Ein Funken Hoffnung von AnimusDraconis ================================================================================ Kapitel 1: Ein Traum und ein Geheimnis -------------------------------------- Rei öffnete verschlafen die Augen, kniff sie allerdings sofort wieder zu, als die Sonne sie blendete. Gähnend streckte sie sich und griff nach ihrer Decke, um sich noch einmal umzudrehen. Sie hatte gut geschlafen, bemerkte sie mit milder Überraschung. Es war warm und weich hier, und sie fragte sich, seit wann ihr Futon derart nachgiebig war, als sie plötzlich die Augen aufriss und sich umsah. Das war nicht ihr Zimmer. Alles war hell in beigen Tönen gehalten, und durch eine offene Balkontür wehte ein angenehmer, warmer Wind. Alles schien ihr ein wenig verschwommen und schwer zu erkennen, aber das mochte an den hellen Farben und ihrem verschlafenen Zustand liegen. Und das war kein Futon – das war ein westliches Bett. Und nicht nur das, es war ein Doppelbett. Rei zuckte zusammen und raffte die Decke um sich, nur um erneut zusammenzuzucken und erschrocken einen einem erstickten Schrei ähnlichen Laut von sich zu geben. Was war hier los? Seit wann trug solche Kleidung zum Schlafen? Weder ein T-Shirt noch eine Hose bedeckten sie, sondern ein Nachthemd, das ihr bis zu den Knien reichte und sogar so etwas wie ein filigran gesticktes Muster aufwies. Das kannte sie doch – ihre Mutter hatte es getragen, als Rei noch klein gewesen war. Aber was machte es an ihr? Die Panik niederkämpfend fragte Rei sich, wo sie gelandet war, und fuhr sich durch die Haare, was sie erneut stocken ließ. Anstatt ihre kurze, unordentliche und strohige Mähne zu fühlen fuhr sie durch mehr als schulterlanges, glattes Haar und als sie dieses vor ihre Augen führte war es schwarz. Wo war das ausgewaschene Rot hin, das sie schon seit Jahren trug? Am ganzen Leib zitternd sah Rei sich um, bis ihr Blick schließlich in einen mannshohen Spiegel fiel und sie gab ein entsetztes Quieken von sich. Erst, als sie eine Hand hob, um sich über das Gesicht zu fahren und ihr Spiegelbild ihre Geste kopierte begann sie tatsächlich zu begreifen, dass das sie war, die sie da sah. Sie war nicht größer, oder breiter, aber... anders. Das schwarze Haar lag unordentlich auf ihren Schultern, noch zerzaust vom Schlafen, und ihr Gesicht war weniger rundlich, sondern zierlicher geworden. Ihre Wangenknochen und die schmalen Lippen unterstrichen ihre schmale Gestalt, die durch die dünne Kleidung nur zu deutlich sichtbar war. Keine Bandagen oder zu weite Kleidung, die sie verbarg, nichts. Nur eine japanische, schlanke, erwachsene Frau, die sie entsetzt musterte. Aber warum um alles in der Welt war sie hier – und warum so? Eine Stimme ließ sie aufhorchen. „Rei? Reiko, bist du fertig?“ rief jemand und sie sprang auf, um die Tür zu blockieren, doch ehe sie diese erreicht hatte wurde sie geöffnet. Rei schnappte sich die Bettdecke und hielt sie schützend vor sich, als sei sie nackt und müsse sich bedecken. Ein junger Mann stand im Türrahmen und musterte sie verwundert. Er hatte ebenfalls schwarzes, zerzaustes, allerdings kurzes Haar und war gut eineinhalb Köpfe größer als sie, hatte ein kantiges, aber nichtsdestotrotz hübsches Gesicht, das im Augenblick allerdings reichlich verwirrt aussah. „Rei – hast du verschlafen?“ fragte er und klang leicht amüsiert, doch sie schaffte es nur, den Mund auf- und zuzuklappen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Mann kam auf sie zu und schmunzelte, doch als sie zurückwich wurde er wieder ernst. „Reiko! Hattest du wieder einen Alptraum?“ fragte er, als wolle er sie ermahnen, warum sie ihm nichts gesagt hatte. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Woher kannte er ihren Namen? Und, vor allem – wer war das? Wie kam er auf die Idee, sie so vertraut anzusprechen, und wieso war er von ihrem Aussehen nicht verblüfft – sie war es ja selbst durch und durch. „W-Was?“ fragte sie und fuhr sich erneut durch die Haare. Es fühlte sich so seltsam ungewohnt an, normal aufzutreten, als sei sie allem, was da kommen würde, schutzlos ausgeliefert! „Was is' hier los?“ fuhr sie nervös fort. „Wo bin ich und wer – was...“ Plötzlich war der fremde Mann bei ihr und nahm sie in die Arme, wollte ihr beruhigend über den Rücken streichen und versuchte sogar, sie auf die Stirn zu küssen, woraufhin sie sich heftig wehrte. „Wah! Geh weg! Verpiss dich! Arschloch! Finger weg, Wi...“ Der Mann runzelte die Stirn und schob sie ein Stück von sich weg, um sie direkt anzusehen, ein Hauch von Vorwurf war in seinen dunklen Augen zu sehen. „Rei, nimm dich zusammen. Was, wenn dich die Kinder hören?“ ermahnte er sie, woraufhin sie zurückstolperte und sich an den Kopf griff. „W-was?“ hauchte sie. „Ki-Kinder?“ Ihre Hand glitt wie von selbst auf ihren Bauch und Unterleib, als könne diese Geste sie vergewissern, ob etwas mit ihr geschehen war. Sie spürte die Narbe, die ein Messerstich in ihrem Unterleib zurückgelassen hatte. Sie war damals überzeugt davon gewesen, dass etwas unwiderruflich in ihr zerstört worden war. Vielleicht nicht unbedingt körperlich, aber der Entschluss, einem weiteren, unschuldigen Wesen eine solche Welt zu ersparen konnte sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben! Mittlerweile besorgt blickend trat der Mann etwas näher und legte eine Hand auf ihre Stirn. Rei blickte ihn misstrauisch an, wehrte sich aber nicht mehr. Fürs Erste. „Was ist denn los?“ fragte er schließlich. „So schlimm hast du schon lange nicht mehr geträumt. Ist es, weil dein großer Bruder heute kommt? Hat dich das an etwas von damals erinnert?“ Rei sah auf. „Was? Mein großer Bruder kommt? Wohin? Hierher?“ Der Mann sah sie weiterhin besorgt an. „Ja, natürlich hierher.“ Fieberhaft blickte Rei sich um. Wo war „hier“ eigentlich? Und warum kam Keiji dort hin? Niemand sonst konnte doch schließlich mit ihrem großen Bruder gemeint sein. Sie hatte sonst keine Geschwister – ach was, sie hatte eigentlich gar keine Familie. Also, was war eigentlich los, was für Kinder und wer war dieser Kerl hier? Zum ersten Mal nahm sie sich Zeit, ihn genauer zu betrachten. Er hatte eine gute Statur, schien recht muskulös zu sein, ohne gleich eine Proletenfigur abzugeben. Sein Blick kam ihr vage bekannt vor. Sie hatte ihn doch schon einmal gesehen – besorgt, ein wenig verwirrt, offenbar nicht so recht wissend, was geschehen war aber trotzdem der Meinung, sich einmischen zu müssen. Da riss sie überrascht die Augen auf. „H-Hundi... Ich mein' Josh – bist du das?“ Der Mann lachte und legte den Kopf leicht schräg, ehe er sie angrinste und damit seinen Versuch, vorwurfsvoll auszusehen zunichte machte und stattdessen ein spitzbübisches Bild abgab. „Das habe ich ja schon lange nicht mehr gehört. Was für eine liebenswerte Art, deinem Ehemann guten Morgen zu... Rei?“ Bei dem Wort Ehemann hatten Reis Beine endgültig ihren Dienst quittiert und kraftlos sank sie zu Boden. Sofort war Josh neben ihr und machte mit seinen nervösen Fragen, was los sei alles nur noch schlimmer, bis sie schließlich seine Hände packte, sie nach unten drückte und ihm ins Gesicht sah. „Jetzt komm' ma' runter, verdammt!“ machte sie ihm deutlich und atmete tief durch. Wenn hier jemand das Recht hatte, durchzudrehen und nervös zu werden, dann war das sie, und nicht Josh, der offenbar genau wusste, in welcher Situation er sich hier befand. Ehemann – sollte das ein schlechter Scherz sein? Sie versuchte, ihn aus den Augenwinkeln zu mustern. Es war definitiv nicht der Josh, den sie kannte. Er war älter, und statt stets das Gefühl auszustrahlen, sich behaupten zu müssen kam er ihr ruhig, fürsorglich und ein wenig kindisch vor. Seine Handgelenke, um die sie ihre Finger gelegt hatte, waren warm und kräftig. Ihre eigenen, schmalen Hände sahen neben seinen klein und hilflos aus, und trotzdem wusste sie, dass sie ihn so fest packte, dass es unangenehm sein musste. Sie sah ihn an und presste die Lippen zusammen, schloss einen Augenblick die Augen, seufzte tief und fragte: „Was geht hier ab? Scheiße, ich bin doch grad' eb'n noch...“ Josh machte eine Hand los, woraufhin Rei den Griff lockerte, legte ihr einen Finger auf die Lippen und automatisch verstummte Rei, verblüfft, dass Josh sich diese Geste erlaubte. „Du hast doch gesagt, dass du dich bemühst, ordentlich zu reden.“ meinte er nachsichtig lächelnd, woraufhin Reis Miene sich verfinsterte. „Ordentlich? Sag mal, hackt's bei dir? Sonst ist noch alles...“ Als Josh sich vorbeugte und Anstalten machte, sie zu küssen, zuckte Rei zurück und starrte ihn ungläubig an. Er lächelte, es sah ein wenig enttäuscht aus, und wollte gerade etwas sagen, als ein lautes Geräusch, wie von einer Türklingel, ertönte ihn unterbrach. Josh sah auf und blickte sie an. „Dein großer Bruder ist aber früh dran heute.“ meinte er und drückte ihr noch ehe sie protestieren oder sich wehren konnte einen Kuss auf die Stirn. „Mach dich schnell fertig. Ich mach auf und sag ihm, dass du verschlafen hast.“ Er grinste verschmitzt und einen Augenblick sah Rei in ihm den Josh, den sie kannte, ehe er aus dem Raum eilte. Immer noch verwirrt öffnete Rei den Kleiderschrank und atmete erleichtert auf. Jeanshosen und T-Shirts, und nur an der Seite hingen zwei Kleider, die offenbar für spezielle Gelegenheiten reserviert waren. Waren das ihre Sachen? Sie schienen ihre Größe zu haben. Was war mit der Sporttasche, ach, was war mit ihrem kleinen Ein-Zimmer-Apartment passiert? Was war überhaupt passiert? Hatte sie wirklich nur böse geträumt und konnte die Fesseln des Alptraums nicht abstreifen? Rei hörte Stimmengewirr draußen und beeilte sich, in ein paar der Sachen zu schlüpfen ehe sie nach draußen ging. Im Türrahmen blieb sie irritiert stehen. „Josh?“ rief sie unsicher, als fürchte sie, im nächsten Augenblick eine schreckliche Entdeckung zu machen. Da tauchte er auf und kam ihr lächelnd entgegen, und Rei bemerkte überrascht, wie erleichtert sie bei seinem Anblick war, ehe sie sich schalt, dass sich nur Schwächlinge auf andere verließen. „Da bist du ja. Komm, dein großer Bruder wartet schon im Wohnzimmer. Und er hat Besuch mitgebracht.“ Und damit verschwand er um die Ecke. Rei folgte ihm zögernd und fragte sich, was sie erwarten würde. Es war ihr, als hörte sie mehrere Stimmen. Sie konnte Joshs ausmachen – und Keijis, woraufhin sich ein schmales Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete. Und da war noch jemand. Ein Mann? Kannte sie ihn? Vielleicht war es ja Seth? Und da war noch etwas, eine weitere Ansammlung von Lauten, die sie vernahm. Eine Frau? Oder Kinder? Rei strengte sich an, etwas zu hören, doch je mehr Mühe sich gab, desto verschwommener wurden die Stimmen, und schließlich eilte sie um die Ecke, als fürchte sie, dass die Bilder ebenso wie die Geräusche verschwinden würden. Doch anstatt eines Wohnzimmers erwartete sie eine Tür, die sie schließlich zögerlich öffnete. Dahinter jedoch fand sie nicht wie erwartet Keiji, sondern einen in der Luft schwebenden Topf, gegen den ein Holzkochlöffel schlug. „Los, rein, Frühstücken!“ rief er Rei entgegen und verwirrt sah sie den Topf an, ehe sie einen Schritt näher trat. „Alle rein, Frühstück!“ wiederholte der Topf – zumindest glaubte Rei, dass es der Topf war, denn es gab hier sonst niemanden – und sie versuchte, in den Topf zu spähen, als plötzlich irgendetwas an ihrem Hemd zog. Erschrocken blickte sie nach unten und betrachtete, was da an ihr zerrte. Es war ein zusammengerollter Haufen braun-grauer Decken, der eine Stoffhand nach ihr augestreckt hatte und sie offenbar umschlingen wollte. Der Topf schrie sie weiterhin an, und irgendwann schreckte Rei auf und... blickte in einen schmutzigen Innenhof. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch fiel zurück und blickte neben sich. Ihre Bewegungsfähigkeit war maßgeblich von einem Deckenräuber mit einem sehr einnehmenden Wesen eingeschränkt worden, der sich neben ihr in den rauen, wärmenden Stoff gewickelt hatte und offenbar im Schlaf zu Boden gesunken war. Sie selbst war in einer sitzenden Position eingeschlafen und sie hatten sich dermaßen in dem Stoff verwickelt, dass sie geradezu einandergebunden waren. Rei schmunzelte und blickte sich verschlafen um. Die Mutter, die mithilfe den Schlägen eines Reisschöpfers auf einen Topf nach ihren Kindern gerufen hatte, scheuchte gerade das letzte zum Frühstück ins Haus. Sie hatten hier zu zweit offenbar nicht sehr erfolgreich Wache gehalten, aber kein Wunder, dass sie nach den letzten, fast komplett durchwachten Nächten beide eingeschlafen waren. Rei atmete auf, als ihr klar wurde, dass sie die Nacht trotz ihrer Unaufmerksamkeit heil überstanden hatten. Insgemein war sie froh, dass offenbar auch Keiji bemerkt hatte, dass sie keine Nacht mehr wach überstehen würden. Ansonsten hätte er sie sicher nicht in diesen verhältnismäßig sicheren Teil der Stadt geschickt, um Informationen über das zu sammeln, was im Augenblick in der Stadt vor sich ging. Wer konnte schon sagen, was passiert wäre, wenn es gefährlich geworden wäre? Rei verdrängte den Anflug eines schlechten Gewissens. Auch wenn sie lange Tage und noch längere Nächte hinter sich hatten war es keine große Hilfe für Keiji, einfach auf dem Wachposten einzuschlafen. Und dann auch noch alle beide! Kein besonders rühmlicher Verdienst. Sie konnte nur hoffen, dass vielleicht einer der anderen Posten etwas herausgefunden hatte. Außerdem freute sie sich darauf, Seth wiederzusehen. Es war schon ein paar Tage her, dass sie sich unterhalten hatten, auch wenn sie sich seit er für Keiji arbeitete zumindest keine Sorgen mehr machen musste, wenn sie ihn eine Weile nicht sah. Doch das alles würde sie erst erfahren, wenn sie in den Stützpunkt zurückkehrten. Vielleicht konnte sie Keiji ja dazu bewegen, in der nächsten Nacht einen etwas umtriebigeren Posten zu bekommen, um ihm eine größere Hilfe zu sein. Immerhin hatte sie bisher mehr als einmal bewiesen, dass sie ihm nützlich sein konnte, auch wenn sie manchmal das Gefühl hatte, dass er ihr Aufträge vorenthielt, die sie sehr wohl erledigen konnte. Dann warf sie ihm immer vor, einen viel zu ausgeprägten Beschützerinstinkt zu haben. Doch wie sollte sie antworten, wenn er sie anlächelte und meinte, dass ein großer Bruder so nun einmal empfand? Rei runzelte die Stirn. Dabei war er mittlerweile nicht mehr nur ihr großer Bruder – seine "Familie" war gewachsen, und wenn er auf alle so Acht gab würde er bald niemanden haben, um ihn auf die Straße zu schicken. Sonst könnte er ja kaum das ganze Viertel im Geheimen überwachen! Ein tiefes Seufzen entfloh ihrer Brust und sie lehnte sich zurück. Um zurückzugehen müsste sie allerdings erstmal ihren Begleiter aus dem Land der Träume holen. „Hey.“ murmelte Rei und stupste das Deckenbündel neben sich. Es murmelte unter dem Stoff und Rei grinste. Sie konnte sich nur vage an ihren Traum erinnern, und abgesehen von einem durchgedrehten Kochtopf war da noch irgendetwas gewesen. Josh? Vielleicht. Aber in einer komischen Situation, die irgendetwas mit einem Nachthemd zu tun hatte. Die Vorstellung, dass er ein derartiges Frauenschlafgewand trug ließ sie lachen und plötzlich tauchte ein schwarzer Haarschopf neben ihr auf. „Hng.“ grummelte er und fuhr sich – natürlich vergeblich – durch das Haar. „Was lachst du?“ fragte er sie und sie stupste ihn gegen die Stirn. „Nichts. Dachte mir nur, dass du voll leicht umzuniet'n bis', wenn du so tief pennst.“ Josh streckte sich, dass seine Knochen knackten. „Das sagt gerade der Richtige. Du hast doch auch geschlafen. Außerdem ist das nur, weil dein großer Bruder uns seit Tagen durch die Gegend hetzt.“ Rei schürzte die Lippen. „Du muss' ja nich' mit, weißte.“ Josh lächelte und tätschelte ihr den Kopf wie einem kleinen Kind. „Ja, ich weiß, du sagst es mir ja oft genug. Aber irgendwer muss ja auf dich aufpassen.“ Sie öffnete protestierend den Mund, und Josh hob abwehrend die Hände. „Jaja, ich weiß, du kannst selbst auf dich aufpassen, du bist ein großer Junge und so. Schon klar. Aber...“ Verschlafen stieß er ihren Kopf mit seinem an, wie junge Bullen, die ihre Stärke austesten wollten, ehe er grinste. „...wofür sind Freunde denn da, wenn sie sich nicht mal ein paar Sorgen machen dürfen.“ Rei klappte den Mund wieder zu und konnte nicht umhin zu schmunzeln. „Du mich auch.“ meinte sie nur und fragte sich, wann es in den zwei Jahren, seit sie sich kannten, dazu gekommen war, dass sie jemanden derart nah an sich heran ließ. Sie hatten sich in dieser Zeit beide verändert – waren ein wenig ehrlicher zueinander geworden, hatten sich aneinander gewöhnt und hatten viele Dinge zusammen durchgestanden. Aber andererseits waren sie immer noch die gleichen großmäuligen jungen Erwachsenen von damals. Josh war immer noch eine Spur zu arrogant, als dass es ihm gut bekam, und Rei immer noch das gleiche Schandmaul, dem in den wichtigen Momenten die Worte fehlten. Doch sie waren mittlerweile gut darin, ihre Fähigkeiten aufeinander abzustimmen, und waren zu einem nützlichen und durchschlagskräftigen Team in Keijis Reihen geworden. Erfahrung tat ihr Übriges, und die letzten Züge der Kindlichkeit waren schon lange aus ihren Gesichtern gewichen. „Was ist jetzt?“ fragte Josh und versuchte, sich von den Decken zu befreien. „Gehen wir?“ Rei half Josh, die Decken zusammenzulegen, ehe er sich noch einmal streckte und Rei die Gelegenheit nutzt, sich hinter ihn zu schieben, dass sie Rücken an Rücken auf der letzten Decke saßen, die sie noch auf dem schmutzigen Betonboden ausgebreitet hatten. Es war eine Geste, die sich etabliert hatte und die sie seit langer Zeit gewohnt waren. Zu Beginn war es nur aufgrund des puren Nutzens gewesen – Rücken an Rücken bedeutete, dass man sie nicht von hinten angreifen konnte. Doch hinter dieser Geste steckte ein derart angenehmes, schützendes Gefühl, dass sie irgendwann dazu übergegangen waren, auch in stillen Momenten ohne Bedrohung diese Pose anzunehmen. Keiner von ihnen hatte auch nur einmal erwähnt, dass sie diese Position als angenehm empfunden, doch warum Worte über etwas verlieren, das doch beide wussten, auch ohne etwas zu sagen. „Jetz' wart' noch kurz..“ murmelte sie und blickte der aufgehenden Sonne entgegen, die gerade über den Zaun zu dem Innenhof blickten und deren Strahlen ihr das Gesicht wärmten. „Wir geh'n gleich. Nur noch kurz.“ Sie lächelte und lehnte den Kopf zurück. Er ruhte direkt zwischen Joshs Schulterblättern, wo eine kleine Kuhle direkt für ihren Dickschädel gemacht zu sein schien. Jetzt, als sie dort so saß, erinnerte sie sich wieder an den Ablauf des Traumes und fast schmerzhaft wurde ihr klar, dass so etwas niemals geschehen würde. Es war nicht, als habe sie keine Hoffnung, dass es besser werden würde. Die hatte sie, und Josh war maßgeblich daran beteiligt, dass sie diese zurückerhalten hatte. Doch ein Leben wie das, das sie im Traum gesehen hatte, war zu weit entfernt, um danach zu greifen. Ein Leben in Frieden, in dem sie sich keine Sorgen machen musste, wenn Keiji zu Besuch kam, oder in der Kinder eine Option für sie waren. Der Gedanke daran, dass Josh ihr Ehemann gewesen war, ließ sie amüsiert kichern, woraufhin Josh leise lachte, aber nicht nachfragte. Auch er genoss offenbar die Stille. Daher war eine Beziehung ein abwegiger Gedanke – oder nicht? Nun, zumindest im Augenblick, denn trotz ihrer langen, gemeinsamen Zeit hatte Rei ihr Geheimnis, dass sie eignetlich kein Junge war, gehütet. Zwar hatte Josh sich zu Beginn gewundert, warum Rei sich kaum veränderte, doch sie hatte ihm erklärt, dass das ebenso wie das etwas femininere Aussehen in der Familie lag. Sie hatte ausreichend beleidigt und genervt geklungen, dass Josh sich damit zufrieden gegeben hatte und sie nur dann und wann ein wenig damit aufzog. Ein geringer Preis, wenn man bedachte, was Rei ihm stetig vormachte. Sie fragte sich, ob sich etwas ändern würde, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Manchmal kam es ihr vor, als wäre die Lage, in der sie sich befanden, nicht dafür gemacht, Freundschaften zwischen Männern und Frauen zu entwickeln, ohne dass mindestens einer von beiden strikt homosexuell war. Andererseits – Josh und sie waren gute, enge Freunde. War es da so wichtig, was dahinter oder wohl eher darunter steckte? Die Vorstellung, dass sie mehr verband, kam Rei unwirklich vor. Sie wusste sehr wohl, dass es im Augenblick selbst für eine Freundschaft schwierig war, die nötige Zeit und Gelegenheit für Gefühle aufzubringen. Zu viel Bedrohung und Gefahr hielten sie davon ab, über das, was vor ihr lag, auf irgendeine andere Art und Weise als die, wie es überstehen würde nachzudenken. Es gab wichtigere Dinge zu tun, und einen Freund wie Josh zu haben war schon mehr persönliches Glück, als sie jemals zu träumen gewagt hätte. Sie öffnete die Augen einen Spalt breit und blinzelte in die trüben Strahlen. Der Geruch der sich langsam erwärmenden Backsteinmauer drang ihr in die Nase, ebenso wie der Moder des Zauns und der Müllberg, der auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs aufgetürmt war. Vielleicht war es langsam an der Zeit, mit Josh reinen Tisch zu machen, dachte sie bei sich. Er wusste viele Dinge über sie – wie ihre Mutter gestorben war, wie sie früher gelebt hatte, wie sie Keiji kennengelernt hatte, warum und weshalb sie damals so gehandelt hatte. Er hatte sie zum Grab ihrer Mutter begleitet und hatte ihr beigestanden, als man sie wegen einer Nachricht, die sie gar nicht gehabt hatte, gejagt und eingesperrt hatte, woraufhin sie einige Zeit unter ausgeprägter Platzangst gelitten hatte. Sie wiederum wusste, wie er aufgewachsen war, was er in seiner Kindheit erlebt hatte, und sie hatten sogar gemeinsam überstanden, was mit seinem Vater passiert war. Sie hatte ihm bei der Suche nach seiner Mutter geholfen, nur um zu erfahren, dass sie nichts von ihm wissen wollte. Und Rei hatte ihn beschützt, als man versucht hatte, an sein Erbe zu kommen, auf das letzten Endes aufgrund des ganzen Trubels die Polizei aufmerksam und es beschlagnahmt worden war. Nur eines hatte Rei bisher nicht gewagt, offen auf den Tisch zu legen, aus Angst, was passieren könnte, wenn Josh es herausfand. Ob er sehr enttäuscht wäre, selbst wenn er ihre Gründe kannte? Und während sie dort so saß und Josh sich kaum rührte, weil er wusste, dass Rei diese Augenblicke wichtiger waren als Worte und sie selbst nicht in der Lage war, ihre Gefühle anders auszudrücken als so hielt er fast völlig still. In beidseitigem Einverständnis saßen sie da und Rei fasste einen Entschluss. Sie waren Freunde durch Dick und Dünn gewesen. Er verstand sie, selbst wenn sie nichts sagte, und auch wenn ihre größte Angst war, Josh weh zu tun und ihn zu vergraulen war es doch schon lange an der Zeit, ihm die Karten offen auf den Tisch zu legen. „Du errätst nich',“ begann sie leise, mit geschlossenen Augen die Wärme spürend, die ihre Haut emporkroch, und die gemeinsam mit Joshs warmem Rücken einen so deutlichen Kontrast zu der Angst vor Enttäuschung aufwies, die sich eisig in ihr breit machte, „...was ich geträumt hab...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)