicht viel weiter“, entgegnete er, während er sein Jackett abstreifte und seine Krawatte zu lockern begann. „Hast du nichts Konkreteres?“ „Um das Rätsel zu lösen, sind wir hier“, sagte der Engel hingegen schlicht, ehe der Blick wandern ließ, als wäre ihm erst in diesem Moment der Gedanke gekommen, seine Umgebung etwas näher in Augenschein zu nehmen. Dean hatte sich derweil mühevoll aufgerappelt und ebenso wie Sam angefangen, sich nach und nach dem beengenden Anzug zu entledigen. „Aber ein paar mehr Hinweise wären nicht schlecht“, warf er nun auch in den Raum. „Du hast doch von ‚Gerüchten‘ geredet, nicht wahr? Und, was besagen die?“ Er verstummte kurz, bevor er zögerlich fragte: „Und wo hast du sie eigentlich her? Aus der Unterwelt? Hat es dir eine nette Fee zugeflüstert? Oder hast du es auf dem Flohmarkt des Übernatürlichen aufgeschnappt, der direkt bei Hogwarts liegt?“ Der Engel richtete seine Aufmerksamkeit nun auf Dean und betrachtete ihn, als würde er ernsthaft um dessen Gesundheitszustand bangen. „Solch ein Markt existiert nicht.“ Dean atmete einmal tief durch und zwang sich, diese Aussage unkommentiert zu lassen. Stattdessen fragte er nach: „Du hast also keine brauchbaren Hinweise mehr? Warum die Dämonen ausgerechnet hier sind? Wie viele es überhaupt sind?“ „Ich weiß nur, dass sich eine große Anzahl hier versammelt hat“, erklärte Castiel ernst. „Die genaue Zahl kann ich dir nicht nennen, aber man spürt die dämonische Präsens deutlich. Außerdem sind sie nicht zufällig hier.“ „Ach nein?“, hakte Dean nach. Er hatte soeben seine wenig bequemen Schuhe ausgezogen, ohne sein Gleichgewicht zu verlieren, wie noch eine Wochen zuvor, als er glatt vornübergekippt war und sich daraufhin Sams schadenfrohes Gelächter hatte anhören müssen. Zufrieden mit sich selbst nahm er auf einem Stuhl Platz und schnappte sich die Chipstüte, die er vor ihrem Aufbruch als FBI-Agenten angebrochen hatte. „Man erzählt sich, dass die Dämonen hier irgendetwas suchen“, verkündete Castiel in seinem typischen tiefen Tonfall, der einem immer wieder Schauer über den Rücken zu jagen vermochte. Dean legte derweil seinen Kopf leicht zur Seite. „Und was?“ „Das ist mir nicht bekannt“, antwortete Castiel. „Aber wir sollten sichergehen, dass wir es vor ihnen finden.“ Dean konnte hierauf nur zustimmend nicken. Wenn sich mehrere Dämonen an einem Ort versammelten und offenbar überaus erpicht waren, etwas Bestimmtes aufzuspüren, bedeutete dies nie etwas Gutes. Was es auch sein mochte – eine Waffe oder etwas anderes –, es durfte nicht in die falschen Hände geraten. „Und das wird uns helfen, Lucifer zu besiegen?“, erkundigte sich Sam. Castiel schwieg einen Augenblick. „Ich weiß es nicht“, gestand er schließlich. „Ich kann dir bloß versichern, dass es den Teufel nicht erfreuen wird, wenn wir die Dämonen hier in Davenport aufhalten.“ Dean ließ sich zu einem flüchtigen Grinsen hinreißen. „Na, das ist doch schon Grund genug.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und knabberte an einem Kartoffelchip. „Aber wo fangen wir an? Diese Stadt ist nicht gerade klein.“ Im selben Moment hörte er das Rascheln von Papier. „Ich denke, ich weiß da vielleicht was“, meinte Sam. Dean wandte sich seinem Bruder zu und merkte, dass dieser einen Stadtplan gezückt hatte, den er auch schon im Impala intensiv studiert hatte. Der Ältere hatte sich währenddessen die ganze Zeit gefragt, wann zur Hölle Sam dieses Teil besorgt hatte, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte. Der Schlafentzug, so hatte Dean zu diesem Zeitpunkt frustriert festgestellt, machte ihn wohl allmählich stark aufnahmeunfähig. Sam hatte inzwischen den Stadtplan weit ausgebreitet auf dem Schreibtisch niedergelegt und von irgendwoher einen roten Stift hervorgeholt. „Ich habe die Adressen verglichen“, erklärte er. „Alle im südlichen Teil der Stadt, in der Nähe des Mississippi Rivers. Einfamilienhäuser, aber auch Apartmenthäuser. Es scheint, als wären die Dämonen von Wohnung zu Wohnung gezogen und hätten alles getötet, was sie finden konnten.“ Dean ballte seine Hände automatisch zu Fäusten. Die Dämonen und ihre Mordlust versetzten ihn zunehmend in Rage. Kein Erbarmen ließen sie walten, während sie unschuldigen Menschen ohne jede Vorwarnung attackierten. „Zunächst erscheint alles relativ wahllos, ganz so, wie Porter es gesagt hat“, fuhr Sam fort. „Sechs Häuser wurden in den letzten vier Wochen überfallen und abgesehen von ihrer Lage im Hinblick auf den Fluss scheint es keine Gemeinsamkeiten zu geben. Bei den ersten Angriffen ist auch sicherlich niemanden eine Regelmäßigkeit aufgefallen, aber inzwischen … zeigt sich ein Muster.“ Mit diesen Worten kreuzte er die Adressen an, die von den Dämonen besucht worden waren. Sie ergaben eine perfekte Linie. Dean runzelte bei diesem Anblick verwundert die Stirn. „Und das ist der Polizei nicht aufgefallen?“ Sam zuckte mit den Schultern. „Ich kann’s mir selbst nicht genau erklären. Wie bereits gesagt, bei den ersten Überfällen war das bestimmt noch nicht sichtbar, aber in der Zwischenzeit müssten sie es eigentlich gemerkt haben.“ Dean konnte hierauf nur den Kopf schütteln. Die Polizei schaffte es doch immer wieder, ihn zu verblüffen. „Vielleicht haben auch die Dämonen etwas damit zu tun“, mischte sich nun Castiel ein. Intensiv musterte er den Stadtplan vor sich auf dem Tisch. Dean hob seinen Blick. „Was meinst du damit?“ „Unter Umständen haben sie sich bei der örtlichen Polizei eingeschleust“, mutmaßte der Engel. „Um ihre Ermittlungsarbeiten zu verlangsamen und somit sicherzugehen, dass die Menschen ihnen bei ihrer Suche nicht in die Quere kommen.“ Dean musste sich eingestehen, dass diese Theorie gar nicht mal so weit hergeholt klang. Zwar sahen die dämonischen Mächte in menschlichen Polizisten ganz sicher keine Bedrohung, dafür aber bestimmt lästige Nervensägen, die sie im ungünstigsten Zeitpunkt bei ihrer Arbeit störten. Somit war es durchaus von Vorteil, die Polizei ein wenig hinzuhalten und sie auf falsche Fährten zu locken. „Im Grunde umso besser“, meinte Sam. „So geraten wenigstens nicht noch mehr Menschen in die Schusslinie.“ Dem konnte Dean nicht widersprechen. Sollte die Polizei ruhig weiterhin im Trüben fischen, ihm war es nur recht. Sam hatte sich währenddessen wieder über den Stadtplan gebeugt. „Wenn man die Abstände der anderen Häuser berechnet, die überfallen worden sind, dann müsste es …“, murmelte er konzentriert vor sich hin, bevor er schließlich mit dem roten Stift ein weiteres Kreuz auf das Papier malte, „… dann müsste es ungefähr hier sein.“ „Das nächste Angriffsziel?“, hakte Dean nach. Sam nickte bestätigend. „Ich kann dir jetzt nicht die exakte Hausnummer nennen, aber dort in der Gegend dürfte es das nächste Mal stattfinden. Sofern die Dämonen natürlich nicht plötzlich ihre Taktik ändern, versteht sich.“ Dean starrte auf den Stadtplan und brummte zufrieden. Das war zumindest ein Ansatzpunkt, an dem sie anknüpfen konnten. * * * * * Arthur Cogan hatte Mühe, seine Augen offenzuhalten. Schon seit Tagen hatte er massive Schlafprobleme, die ihm das letzte bisschen Energie raubten, das er eigentlich für seine Arbeit benötigte. Seine Firma hatte vor wenigen Wochen einen unglaublich wichtigen Auftrag an Land gezogen und nun standen sie kurz vor dem entscheidenden Durchbruch. Jahrelang hatte er schwer geschuftet, um an diesen Punkt zu kommen. Er hatte gearbeitet wie ein Tier und alle negativen Stimmen ausgeblendet, als er sich damals vor all diesen Jahren selbstständig gemacht hatte. Viele hatten ihm prophezeit, dass er versagen würde. Scheitern. Dass er es bitter bereuen würde. Aber hingegen der Erwartungen war es ihm dennoch geglückt, in der Geschäftswelt Fuß zu fassen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte seine Firma ansehnliche Profite erwirtschaftet, woraufhin seine Kritiker nach und nach verstummt waren. Und nun war er im Begriff, die Leiter des Erfolgs noch eine Stufe höher zu klettern. Sollten er und seine Mitarbeiter den Auftrag zur Zufriedenheit des Kunden vollbringen, würde er vermutlich für den Rest seines Lebens ausgesorgt haben. Er stand vor einem ungemein wichtigen Schritt seiner Karriere. Doch Arthur schaffte es einfach nicht, sich zu konzentrieren. Es war wie eine ständig vorhandene Anspannung, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Zum Teil war sie sicherlich durch die Arbeit und dem damit verbundenen Stress ausgelöst. Vieles stand auf dem Spiel. Wäre er erfolgreich, würde er einiges gewinnen, jedoch gab es ebenso viel zu verlieren. Aber es war nicht nur die Firma, die seine Gedanken zurzeit beherrschte. Auch die jüngsten Ereignisse zehrten sehr an seinen Nerven. Seine Frau war nervös und panisch, was sich automatisch auch auf ihn selbst auswirkte. Ihm schlaflose Nächte bescherte. Und ihre Angst war durchaus berechtigt. Schon seit Wochen hörte man in den Medien von den schrecklichen Morden. Anfangs hatte es Arthur zwar tief erschüttert, doch es war ihm weit entfernt vorgekommen. Als würde man von einem Krieg in einem vollkommen anderen Land erfahren. Man spürte Anteilnahme, wenn man die furchtbaren Bilder sah, fühlte sich aber eher als unbeteiligter Beobachter. Aber nach und nach waren die Morde in Davenport zur entsetzlichen Realität geworden. Der letzte Überfall hatte keine zwei Straßen von ihrem Zuhause stattgefunden. Geradezu mit zitternden Händen hatte Arthur die Berichterstattung am darauffolgenden Tag in der Zeitung gelesen. Von den getöteten Eltern und dem armen Tim Miller, der auf dieselbe Schule ging wie Arthurs Töchter und den er das ein oder andere Mal gesehen hatte. Auf der Straße, spielend und lachend. Ein kleiner Junge. Unschuldig, wie es auch Arthurs Töchter waren. Rein und unverdorben. Und die Gefahr war zum Greifen nahe. Arthur hatte zwar die Alarmanlage seines Hauses inzwischen auf den neusten Stand gebracht, aber völlig sicher fühlte sich seine Familie trotzdem nicht. Seine Frau sprach bereits davon, zusammen mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Iowa City zu ziehen, bis die Polizei die Verantwortlichen erwischt hatte. Ein Vorschlag, der ihm nun nach der Sache mit den Millers durchaus akzeptabel erschien. Arthur seufzte, während er gleichzeitig seine Augen mit aller Gewalt offen zu halten versuchte und das Lenkrad fest umklammerte, als könnte es ihm im nächsten Moment aus den Händen gleiten. Der Tag war lang und anstrengend gewesen und mehr denn je sehnte er sich nach seinem Bett. Vielleicht würde er sogar endlich mal wieder etwas erholsamen Schlaf finden. Schon bald wäre er Zuhause … Doch dann sah er die Gestalt! Arthur trat mit aller Wucht auf die Bremse, als der Schatten auf die Straße huschte und direkt vor ihm stehenblieb. Sein alter Wagen protestierte vehement gegen diese unangenehme Behandlung, kam aber letztendlich noch rechtzeitig mit quietschenden Reifen zum Stillstand. Ein gewaltiger Ruck ging durch das Auto, sodass man für einen Moment fast hätte glauben können, es würde sich in der nächsten Sekunde überschlagen. Arthurs Herz pochte ihm vor lauter Panik bis zum Hals. Sein Atem kam schnell und stoßweise, während er sich weiterhin an seinem Lenkrad festkrallte, als würde er es nie wieder im Leben loslassen wollen. Was war gerade geschehen? Alles war so furchtbar schnell abgelaufen. Mit weitaufgerissenen Augen verharrte er eine halbe Ewigkeit auf dem Fahrersitz, ehe er schließlich bemerkte, wie die dunkle Gestalt auf der Straße sich auf sein Auto zubewegte. Vollkommen natürlich und ruhig, als wäre überhaupt nichts passiert. Und dieser Anblick brachte Arthurs Blut in Wallungen. Mit aller Macht zwang er sich, seinen Schockzustand zu überwinden. Er stieß die Wagentür auf – wobei er es mit seinen zittrigen Fingern zunächst fast nicht schaffte, den Öffner zu packen – und hievte sich aus dem Auto. Seinen Blick dabei unablässig auf die Gestalt gerichtet. Nun erst realisierte er, dass es sich bei ihr um eine Frau mittleren Alters mit kurzen, blonden Haaren handelte, die sich bewegte, als wäre sie eine elegante Katze. Ihr Gang war provozierend lasziv, ihr Lächeln breit und verführerisch. Arthur war im ersten Moment wie vor den Kopf gestoßen und bekam kein einziges Wort heraus, aber schnell rief er sich das eben Geschehene wieder ins Gedächtnis. Er würde es sicher nicht auf sich beruhen lassen, dass diese Frau dermaßen sorglos durchs Leben marschierte! Früher oder später würde noch jemand verletzt werden. „Sagen Sie, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, brüllte er ihr entgegen. Das Adrenalin, das durch seine Adern pumpte, machte ihn ungewöhnlich aggressiv. Normalerweise diskutierte er Konflikte aus und war um einen angemessenen Umgangston bemüht, nun aber spürte er das geradezu unwiderstehliche Verlangen, seiner Wut freien Lauf zu lassen. „Sie können doch nicht einfach auf die Straße rennen!“ Die Frau zeigte sich hingegen in keinster Weise beeindruckt. Sie blieb wenige Meter vor ihm stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste ihn bloß weiterhin unverschämt an. „Haben Sie etwa nichts dazu zu sagen?“, entrüstete sich Arthur. „Sie können doch nicht einfach –“ Seine Worte blieben ihm im Halse stecken, als ihn plötzlich von hinten zwei starke Hände packten. Derart kraftvoll, dass Arthur das Gefühl bekam, seine Oberarme würden zerquetscht. Reflexartig versuchte er, um sich zu schlagen, während ihn erneut eine Welle der Panik ergriff. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich und machten es ihm sehr schwierig, sich zu konzentrieren. Eher am Rande bemerkte er überhaupt, dass seine kümmerlichen Befreiungsversuche völlig nutzlos waren. Die Frau war währenddessen näher gekommen. Immer noch zierte ein überlegener Gesichtsausdruck ihre Züge. „Du brauchst dich nicht zu wehren, kleiner Mensch. Das macht es bloß noch schlimmer.“ Arthur hielt bei diesen Worten inne. Tausend verschiedene Gedanken bestürmten ihn und versetzten ihn in tiefe Verzweiflung. Was hatten sie nur vor? Wollten sie ihn ausrauben oder war es gar etwas anderes? Etwas unglaublich Furchtbares …? Unvermittelt überfiel ihn die Erinnerung an die Morde in den letzten Wochen und ihm stockte der Atem. Das war doch nicht …? Die Frau hatte sich derweil zu ihm gebeugt. Ihre Augen, die für einen kurzen Moment erschreckend schwarz wirkten, musterten ihn zufrieden. „Du gehörst jetzt uns.“ * * * * * Zwei Tage warteten sie. Zwei endlos erscheinende Tage. Sam hatte sich selbst nie als ungeduldigen oder gar hektischen Menschen gesehen, aber nach dieser langen Zeit wurde er nach und nach immer unruhiger. Sein Gesäß beschwerte sich bereits seit einer Ewigkeit und seine Beine schliefen regelmäßig ein. Sein Körper verlangte nach Bewegung, schrie förmlich danach. Als würde ein kleiner Mann in seinem Ohr lautstark brüllen und sich nicht im geringsten darum kümmern, dass er Sam auf diese Weise Kopfschmerzen bescherte. Du bist es doch gewohnt, lange im Auto zu sitzen, maßregelte er sich selbst. Tatsache war jedoch, dass zu ihren langen Fahrten auch jedes Mal mehr oder weniger längere Pausen dazugehörten. Man konnte sich die Beine vertreten, mal zur Toilette huschen und was man sonst noch auf einer verdreckten Tankstelle mitten im Nirgendwo alles anzustellen vermochte. Aber vor allen Dingen war es das Fehlen jeglicher Anspannung, das es für Sam normalerweise erträglich machte. Er saß bequem auf seinem Sitz – meistens als Beifahrer, doch ab und zu auch mal tatsächlich hinter dem Lenkrad – und ließ die Landschaft an sich vorbeiziehen. Es waren tatsächlich so etwas wie Stunden des Friedens in einem sonst so ereignisreichen und aufregenden Leben. Zwar erfüllt von Deans lauter Musik und seinem manchmal recht nervigen Gesinge, doch trotzdem irgendwie friedlich. Auf eine verquere und nicht-monstermäßige Art und Weise. Nun aber war alles anders. Sie befanden sich nicht auf einer wenig befahrenen Landstraße, wo die größte Angst darin bestand, dass einem ein Reh vors Auto lief. Nicht mal ansatzweise. Dabei wirkte die Gegend, in der sie sich momentan aufhielten, alles andere als bedrohlich. Reihenhaus stand neben Reihenhaus, aufwendig gepflegter Vorgarten neben nicht ganz so aufwendig gepflegtem Vorgarten. Menschen verließen die Gebäude und kehrten irgendwann auch wieder dorthin zurück. Und das einzig einigermaßen spannende der letzte zwei Tage war ein Kampf zweier Möwen um ein achtlos weggeworfenes Sandwich gewesen. Und dennoch war Sams Körper unentwegt angespannt. Darauf harrend, dass die Dämonen wie aus dem Nichts auftauchten und erneut Menschenleben forderten. „Langsam hätte ich nicht übel Lust, mich selbst zu erschießen“, meinte Dean am frühen Abend des zweiten Tages. Er hielt einen Kaffee in der Hand, der inzwischen vermutlich schon kalt und ungenießbar war, und beobachtete lustlos die nähere Umgebung. Sie hatten sich einen relativ unauffälligen Parkplatz ausgesucht, von dem sie gleichzeitig einen guten Überblick über mehrere Häuser hatten, die als potenzielle Angriffsziele infrage kamen. Sam hatte allmählich das Gefühl, dass er sich wahrscheinlich noch viele Jahre später an jeden einzelnen Grashalm, jeden einzelnen Baum und jede weitere Facette erinnern würde, die er seit Tagen dermaßen intensiv anstarrte, dass sie sich in sein Gehirn gebrannt hatten. „Selbstmord ist auch keine Lösung“, erwiderte Sam, während er mühevoll ein Gähnen unterdrückte und etwas tiefer in den Sitz sank. „Das macht bloß Dreck und Kummer.“ Fast schon automatisch warf er einen Blick in den Rückspiegel und wartete nur darauf, dass Castiel, der auf der Rückbank saß, den moralischen Zeigefinger erhob und mit ernster Stimme verkündete, dass Selbstmord eine schwere Sünde sei. Doch der Engel blieb still. Stattdessen schaute er konzentriert auf die Straße und musterte jeden Passanten ausgiebig. Immerhin war er der einzige von ihnen, der einen Dämon trotz menschlicher Hülle erkennen konnte. „War ja nur ein Gedanke“, murmelte derweil Dean. Er nippte kurz an seinem Kaffee und verzog nur eine Sekunde später angewidert sein Gesicht. Ohne einen weiteren Kommentar stellte er den Becher auf dem Armaturenbrett ab und gab ein typisches Dean-Geräusch von sich, das auf unterdrückten Ärger hinwies. Er war noch nie ein Meister des Wartens gewesen. „Vielleicht eine seltene Baseballkarte“, meinte er plötzlich aus heiterem Himmel. Sam schnaubte bloß. „Ganz sicher nicht.“ Schon seit zwei Tagen rätselten sie, wonach die Dämonen so emsig suchten. Zu Anfang waren ihre Vorschläge durchaus noch intelligent und produktiv gewesen, aber inzwischen war es kaum mehr als ein Spiel, um sich die Zeit zu vertreiben. Zumindest waren ihnen die sinnvollen Mutmaßungen schon gestern Mittag ausgegangen. „Ein batteriebetriebener Mixer?“ Dean zog seine Mundwinkel nach oben und stellte sich wahrscheinlich gerade bildlich vor, wie eine Schar von Dämonen fasziniert einem Mixer beim Rühren eines Bananenshakes zusah. Sam richtete in der Zwischenzeit seine Aufmerksamkeit erneut auf Castiel. Zu Anfang hatte er ihre immer wirrer werdenden Vorschläge noch allesamt kommentiert, aber irgendwann war er es wohl müde geworden. Somit blieb er weiterhin ruhig und beachtete sie in keinster Weise. „Ich denke nicht, dass wir einfach durch blindes Raten auf die Lösung kommen“, entgegnete Sam seufzend. „Die Antwort findet man wahrscheinlich eher in einem dicken alten Wälzer. Sofern das Ganze natürlich überhaupt schriftlich festgehalten worden ist, versteht sich.“ Sam zumindest war wenig optimistisch, dass sie die Antwort schnell finden würden. Im Internet hatte er zwar gründlich über Davenport recherchiert und er wusste inzwischen wahrscheinlich mehr über diese Stadt als über jeden anderen Ort, den er jemals besucht hatte, aber das hatte ihn dennoch nicht besonders weit gebracht. Nirgends hatte er auch nur ansatzweise Hinweise auf etwas gefunden, das das Interesse eines Dämons wecken könnte. Sie stocherten bloß im Dunkeln. In seiner Verzweiflung hatte Sam sich schließlich an Bobby gewandt und ihn gebeten, ein wenig Augen und Ohren offenzuhalten und seine beeindrucke Sammlung von uralten Büchern zu durchforsten, in der Hoffnung, unter Umständen vielleicht doch über die Lösung zu stolpern. Aber bisher war dies ebenfalls nichts weiter als eine Sackgasse gewesen. Bobby hatte zwar versprochen, nicht aufzugeben und emsig weiterzusuchen, doch Sam hatte an seinem Tonfall eindeutig erkannt, dass er sich nicht allzu viel davon versprach. „Ich glaube, in diesem Jahrhundert kommt kein Dämon hier mehr vorbei“, meldete sich Dean nach zehnminütiger Stille wieder. Er klang resigniert und schien ernsthaft zu erwägen, aus lauter Frust seinen Kopf gegen das Lenkrad zu donnern. „Vielleicht haben sie gesehen, dass wir hier Wache schieben und es sich anders überlegt.“ Sam runzelte die Stirn. „Du denkst also, dass allein unsere Anwesenheit Dämonen abschrecken könnte?“ Dean zuckte kurz mit den Schultern. „Immerhin haben wir inzwischen einen gewissen Ruf. Vielleicht –“ Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden, denn plötzlich richtete sich Castiel ruckartig auf und sagte alarmiert: „Dort!“ Sam folgte augenblicklich seinem Fingerzeig und blickte auf einen Mann im dunklen Anzug, der gerade aus seinem Wagen stieg. Er hatte das Auto zuvor merkwürdig schief auf dem Garagenparkplatz neben einem Einfamilienhaus im Kolonialstil abgestellt, als wäre es ihm vollkommen gleichgültig, dass die Reifen den perfekt geschnittenen Rasen ruinierten. Zudem ließ er völlig achtlos die Wagentür offen stehen. „Das ist unser Mann?“, hakte Dean nach. Er hatte bereits seine Waffe gezückt, während sich auf seinen Lippen ein breites Lächeln formte. Er war mehr als bereit, sich in den Kampf zu stürzen und die Langeweile der vergangenen Tage zu vergessen. „Ein Dämon“, bestätigte Castiel nickend. Sam holte einmal tief Luft und kramte Rubys Messer aus dem Handschuhfach hervor. „Okay, nicht vergessen, Dean: Wir brauchen ihn lebend!“ Sein Bruder verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Das hast du mir schon tausendmal gesagt! Hältst du mich etwa für so vergesslich?“ „Bloß für übereifrig“, entgegnete Sam, während er leicht beunruhigt das Glitzern in Deans Augen bemerkte. „Aber ohne den Dämon bekommen wir keine Informationen und können nichts weiter tun, als uns beim nächsten möglichen Angriffsziel wieder auf die Lauer zu legen und nochmal mehrere Tage zu warten. Oder sogar Wochen.“ Eine Option, die Dean ihn keinster Weise zusagte. Mochte er auch in diesem Moment noch so versessen darauf sein, einen Dämon dafür büßen zu lassen, was in dieser Stadt geschehen war, wollte er dennoch nicht das Risiko eingehen, sich erneut während einer Observierung zu Tode zu langweilen. Stattdessen nickte er grimmig. „Dann mal los, Sammy!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)