Nutzlos und verabscheuungswürdig von Jefferson ================================================================================ Kapitel 1: Useless ------------------ Sie hatte ihre Freunde bitter enttäuscht. Freunde? Als solche durfte sie sie eigentlich kaum noch bezeichnen, wenn man einmal ehrlich war! Was hatte sie nur angerichtet? In ihrer grenzenlosen Verzweiflung keine Verliererin sein zu wollen, mit Yugi und seinen Freunden mithalten zu wollen, hatte sie beinahe alles getan, was sie nicht hätte tun sollen. Sie war doch nur so furchtbar verletzt gewesen, dass ein blutiger Amateur wie Jonouchi sie irgendwann überrundet hatte. Einfach so. Wann war er besser geworden als sie? Mai wusste es nicht. Alles was sie wusste war, dass sie eine Weile lang verschwinden musste, ganz für sich allein sein wollte. Nachdem sie auf Dartz' Befehle hin reagiert hatte, nein, nachdem sie die nötige Kraft von ihm bekommen hatte, war sie scheinbar vollkommen verrückt gewesen. Beim ersten Duell gegen den Blondschopf hätte sie beinahe gewonnen. Doch in seinen Augen hatte etwas gefunkelt, er hatte ausgesehen, als hätte er einen Plan, als wisse er, wie er ihrer beider Seelen retten konnte, die Mai aufs Spiel gesetzt hatte. Nur, weil Varon sich eingemischt hatte, waren beide Seelen verschont geblieben. Sie hätte aus dieser Situation lernen sollen, hätte aufhören sollen! Aber ihr Verstand war wie vernebelt gewesen, wie rasend war sie gewesen und hatte nur eines im Kopf gehabt: Jonouchi im Duell zu besiegen. Letzten Endes hatte er sich ihr tatsächlich noch einmal gestellt. Mit verheerenden Folgen: am Ende war es Jonouchis Seele gewesen, die Dartz an sich gerissen hatte. Zwar hatte Yugi (wie schon so viele Male zuvor) alle gerettet, aber dieses Vergehen konnte Mai sich so schnell nicht verzeihen. Sie konnte Jonouchi nicht mehr in die Augen sehen. Ihr Fehler war nicht nur menschlich und dumm gewesen, er war aus ihrer Sicht unverzeihlich. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so viel Groll auf jemanden hegen, weil er einst im Duell gegen einen anderen Menschen verloren hatte...? Niedergeschlagen saß Mai im Gras unter einem großen Baum. Einige Wochen lang war sie ziellos umher gefahren mit dem Motorrad, dass sie sich ausgeborgt hatte von Alister. Eines Tages, wenn sie zurück kehrte, dann würde sie es ihm auch zurück geben. Aber noch war der Zeitpunkt nicht gekommen. Erst, wenn sie sich selbst vergeben hatte, dann konnte sie Jonouchi und Varon wieder in die Augen sehen. Der Herbstwind spielte mit ihren Haaren, wehte ein paar der goldenen Strähnen in ihr Gesicht. So nahe war sie Jonouchi. Würde sie sich auf das Motorrad setzen, das unweit von ihr im Gras lag, wäre sie sicherlich in weniger als einer halben Stunde bei ihm. Die Stadt lag direkt vor ihr, sie wusste, wo er wohnte! Und doch... konnte sie sich nicht überwinden. Stattdessen saß sie hier und bemitleidete sich selbst. Wie abscheulich sie doch war. Dabei trug allein sie die Schuld, es gab nichts zu bemitleiden! „Hey.“ Einen kurzen Moment lang zuckte Mai zusammen. Sie war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, dass jemand sich zu ihr gesellte. Ohne einen Laut von sich zu geben, musterte sie seine Statur. Er war keinen Zentimeter gewachsen, seit sie sich vor einigen Jahren das erste Mal getroffen hatten. Vermutlich würde er nie wachsen. Und sicherlich würde er immer der gleiche, naive Schwachkopf bleiben, der er schon immer gewesen war. Der Wind spielte auch mit seinen Haaren, aber ganz so möglich war es ihm nicht. Nicht wie bei ihr. Diese alberne Mütze, die er eigentlich ständig trug, verhinderte das Schlimmste. Er schien an dem Ding zu hängen, waren doch sogar seine Intitialien darauf. Aber, so unterbelichtet der Jüngere auch sein mochte – er schien begriffen zu haben, dass es nicht Mai war, die etwas sagen würde. Wollte er also ein Gespräch oder etwas loswerden, musste er anfangen. „Du siehst deprimiert aus.“ Er schwieg eine Weile, spielte fast schon nervös mit den lilafarbenen Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, ihn am Nasenrücken kitzelten. „Ich hab' gehört, was passiert ist. Du weißt schon.“ Unbehaglich wandte er den Blick ab. Ja, auch Mai hatte davon gehört. Er hatte den selben Fehler begangen wie sie. Einst war er von Jonouchi besiegt worden. Scheinbar hatte er – wie sie – gedacht, Jonouchi hätte ihm alles genommen. Dabei war das doch so ein Irrtum! Jonouchi hatte ihnen nur gezeigt, wozu ein Mensch fähig sein konnte, der aufs Ganze ging und an Werte glaubte. Über Jahre hinweg hatten sie beide das scheinbar nicht begriffen. Oder? „Ja.“ Mai wusste nicht, warum sie ihm antwortete. Warum sie überhaupt mit ihm sprach. Er war doch eigentlich weit unter ihrer Würde! Doch besaß sie jetzt noch Würde? War es ihr noch erlaubt, überhaupt soetwas zu denken? Schlecht von ihm zu denken, der die gleichen Fehler begangen hatte wie sie und ebenfalls hatte leiden müssen, wie sie? Vielleicht nicht unbedingt. Noch immer schweigend beobachtete sie den Kleinen. Wüsste sie es nicht besser, würde sie fast annehmen, dass er … ja, dass er versuchte, sie aufzumuntern! Tatsächlich zog er verlegen eine Tafel Schokolade hervor und hielt sie ihr unter die Nase. Dabei schaffte er es sogar, ihr direkt in die Augen zu blicken. Das war das erste Mal, dass ihre Blicke sich so trafen. Nie zuvor war Mai aufgefallen, dass er ziemlich hübsche Augen hatte. Dunkelblau... waren sie schon immer so schön gewesen? Nun, genau genommen hatte sie ihn nie so nahe bei sich gehabt. Und vermutlich hatte sie ihn mit ihrem Schweigen ziemlich verunsichert. „Nimm schon! Schokolade macht glücklich... manchmal...“, versuchte er sein Handeln zu erklären, irgendwie das Beste aus der Situation zu machen. Und zum ersten Mal hatte Mai das Gefühl, dass er kein arroganter Spinner und Bastard war – sondern vielleicht einfach nur ein missverstandener junger Mann, der den falschen Weg eingeschlagen hatte. So, wie sie am Ende. Tatsächlich schaffte er es, dass sich ein schmales Lächeln auf ihren Lippen ausbreiteite. Fast schon sanft entwandte sie ihm die Süßigkeit aus der Hand – dabei entging ihr nicht, wie seine Wangen sich etwas röteten, als sie seine Hand berührte. Er war tatsächlich nicht nur ein arroganter Bastard. Das war ihr schon im Königreich der Duellanten aufgefallen – nein, schon davor, auf dem Schiff. Damals war er gerade 15 Jahre alt gewesen. Eigentlich war er in dieser Hinsicht wohl einfach nur unschuldig und hatte keine Ahnung von nichts, wie es schien. In diesem kurzen Moment in dem ihre Hand die seine streifte, ging ihr auch das erste Mal auf, dass er vermutlich damals, auf dem Schiff schon recht einschlägige Gedanken gehabt haben musste. Nun, das hatte sie damals schon gewusst – nicht aber, dass diese sich wohl so lange halten würden. Auch heute noch, einige Jahre später, schien er an ihr interessiert. War seine Rivalität mit Jonouchi vielleicht nicht nur auf das Kartenspiel bezogen? Hatte er in ihm auch noch in anderen Lebenslagen einen Rivalen gesehen, es aber nie offen zugegeben? Vielleicht. Sie konnte es herausfinden. Und für den Moment war die Schokolade vergessen. Stattdessen fuhren Mais Fingerspitzen über seine Wangen, ganz langsam und zart, während sie sich etwas zu ihm herunter beugte. Ohre Lippen befanden sich direkt an seinem Ohr, sie konnte hören, wie seine Atmung sich beschleunigte. „Danke, Ryuzaki.“ Er nuschelte irgendetwas unverständlich, als sie sich wieder etwas von ihm löste. Woher hätte Mai auch wissen sollen, wie sehr er auf sie reagierte? Ihr Parfüm, ihre Berührungen, ihre Worte. All das löste ein unglaubliches Kribbeln in ihm aus. Keine Frau war ihm je zuvor so nahe gekommen Er war... völlig unschuldig in dieser Hinsicht. Doch zumindest letzteres ahnte Mai. Und mit einem Mal war ihr nach spielen zumute. Sie wollte wissen, ob er... ja, ob er Jonouchi vielleicht doch ähnlicher war, als sie jemals gedacht hatte. Denn die beiden ähnelten sich ja doch etwas. Sie waren beide nicht die Hellsten, schienen aus ihren Fehlern nicht unbedingt zu lernen und wollten fast immer mit dem Kopf durch die Wand. Nur, dass Jonouchi glücklicherweise einen guten Freund hatte, der ihn zurückhielt, statt ihn anzustacheln. Das war vermutlich Jonouchis Glück. Eines, das Ryuzaki nicht vergönnt schien. Aber jetzt war ihm wohl etwas Glück gegönnt. Denn als er spürte, wie sich völlig überraschend ein paar warme Lippen auf die seinen legten, hatte er das Gefühl, sein Herzschlag würde aussetzen – nur, um gleich darauf doppelt so schnell wieder einzusetzen. Mit einem Mal war jedes Kartenspiel und jede Niederlage der Welt vergessen. Was kümmerte es ihn...? Stattdessen wollte er mehr von diesem warmen, angenehmen Gefühl, das ihn alle Wut, allen Hass und jede Rache vergessen ließ. Blut schoss ihm in die Wangen. Etwas, das ihn wunderte. Woher nahm sein Körper genug Blut...? Denn er konnte auch deutlich das Kribbeln in seinen Lenden spüren. Er war fast achtzehn Jahre alt – aber das hier war sein erster Kuss. Als er mit 15 verloren hatte, erst gegen Haga, dann gegen Jonouchi, da war er einer der unbeliebtesten Kerl der Stadt geworden. Dass nun ausgerechnet Mai... Abrupt wurde er zurück in die Realität katapultiert, als Mai ihm ihre Lippen entzog. Atemlos blickte er sie an, leckte sich kaum merklich über die Lippen. Es war offensichtlich, dass er mehr wollte, geradezu danach lechzte. Doch Mai legte nur ihren rechten Zeigefinger auf seine Lippen und zwinkerte ihm zu. „Nicht heute.“ Und es klang wie ein Versprechen. War das vielleicht beabsichtigt? Sie konnte diese Frage noch nicht einmal selbst beantworten. Aber etwas sagte ihr, dass Ryuzaki nicht mehr der Selbe war wie früher. Dass er sich verändert hatte – oder sich verändern könnte und würde, wenn man ihm nur Aufmerksamkeit und das Gefühl gab, gebraucht zu werden, nicht... nutzlos und verabscheuungswürdig zu sein. Wer wusste schon... vielleicht war gar nicht Jonouchi der Richtige für sie...? Die Antwort kannten nur ihre Herzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)