Perlmutt von Hepho ================================================================================ SILVESTER (II): »Bist du taub?!« -------------------------------- Zu Silvester hasse ich die Innenstadt. Unterhalb der Hochbahn bebte London vor Leben. Unter zahllosen Füßen und Rädern war der frische Schnee von letzter Nacht zu einem braunen Morast verkommen. Ich saß mit Kopfhörern im Ohr an das Fenster gelehnt und hatte die Musik auf volle Lautstärke gedreht, aber ich hörte nicht hin. Die Kälte der Scheibe brannte auf meiner Stirn. Unten auf der Straße stauten sich die Autos vor einer roten Ampel. Eine Gruppe junger Erwachsener nutzte die Gelegenheit, schlüpfte lachend zwischen den wartenden Fahrzeugen hindurch und hob pralle Supermarkttüten über die dampfenden Motorhauben hinweg. Mit einem Ruck kam direkt unter mir ein Auto wippend zum Stehen. Bremslicht flammte auf und der überraschte Wagen dahinter krachte ihm beinahe in die Stoßstange. Auf der Fahrerseite beider Autos schlängelten sich Arme aus dem Fenster. Fäuste hieben in die Luft. Die Ampel sprang auf Grün um, die Arme zogen sich nach mehrmaligem Hupen eines Dritten in ihre Fahrzeuge zurück, und der Stau begann vorwärtszufließen wie eine zähflüssige Suppe, die jemand ausgoss. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Ich sank gegen den weichen Stoff des Sesselpolsters. Kein Vergleich zu den stumpfgescheuerten Sitzen der Nachtbahnen. Normalerweise benutzte fast ausschließlich die Oberschicht die Züge der Hochbahn. Das Schienennetz erstreckte sich auf Säulen zwischen den Wolkenkratzern der gesamten Innenstadt und glitt wie eine schimmernde Schlange über die Menschenmassen unten auf den Straßen und in den Untergrundbahnen hinweg. Die Abteile boten Platz für höchstens vier Leute und waren komplett voneinander abgetrennt. Es gab auch zwei Wagen zweiter Klasse mit größeren, nur durch Glaswände separierten Sitzgruppen. Ein solches Ticket kostete nur die Hälfte von meinem, aber heute war mir die Einsamkeit Gold wert. Ich hatte mir ein eigenes Abteil unter den Oberen gesucht, denn hier blieb man unter sich. Die Menschen, die gemeinsam reisten, unterhielten sich gedämpft, wer allein fuhr, arbeitete am Laptop, telefonierte oder – wenn er wie ich nur selten hier oben fuhr – genoss die Aussicht auf das Treiben der Menschen unter uns. Sich am Fenster die Nase platt zu drücken, wagte jedoch niemand. Ich rümpfte die Nase und schloss die Augen. Heute gab es an dem wimmelnden Anblick unten in der Innenstadt auch nichts zu genießen. Normalerweise tat ich mir dieses teure Vergnügen in der gehobenen Gesellschaft nicht guten Gewissens an, aber ich hatte die Wahl gehabt zwischen ihnen und dem halsbrecherischen Spektakel tief unter mir. Keine schwer zu treffende Entscheidung. Zu meiner Überraschung hatte mein Veilchen auch relativ wenig Aufmerksamkeit erregt. Garreth hatte es beim Frühstück geflissentlich übersehen, weil er genau wusste, wie eitel ich in solchen Dingen bin. Solweigs Eltern waren über Silvester verreist – ein Umstand, den ich in meiner Zerstreutheit zuerst völlig verschwitzt hatte, der mir zu meiner Freude allerdings die peinliche Erklärungsnot ersparte. Nachdem ich in die Hochbahn eingestiegen war, hatte mein Erscheinungsbild einige affektierte Blicke auf sich gezogen, aber meine Gesamtaufmachung wies mich als einen der Ihren aus, also wurde über mich Ärmsten nur mitleidig der Kopf geschüttelt und das war es dann. Ich hatte mir ein Hemd von Garreth geliehen (es war mir zwei Nummern zu groß, aber unter der Jacke fiel das nicht weiter auf) und wir hatten meine Jacke abgewaschen, doch ein blaues Auge bleibt ein blaues Auge. Zuerst hatte ich deshalb ein Heidentheater veranstaltet, bis Garreth entnervt meinte, Solweig solle es mir wegschminken oder er würde mein anderes Auge farblich anpassen. Plötzlich bemerkte ich, dass etwas mit meiner Musik nicht stimmte. Andere Töne hatten sich darunter gemischt, die nicht zu dem Lied gehörten. Erst, als sie fast wieder verstummt waren, begriff ich, dass es sich um eine sprechende Stimme außerhalb der Kopfhörer handelte. »…du taub?!«, war das Einzige, was ich verstand. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Im Nachbarabteil mussten sich Passagiere lautstark streiten. Anscheinend reichten auch Musik am Anschlag und ein teures Abteil für sich allein nicht mehr aus, um die Umwelt auszublenden. Wahrscheinlich würde gleich jemand dazwischen gehen und den Streit schlichten, denn die Oberschicht gab sich so gut wie nie die Blöße einer lauten Auseinandersetzung in aller Öffentlichkeit. Plötzlich waren die Kopfhörer verschwunden. Instinktiv schnappte ich nach dem Kabel. Und packte ein Handgelenk. Alarmiert riss ich die Augen auf. Der blonde Junge, in dessen finsteres Gesicht ich starrte, war mit Sicherheit zwei Jahre jünger als ich. Auf der Brusttasche seiner schwarzen Seidenweste prangte dekorativ das Emblem der Congregatio Magica: die vier Säulen, Symbol ihrer Tugenden, umrahmt von den zwölf Sternen der europäischen Flagge. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Das erholsame, gedankenlose Schwebegefühl, das sich nach meinem Gespräch mit Solweig eingestellt hatte, wich einer dumpfen Wut. Mit der Sigle holte mich die Wirklichkeit ein, und sie lachte mich boshaft und schadenfroh aus, oh ja. Warum konnte ich nicht einfach meine Ruhe haben? Wenn sich schon ein Snob mit mir anlegen musste, wieso konnte es nicht ein Null-acht-fünfzehn-Snob sein? Wieso musste es ein Congregatio-Snob sein? Er war unverkennbar einer dieser Internatsschnösel, deren Ausbildung von der Regierung gefördert wurde. Sie trieben sich manchmal in der Innenstadt herum, wenn sie Ausgang hatten. Wenn einer in mein Blickfeld trat, wechselte ich die Straßenseite, damit ich ihre Sticheleien nicht hören musste. Meine Theorie war, dass man mit dem Stipendium der Congregatio die Selbstliebe kellenweise fraß. Sie behandelten jeden, dessen Nase ihnen nicht passte, mit einer näselnden, arroganten, übertrieben höflichen Art, die sie für Kultiviertheit hielten und auf die sie sich wer weiß was einbildeten. Der hier machte sich nicht einmal die Mühe, mir gegenüber höflich zu wirken. Stattdessen musterte er mich abschätzig. Dank Mums Beamtenjob hatten wir keinen schlechten Stand. Nach dem letzten Tag musste ich auf diesen Pimpf allerdings einen Eindruck machen, der abgerissen genug erschien, um mich als Hinterwäldler einzustufen. Offensichtlich war ich seiner Meinung nach fehl am Platze, das ließ sein Blick mich spüren. Meine Kopfhörer wie eine Leinenschlaufe umklammernd, baute er sich vor mir auf. »Lass die los«, sagte ich tonlos. Der Junge verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Sag bitte.« »Was willst du?« »Würdest du bitte aufstehen. Dieses Abteil ist für mich.« Er sah eher danach aus, als würde er sich an einem Sitz, den ich benutzt hatte, nicht einmal die Stiefel abwischen. Mach die Musik leiser, du Depp unterhältst mit dem Gegröle den ganzen Zug! So etwas hätte ich erwartet. Aber das! Die reservierten Abteile hatte ich in der gleichen Absicht hinter mir gelassen wie die zweite Klasse. Mir war nicht nach Gesellschaft zumute gewesen, nicht einmal nach der von Menschen hinter geschlossenen Türen. Und dass mir diese kleine Nervensäge jetzt so auf die Pelle rückte, strapazierte meinen guten Willen aufs Ärgste. Ich verstärkte den Griff um sein Handgelenk. Er ruckte mit dem Arm, schaffte es aber nicht, sich zu befreien. Schließlich gab er es mit geschürzten Lippen auf. So hatte er sich das offenbar nicht vorgestellt. »Du lässt meine Kopfhörer los und ich deine Hand«, schlug ich ihm vor. »Und dann suchst du dir ein eigenes Abteil und lässt mich zufrieden.« Der Schnösel bleckte die Zähne. Meiner Meinung nach war er einfach zu spät dran und in jedem Abteil hatte sich bereits irgendeine blasierte Seele breitgemacht. Er hatte eindeutig nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet ich ihm so standhaft Paroli bieten würde. Statt aber klein beizugeben, verzog er seine verhärmte Miene zu einem höhnischen Grinsen. »Siehst du das hier?« Mit inbrünstiger Geste wies er auf das Congregatio-Wappen auf seiner Jacke. Im selben Moment erwachte die Bahn in einer einzigen fließenden Bewegung zum Leben. Ich trauerte meiner wohlverdienten Einsamkeit nach und musterte die stilisierten Säulen. Tapferkeit. Weisheit. Gerechtigkeit. Besonnenheit. Im Grunde genommen, war die Sigle wie eine verheißungsvolle Produktverpackung und der Schnösel wie das darin verborgene Fertiggericht, in dem irrtümlich eine Fliege mit eingeschweißt worden ist. Dass sich eine Schicht einer anderen gegenüber im Ton vergriff, kam zuweilen vor. Dann wurde der niedriger Gestellte für gewöhnlich einmal in seinen Wurzeln diskreditiert, der höher Gestellte im Gegenzug angemessen deftig zurückbeleidigt und man ging seiner Wege. Aber so, wie dieser Lackaffe sich aufführte, war er eine Schande für den ganzen gesellschaftlichen Stand, dem er angehörte. »Und, was sagt dir das?« Sein Finger pochte nachdrücklich auf die Stickerei. »Die Weste ist dir ein paar Nummern zu groß«, erwiderte ich trocken. Mein Trotz brachte ihn zum Rasen. »Leute wie du haben hier nichts verloren«, kläffte er. »Mach den Platz frei, oder ich sorge dafür, dass du entfernt wirst.« Das sollte er wagen! Im Geiste stellte ich mich darauf ein, einer langatmigen Konversation mit einem gezielten Faustschlag vorbeugen zu müssen, und hoffte, dass ich darum herum käme. Denn tausendmal wichtiger als ein gut gezielter Schlag waren schnelle Beine im Anschluss. Nicht einmal das Vergnügen, diesem Schnösel seine Arroganz zu den Ohren herauszuprügeln, wäre mir die Menge an Pfund Sterling Wert gewesen, die mein Ticket gekostet hatte. »Wer bist du? Der König?«, knurrte ich. So viel zum Thema »Dampf ablassen« – mein Kampfgeist brachte nicht einmal ein müdes Pusten zustande. Ich fühlte mich, als hätte ich Leck geschlagen. Seine freie Hand zuckte vor, um mich aus dem Sitz zu zerren, aber ich war gewappnet und fegte sie zur Seite. Seine Augen flackerten unheilvoll, dann loderte das Leuchten auf wie angefachtes Feuer. Das vertraute Pochen hinter meinen Schläfen setzte wieder ein. Weiße Flecken erschienen vor meinen Augen und platzten wie Blasen. Der zweite Schlag kam zu schnell für mich. Seine Faust rammte meine geschundene Nase und ich sackte jaulend in meinem Sitz zusammen. Eines musste man dem Kerl ja lassen: Zielen konnte er! Als ich wieder aufschaute, stand er in der Abteiltür. Sein boshaftes Grinsen zog sich von einem Ohr zum anderen. In seiner Hand hielt er nicht mehr meine Kopfhörer. Schlimmer. Er hatte mein Ticket. Überflüssigerweise griff ich nach meiner Brusttasche, in der ich den Wisch aufbewahrt hatte. Wie hatte er so treffsicher danach greifen können? Mein Gesicht musste eine einzige Frage sein, und sie entlockte dem Maulhelden vor mir ein triumphierendes Lachen. Ich war wie in den Sitz gedrückt, während ich beobachtete, wie er meine Fahrkarte mit spitzen Fingern emporhielt, in der Mitte zerriss, die Hälften übereinanderlegte und noch einmal und noch einmal zerriss, bis seine Finger die Fetzen kaum noch greifen konnten. Die Reste meiner letzten Ferienjobersparnisse flatterten vor meinen Augen auf den neuen Teppichboden der Hochbahn. Ich konnte sie förmlich schreien hören. »Du verdammter kleiner Schuhlutscher«, fauchte ich und sprang ihn mit Klauenhänden an, doch er wich meinem Griff leichtfüßig aus. Plötzlich ruckte der Zug und kam mit einem gewaltigen Atemzug zum Stehen. Ich wurde in den gegenüberliegenden Sitz geschleudert. Einige Fahrgäste schrien auf und fingen an zu schimpfen. Tief unter uns hupten Autos. Im gegenüberliegenden Fenster sah ich, dass wir den Bahnsteig noch nicht ganz verlassen hatten. Unruhige Schatten flackerten von jenseits der Deckenfenster über die Wände des Abteils. Der Schnösel stolperte rückwärts in den Gang hinaus und ruderte ungelenk mit den Armen. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn aus dem Weg zu stoßen. Bevor er sich fangen konnte, war ich an ihm vorbeigehuscht. Ein Geschäftsmann, der im Gang stand und sich mit einer Frau im nächsten Abteil über den unverhofften Halt echauffierte, ignorierte meine eilig hingerotzte Bitte, mich vorbeizulassen. Kurzentschlossen holte ich Schwung und zwängte ich mich zwischen ihm und der Abteiltür hindurch, wobei sein Notebook beinahe gegen die Glasfront geschleudert wurde. Seine Hand schnappte nach meinem Kragen, aber ich konnte mich unter dem Griff hinwegducken. »Meine Damen und Herren, wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, aber eine Weiterfahrt ist derzeit leider ausgeschlossen ...«, setzte aus den Lautsprechern eine demütige Frauenstimme an. Ihr Entschuldigungssermon begleitete mich, während ich quer durch den Waggon flitzte und beinahe eine Servicekraft über den Haufen rannte, die von Abteil zu Abteil ging, um die Passagiere zu beruhigen. Statt eines Fingers rammte ich gleich die ganze Handfläche auf den Knopf, der die Türen öffnete, und hechtete auf den Bahnsteig hinaus. Hinter mir schoben sich weitere Passagiere ins Freie, um zu sehen, warum die Bahn so unvermittelt gestoppt hatte. Sobald ihre Füße den Asphalt berührten, erstarrten sie in vollendeter Synchronie. Unter uns lagen die Straßen reglos und schweigsam; sämtliche Augen waren gen Himmel gerichtet. Auf dem Schienenstrang über unseren Köpfen waren die hinteren Waggontüren einer Hochbahn aufgestoßen worden. Bei einer weiteren Hochbahn, die zur Hälfte hinter einem Wohnblock verborgen lag, standen die Türen ebenfalls sperrangelweit offen. Aus beiden Zügen schneite es Papier. Papier breitete sich über dem Steinboden aus wie ein Teppich und sog die Überreste des Schnees auf. Papier schmiegte sich an Menschen und glitt an ihnen hinab. Papier formte eine zweite Haut über der Straße unter uns. Die Zeit stand still und das Papier war ihr entflohen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich der Schnösel zwischen den Leuten hindurch nach draußen zwängte. Ein Blatt wischte im Sinkflug über sein Gesicht. Wütend riss er es herunter und starrte auf den Inhalt. Sein Gesicht verfärbte sich kalkweiß, ob vor Entsetzen oder Wut ließ sich schwer sagen. Irgendwann ließ der Blätterregen nach, wurde zu einem Tröpfeln. Die Menschen erwachten aus ihrer Starre und wandten sich dem Meer zu, das sich vor ihren Füßen ergossen hatte. Das Leben war in sie zurückgekehrt, und mit ihm ihre Stimmen. Die Innenstadt summte vor ihrem Gemurmel. Man hörte es bis hier oben, wo die Leute dem Inhalt der Blätter mit schweigendem Ekel begegneten. Die Türen der Waggons schlossen sich, aber die Bahnen setzten nicht zur Weiterfahrt an. Die Passagiere im Zug über uns drückten sich rücklings an die Fenster, die Hände erhoben. Ein uniformierter Mann schob die Leute hinter mir beiseite und sprang in den Zug, aus dem wir gekommen waren. Weitere folgten ihm. Man suchte die Verantwortlichen. Es fielen kaum noch Zettel. Ich fing einen Nachzügler vor meiner Nase aus der Luft. Kämpft für freie Bildung! Finanziert nicht eure Dummheit! Ein Dolch und ein Schlüssel. Meine Hände schlossen sich um das Flugblatt. Die Worte rüttelten irgendetwas in mir wach. Plötzlich konnte ich es nicht erwarten, nach Hause zu kommen. Ich drehte mich auf dem Absatz um und trottete los, in der Hoffnung, dass der Schnösel mich in dem aufbrandenden Getümmel nicht sah. Natürlich sah er mich. Ich war der Einzige mit einer Richtung. »Ey, du!«, brüllte er mir nach. Als ich nicht reagierte, wandte er sich irgendjemandem zu, der neben ihm stand. »Der Typ ist ein Magier! Ein wilder!« Bei dem Wort stolperte ich über meine eigenen Beine. Im Nacken spürte ich plötzlich die Blicke zahlreicher Augenpaare. Ich verschwendete keine Zeit damit, mich umzusehen. Ein Teil der Stimmen galt nicht mehr den Flugblättern. Ich hörte, wie jemand nach den uniformierten Männern rief, die meinen Zug durchsuchten. Da rannte ich los. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)