Usagi no Uta von Nesthzeru ([Titel könnte sich noch ändern]) ================================================================================ Prolog: -------- Piep. … Piep. Es war... nicht dunkel. Nicht so dunkel wie sonst jedenfalls. Piep. Das rhythmische Piepsen, welches gedämpft an seine Ohren drang, war dasselbe wie immer. So lang er sich erinnern konnte, war es immer da gewesen. Aber das Licht nicht. Piep. Manchmal kam das Licht. Es war nicht wirklich hell – das Hellste, was er kannte, aber er wusste, es gab etwas Helleres. Irgendwo da draußen, wo auch immer „draußen“ sein mochte... Irgendwo gab es etwas Helleres. Es war bestimmt wunderschön. Nicht so wie die Dunkelheit oder dieses schwache Licht und die schemenhaften Umrisse, die es mit sich brachte. Piep. Mit dem Licht kamen auch die Geräusche. Während sonst alles, was er hörte, das Piepsen war, war da immer mehr, wenn das Licht da war. Er wusste nicht, was da war, aber es gehörte zum Licht. Das, oder zu den Schemen. Piep. Es klang seltsam. Brummen, Schnattern, Flöten. So ganz anders als das Piepsen, welches er kannte. Ungleichmäßig, unregelmäßig. Anders. Doch viel hörte er nicht. Es schien immer so weit weg... Gab es eine Möglichkeit, es klarer zu hören? So wie das Piepsen? Oder... sogar noch klarer? Piep. … Piep. Es wurde wieder stiller. Das hieß, gleich würde es auch wieder dunkel werden. Er wollte nicht, dass es wieder dunkel wurde. Er wollte nicht, dass es wieder still wurde. Natürlich mochte er das Piepsen, das Piepsen war immer da, immer gleich, immer verlässlich. Doch es reichte ihm nicht mehr. Dieses Licht war etwas Anderes, es war besonders. Er wollte es haben, er wollte es für sich. Aber wie konnte er das Licht davon abhalten, zu verschwinden? Die Geräusche hier halten? Er war hier, doch das war alles, was er war. Piep. Piep. Piep. Piep. Das Piepsen... wurde schneller. Reagierte es auf ihn? Wollte es ihm helfen? Piep. Piep. Piep. Piep. Piep. Er spürte etwas in sich hochsteigen, was er noch nie verspürt hatte: Eine Art Aufregung, Freude. Das Licht kam zurück, tatsächlich wurde es sogar noch heller und mit ihm wurden die Schemen klarer, auch wenn er nichts mit dem anfangen konnte, was er wahrnahm. Mehr Geräusche, schneller, lauter, verschiedene Klänge. Sie waren ähnlich, doch klangen doch nicht gleich – die Töne, die er hörte, waren unterschiedlich hoch und tief, außerdem kamen sie nicht aus der gleichen Richtung. Und sie bewegten sich. So weit sich Geräusche bewegen konnten, hieß das. Piep. Piep. Piep. Piep. Piep. So etwas hatte er noch nie erlebt. Mit dieser Feststellung wuchs seine Erregung nur noch mehr. Was passierte hier? Und vor allem: Hatte er selbst es ausgelöst? Zum ersten Mal fragte er sich, was er wohl noch alles tun konnte, wenn er es wollte. Kapitel 1: Gesucht und gefunden ------------------------------- „Oh Maaann...~!“ Nathanael Simons lehnte sich zurück und streckte sich ausgiebig. Die vergangenen zwei Schulstunden waren echt anstrengend gewesen. Geschichte lag ihm ja so schon einfach nicht, aber bei dem Lehrer, den sie hatten, wurde es nur noch schlimmer. Es war einer von diesem Klischee-Typ „Steinalter Geschichtslehrer“, bei dem man sich fast sicher war, dass er all das, was er unterrichtete, bestimmt auch live miterlebt hatte. Natürlich gestaltete der seinen Unterricht dann auch noch so trocken und langweilig, dass man ihm gar nicht lange zuhören konnte, selbst wenn man gewollt hätte. „Das war mal wieder 'ne schwere Geburt!“, beschwerte sich der Jugendliche und fuhr sich mit der Hand durch das aschblonde Haar. „Ich bin ja mal so was von froh, dass endlich Wochenende ist!“ „Yo, und noch dazu ist Montag frei, wegen dieser komischen Fortbildung da! Das heißt, man kann mal so richtig einen drauf machen!“, schaltete sich ein Mitschüler und Freund Nathanaels ein, welcher sich von seinem Platz aus zu ihm umgedreht und halb über seinen Tisch ausgebreitet hatte. „Meine Schnecke und ich woll'n am Sonntag ins Beach. Kommt wer mit?“ Er grinste munter in die Runde. „Flo, wir sind erst Fünfzehn...“ „Deine Schnecke? Wer is' es denn diesmal? Immer noch Cécilia?“, warf ein weiterer Junge ein, ungeachtet von Nathanaels halbherzigem Einspruch. Sein Name war Darius Vieth und er gehörte ebenfalls zum selben Freundeskreis. „Die? Ach nee, die hab ich doch längst abgeschossen! Nee, ihr kennt doch bestimmt die kleine Judith aus der A? Also die...“ Und so weiter, und so fort. Die Situation war keine Ungewöhnliche, eigentlich liefen ihre Gespräche regelmäßig so. Florian Deitzel hatte irgendwann einmal eine Klasse wiederholen müssen und war demnach ein Jahr älter als der Rest ihrer Klasse, also schon sechzehn. Aus irgendeinem Grunde schien das in ihm das Bedürfnis zu wecken, sich als der coole Große aufspielen zu müssen. Mitunter konnte das ganz schön nerven, aber Nathanael und Darius hatten sich längst daran gewöhnt. Fast schon wöchentlich prahlte Florian damit, dass er schon wieder eine neue Freundin hatte; dabei lag das entgegen dem, was er behauptete, daran, dass es scheinbar kein Mädchen lange mit ihm aushielt. Früher oder später ließ ihn jede sitzen, doch das störte ihn offensichtlich nicht allzu sehr, denn er trauerte Keiner länger als vielleicht einen Abend hinterher. Darius hingegen hatte schon seit Ewigkeiten eine Freundin, aber keine feste Beziehung. Sollte heißen, dass er schon seit dem Kindergarten eine wirklich enge Freundin hatte – ihr Name war übrigens Elena Kort – und wirklich jeder der Ansicht war, die Beiden wären zusammen, auch wenn sie es beide immer abstritten. Dabei war es eigentlich eindeutig, dass sie zusammengehörten. Nathanael selbst war Single, aber das störte ihn kaum. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich ohnehin noch nicht reif für eine ernsthafte Beziehung. Natürlich wäre es schon schön, jemanden zu haben, aber... auf Dauer wäre es ihm wahrscheinlich zu anstrengend. Und es lag definitiv nicht daran, dass kein Mädchen einen Knirps wie ihn haben wollen würde, auch wenn Cassis das immer behauptete. So klein war er gar nicht, seine Größe war ganz normal für sein Alter! ...Ach ja, Cassis. Den gab's ja auch noch. Besagter junger Mann war keiner seiner Klassenkameraden, sondern der beste Freund seines Nachbarn, auch wenn Nathanael beim besten Willen nicht verstehen konnte, warum. ...Na ja, er selbst war ja auch mit jemandem wie Florian befreundet... Wie dem auch sein mochte; Nathanael verbrachte viel Zeit bei seinem Nachbarn, einem Studenten namens Irving Falke. Seine Eltern waren geschieden und seine Mutter, bei der er lebte, war oft auf Geschäftsreise, da hatte er viel Zeit, alleine zu Hause zu sitzen und sich zu langweilen. Diese verbrachte der Junge natürlich lieber in Gesellschaft als alleine, und so hockte er oft drüben bei Irving, wenn dieser zu Hause war. Da dieser Student war, ging das auch einigermaßen von der Zeit her. Natürlich kannte er da auch Cassis – oder wie auch immer der wirklich heißen mochte. Cassis war nur ein Spitzname, den ihm irgendwer, sei es seine Band oder Irving persönlich gewesen, wegen seiner stets dunkel-violett gefärbten Haare verpasst hatte. Seinen richtigen Namen wusste Nathanael nicht. Konnte sein, dass Irving ihn mal erwähnt hatte, aber er erinnerte sich nicht mehr daran, weil eigentlich jeder ihn einfach nur Cassis nannte. Oder „Herr Caspari“, wenn Irving wütend war; Caspari war wohl also sein Nachname. Während er sich mit seinem Nachbarn gut verstand, geriet Nathanael mit Cassis immer wieder mal aneinander. Im Gegensatz zu seinem Freund war der kein Student, sondern Musiker, genauer gesagt Gitarrist in der (ziemlich unbekannten) Rock-Band namens „Sindrome“. Doch vor allem zog er den Schüler immer auf, mit seiner Größe, seinen Noten oder was gerade passte. Wen Nathanael noch ganz gerne mochte war Janni, Janne Caspari, Cassis' jüngere Schwester. Sie war nicht viel älter als er und ging wohl auch noch zur Schule, jedoch auf eine Andere als er selbst. Meistens hing sie mit ihrem Bruder und den anderen Bandmitgliedern herum und übernahm auch mal die weibliche Lead-Stimme, wenn eine gebraucht wurde. Manchmal tauchte sie aber auch mit bei Irving zu Hause auf, daher kannten sie sich, wenn auch nicht sonderlich gut. Die Schulglocke riss Nathanael aus seinen Gedanken. Seine Freunde, die sich offenbar in ihrem Gespräch nicht davon hatten beirren lassen, dass der Dritte im Bunde geistig komplett woanders gewesen war, unterbrachen ihre doch recht lebhafte Diskussion über Damenunterwäsche und Miniröcke und begaben sich zurück an ihre Plätze, während der Klassenraum sich langsam aber sicher wieder mit murrenden Schülerinnen und Schülern füllte. Noch diese Doppelstunde, dann hatte er es endlich für den Rest des Tages und der Woche geschafft und konnte nach Hause gehen. Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht auch noch übermäßig viel mehr an Hausaufgaben auf bekamen, als ihnen ohnehin schon über die freien Tage aufgebrummt worden war. Wie nicht anders zu erwarten plätscherte der Unterricht so vor sich hin, die Hälfte der Klasse war wohl mit den Gedanken schon im bevorstehenden Wochenende. Zur Belohnung gab es wie befürchtet einen dicken Batzen Aufgaben, die sie bis zum kommenden Dienstag zu bearbeiten hatten. Blieb nur die Frage, wie viele Leute auch tatsächlich alles erledigen würden. Darius hatte zwar in der Regel keine Probleme mit solchen Aufgaben und Nathanael hatte vor, mal wieder Irving nach Möglichkeit um Hilfe zu bitten, doch bei Leuten wie Florian, deren Arbeitshaltung etwa der eines mittelgroßen Grasbüschels entsprach, waren überzeugende Ergebnisse zu bezweifeln; dabei sollte man eigentlich denken, er habe aus seinem Wiederholungsjahr gelernt. Unter einer Mischung aus freudigem und verärgerten Gemurmel verließ man schließlich und endlich den Klassenraum. „Wochenende~“, trällerte Darius und stapfte voraus, wobei er sich reckte und dann zu seinen Freunden umwandte. „Ey, sorry, Leute, aber... ich hab Elena versprochen, heute mit ihr ins Kino zu gehen. Ich bin dann mal weg!“ Damit lief er dann auch schon davon. Florian rief ihm noch „Kein Sex vor der Ehe!“ hinterher, was er jedoch entweder nicht gehört oder schlichtweg ignoriert hatte. Florian und Nathanael teilten sich noch ein Stück ihres Heimweges, dann verabschiedeten auch sie sich von einander und die Jungs gingen alle ihrer eigenen Wege. Zu Hause angekommen begrüßte ihn außer einer leeren Appartementwohnung auch noch die alte Dame aus dem Erdgeschoss. Er lebte mit seiner Mutter in einem Mehrfamilienhaus, da sie ohnehin so gut wie nie zu Hause war und die Wohnung für ihn allein auf jeden Fall groß genug war. Ein eigenes Haus mit Garten wäre auch schön gewesen, doch gleichzeitig viel zu viel Aufwand, um es praktisch alleine zu bewohnen, deshalb war der Schüler eigentlich ganz froh darüber. In einer der Erdgeschosswohnungen lebte eine alleinstehende ältere Frau, der er ab und an mal aushalf, wenn sie etwas brauchte und ihre Tochter und deren Mann keine Zeit hatten. So hörte er sich auch heute ihre Bitte an. Offenbar hatte sich ihre Katze, ein normalerweise recht behäbiges und entsprechend dickes Tier namens Mausi, nach draußen geschlichen und war seitdem noch nicht wieder aufgetaucht. Kein Wunder, dass die gute Frau sich da Sorgen machte, wenn man bedachte, dass Mausi seine Zeit am liebsten auf dem Flokatiteppich vor dem Fernseher verbrachte und nichts tat, außer zu fressen und sich kraulen zu lassen. Nachdem er versprochen hatte, sich um die Suche nach dem verschollenen Vierbeiner zu kümmern, lief Nathanael hoch in seine Wohnung und warf seine Schultasche in die Ecke, ohne sich die Mühe zu machen, das Licht anzuschalten oder seine Schuhe auszuziehen, da er eh gleich wieder los musste. Anschließend wuselte er durch die Küche, um sich zumindest ein paar belegte Brote zu organisieren, ehe er sich auf die Suche machte. Denn wer wusste, wie lange das wieder dauern konnte? Da wollte er vorher lieber was im Magen haben. „Dabei hatte ich mich so auf 'ne Pause gefreut... Na ja, was soll's“, grummelte er leise in sich hinein, während er sich sein Brot in den Mund stopfte und die Haustür von außen abschloss. Na, das konnte mal was werden. Er hatte so gar keinen Schimmer, wo er anfangen sollte zu suchen. Wahrscheinlich war die Katze einem Artgenossen, einer Ratte oder irgendetwas Anderem hinterhergejagt und dabei verloren gegangen. Wie er sein Glück kannte, würde sie sogar vor ihm wieder zu Hause auftauchen, einfach, weil sie Hunger bekam. Aber nun gut, versprochen war versprochen, also hatte er ja wohl kaum eine Wahl. Wie lange war er jetzt schon unterwegs, auf der Suche nach dieser blöden Katze? Es mussten Stunden sein; mittlerweile dämmerte es sogar schon, und immerhin hatten sie Anfang Sommer, da waren die Tage schon relativ lang. Da er sie bis jetzt schon nicht gefunden hatte, erschien es ihm ausgesprochen unwahrscheinlich, dass er Mausi noch über den Weg laufen würde, selbst wenn er jetzt weiter suchte. Außerdem... Wo zur Hölle war er eigentlich? Das musste schon der Anfang des Industriegebiets sein. An die Stelle der großen Wohnkomplexen und Mehrfamilienhäuser, zwischen denen er seine Suche begonnen hatte, waren erst einladende Einfamilienhäuser mit hübschen Gärten getreten. Nun waren daraus mittlerweile, ohne dass er es bewusst mitbekommen hatte, klotzartige Büro- und Fabrikgebäude geworden. Er war so in die Suche nach der Katze vertieft gewesen, dass er gar nicht mitgekriegt hatte, wo er eigentlich langlief. Hier war er vorher noch nie gewesen – und irgendwie fand er das nicht schade. Irgendwie fühlte er sich hier nicht wohl; ein unangenehm kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Und wie um sein mieses Gefühl zu bestätigen, fielen genau in diesem Moment mehrere Schüsse. „W-Wa...?!“, stammelte Nathanael, nachdem er im Schreck heftig zusammengezuckt war. Das... Das hatte er sich gerade eingebildet, oder? Da war kein Schuss gewesen, kurz bevor irgendwo ein Auto mit quietschenden Reifen davongerast war wie in irgend so einer amerikanischen Krimi-Serie, richtig? Für eine Weile stand er einfach nur da wie erstarrt. Das war ihm alles zu gruselig. Andererseits... wenn wirklich auf jemanden geschossen worden war, dann war es seine Pflicht, zu helfen. Und dieses Auto war ja weg, also... Der Junge schluckte schwer, aber schließlich gewann sein Pflichtgefühl über seine Angst und er bewegte sich langsam, gaaanz langsam in die Richtung, aus der er die Geräusche gehört zu haben glaubte. Sein Weg führte ihn in eine zwielichtige Hintergasse zwischen zwei gewaltigen Gebäuden, die Fabriken oder was auch immer sein mochten. Die durch die hohen dunklen Steinwände gedämpfte Beleuchtung reichte zwar durchaus noch aus, um alles um ihn herum zu erkennen, dennoch verfehlte sie ihre Wirkung nicht, der Atmosphäre einen düsteren Anstrich zu geben. Auf einer Seite standen hohe und völlig überfüllte Müllcontainer samt Graffiti-Schmierereien und davonlaufenden Ratten. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend stapfte Nathanael die Gasse entlang, bis zur nächsten Biegung. Dabei kam er sich immer mehr vor wie in einem schlechten Film – aber dennoch hatte er nicht erwartet, tatsächlich die Leiche eines erschossenen Mannes zu finden. Doch das Schlimmste war nicht die Leiche... nicht allein. Das wirklich Gruselige war, dass er nicht alleine mit dem Toten war. Direkt neben neben dem leblosen Körper und inmitten der Blutlache, die sich um ihn gebildet hatte, kauerte jemand, ein Junge. Von Weitem konnte er das schlecht beurteilen, doch Nathanael schätzte, dass er nicht viel älter sein konnte als er selbst, vielleicht zwei oder drei Jahre. Seine Haare waren pechschwarz und hingen ihm in die Augen und glatt herab, bis auf zwei breite Streifen – einzelne Strähnen waren das schon nicht mehr – die schräg nach hinten liefen und seltsam von seinem Kopf abzustehen schienen. Schräg auf seinem Kopf hing eine halb heruntergerutschte braune Mütze. Seine Haut war schneeweiß, zumindest das, was davon zu sehen war. Der Rest war verhüllt von etwas, was sich bei genauer Betrachtung als ein (selbstverständlich blutgetränkter) Kittel erwies, wie man ihn gewöhnlich in Krankenhäusern oder Laboren trug. Noch schien er die Ankunft Nathanaels nicht bemerkt zu haben, jedenfalls betrachtete er weiter interessiert wie fasziniert seine Hände, welche mit dem Blut des Toten verschmiert waren. Ganz so, als hätte er nicht nur noch nie in seinem Leben Blut gesehen, sondern bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gewusst, dass es existierte. „Oh mein Gott...!“, entfleuchte es Nathanael, als er sich des Anblicks vor ihm gewahr wurde. Es fühlte sich an, als hätte sein Herz einen Schlag ausgesetzt. Sofort schlug er sich die Hand vor den Mund, doch die Gestalt hatte ihn wohl längst gehört; denn kaum hatte der Junge seinen Satz ausgesprochen, zuckte der Schwarzhaarige mit... den Haaren? Und wandte sich zu ihm um, wobei sich die langen Teile seiner Haare aufstellten. ...Nein. Keine Haare. Ohren. Das waren Ohren. Wie die eines Hasen oder Kaninchens. Was zur Hölle ging hier vor sich?! Nathanael knickten die Beine weg und er fiel rücklings auf sein Hinterteil. Doch anstatt dass, wie er befürchtete, dieser seltsame Junge auf ihn zukam, um ihn auch umzubringen oder was auch immer, griff dieser in einer ähnlich erschreckten Reaktion nach seinen Ohren und zog sie herunter, ganz so als schämte er sich dafür und wollte sie verstecken. Gleichzeitig sah er Nathanael aber immer noch mit unverändertem Blick an. Doch fixierten ihn seine strahlend roten Augen nicht unverwandt oder in einer anderen Form bedrohlich oder einschüchternd, sondern einfach... fragend. Auf diese unschuldige und verwirrte Art, wie ein kleines Kind oder ein junges Tier schauen würde, wenn man es plötzlich in eine ihm völlig fremde Umgebung setzen würde. Der Junge schwieg. Vielleicht... Nur vielleicht... war er ja gar nicht so gefährlich? Jemand der so schaute, konnte einfach nicht gefährlich sein. Und wenn doch – dann war es jetzt ohnehin schon zu spät, um noch mit heiler Haut davonzukommen. Letztendlich fasste Nathanael sich ein Herz und versuchte, sich aufzurappeln. Seine Beine fühlten sich etwas so stabil an wie Wackelpudding, aber immerhin konnte er stehen. Am liebsten wäre er sofort weggerannt, aber irgendetwas sagte ihm, dass er diesen Jungen nicht einfach hier sitzen lassen konnte. Die Polizei zu rufen war das Beste, was er in so einer Situation tun konnte – aber halt, nachher hatte er noch irgendein dunkles Staatsgeheimnis aufgedeckt oder so. Das konnte übel für ihn ausgehen, wenn jemand herausfand, dass er einen Jungen mit Hasenohren gefunden hatte. Doch was konnte er sonst tun? Auch bei längerer Überlegung fiel ihm nur eine ansatzweise sinnvolle oder zumindest moralisch akzeptable Möglichkeit ein: Den Hasenjungen mit nach Hause nehmen und beten, dass niemand etwas mitbekam. Mann, war er froh, dass seine Mutter nicht zu Hause war. „Ah, uhm... Hallo?“, ergriff er unsicher das Wort. „Wie heißt du? Und... wie kommst du hierher?“ Ob er echt nachfragen sollte? Egal ob ja oder nein, der Andere antwortete nicht. Das verunsicherte Nathanael nur noch mehr. „Dann, uh... Hast du irgendwo, wo du hingehen kannst?“ Noch immer keine Antwort, nur dieses Starren. „Hey! Ich rede mit dir!“ So langsam würde Nathanael ärgerlich – dann kam ihn jedoch eine Idee. „Sag bloß – du kannst nicht sprechen?“ Der Hase blinzelte. „Na klasse...“, murmelte Nathanael. „Das wird ja immer besser...“ Doch obwohl er sich jetzt beschwerte, hatte er sich, ohne es selbst gemerkt zu haben, deutlich entspannt. Sein Ärger über das sichtliche Unverständnis ließ seine eigentliche Sorge und Angst vergessen werden. „Komm, ich nehm' dich mit zu mir. Hier kannst du ja wohl kaum bleiben“, erklärte er und ließ seinen Blick kurz umherwandern, konzentrierte sich aber sofort wieder auf das Gesicht seines Gegenübers, als sein Blick auf den toten Körper traf, der noch immer neben ihnen in seinem eigenen Blut lag und den er nach besten Mitteln versuchte auszublenden. Keine Reaktion. „Mmmr, Mann! Verstehst du mich überhaupt?!“ Deutlich angenervt ergriff der Schüler letztlich den Arm des Fremden und versuchte, ihn hochzuziehen. Allerdings knickten dessen Beine dabei sofort weg und er saß wieder auf dem Boden. „Oh bitte... Sag mir nicht, dass du auch nicht laufen kannst...“, jammerte Nathanael, mehr an sich selbst gerichtet. Endlich bekam er eine Reaktion: Der Junge streckte ihm seine Arme entgegen. Wollte er etwa getragen werden? Wie dreist! ...Andererseits bedeutete das wohl, dass er zumindest irgendetwas von dem verstanden hatte, was er ihm mitzuteilen versucht hatte. „Ich kann dich nicht tragen, dazu bist du mir zu groß“, versuchte er, verständlich zu machen. „Also versuchen wir's mal so... Hilf mir, ja?“ Mit diesen Worten legte er sich einen der blassen Arme über die Schultern und stemmte so den Jungen hoch. Ihm von sich aus helfen tat der Andere dabei nicht, aber zumindest wehrte er sich auch nicht. Schritt eins erfüllt, jetzt folgte Schritt zwei: Ihn irgendwie nach Hause bugsieren, ohne dabei allzu sehr aufzufallen. Einfach würde das nicht werden. Denn wann schleifte man schon mal einen bis auf einen Laborkittel und eine Mütze nackten Jungen mit Hasenohren, welcher noch dazu komplett blutbeschmiert war, von einem Industriegebiet durch die halbe Stadt zu sich nach Hause? Nathanael betete, dass ihnen niemand begegnete. Und schon gar niemand, den er kannte. Die ersten Schritte waren die Schwersten. Immerhin war dieser Junge größer als er und sein gesamtes Gewicht lastete auf seinen Schultern, auch wenn er doch unerwartet leicht war. Seine nackten Füße schliffen über den Boden und Nathanael fragte sich, ob es ihm nicht wehtun musste. Doch der Andere beobachtete nur wie gebannt, wie der Boden sich unter ihm bewegte und seine eigenen Füße wund scheuerten. Allerdings – sei es aus einem doch noch gefundenen Gefühl des Schmerzes heraus oder aus purer Neugier, was es wohl bringen würde – fing er irgendwann an, mitzugehen. Oder besser, Nathanaels Schritte zu imitieren, denn irgendwie schien er das Prinzip des Gehens noch immer nicht verstanden zu haben. Auf jeden Fall erleichterte das Nathanael seine Arbeit ein bisschen, auch wenn bei Weitem nicht genug Stabilität in den unkoordinierten und holprigen Schritten steckte, um den Hasenjungen alleine aufrecht zu halten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)