Pulse von abgemeldet (»What happens in Vegas, should stay in Vegas«) ================================================================================ Kapitel 2: to draw together --------------------------- TO DRAW TOGETHER »Colin«, hörte ich Alicia leise, aber beinahe tröstend sagen, als sie mir von hinten ihre Hand auf den Rücken legte und sachte darüber strich. »Das ist doch nicht so schlimm. Vielleicht war es wirklich keine gute Idee, es zu tun, wenn mein Dad unten im Wohnzimmer ist. Ab—« »Alicia, hör auf so nett und verständnisvoll zu sein!«, fauchte ich aufgebracht und stand auf, um ihrer Hand, die beruhigend über meinen Rücken strich, zu entgehen. Es war nicht zu ertragen, dass sie dieses Fiasko offenbar begründen und als … als nicht so schlimm abtun wollte. ›Nicht so schlimm‹ war nur ein unzutreffendes Synonym für ›Katastrophe mit Alarmstufe Rot‹ oder ›Apokalypse des Liebeslebens‹ oder ›Jetzt ist es aus und vorbei, ich gehe mich vor einen Zug werfen‹. Eigentlich hab es ein Dutzend mehr Übersetzungen für ›nicht so schlimm‹, aber vermutlich hätte ich den Rest meines nun wertlosen Lebens damit verbracht, sie alle aufzuzählen. »Was soll ich denn sonst sein?«, erwiderte sie mit trotzigem Unterton in der Stimme und verschränkte die Arme vor ihrer Brust, vor ihrer nackten Brust, um es präzise auszudrücken. Ich klaubte meine Unterhose vom Boden auf und zog sie an. »Keine Ahnung!«, zischte ich und stolperte durch Alicias Zimmer, während ich mir einen meiner Socken über den Fuß zog. »Sei sauer, lach mich aus, schrei mich an oder schlag mich meinetwegen auch, aber sei nicht so rücksichtsvoll!« Ich schlüpfte in meine Hose und schloss den Reißverschluss. Alicia atmete tief durch, dann krabbelte sie vom Bett und starrte mich an. »Was ist nur los mit dir, Colin?«, fragte sie und raufte sich die Haare. Sie kam auf mich zu und schubste mich nach hinten. »Bin ich dir auf einmal nicht mehr geil genug? Muss ich jetzt zuerst einen Lap-Dance machen oder eine Strip-Stange in meinem Zimmer aufstellen, damit es dich anmacht? Oder soll ich mich anziehen wie eine billige Hure mit diesen billigen Nutten-Highheels, damit du in Stimmung kommst? Oder stehst du etwa darauf, wenn du mir Befehle geben kannst? Sind dir meine Brüste zu klein? Bin ich zu fett? Was ist es, hm? Sag es mir, du Arschloch! Ich will es wissen! Sag mir, warum du auf einmal keinen mehr hochkriegst!« Na bitte. Ich kaufte ihr das beinahe ab. Aber Alicia war schon immer eine brillante Schauspielerin gewesen. Eigentlich hätte sie locker ins Filmgeschäft einsteigen können. Einen Moment lang starrte ich sie sprachlos an. Dann zog ich mir das Shirt über den Kopf, steckte die Arme durch die Ärmel und ging zu Alicia rüber. Behutsam umfasste ich ihre Hände. »Es liegt nicht an dir, Alicia«, sagte ich leise, bevor ich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr strich. »Es tut mir wirklich, wirklich leid.« Sie schmollte und ich konnte ihr ansehen, dass sie es nicht spielte. »Findest du mich nicht schön?« Ich seufzte, dann nahm ich sie vorsichtig in die Arme. Wie sollte ich ihr das erklären? Klar, es war für mich nie ein Vergnügen gewesen, mit ihr zu schlafen, aber ich hatte bisher trotzdem nie ein Problem mit meiner Potenz gehabt. Ich meine, ich war siebzehn! Mit siebzehn hat man doch noch keine Potenzprobleme! »Doch«, versicherte ich ihr und das war nicht mal gelogen. Alicia war ein schönes Mädchen mit einem tollen Körper und einer wunderbaren Ausstrahlung, aber … sie konnte auch nichts dafür, dass ich eine flache Brust und Schwänze nun mal erotische und sexuell anziehender fand als sie. Außerdem befand ich mich gerade im Haus ihres Vaters, da wäre es taktisch unklug gewesen, ihr das so zu sagen. »Gibt es etwa eine andere?«, fragte sie mich dann und stützte sich mit den Händen von meiner Brust ab, um mich anzusehen. Sie sah so verschreckt aus, dass ich mich am liebsten aus ihrem Fenster gestürzt hätte. Ja, eigentlich stand ich mit einem Bein bereits in der Hölle. »Nein!«, sagte ich, dafür betend, dass sie mir glaubte. »Es gibt nur dich, ehrlich. Du bist perfekt so wie du bist. Mit dir hat es nichts zu tun.« »Es liegt an meinen Brüsten, oder? Sie sind zu klein«, sagte sie geknickt und ließ mich los, bevor sie sich an die Brust packte und mich mit großen Augen ansah. Oh mein Gott, was hatte ich nur angerichtet? Das würde mich jetzt wohl lange verfolgen. Verdammt. »Alicia«, meinte ich eindringlich, während ich ihr Gesicht behutsam zwischen meine Hände nahm. »Deine Brüste sind großartig. Sie sind auch nicht zu klein. Ich sage das nicht nur so. Ich hab momentan nur … eine kleine … na ja … Krise. Und die hat nichts mit dir zu tun. Ich schwöre es dir.« »Was für eine Krise?«, wollte Alicia unsicher wissen. »Ich weiß auch noch nicht so genau. Vielleicht hab ich zu viel Stress. Du weißt schon … meine Eltern. Sie wollen, dass ich mindestens Arzt oder Anwalt oder Gott werde und dementsprechend hoch sind ihre Erwartungen. Es ist einfach ein bisschen viel im Moment«, erzählte ich notgedrungen und lächelte schwach. »Es gibt wirklich keine andere?«, fragte Alicia scheu nach. »Es gibt wirklich keine andere«, versprach ich ihr. Sie seufzte tief auf und ließ sich wieder aufs Bett fallen. Schweigend wickelte sie die Decke um sich. Vorsichtig setzte ich mich neben sie. Alicia lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter. »Ich vertraue dir, Colin«, meinte sie leise. »Aber sollte ich je erfahren, dass …« »… dass es jemand anderen gibt, kannst du deinen Dad schicken, damit er mich zu einem Baseball formatiert und mich zum Mond befördert«, schlug ich ihr wehleidig vor. Ich spürte, wie Alicia zustimmend nickte. Jetzt musste ich also dafür sorgen, dass sie niemals erfuhr, dass ich außer mit ihr auch mit wahllos anderen Kerlen vögelte, sonst würde man meine Leiche wohl niemals finden oder es würde aussehen, als hätte ich a) mich selbst umgebracht oder b) einen tragischen Unfall gehabt. Mit Alicias Dad wollte ich mich wirklich nicht anlegen, aber mir war durchaus bewusst, dass ich schon die ganze Zeit mit dem Feuer spielte. Das Problem an der Situation war, dass ich eigentlich dunkel wusste, woran es lag, dass ich keinen mehr hochbekam. Das Problem wohnte seit neuestem in der Wohnung nebenan, war groß, dunkelhaarig und so verteufelt heiß, dass mein Hirn sich lieber darauf konzentrierte, ihn sich bei jeder erdenklichen Beschäftigung vorzustellen, als daran zu denken, dass Sex mit Alicia notwenig war, um den Schein zu wahren. Eigentlich hatte es mir immer geholfen, mir heiße Kerle vorzustellen, wenn ich mit ihr zugange war, aber diesmal war nun mal mein gottverdammt verführerischer Nachbar in meine Gedanken gerutscht und hatte das genaue Gegenteil von einer Erektion bewirkt. Na ja, eigentlich nicht er. Ich hatte ihn mir vorgestellt, zugegeben, aber mit geschlossenen Augen und bis dahin war alles wunderbar gewesen. Doch als ich sie wieder geöffnet hatte, hatte ich Alicia gesehen und da war alles Blut aus meinen Lenden gewichen und wollte auch nicht dahin zurückkehren. Ich musste Ned also irgendwie aus meinem Kopf kriegen, wenn ich keinen Verdacht erwecken wollte. Wahrscheinlich hätte ich auch gar nicht weiter über ihn nachgedacht, wenn dieser Penner nicht nebenan eingezogen wäre. Aber so sah ich ihn quasi jeden Tag und das machte es nicht leichter. Und dass meine Eltern ihn offensichtlich anbeteten, war auch nicht zu meinem Vorteil. So war Ned öfter bei uns, als mir lieb war. Ich nahm mir vor, die Sache in den Frühlingsferien zu regeln, wenn meine Eltern in den Urlaub fuhren, wenn Alicia nach Dubai flog und ich alleine mit Ned war. So schwer konnte das auch gar nicht sein. Ich war einmal mit ihm im Bett gewesen. Und wenn schon. Das machte ihn nicht zu einem besonderen Menschen. Θ Alicia war ein Tag vor ihrer Abreise noch bei mir, damit wir uns verabschieden konnten. Allerdings hielten wir das im jugendfreien Bereich, da ich nicht noch eine Blamage riskieren wollte. Offenbar war Alicia im Stillen meiner Meinung, denn keiner von uns brachte es irgendwie zur Sprache oder zum Ausdruck. Eigentlich hätten wir aber freie Bahn gehabt, da meine Eltern bereits am Tag zuvor in die Karibik verschwunden waren, um ihren Urlaub zu genießen. Unter normalen Umständen hätten Alicia und ich diesen Umstand wohl ausgenutzt. Wir standen im Flur vor der Wohnungstür. »Ich werde dich vermissen«, sagte Alicia, als ich die Tür öffnete. Sie legte die Arme um meinen Nacken und gab mir einen Kuss auf den Mund. Ein metallisches Klirren ließ uns beide herumfahren. Ned stand an seiner Wohnungstür, den Schlüssel in der Hand und sah zwischen Alicia und mir hin und her. Als sein Blick schließlich an mir hängen blieb, hatte er seinen seltsam wissenden und fast spöttischen Ausdruck in den Augen, beinahe so, als würde er sich im Stillen über mich lustig machen. Ich hätte ihn am liebsten angekeift, dass er mich nicht so bescheuert anglotzen sollte, doch da trat ein durch und durch falsch charmantes Lächeln in sein Gesicht. »Hi«, sagte er zuckersüß und wandte die Augen Alicia zu. Ich warf ihr einen flüchtigen Blick zu und konnte erkennen, dass sie bereits butterweich war. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Meine Freundin schmachtete vor meinen Augen meinen Nachbarn an! Dieser Bastard. Er musste ausziehen. Und wenn ich eigenhändig seine Möbel aus dem Fenster warf! »Hey«, säuselte Alicia hingerissen, aber ein so strahlendes Lächeln auf den Lippen, dass es jeden nicht schwulen Kerl aus den Latschen gekippt hätte. Ich schwieg beharrlich. Dieser Sack würde mir meine Freundin nicht ausspannen. Er war schwul! Er sollte gar nicht erst anfangen, so zu tun, als wäre er hetero. »Ich bin Ned«, stellte er sich vor, kam herüber und hielt Alicia die Hand hin. Als sie ihm ihre eigene reichte, umfasste er ihre Finger und hob ihre Hand an seinen Mund, um einen Kuss auf deren Rücken zu hauchen. Ich wäre diesem heuchlerischen Romeo beinahe an die Gurgel gesprungen. Alicia kicherte hysterisch, als Ned ihre Hand wieder losließ. »Alicia«, brachte sie mühsam heraus. Sie drehte sich zu mir um, aber ich konnte erkennen, dass eine Art missmutiger Schleier über ihren Augen lag. »Ich wusste gar nicht—« »Ned ist erst vor kurzem hier eingezogen«, unterbrach ich ihr verträumtes Geplapper. Bevor sie oder Ned noch irgendetwas sagen konnten, nahm ich Alicias Gesicht zwischen meine Hände und küsste sie. So richtig. Mit Zunge. Und Action. Als sie sich in mein Shirt krallte, wusste ich, dass sie wieder völlig vergessen hatte, dass es Ned überhaupt gab. Ich fühlte, wie Alicia ihre Arme um meinen Nacken schlang, als würden ihre Beine gleich nachgeben. Alicias Blick war verträumt, als wir uns voneinander lösten. Sie lächelte versonnen, dann kicherte sie wie ein kleines Kind und hielt sich die Finger dabei an die Lippen. »Ich denke, ich sollte los«, hauchte sie kichernd. Sie winkte Ned kurz, bevor sie sich abwandte und die Stufen zur Haustür hinunter lief. Ich sah Alicia nach, bis ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Erst da wagte ich, den Blick zu heben und Ned anzusehen. Spott trat in seine Augen, als er mich mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht anschaute. »Das ist so erbärmlich.« Ein Satz von diesem Stinktier und ich schäumte vor Wut. Was dachte er denn eigentlich, wer er war? Konnte er sich nicht jemand anderen suchen, den er beleidigen konnte? Was wusste dieser Mister Handkuss denn bitte? Er hatte gar kein Recht mich erbärmlich zu nennen. Außerdem — wer hatte denn gerade seine Ich-tu-hetero-und-spann-dir-deine-Freundin-aus-Masche abgezogen? »Du bist erbärmlich«, fauchte ich zurück. »Versuch gar nicht erst, dich an sie ranzumachen! Du bist zu alt für sie!« Ned lachte schallend auf. Das war ungerecht. Warum zogen meine Beleidigungen nie bei ihm? »Was soll ich denn von ihr? Sie ist ein Mädchen und ich stehe nicht auf Mädchen. Ganz abgesehen davon bist du derjenige, der ihr etwas vormacht, und dir selbst auch noch dazu«, antwortete er amüsiert und wischte sich etwas aus dem Augenwinkel. Als hätte er vor Lachen geweint. Dieser vollbescheuerte Affe. Ned kam zu mir herüber und blieb so nah vor mir stehen, dass wir einander beinahe berührten. Seine Augen glühten, als er zu mir herabsah. »Aber für dich bin ich nicht zu alt, hm?« Ich konnte spüren, wie das Blut mir ins Gesicht schoss, als hätte man einen Schalter umgelegt. Dieser Kerl bildete sich zu viel auf sich selbst ein. Auch einer dieser Menschen mit uferlosem Ego. »So toll bist du nicht«, sagte ich, aber es klang verdammt schwächlich. Einmal ganz abgesehen, dass ich hier halbe Geständnisse ablieferte … diese Konversation verlief definitiv nicht zu meinen Gunsten. »Du siehst viel eher so aus, als könnte ich was zu trinken vertragen.« Warum erschoss ich mich eigentlich nicht sofort auf der Stelle? Das wäre nicht einmal halb so blamabel gewesen, wie das, was ich gerade von mir gab. Ned sah aus, als müsste er sich stark zusammenreißen, um nicht lauthals loszulachen. Aber ich konnte das tief sitzende Amüsement in seinen Augen sehen. »Erstens: Du bist zu jung für Alkohol und zweitens … in Vegas warst du sehr, sehr nüchtern, als ich dich verführt hab und mir ziemlich zugetan«, erwiderte er schlicht und zuckte die Schultern. Ich hasste es, mit was für einer gleichgültigen, spöttischen Gelassenheit er das sagte. Wie er immer tat. Als würde ihn das alles einen Scheißdreck jucken. Oh Gott, wie gerne wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen. Ich öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen. Er hatte mich verführt? Bitte? Er war mir hoffnungslos verfallen! Doch bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte Ned sich zu mir gebeugt und mir einen Kuss auf den Mund gehaucht. Seine Lippen berührten meine nicht lang, aber dieser Augenblick, der nicht länger als einen Herzschlag dauerte, kam mir ewig vor. Ich starrte völlig überrumpelt in seine Augen, in denen nunmehr weder Spott noch Belustigung lagen, sondern etwas Sanftes, Fragendes. Als Ned sich von mir löste, wartete er keine Reaktion ab. Stattdessen drehte er sich sofort um und verschwand hinter seiner Wohnungstür. Wie erstarrt stand ich auf der Schwelle zu meinem Zuhause und war unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich konnte seine Lippen wie eingebrannt auf meinen spüren. Es kribbelte, als würden hunderte weiche Borsten darüber streichen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gestanden hatte, bis ich die Wohnung wieder betreten und die Tür hinter mir geschlossen hatte. Ich versuchte nicht an Ned zu denken. Er löste viel zu großes Chaos in meinem Kopf aus. Ich war froh, wenn ich noch atmen konnte, wenn er gerade wieder mein Hirn beherrschte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, meine sturmfreie Zeit zu nutzen, um mein mittlerweile zu ungeahnten Größen anschwellendes Problem mit Ned zu lösen, aber ich hatte nicht mal ansatzweise eine Lösung. Seit er mich wieder geküsst hatte — und das war auch noch ein ziemlich unspektakulärer Kuss gewesen — war er noch viel fester in meiner Birne verankert als noch zuvor. Die nächsten zwei Tage hatte ich mich nicht mal mehr in den Hausflur gewagt, weil ich mich davor fürchtete, Ned über den Weg zu laufen. Ich hatte absolut keinen Plan, was ich tun sollte, wenn ich ihm begegnete. Außerdem wusste ich auch nicht, was ich davon halten sollte, dass er nach dem Kuss sang- und klanglos in seiner Wohnung verschwunden war. Er hatte sich seitdem auch nicht gemeldet. Aber so konnte das nicht weitergehen. Ich musste das irgendwie klären, sonst würde mein kleines Schauspiel über kurz oder lang auffliegen. So weit durfte es nicht kommen. Also würde ich etwas tun, um Ned ein für alle Mal aus meinem Kopf zu kriegen. Da kam mir ein Gedanke, wie es vielleicht anstellen konnte. Wenn man einem Kind das gab, was es unbedingt haben wollte, verlor es ziemlich bald das Interesse daran. Warum sollte es mit Ned anders sein? Ich wäre in diesem Fall das Kind (oder besser gesagt, mein Hirn) und wenn ich also noch einmal mit Ned schlief, dann würde sich mein Problem vermutlich ganz von allein auflösen. Ich schnippte begeistert mit den Fingern, als mir diese Idee kam. So abwegig war sie nicht mal. Ich verließ mein Zimmer, öffnete die Wohnungstür und war mit zwei Schritten vor Neds Apartment. Aber dann verließ mich der Mut. Was sollte ich ihm denn auch sagen? ›Hey, Ned, lass uns Sex haben. Damit ich nicht mehr immerzu an dich denken muss!‹ Ich schüttelte den Kopf. Das war Unsinn. Außerdem — wer sagte, dass mein Plan tatsächlich funktionierte? Was, wenn Ned danach jeden Herzschlag meines Lebens beherrschte? Dann wäre das eine ganz schöne Schnapsidee gewesen mit dem Gib-dem-Kind-was-es-will-Plan. Ich schnaufte frustriert. Da stand ich also vor Neds Wohnungstür und tat nichts. Zum Glück konnte mich niemand sehen. Unentschlossen kaute ich auf meiner Unterlippe herum, danach knetete ich sie mit den Fingern durch, während ich fieberhaft darüber nachdachte, wie ich die Situation jetzt handhaben sollte. Bisher war alles so einfach gewesen, aber bisher war ich auch noch nie einem meiner One-Night-Stands wieder über den Weg gelaufen. Und Ned war auch nicht jemand, den man einfach ignorieren konnte. Entnervt wandte ich mich schließlich wieder von der Tür ab und ging nach Hause. Es hatte ja doch keinen Sinn. Die einzige Lösung, die ich jetzt noch sah, bestand darin, hart zu bleiben und den Schein zu wahren. Bis zum Schulabschluss war nicht mehr lange hin. So lange würde ich dieses Theater also gar nicht mehr spielen müssen. Was danach geschah, spielte keine Rolle, solange ich nur raus war aus der Schule. Ich warf mich in meinem Zimmer aufs Bett. Bonne stieg auf meinen Rücken und begann ihre Pfoten abwechselnd in mein Shirt zu krallen. Ihr Schnurren war laut und wohlig und die Schrammen, die ihre Krallen auf meiner Haut hinterließen, brannten. Es wurde besser, als sie sich zwischen meine Schulterblätter legte. Sie schnurrte ununterbrochen. Als Katze hatte man es leicht. Man musste sich den Kopf über komplizierte Sexualausrichtungen machen. Ich seufzte tief und fragte mich, was Ned wohl die letzten beiden Tage gemacht hatte. Wahrscheinlich war er in der Uni gewesen für sein Jura-Studium. Dieser Irre. Woran er wohl dachte? Ob ich auch so oft in seinen Gedanken vertreten war wie er in meinen? Vielleicht war ich nicht viel mehr als ein Kind für ihn, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte. Ich wollte gar nicht so genau darüber nachdenken. Ich setzte mich auf und Bonne sprang von meinem Rücken. Sie miaute protestierend. Müde rieb ich mir die Augen, bevor ich einen Blick auf die Uhr warf. Erst da wurde mir bewusst, dass ich fast zwei Stunden lang geschlafen hatte. Kein Wunder. Diese Problemlösungssuche war ziemlich ermüdend. Ich umfing Bonnes Bauch mit einer Hand und hob sie hoch. Behutsam schmiegte ich sie an meine Brust, bevor ich nachdenklich anfing sie zu streicheln. Sie begann erneut zu schnurren. Ächzend stand ich auf. Es würde ganz gut tun, wenn ich mal wieder rausging und mich auf die Wiese hinter dem Haus setzte. Dann würde Bonne auch wieder etwas Freilauf haben können. Ich ließ sie nicht gern allein raus. Sie fand den Weg nach Hause zwar, aber die Wohnungs- oder Haustür konnte sie nicht öffnen. Ich hatte fast vergessen, dass ich eine Begegnung mit Ned vermeiden wollte, aber da saß er nun auf der Wiese, mit dem Rücken zu mir. Mein Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals. Ich setzte Bonne, die ich den Weg nach unten getragen hatte, ins Gras. Sie lief zu Ned hinüber und schmiegte sich an seine Seite. Er schaute auf, als er es bemerkte. Sachte streichelte er Bonne der Länge nach übers Fell, bevor er einen Blick über die Schulter warf. Ich schluckte, bevor ich zu ihm ging. Ned hatte ein Buch in der Hand und eine Sonnenbrille im Haar. Machte er jetzt hier einen auf intellektuell um jemanden zu beeindrucken oder was? Pf. »Ich hatte dir gar nicht zugetraut, dass du lesen kannst, Foxie«, sagte ich schnippisch. Ein böses Lächeln legte sich auf Neds Züge, als er zu mir hoch schaute. Bonne schnurrte wieder. »Ich hatte dir nicht zugetraut, dass du ein Objekt als Buch ausmachen kannst, Fabius«, erwiderte er selbstgefällig. Ich starrte ihn zweifelnd an. »Fabius?«, wiederholte ich. Neds Grinsen wurde ein bisschen breiter, ein bisschen böser, ein bisschen schwachmatischer. »Fabius, der Fisch aus Arielle. Ein Fisch hat keine Ahnung von Menschen«, entgegnete Ned hämisch. Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich hätte ihn gern erwürgt, aber wir befanden uns leider in der Öffentlichkeit. Ich konnte nicht fassen, dass er mich a) mit einem Kindertrickfilm und b) einem Fisch verglich. Jemand müsste ihm ein paar Stromschocks verpassen, vielleicht würde er dann wieder normal werden. »Dir ist klar, dass du dich als Fan outest?«, wollte ich spitz wissen. Ned zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Warum störte ihn das wieder nicht? Ich hasste es. Da war sie wieder, seine arrogante Gleichgültigkeit. »Ich hab diese Filme früher gern gesehen. Und gegen ein gutes Gedächtnis ist nichts einzuwenden«, erwiderte er gelassen. Ich würde ihm sein dämliches Buch über den Schädel ziehen, wenn er nicht sofort damit aufhörte, so bescheuert zu sein. Was um alles in der Welt hatte mich nur dazu getrieben, mit ihm zu schlafen? Und warum dachte ich jetzt so oft an ihn? Er war der mieseste Penner unter der Sonne! Trotzdem setzte ich mich neben ihn ins Gras. »Was liest du denn?« »Es geht um einen Jungen, der glaubt, sich in einen anderen Jungen, den er kennengelernt hat, verliebt zu haben. Aber am Ende kommt heraus, dass dieser vermeintliche Junge eigentlich ein Mädchen ist. Aber der Junge hat es nie gemerkt«, fasste Ned zusammen, bevor er ein Lesezeichen zwischen die Seiten schob und das Buch zuklappte. Offenbar hatte er es schon einmal gelesen, sonst würde er nicht wissen, wie es ausging. »Aber der Name—« »Das Mädchen heißt Finn. Und nur der Junge hat mit ihr zu tun. Sie lebt allein«, unterbrach Ned mich nur. Er legte das Buch neben sich und stützte sich mit den Händen hinter seinem Rücken ab. Seine Augen waren leicht zusammengekniffen, als er mich anschaute. Die Sonne schien uns beiden ins Gesicht. »Ich kann es dir mal ausleihen, wenn du willst«, schlug er dann vor. Ich betrachtete das Lichtspiel in seinen Augen. Eigenartig, wie schnell der Ton einer Konversation sich ändern konnte. Ich antwortete ihm nicht. Was spielte das Buch denn jetzt für eine Rolle? Ich hatte wieder vergessen, wie blöd ich Ned eigentlich fand mit seiner überheblichen Art. »Warum mache ich mir etwas vor?«, fragte ich ihn und griff damit den Faden von vor ein paar Tagen wieder auf. Er schaute mich nachdenklich an. Ich konnte ihm ansehen, dass er wusste, was ich meinte. Einige Moment des Schweigens vergingen, in denen Bonne die Zeit nutzte, auf Neds Schoß zu krabbeln und sich dort einzurollen. »Die Frage kannst du dir doch selbst beantworten«, erwiderte Ned schließlich langsam. »Du bist ganz offensichtlich schwul und trotzdem mit einem Mädchen zusammen. Es bedarf wirklich kein Genie, um zu erkennen, dass du jedem etwas vormachen willst.« »Woher willst du denn so genau wissen, dass ich schwul bin? Ich könnte ebenso gut bi sein«, meinte ich vorwurfsvoll. Ned lachte leise, aber es klang weder spöttisch noch anmaßend. »So bemüht wie du neulich warst, mir zu zeigen, dass Alicia deine Freundin ist, hat es mir ziemlich deutlich vor Augen geführt. Wärst du bi hättest du es nicht so … erzwungen und außerdem würdest du dann wohl kaum hinter ihrem Rücken mit einem Kerl schlafen. Ich denke nicht, dass du das tun würdest, wenn du nicht schwul wärst. Aber so kriegst du von Alicia nicht das, was du eigentlich haben willst, also … betrügst du sie«, erklärte er mir gelassen. Ned hatte ein paar blasse Sommersprossen auf der Nase. Das fiel mir zum ersten Mal auf. »Hurra, Master-Mind«, sagte ich sarkastisch, auch wenn Ned Recht hatte mit dem, was er sagte. Er grinste amüsiert. »Ich bin schwul. Ich stehe dazu.« »Das tust du nicht«, widersprach Ned mir ernst, bevor er mich eindringlich musterte. »Würdest du dazu stehen, dann würdest du es nicht verheimlichen und du würdest keine Freundin haben. Aber du scheinst eine Menge dafür zu tun, dass niemand etwas von deiner Homosexualität erfährt. Du bist unsicher. Du hast dich immer noch nicht völlig damit abgefunden, dass du eben auf andere Männer stehst und nicht auf Frauen. Deswegen bist du mit Alicia zusammen. Weil du hoffst, dir so einen Teil deiner Heterosexualität bewahren zu können.« Ich öffnete den Mund, doch Ned ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen. »Ich kenne das, Colin. Ich war mal genauso wie du. Als ich mit der Zeit bemerkte, dass ich Männer statt Frauen sexuell anziehend fand, wollte ich es nicht wahrhaben. Aber je mehr Erfahrungen ich sammelte, desto weniger schlimm fand ich es. Trotzdem hab ich es lange Zeit für mich behalten. Niemand sollte es erfahren. Schon gar nicht mein Vater. Er war bei der Army, er war ein Soldat … und es ist kein Geheimnis, was man bei der Army von Schwulen hält. Ich wollte meinen Dad nicht enttäuschen, also suchte ich mir eine Freundin. Ich dachte, es würde gehen. Vielleicht war ich nicht komplett schwul. Es hat nicht geklappt. Du kannst dich nicht dazu zwingen, auf Frauen zu stehen, wenn du eigentlich auf Männer fliegst. Was ich sagen will, ist, du könntest doch auch ohne Freundin so tun, als wärst du hetero. Aber das tust du nicht. Ich hab es auch nicht getan.« Ich schwieg, während ich darüber nachdachte, was Ned erzählt hatte. Es stimmte. Eigentlich brauchte ich Alicia nicht dafür, aber mit ihr war es authentischer. Außerdem … ich lachte nicht über all die schwulenfeindlichen Witze und ohne Freundin hätte niemand mir abgekauft, dass ich sie einfach zu oft gehört hätte, um sie noch witzig zu finden. »Du musst die Erfahrung selbst machen«, meinte Ned ruhig, während er gedankenversunken über Bonnes Fell streichelte. »Ich hab sie gemacht und festgestellt, dass dieses Versteckspiel mehr kaputt macht, als es richtet.« Wir blieben beide eine Weile lang still. »Was haben deine Eltern dazu gesagt, als sie es erfahren haben?«, fragte ich ihn irgendwann. Ned lächelte milde, aber ein wenig ironisch. »Mein Dad hat es nach ein paar Startschwierigkeiten akzeptiert und toleriert, meine Mutter nicht. Was mich ziemlich erstaunt hat. Ich bin vorher eher davon ausgegangen, dass Dad mich rausschmeißen, enteignen, enterben und aus dem Familienstammbaum streichen würde, und dass meine Mutter Verständnis hätte. Na ja, deswegen besuche ich Dad immer nur dann zu Hause, wenn Mom gerade irgendwo unterwegs ist. Sonst würde sie mich entweder zum Exorzisten schleifen, mich erschießen oder vor Scham tot umfallen. Ihr ging es damals mit meinem Auszug gar nicht schnell genug«, berichtete er. Ned strich sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. Sein Lächeln war unentwegt ironisch. »Übrigens siehst du wirklich hinreißend aus, wenn du so an deiner Unterlippe herumspielst«, fügte er dann verträumt hinzu und grinste verwegen. Ich starrte ihn an. Vor ihm hatte ich kein einziges Mal an meiner Unterlippe herumgespielt. Wie konnte er wissen, dass ich das machte? Irritiert sah ich ihn an. Ein diabolisches Lächeln zierte wieder seine Lippen. »Ich hab dich vorhin durch den Türspion beobachtet«, informierte Ned mich mit unschuldig anmutendem Unterton in der Stimme. Ich erstarrte und spürte, wie mir wieder Hitze ins Gesicht stieg. Dieser verfluchte Bastard! Ich hatte keine Zeit mehr, ihn ordentlich zu erwürgen, denn er hatte bereits Bonne von seinem Schoß geschoben, seine Sachen aufgeklaubt und war schon auf dem Weg in Richtung Haus. Sein Lachen schallte über die Wiese. Jetzt fiel mir wieder ein, dass ich Ned ja eigentlich schrecklich fand und überhaupt nicht mehr nachvollziehen konnte, was ich in Vegas in ihm gesehen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)