Blauer Himmel von Yuiki ================================================================================ Kapitel 12: Orientierungslos ---------------------------- "Nee, keine Sorge. Klingt für mich eher wie bi!" Akio stieß die Luft aus, die er gespannt angehalten hatte als er auf Hiro's Antwort wartete. "Hiro! Du bist mir wirklich keine große Hilfe!" jammerte er. Es war Donnerstag Mittag und Akio hatte sich endlich durchgerungen Hiroshi anzurufen um ihm vom vorigen Abend zu erzählen. Seit Stunden war Akio wach - hatte er überhaupt geschlafen? - und hatte sich den Kopf darüber zerbrochen was der Kuss für ihn bedeutete. Er war zu keinem Ergebnis gekommen, und schließlich hatte er sich in einem Anfall tiefer Frustration entschieden Hiro davon zu erzählen. Wenn der danach angewiedert kein Wort mehr mit ihm sprach, war die Sache ja wohl klar. Akio konnte nicht verleugnen dass er extreme Angst vor dessen Reaktion hatte, aber die Ungewissheit machte ihn verrückt. Hiro hatte allerdings bisher keine Anstalten gemacht aufzulegen sondern schien eher an den Details interessiert. Aber natürlich merkte er auch, dass sein kleinerer Freund durchaus unter der Situation litt: "Ach Alter, mach dir nich' so 'n Kopf drum. Und wenn schon, dann hast du eben 'nen Mann geküsst! Wer hat das nicht?" In zynischem Tonfall unterbrach Akio ihn bevor er weiterreden konnte: "Die meisten Männer, möcht ich wetten." Hiro seufzte theatralisch ins Telefon. "Vielleicht weil sie nich' wissen was ihnen entgeht, wer weiß?" Akio war nicht in der Stimmung für Hiro's Witze und ignorierte die Aussage, zumindest versuchte er es, aber Hiro legte gleich nach, die Neugier kaum unterdrückt in der Stimme: "Erzähl mal. Also was mir bisher so entgangen is'!" Akio zuckte zusammen. Er wollte sich nicht daran erinnern; daran wie gut es sich angefühlt hatte den Fremden endlich zu berühren, wie seine Lippen noch die ganze Nacht geprickelt hatten, und wie heiß ihm jedes Mal wurde wenn er sich daran zurückerinnerte. "Ich weiß nicht mal seinen Namen..." meinte er schließlich jämmerlich. Hiro lachte, meinte dann aber ein wenig spitz: "Wenn du ja sowieso totaaal hetero bist und absolut kein Interesse an dem Typen hast, is' es doch egal wie er heißt." Akio schwieg, er war sich inzwischen nicht mehr sicher ob es eine gute Idee gewesen war Hiroshi davon zu erzählen. All die Jahre war Hiro sein Vertrauter gewesen, hatte mit Humor und einer Leichtigkeit, die Akio selbst fehlte, all seine großen Probleme zu Kleinigkeiten gemacht. Aber die Situation war nicht mehr die Gleiche, jetzt da sie sich wieder fast täglich von Angesicht zu Angesicht sahen. Er hasste es. Er hasste es, sich unwohl zu fühlen beim Gedanken daran Hiro nach diesem Gespräch gegenüberzustehen, und er hasste die Angst die in ihm aufstieg bei der Vorstellung jemand anderes könnte von seiner Unsicherheit erfahren. "Du wirst doch den Jungs nichts davon erzählen, oder?" fragte er leise. Akio hatte genug Vertrauen in Hiro gehabt um ihn mit seiner Angst zu konfrontieren, aber die anderen Mitglieder von Night Love Dragon kannte er im Vergleich kaum. Zum ersten Mal seit das Gespräch begonnen hatte wurde Hiro ernst: "Akio. Du weißt doch dass du mir vertrauen kannst. Wenn du nich' weißt wo du stehst und wer es wissen soll, dann werd' ich ganz sicher nich' derjenige sein, der es rumerzählt."erklärte er entschlossen. Akio, der bisher angespannt auf und ab gegangen war, ließ sich endlich aufs Bett fallen und atmete erst mal tief durch. Warum war alles nur so verdammt kompliziert in letzter Zeit?! "Ich meine, es war nur ein Kuss! Und ich war auf Schmerzmitteln oder so." beruhigte er sich selbst. "Lassen wir einfach mal außen vor was schon passiert ist. Was, wenn ich...es...wirklich wäre? Ich meine, rein hypothetisch, unabhängig von irgendetwas das gestern Nacht passiert ist. Wenn ich wirklich...schwul wäre. Oder bi, egal. Was wäre wenn...wäre das..." Die Worte wollten ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Er fühlte sich schrecklich ausgeliefert. "Wäre das denn ein...Problem?" Am Ende war Akio ins Stammeln geraten. Der Gedanke machte ihm Angst. Es anderen zu sagen würde heißen dass diese Leute danach vielleicht dachten er hätte sie immer schon sexuell anziehend gefunden. Und das stimmte ja nicht! Mit Vorurteilen leben müssen...das klang schrecklich. Oder es für immer verstecken, sich selbst verleugnen? Sich selbst? Er wusste ja nicht einmal, ob er auf Männer stand! Akio legte den Arm über die Augen. Sein Kopf war ein einziges Gewirr unfertiger Gedanken mit einer großen Portion Panik als Beilage. Er wollte einfach nur...normal sein. Weil Normalsein einfach war. Akio hatte an seinem bisherigen Leben gemocht dass es relativ einfach, stressfrei und privilegiert gewesen war. Er wollte sich nicht einmal mit dem Gedanken auseinandersetzen dass etwas nicht in diese einfache, perfekte Welt passte, weil es sein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde. "Mir ist das egal. Ich sag' jeder soll sein Leben leben, ne? Und wenn einer mehr Spaß mit Männern hat als mit Frauen, auch gut!" beruhigte Hiro ihn. Akio setzte sich wieder auf und schlurfte in Richtung Kochzeile. Er brauchte jetzt dringend einen Kaffee. Während er an der Packung riss, widersprach er: "Ich habe aber nicht mehr Spaß mit Männern als mit Frauen! Ich weiß ja nicht mal ob ich Spaß mit Männern habe. Es ist ja nicht so als ob ich vorher noch nie einen Mann gesehen hätte. Der Typ von gestern und vorgestern war einfach nur...anders!" rechtfertigte er sich. "Bei anderen Männern hatte ich nie so ein Bed- Oh fuck! Verdammt!!" Die Packung war gerissen und das dunkelbraune Pulver verteilte sich über die Anrichte und Akio's nackte Füße. Hiroshi's besorgte Frage abwehrend, machte Akio sich fluchend daran, das Pulver mit der Hand zusammenzukehren. Hiro's Antwort traf ihn daher völlig unvorbereitet: "Probier's doch einfach mal aus? Ich mein', probier aus ob es dir mit 'nem anderen Mann gefällt. Wenn ja, dann hast du deine Antwort doch direkt." Akio war einen Moment lang sprachlos. Dann grollte er: "Hirooo...spinnst du?!" Der Angesprochene lachte. "Was denn, was denn? Sonst findest du nie die Wahrheit raus!" Akio, der den Kaffee aufgegeben hatte und sich neben die Küchenzeile auf den Boden gesetzt hatte, seufzte. "Ich weiß nicht, ob ich die Wahrheit vertragen würde, also will ich sie lieber gar nicht wissen." Akio konnte regelrecht hören wie sein bester Kumpel mit den Achseln zuckte. "Du siehst das alles so negativ. Denk' mal positiver - wenn du wirklich bi bist, dann hast du 'ne viel größere Auswahl als vorher!" Akio stimmte Hiro zwar nicht zu, aber die unerschütterliche Positivität seines Kindheitsfreundes half ihm mehr, als er zugeben wollte. Der nächste Satz hätte ihn dann allerdings doch von den Füßen gerissen, wäre er nicht sowieso schon gesessen: "Wenn du Angst hast es mit irgendwelchen fremden Typen zu versuchen, biet' ich mich als Versuchsobjekt an!" Akio verschluckte sich als er um Worte rang. Einen Hustenanfall später würgte er mit Mühe hervor: "Hiro...deine Alles-Anpacken-Einstellung in allen Ehren, aber überleg in Zukunft erst Mal, bevor du solche Angebote machst!" Hiro nahm das Ganze wohl nicht ernst genug. Mit einem Lachen verabschiedete Hiro sich: "Okay, okay. Du wirst schon 'nen passenden Kandidaten finden. Aber das Ergebnis musst du mir dann erzählen!" Sie verabredeten noch kurz, sich vor dem Termin mit dem Produzenten am morgigen Tag früher zu treffen um auch ja nicht zu spät zu kommen - Hiro schien was das anging absolut kein Vertrauen in Akio zu haben, und er konnte es ihm ehrlich gesagt nicht verübeln - und legten dann auf. Akio kehrte den Rest der Kaffeeschlacht zusammen. Es hatte ihm gut getan mit Hiro darüber zu reden, sein Kopf war immer noch voller wirrer Gedanken, aber darüber hatte sich jetzt ein Film der Ruhe gelegt. Den konnte er auch sehr gut brauchen, stand doch heute Abend noch das Treffen mit seinem Vater an. Düster blickte Akio diesem Termin entgegen. Als hätte er nicht gerade schon Probleme genug...   Hiro hörte das vertraute Klicken in der Leitung, legte das Telefon beiseite und vergrub das Gesicht in den Händen. Akio mochte Männer. Oder, naja, zumindest einen bestimmten Mann. Diese Realität zu akzeptieren war schwerer, als er es hatte klingen lassen. Was heißt das für mich? schoss es Hiro durch den Kopf. Was soll ich jetzt bloß tun? Nach ein paar Momenten des Nachdenkens stand er von der hüfthohen Mauer auf, in deren Schatten er gesessen hatte, und blickte auf das Universitätsgelände hinunter. Er konnte jetzt unmöglich in die nächste Vorlesung gehen. Nach kurzem Überlegen wählte er eine Nummer.   Renjiro betrachtete durch das doppelte Glas wie der Erdboden immer näher kam, begleitet von einem regelmäßigen sanften "Ding" mit jedem Stockwerk das der Aufzug hinabglitt. Ein düsterer Schatten lag auf Renjiro's Gesicht. Er war von maximal etwa 150 Leuten gesehen worden. Abzüglich jener, die sich nicht dafür interessiert hatten oder es vermutlich einfach nicht gesehen hatten, blieben vielleicht..5, 6? Das waren nicht viele Menschen, aber es waren 5 oder 6 zu viel. Sollte Akio Higuchi verschwinden, würde es 5 oder 6 Aussagen geben, die ihm eine Verbindung zum Opfer nachweisen konnten. Mit einem Stöhnen fuhr Renjiro sich durch die Haare und schloss die Augen während der Aufzug langsam abbremste. Die letzten 48 Stunden war er so absolut nicht er selbst gewesen, hatte unvorsichtig eine Spur nach der anderen gelegt die ihn mit dem Jungen verband. Ja natürlich, er war ein Laie, aber er wusste genug um sich im Klaren darüber zu sein dass es am Sichersten war jemanden verschwinden zu lassen wenn es keinerlei Bezüge zum Opfer gab. Ein Autounfall, das Schmuggeln durch eine Kontrolle, das Beauftragen von Attentätern, der Besuch des Studienortes seines Opfers, ihr Berufsverhältnis und jetzt eine scheinbare sexuelle Beziehung - das war keine Schnitzeljagd mehr für die etwaigen Ermittler, das war ein sauber ausgebauter sechsspuriger Highway der direkt zu ihm führte! Renjiro fühlte den vertrauten kurzen Druck im Magen als der Aufzug im Erdgeschoss hielt und öffnete die Augen wieder. Nichts anmerken lassen. Als die polierten Stahltüren auseinanderglitten, erinnerte nichts mehr daran dass der energetische Mann Ende 20, der jetzt mit langen Schritten den Aufzug verließ, gerade eben noch ein Bild des Elends abgegeben hatte.   Miu zog mit so viel Kraft an der Buchseite, dass ein leises Ratschen zu hören war. Entsetzt hätte sie fast das Buch fallen gelassen, besorgt untersuchte sie sehr genau das Papier, konnte aber keinen Riss erkennen. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr und sie schlug - diesmal bewusst sanft - das hellblau gebundene Büchlein zu, und legte es in ihren Schoß bevor sie die Hände darauf faltete. Sie war nicht in der Stimmung zu lesen. Um genau zu sein war sie in keiner Stimmung zu gar nichts, denn noch immer tobten Wut und Verletztheit in ihr um die Vorherrschaft, und hier im Haus gab es nichts zu tun wobei diese Emotionen hilfreich gewesen wären. Was Miu zurück zur Ursache der negativen Gefühle brachte: ihr rücksichtsloser neuer Mitbewohner! Chris Johnson war auf die Minute pünktlich erschienen, auf Miu's ausdrücklichen Wunsch hin nicht im Jackett sondern in leichter, unauffälliger Alltagskleidung. Über die Schulter hatte er eine große Sporttasche geworfen, ansonsten hatte er kein weiteres Gepäck. Er hatte freundlich und höflich gegrüßt, wenn auch nicht so überschwänglich wie am Vortag - er hatte anscheinend schnell dazugelernt - und obwohl Miu wieder um einiges unsicherer war als sie es beim Abschied am Tag zuvor gewesen war, so war der "Einzug" relativ ereignislos und unaufregend verlaufen. Doch der trügerische Friede währte nur wenige Minuten, nämlich genau so lange, bis ihr neuer Bodyguard die Tasche in dem Zimmer abgestellt hatte in das Nancy ihn geführt hatte, und zu Miu zurückkehrte. Denn was darauf folgte, war einer der demütigensten Momenten in Miu's bisherigem Leben.   Die Gebäude aus Glas, Stahl und Beton ragten in gewaltige Höhen auf, zweifellos Statussymbole ihrer ganz eigenen Art, zwischen denen Renjiro's Weg sich schlängelte. Er ging nicht weit, es ging ihm lediglich darum sich ein wenig die Beine zu vertreten um den langen Vormittag im Sitzen auszugleichen. Was sich bald vor ihm erstreckte ging nur mit Mühe und Not als Park durch, eigentlich war es nur eine sauber getrimmte Rasenfläche mit einzelnen jungen Bäumen; ein Mann in unauffälliger grüner Uniform hob jedes Blatt auf, dass den perfekten Rasen berührte. Renjiro's Schritte blieben zielgerichtet, doch wer ihn gut kannte hätte bemerkt, dass das Tempo geringer war als zuvor - er schlenderte, auch wenn es für die wenigsten Menschen so aussah. All die Menschen, die ihn inzwischen mit dem Ziel in Verbindung brachten, waren nicht das einzige Problem. Er hatte am Vortag ja zusätzlich fleißig seine DNA auf dem jungen Mann verteilt...die Wahrscheinlichkeit dass das irgendeine Rolle spielte war gering, aber es war nur ein weiterer Punkt auf der inzwischen unangenehm langen Liste an Fehlern, die er im Umgang mit der Zielperson bereits begangen hatte. Trotz der Frustration über die Länge dieser Liste schlich sich fast ein schwacher Zug der Erheiterung in seine Mimik. Der Higuchi-Erbe war wie Wachs in seinen Händen gewesen...! Renjiro blieb vor einem Getränkeautomaten stehen und ließ den Blick über die Auswahl schweifen. Er verspürte einen leichten Hunger, war aber bereits darüber informiert in Kürze zu einem geschäftlichen Essen aufbrechen zu müssen und wollte nicht riskieren sich zu übersättigen. Und beim Gedanken an die Nacht zuvor stieg sowieso Lust auf etwas ganz anderes in Renjiro auf...beispielsweise ein weniger abgekürzter Kontakt mit der leichten Süße, die sich ihm so gefügig geöffnet hatte. Oder die weichen Locken, die er selbst jetzt noch unter seinen empfindlichen Fingerspitzen zu fühlen glaubte. Und vor allem natürlich - da machte er sich nichts vor - dort weiterzumachen wo er auf Widerstand gestoßen war. Widerstand, der Renjiro aus dieser Trance gerissen hatte, in welche die Augen seines Opfers ihn versetzt hatten. Renjiro presste die Finger auf die kühlen Tasten des Automaten und verdrängte damit effektiv die Erinnerung an die kurzen Stoppeln im Nacken des jungen Mannes die seine Finger gekitzelt hatten bevor er fester zugegriffen hatte um das Wachs zu formen, das sich ihm so breitwillig dargeboten hatte. Es wurde dringend Zeit diese verrückten Gedanken loszuwerden! Der Automat klapperte leise und entließ eine Dose Royal Milk Tea in die Freiheit. Ein wenig planlos nahm Renjiro die Dose in die Hand und betrachtete sie. Er war Kaffee-Trinker durch und durch. Mit einem entnervten Blick zum Himmel, der so viel freundlicheres Wetter zeigte als in der Nacht zuvor, machte Renjiro sich auf den Rückweg. Er kam zu dem Schluss, dass er sich einfach nur zu lange nicht mehr um seine natürlichen Bedürfnisse gekümmert hatte, das war ganz offensichtlich der einzige Grund warum so eine unbedeutende Kleinigkeit wie dieser Kuss ihn so lange beschäftigte. Vielleicht war jetzt auch einfach kein guter Zeitpunkt einem Opfer nachzujagen welches er viel lieber für sich selbst als für die Organisation erlegen wollte. Ein paar Tage mehr oder weniger würde keinen Unterschied machen - er konnte sich um sein kleines Motivationsproblem kümmern und das eine oder andere Detail an das sich die Leute jetzt vielleicht noch erinnerten, würde bis dahin im Sumpf des Vergessens versunken sein. Ja, er würde ein paar Tage warten und den Jungen dann ganz diskret verschwinden lassen.   Nancy konnte sich ein stummes Lachen nicht verkneifen als sie ihre kleine Lady auf dem Stuhl beim Fenster sitzen sah, eine tiefe Falte zwischen den Brauen. "Du willst doch nicht dass das so bleibt, oder?" meinte sie sanft und tippte auf die Einkerbung der zarten Haut. Miu murmelte etwas Unverständliches, doch ihre Gesichtszüge entspannten sich. Das Fenster würdigte sie sehr offensichtlich keines Blickes, doch aus dem Garten war ein entferntes Rauschen und Platschen zu hören, das zum halb geöffneten Fenster hereinwehte. Nancy verbarg gekonnt, wie amüsiert sie über das Verhalten ihres Schützlings war. "Solltest du ihm nicht langsam vergeben?" merkte Nancy vorsichtig an. Die Falte kehrte zurück. Nancy dachte an die Geschehnisse am Morgen zurück...   Nancy räumte gerade das Geschirrset ab, von dem Miu gefrühstückt hatte, als Schritte sich dem Speisezimmer näherten. Es würde das letzte Mal sein, dass nur ein einzelnes Set auf dem Tisch stand, denn von nun an hatte das Haus einen weiteren Bewohner. Ein kurzer Seitenblick auf ihren Schützling beruhigte Nancy, Miu hatte sich erhoben und wirkte gefasster als bei der Ankunft des neuen Mitbewohners etwa 20 Minuten zuvor. Als der neue Bodyguard das Speisezimmer betrat, wandte Nancy sich mit dem geschirrbeladenen Tablett zur Küche, sie wollte den beiden jungen Menschen einen Moment unter sich geben, schließlich schien das schon am Vortag wunderbar funktioniert zu haben. "Okay, bin bereit. Auf geht's zur Schule! Ich hoffe, es gibt wegen mir keine Verspätung?" meinte Chris energiegeladen. Nancy erstarrte und wandte sich langsam um. Chris sah etwas verständnislos zwischen Miu, die stumm zu Boden starrte, und Nancy hin und her. Ohje. "Milady geht nicht zur Schule." erklärte Nancy anstelle ihres stummen Schützlings. "Sato-sama ist besorgt um den negativen Einfluss den eine solche Einrichtung auf seine Tochter haben könnte." "Oh." machte Chris nur und kratzte sich verlegen am Kopf. "Sorry, ich habe im Voraus kaum Unterlagen erhalten und weiß daher vieles noch nicht über den Tagesablauf der Lady." Nancy nickte ihm freundlich zu und wandte sich wieder zum Gehen. Das Thema Schule war kein Gutes, aber das konnte der junge Amerikaner nicht wissen. Miu hatte nämlich durchaus mehr als einmal den Wunsch geäußert, eine Schule zu besuchen, nur war es eben bei dem Wunsch geblieben. Chris, der dem verlegenen Schweigen offensichtlich ein Ende machen wollte, fragte Miu freundlich: "In dem Fall...wie sind deine Privatlehrer so? Macht der Unterricht Spaß? Welche Fächer magst du am liebsten?" Miu's Hände krampften sich in ihr Kleid und auch Nancy umklammerte die Griffe des Tabletts fester. Doch diesmal kam ihre kleine Lady ihr mit der Antwort zuvor: "Ich habe keine Privatlehrer. Aber Nancy..." Gefangen zwischen dem Wunsch der Situation zu entfliehen und dem starken Drang, ihren kleinen Schützling nicht alleine zu lassen, stand Nancy wie angewurzelt auf halbem Weg zwischen Tisch und Küchendurchgang. Sie hoffte dass der junge Amerikaner das Thema einfach fallen ließ, schließlich war offensichtlich genug, dass dieses Thema nicht für Smalltalk geeignet war. Doch im Gegensatz zur Schulbesuch-Frage was das etwas, das Chris nicht einfach hinnehmen konnte: "Wie jetzt? Ist Frau Nancy etwa eine Lehrerin?" Miu schüttelte leicht den Kopf und Chris schien als wolle er direkt weiter fragen, also sprang Nancy selbst ein: "Ich erhalte die Materialien und Erklärungen von Experten und leite sie an Miu weiter. Milady ist eine sehr gute Schülerin, die ihre Prüfungen digital ablegt und dabei regelmäßig Bestnoten erziehlt." Sie merkte selbst, dass ihr Tonfall ein wenig spitzer klang als notwendig. In Chris Gesicht arbeitete es. "Ähm...nicht dass ihr mich jetzt falsch versteht, aber...was macht 'Milady' denn denn dann tagsüber so, bei dem ich sie beschützen soll?" Nancy wusste bereits bevor Miu antwortete, dass die Antwort nicht das sein würde, was Chris sich wohl vorgestellt hatte. "Ich...lese viel." gab Miu leise von sich. "Und ich helfe Nancy im Haushalt." Chris schien mit jedem Wort mehr in sich zusammenzusinken. Er lächelte, keine Frage, aber die Enttäuschung war ihm trotzdem deutlich anzusehen. "Ihr kommt nicht viel raus, oder?" fragte er schließlich. Miu blieb ihm die Antwort schuldig, doch ihr Blick war Antwort genug. Chris seufzte und lehnte sich an den Tisch. Er murmelte etwas das zu leise war als dass Nancy es hätte verstehen können, doch Miu versteifte sich bei den Worten auf einen Schlag. Schon im nächsten Moment begannen ihre Augen feucht zu glitzern und Nancy ließ fast das Tablett fallen als sie sofort zu Miu eilte, doch diese war schon herumgewirbelt und rannte in den Flur hinaus.   "Er hat gesagt das hier sei der langweiligste Job seines Lebens!" Miu war immer noch hellauf empört. "Wie kann er so etwas sagen?" Sie begann zu zittern. "Was ist das denn für eine...Arbeitsmoral!" Alarmiert trat Nancy auf ihre kleine Lady zu, die sich sofort an Nancy's Bluse klammerte und ihr Gesicht verbarg. "Ich wusste es..." Miu's Stimme zitterte. "Ich wusste...dass es nicht funktionieren würde!" Ein Schniefen wehte durch den sonst so friedlichen kleinen Raum. "Warum ist mein Leben nur so..langweilig..." Nancy legte vorsichtig die Arme um das Mädchen und streichelte ihr sanft über den Kopf; durch den Stoff ihrer Bluse spürte sie die heißen Tränen. "Ich bin so dumm. Ich war wütend weil er so anders war als gestern. Aber...das stimmt nicht." Miu's Stimme wurde leiser. "Er war gestern genauso. Nur gestern...da fand ich das...gut." Nancy war sich nicht ganz sicher, was sie darauf antworten sollte. Sie war ja selbst aus allen Wolken gefallen wie positiv ihre kleine Lady auf den direkten, offenen Charakter des jungen Mannes reagiert hatte! Vorerst galt es, den Hausfrieden zu wahren. Immer noch sanft das helle Haar ihrer kleinen Lady streichelnd, wies sie Miu auf die Geräusche aus dem Garten hin: "Ich habe ihm die Gartenarbeit aufgetragen, das hat ihm gar nicht gefallen. Keine Sorge, er sagt in Zukunft sicher nichts dergleichen mehr." Ein leichtes Vibrieren des zarten Körpers in ihren Armen ließ Nancy aufatmen. Miu lachte, das war gut. Ihre kleine Lady drehte schließlich den Kopf zur Seite und starrte nachdenklich eine der Wände an. "Aber er hat Recht - hier gibt es keine verrückten oder aufregenden Dinge die für solch einen Mann sicher Alltag sind." meinte sie schließlich gedankenverloren. Nancy konnte ihr nicht widersprechen, wollte aber auch nicht, dass nutzlose Rebellionsgedanken in Miu reiften, also gab sie sich Mühe ihren Schützling abzulenken. Und schließlich ließ sich Miu sogar dazu bewegen aufzustehen und Chris vom Fenster aus ein wenig zu beobachten, der nur mit Hose und Gartenschlauch bewaffnet die Blumenbeete unter Wasser setzte während er immer wieder misstrauische Blicke in Richtung Haus warf. "Weißt du, Milady, er ist vielleicht ein besserer Mensch als du denkst." begann sie vorsichtig. "Der Grund warum er die Gartenarbeit nicht machen wollte war, weil er weit weg von dir sein würde, nicht, weil er sich vor der Arbeit drücken wollte. Ich glaube er nimmt es durchaus ernst dich beschützen zu wollen." Miu antwortete nicht, doch ihr Blick hinunter in den Garten wurde sanfter.   Beim Betreten des Gebäudes in dem sein Büro lag, wurde Renjiro von den beiden Empfangsdamen unauffällig herbeigewunken. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise stellten sie Nachrichten, Besucher und Ähnliches über eine Sekretärin zu ihm durch wenn er in seinem Büro angekommen war statt ihn hier wie einen Schuljungen herbeizuwinken, der etwas ausgefressen hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich Renjiro. "Sato-san, sie haben zwei Besucher." klärte eine der beiden Frauen ihn auf. Renjiro nickte, wartete auf die Fortsetzung der bisher relativ nutzlosen Information. "...und sie hatten einen Durchsuchungsbeschluss." ergänzte die zweite Frau nervös. Renjiro entglitten ein wenig die Gesichtszüge. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)