Ein Funken Hoffnung von AnimusDraconis ================================================================================ Kapitel 2: メリ クリスマス - Meri Kurismasu ------------------------------------ Rei eilte die Straßen entlang – und konnte sich gerade noch halten, als sie auf der glatten Straße ausrutschte und beinahe auf die Nase fiel. Sie fluchte vor sich hin, als sie ihr Tempo drosselte. Es war kalt, und seit heute Mittag schneite es, und sie hatte keinerlei Lust, länger in diesem nassen Wetter zu stehen – ganz zu schweigen davon, dass heute Weihnachten war. Oh nein, sie wollte nach Hause, irgendetwas vor ihr offenes Fenster hängen, um die Kälte auszusperren, und dann… Dann würde ihr schon etwas einfallen, und wenn sie sich nur in ihren Futon einwickelte und schlafen ging. Aber all die Lichter um sie herum, die strahlenden Weihnachtsbäume in den Einkaufsstraßen und die sich langsam zusammen findenden Paare, Freunde oder einfach die, die gemeinsam Weihnachten feierten, weil sie sonst niemanden hatten oder allein in dieser riesigen Stadt waren, weil nun auch die letzten Züge und Flüge aufgrund des Wetters gestrichen worden waren – all das ging Rei mittlerweile gehörig auf die Nerven. Missmutig stapfte sie durch den Schnee, der auf den Straßen eher einer breiigen, braunen Masse ähnelte als den weißen Kristallen, die immer noch vom Himmel fielen. Rei sah auf das Paket in ihren Händen. Na gut, vielleicht war ihre Situation gar nicht so schlimm. Immerhin hätte sie etwas viel weniger weihnachtliches in ihren Händen halten können. Sie musste grinsen. Das war wohl das erste Mal in ihrem Leben, dass man sie gebeten hatte, ein Paket im herkömmlichen Sinne auszutragen. Nein, nicht nur das. Es war ein Geschenk! Seth hatte es ihr in die Hand gedrückt und gemeint, dass er zumindest versuchen wollte, ein paar anderen die Festtage etwas schöner zu gestalten. Rei kicherte in sich hinein. Wenn der wüsste, was für eine Weihnachtsüberraschung auf ihn selbst wartete! Keiji hatte nämlich sein ganz eigenes Geschenk für den hellhaarigen Mann vorbereitet – und dieses bestand aus drei weiteren, jungen Männern, um deren Schicksal Seth schon lange fürchtete. Durch einen glücklichen Zufall, und reichlich Unterstützung seiner Partner, sowie Reikas geschickter Planung und dem nicht ganz sauberen Einsetzen des ein oder anderen Gefallens hatten sie es tatsächlich geschafft, durch einen weiteren, eingeschleusten Verbündeten Nagano seine Goldesel hinter seinem Rücken wegzuschnappen. Gut, man musste zugeben, dass sie es alle nicht unverletzt überstanden hatten. Selbst Rei, die nur dafür zuständig gewesen war, die Nachrichten zu übermitteln, was sie in der heißen Planungsphase sehr auf Trab gehalten hatte, war nicht gerade glimpflich davongekommen. Aber immerhin hatte man den Streifschuss, die Platzwunde und die Prellung allesamt behandelt, und es war nicht so, als hätte Rei nicht schon schlimmere Verletzungen hinter sich gebracht – gar nicht davon zu sprechen, dass sie von allen noch am besten weggekommen war. Nein, allein der Gedanke daran, was Seth für ein Gesicht machen würde, wenn er seine drei Freunde mehr oder minder unter dem Weihnachtsbaum begrüßen konnte amüsierte sie diebisch! Leider würde sie das nicht mitansehen können, und ihr eigenes Wiedersehen mit Seth würde warten müssen, dachte Rei mit einem tiefen Seufzer bei sich. Denn die Schneedecke hatte einen dicken, weichen Teppich auf die Stadt gelegt und die Zugänge zu Keijis Versteck waren so entweder nicht erreichbar – oder aber Rei würde derart offensichtliche Spuren hinterlassen, dass sie gleich eine Leuchtreklame aufhängen könnte, die munter darauf hinwies, wo sich das Versteck Keijis befand, der mittlerweile wahrscheinlich eine meterlange Liste benötigte, um die Menge der ihm feindlich gesinnten Leute aufzuzählen. Und morgen, das hatte sie sich schon vorgenommen, würde sie Josh einen Besuch abstatten, ob er nun wollte oder nicht, und nur allein für diese eine Nacht riskieren, entdeckt zu werden konnte sie nicht verantworten. Aber dass dieser reiche Bengel an Weihnachten seine Ruhe vor ihr hatte, das war undenkbar, dachte sie grinsend bei sich und trat von einem Fuß auf den anderen, um sich etwas warm zu halten. Hier, hinter einem gewaltigen Bürokomplex, wartete sie nun darauf, dass ihr Kontaktmann vorbeikam, um das Geschenk abzuholen und es Seth wieder zuzuschieben. Hätte sie gewusst, wer sich gerade in der obersten Etage des Gebäudes aufhielt, so hätte Rei sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen anderen Ort zur Übergabe ausgesucht. Doch ebenso wie sie nichts von demjenigen wusste, der gerade wütend und unruhig in seinem Büro auf- und abmarschierte, so war diesem ein Straßenjunge, und mochte es irgendein suspekter Handel sein, der gerade hinter seiner Arbeitsstätte herumlungerte völlig gleichgültig. “Das ist mir egal!“ schrie er gerade ins Telefon. „Mir ist völlig gleich, ob heute Weihnachten, der Geburtstag des Kaisers oder das Ende der Welt stattfindet – ich will, dass ihr die Jungs findet, oder keiner von euch wird das nächste Jahr noch heil erleben, haben wir uns verstanden?“ Und damit legte er auf, als jemand unsicher ins Zimmer kam. “Seijiro?“ fragte eine Stimme leise, und dieser sah auf. Heute war beileibe kein guter Tag. Weihnachten? Pah! „Was ist?“ knurrte er. „Noch irgendwer, der abgehauen ist? Hat man uns wieder verarscht? Wenn ja, dann will ich es nicht hören!“ Aiko schüttelte sogleich den Kopf. “Nein, Seijiro. Es ist… Iwaki-san sagt, er müsse etwas mit dir besprechen. Ich habe ihm gesagt, dass du gerade keine Zeit hast, aber er besteht darauf – es sei geschäftlich und nicht aufzuschieben.“ Seijiro seufzte und nickte. Aiko konnte nichts dafür, sie war von seiner schlechten Laune wahrscheinlich am ehesten und schlimmsten betroffen und hielt dieser wieder einmal verblüffend gut stand. Immerhin hatte sie sich bereit erklärt, trotz den Geschehnissen heute hier am Weihnachtsabend zu arbeiten, und hatte sich ein wenig Ruhe verdient. “Schon gut. Schick ihn rein.“ meinte er, während er hoffte, dass man ihm die gerade aufkommende Freude nicht ansehen konnte. Kazuya war hier? Na, immerhin etwas! Dieser war im Augenblick wahrscheinlich die einzige Person, die Seijiro in seiner Nähe ertragen konnte. Noch während er dies dachte, trat Kazuya ein, ganz der kühle Geschäftsmann. Akiko fragte, ob er etwas trinken wollte, doch er lehnte ab und wandte sich stattdessen sogleich Seijiro zu, dass Akiko verständnisvoll und ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. “Und dann machst du Feierabend!“ rief er der jungen Frau noch hinterher. Ob man die Jungs heute nun fand oder nicht, Aiko hatte es nicht verdient, den ganzen Abend allein in einem Büro herumzusitzen und sich Sorgen zu machen. „Guten Abend.“ begrüßte Kazuya ihn gerade, woraufhin Seijiro die Arme vor der Brust verschränkte. “Ich wüsste nicht, was an diesem Abend „gut“ sein sollte.“ murrte er, ehe er sich erhob und auf Kazuya zutrat, und diesen dann ansah. "Abgesehen vielleicht von dem Besuch eines gewissen "Geschäftstermins"." fügte er dann hinzu und zog Kazuya an sich, um ihn zu küssen. Dieser schaffte es nun selbst nicht mehr, die kühle Fassade aufrecht zu halten, und schloss Seijiro seinerseits in die Arme. "Was ist denn heute passiert?" fragte er, als Seijiro sich löste, mit einem angedeuteten Schmunzeln. "Du bist heute ja richtig zahm." erklärte er amüsiert, woraufhin Seijiro sich etwas zurücklehnte und Kazuya vorwurfsvoll ansah. "Was ist? Passt es dir nicht?" begann er und räusperte sich, um zu verbergen, dass ihn dieser Satz störte. Er und zahm? Pah! Er war vielleicht ein wenig müde, und schlecht gelaunt, und freute sich, Kazuya zu sehen, und musste spontan an ein Weihnachtsdate denken - aber deswegen war er noch lange nicht "zahm"! Kazuya schien ihn nur leider viel zu gut zu kennen, denn er hielt Seijiro fest und ließ nicht zu, dass dieser sich von ihm entfernte. "Und wie es mir passt..." raunte er Seijiro ins Ohr, und hatte dessen Widerstand schon fast wieder außer Kraft gesetzt. Kazuya hielt ihn fest an sich gedrückt und küsste ihn noch einmal, ehe er Seijiro zum Sofa zog und sich mit ihm darauf niederließ. "Was ist denn nun passiert?" fragte Kazuya schließlich, und Seijiro verzog die Miene, als sein Liebster ihn wieder an die unangenehmen Neuigkeiten erinnerte. "Die drei Jungs. Du weißt schon welche. Sie sind weg." Kazuya runzelte die Stirn. "Weg?" hakte er nach und sah Seijiro stirnrunzelnd an. "Wie, weg?" Aufgebracht erklärte Seijiro, wie ihm die drei Freunde Seths abhanden gekommen waren, und Kazuya hörte ihm ruhig zu, bis sein Freund zu Ende erzählt hatte. Letztendlich saß Seijiro auf dem Sofa, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. "Und weißt du, was das Schlimmste ist?" meinte er abschließend. Kazuya sah ihn nur aufmerksam an, genau wissend, dass die Antwort auf die rethorische Frage nicht lange auf sich warten lassen würde. "Dass es mir zwar übel aufstößt, dass Keiji uns einen Schritt voraus war - aber nicht, dass die Jungs weg sind." Er wandte sich zu Kazuya um, und man sah dem sonst so ruhigen und beherrschten, selbstsicheren Zuhälter an, dass ihn diese Erkenntnis selbst verwunderte. "Warum ärgere ich mich nicht darüber, dass mir mein Verdienst flöten geht, Kazuya? Ich meine, verdammt, ich könnte Keiji bei lebendigem Leib verbrennen, und es bohrt in mir, dass er mir etwas weggenommen hat - aber warum kümmert es mich so wenig, dass mir ausgerechnet die Goldesel abhanden gekommen sind. Es ist fast, als... als..." Er stockte und Kazuya sah seinen Liebsten wehmütig an. Seijiro hatte offenbar mehr Schwierigkeiten als Kazuya, zu erkennen, dass er bei weitem nicht so sadistisch und niederträchtig war, wie er die Welt glauben machen wollte. Doch seine eigene Erleichterung konnte der Zuhälter sich ebenso wenig eingestehen. Schließlich zog Kazuya Seijiro in seine Arme, ohne etwas zu sagen. Wenn Seijiro sich dazu entschied, weiterhin dieses Geschäft zu verfolgen, dann würde Kazuya ihn unterstützen - würde er es nicht, dann ebenso. Manchmal mussten sie Dinge tun, die ihnen zuwider waren, und manchmal bemerkten sie es erst dann, wenn sie damit konfrontiert wurden. Kazuya küsste Seijiros Stirn, seine Schläfen, Lider und dann seine Lippen, ehe er Seijiro in die Augen sah. Es war ungewohnt, einen Hauch von Unsicherheit in den Augen des Zuhälters zu erkennen, und Kazuya wusste, dass nur er allein befugt war, diese überhaupt zu sehen. "Ich liebe dich." sagte er, als wolle auch er Seijiro etwas von sich zeigen, das nur er kennen durfte. "Und was auch immer du tun willst, ich werde dir helfen, verstanden? Wie auch immer du dich entscheidest..." Auch wenn die Antwort nicht die war, die Seijiro verlangt hatte, so waren es doch genau diese Worte, die den Zuhälter beruhigten und in die Arme seines Geliebten sinken ließ. Es war wie eine Zuflucht - Geborgenheit, die er viel zu lange hatte missen müssen, und nun, nur durch einen glücklichen Zufall gefunden hatte, obwohl er der Meinung gewesen war, gar kein Anrecht darauf zu haben. "Alles in Ordnung?" fragte Kazuya leise und Seijiro nickte, während er seinen Kopf einfach an Kazuyas Schulter angelehnt hatte. Kazuya lächelte. "Was hältst du dann davon, jetzt die Geschenke auszupacken?" Seijiro sah auf und warf Kazuya einen anzüglichen Blick zu. "Hier im Raum gibt es nur ein Geschenk, das ich auspacken will." meinte er und ließ seine Augen offensichtlich interessiert über Kazuyas Gestalt gleiten. Dieser grinste. "Na gut - immerhin habe ich es dir mitgebracht." Schmunzelnd beugte sich Seijiro über Kazuya und begann damit, seine Krawatte zu lockern. Kurz schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, und er sah den Dealer fordernd an. "Aber du liegst unten." murmelte er, als wolle er seinen Moment der Schwäche von zuvor ausgleichen, indem er Kazuya in die devotere Position zwang. Dieser legte eine Hand in Seijiros Nacken, zog ihn etwas zu sich herunter und meinte dann, nachdem er ihn leidenschaftlich geküsst hatte, mit einem verhaltenen Grinsen: "Beim ersten Mal vielleicht..." Während ein ganz bestimmtes Büro nun für den Rest des Abends für Außenstehende geschlossen war, weil es in ihm recht heiß zuging, konnte Rei sich kein bisschen an Wärme erfreuen - im Gegenteil. Ihre Finger waren mittlerweile blau und sie zitterte am ganzen Leib vor Kälte. Wo blieb dieser verdammte Ken nur? Er sollte doch nur Seths Geschenk abholen, und die nächsten Tage wieder in Keijis Versteck bringen, da Rei dort nicht mehr hineinkommen konnte. Denn dazu kannte Ken sicherlich Mittel und Wege, Gegenstände zu Keiji zu transportieren, von denen Rei keine Ahnung hatte! Schließlich hielt ein ihr wohlbekanntes Auto am Eingang der Seitengasse und Rei marschierte darauf zu. Vorsichtig verharrte sie in gebührender Entfernung, bis die Scheiben heruntergekurbelt wurden und Rei das ihr bekannte Gesicht dahinter sah. Wütend kam sie auf den Wagen zu. "Ich sollte dir den Scheiß an die Birne donnern!" knurrte sie nur und reichte Ken das Päckchen. Als dieser ihre Finger streifte sah er sie besorgt an. "Hast du keine Handschuhe?" fragte er, woraufhin sie ihn zornig ansah. "Ne, dann kommt das hier," sie zeigte ihm den Mittelfinger, "nämlich nicht mehr so gut." Ken grinste, und zuckte mit den Schultern. "Musst du ja wissen!" meinte er nur und Rei streckte ihm die Zunge heraus. Dann zögerte sie noch kurz, und fragte dann: "Und du kannst das bis heute Abend zu der Weichbirne bringen, ja?" Ken lachte. "Wenn du damit Seth meinst, dann ja. Und dich," er sah Rei an, "kann ich auch dahin bringen, wenn du willst." Rei räusperte sich. An sich war die Vorstellung, heute Abend bei Seth und den anderen zu verbringen, mehr als angenehm. Es wäre warm, und vor allem nicht so einsam. Aber wenn sie ehrlich war, dann wollte sie bei ihrem Wiedersehen nicht stören. Auch hätte sie gern mit Keiji Weihnachten verbracht, doch was, wenn er dagegen war, dass sie Josh am nächsten Tag einen Besuch abstattete? Sie wusste selbst, dass es gefährlich war, aber sie wollte trotzdem nicht darauf verzichten. Oder er ganz andere Pläne hatte, und sie ihm dabei nur auf die Nerven ging? Nein, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie genau, dass man sie, wenn sie nur fragte, sehr wohl zu dem Stützpunkt bringen konnte, und die ganze Ausrede mit dem Schnee nur dafür da war, um sich dafür zu rechtfertigen, dass sie den anderen ihre Ruhe lassen oder einer Auseinandersetzung aus dem Weg gehen wollte. Sie unterdrückte ein Seufzen, zwang sich, munter zu wirken und schüttelte heftig den Kopf. "Nee, lass ma." meinte sie. "Hab heute Abend noch was vor!" Ken grinste. "Was? Willst du Zwerg mir etwa erzählen, dass du ein Date hast?" Rei lachte und sah ihn schmunzelnd an. "Und wie neidisch du wärst, wenn du die geile Schnitte heute Abend seh'n könntest...", warf sie ihm noch an den Kopf, doch Ken schüttelte nur belustigt den Kopf. "Ach ja," meinte er dann noch, und warf Rei etwas zu, das sie automatisch auffing. "Komm nicht auf dumme Gedanken, ist nicht von mir. Aber erst zuhause auspacken, klar?" Und mit diesen Worten fuhr er los. Rei betrachtete verblüfft das kleine Geschenk in ihrer Hand. Es war mit blauem Papier umwickelt, und jemand war sehr geschickt darin gewesen, ihren Namen in geschwungenen Buchstaben darauf zu schreiben. Aber wer? Mit einer Mischung aus Verwunderung und Freude ließ sie das Geschenk in ihre Jackentasche gleiten, ehe sie sich umwandte und im hinteren Teil der Gasse verschwand. Es wurde bereits dunkel und Rei rieb sich vergeblich die Arme, um sich etwas aufzuwärmen. Keine Chance, so durchgefroren, wie sie war. Sie sah sich um. Geldnot hin oder her, sie musste jetzt erst einmal etwas Warmes trinken! Sie schlenderte durch die Straßen, bis sie schließlich kurzerhand beschloss, sich zumindest irgendwo aufzuwärmen. Sie trat in die nächstbeste Bar ein, deren Eingang sie fand, und sah sich um. Es war recht leer, was kein Wunder war, wenn man bedachte, dass Weihnachten war, und man eher in einem Karaokeclub oder einem Restaurant war, nicht in einer Bar, auch wenn es hier recht hübsch eingerichtet war. Was Rei nicht wusste war, dass die Bar durchaus auch an Weihnachten gut besucht werden konnte - Shinji jedoch, der gerade etwas verwundert seinen neuesten Gast erblickte, hatte heute noch woanders zu tun. Er war gebeten worden, eine Single Weihnachtsfeier zu versorgen, und dafür würde er den Laden heute etwas früher zumachen müssen. Shinji freute sich schon darauf, ein paar flotte Cocktails zu mixen, und den Weihnachtsabend in angenehmer Gesellschaft zu verbringen. So hatte er etwas zu tun und rostete nicht ein, und ein bisschen Stimmung hatte noch keinem geschadet! Der kleine, rothaarige Junge marschierte zielstrebig an die Bar und bestellte "irgendetwas Warmes", woraufhin Shinji ihn misstrauisch betrachtete, ehe er mit den Schultern zuckte. Innerhalb der nächsten halben Stunde würde ja wohl kaum eine Polizeirazzia stattfinden, da konnte er ja einmal eine Ausnahme machen. Er wärmte dem Jungen einen Gewürzwein auf, den dieser sofort mit beiden Händen fest umklammerte. Shinji erkannte besorgt, dass die Finger des Jungen bläulich angelaufen waren, und er ziemlich durchgefroren schien. Doch da der Junge von sich aus kein Gespräch begann wollte Shinji ihn nicht drängen und fuhr damit fort, die Bar aufzuräumen. Joel betrachtete den blonden Kellner versonnen, seinen Drink in der Hand. Offenbar würde der Laden hier bald schließen - vielleicht war das auch besser so, dachte er bei sich, als er in sein Glas sah. Nicht sehr löblich, allein am Weihnachtsabend in einer Bar zu sitzen, die drauf und dran war, zu schließen, dachte er bei sich und musste dann selbst über den Anflug von Selbstmitleid lächeln, den er verspürte. Nein, er sollte lieber austrinken und dann nach Hause gehen, dachte er bei sich und setzte gerade das Glas an, als jemand schrie: "Du kannst mich mal!" Joel sah verwundert auf und erkannte zwei Tische weiter einen jungen Mann, der gerade sein Handy auf die Tischplatte donnerte und dann sein Glas in einem Zug austrank, ehe er das Gesicht in die Hände barg. Joel zögerte einen Moment. Eigentlich ging ihn das hier nichts an, aber ob es nun am Alkohol lag, oder er langsam ein ausgeprägtes Helfersyndrom entwickelte, mit einem Seufzer gab er dem Drang nach, nachzufragen. Er richtete sich auf, nahm sein Glas mit sich und ging zu dem Tisch des jungen Mannes. "Alles okay?" fragte Joel und der Mann hob den Blick. Er war zierlicher, als Joel zuerst gedacht hatte. Er hatte sanfte, ruhige Züge, und für einen Japaner sehr helles, braunes Haar. Man konnte sehen, dass der Mann geweint hatte, und er starrte Joel eine Weile an, ehe er plötzlich fragte: "Willst du etwa mit mir schlafen?" Joel sah ihn überrascht an und hätte sich fast an seinem Drink verschluckt. "Bitte was?" fragte der Franzose, und der Mann schüttelte plötzlich den Kopf. "Nein - nein, entschuldige. Das war Quatsch. Ich, ich meine nur... man spricht doch sonst hier niemanden in so einer Bar einfach so an. Ich... ach, vergiss es." Joel wartete einen Augenblick, ehe er sich nach unten beugte und mit einem Lächeln meinte: "Was wäre denn, wenn ich ja gesagt hätte?" Der junge Mann sah ihn kurz verblüfft an, ehe er selbst lächeln musste. "Weiß nicht... Vielleicht hätte ich mich geschmeichelt gefühlt." Joels Lächeln wurde weiter. "Wollen wir das Ganze dann noch einmal wiederholen?" Der Franzose fragte sich, warum er das Spielchen weiter trieb. Eigentlich sollte er nun nach Hause! Aber vielleicht lag es tatsächlich am Alkoholeinfluss, oder an den weichen Zügen des Jungen, die seinen Beschützerinstinkt ansprachen, oder an einer plötzlichen Laune - Joel versuchte weiterhin, sich einzureden, dass ein paar weitere Augenblicke ja niemanden stören würden. Der junge Mann mit der zierlichen Statur lächelte verlegen. "Vielleicht wollen wir das Ganze ja etwas anders anfangen?" Joel schmunzelte. "Vielleicht. Wie denn zum Beispiel?" "Zum Beispiel..." Der Junge zögerte und wandte etwas unsicher den Blick ab. Joel half ihm und fuhr fort: "Zum Beispiel, indem ich dich ganz offiziell auf ein Date bitte, weil wir offenbar gerade beide nichts zu zu tun haben und unsere Alternative ein nicht sonderlich angenehmer Abend allein wäre." Der Junge sah Joel verblüfft an, ehe er hüstelte und versuchte, zu verbergen, dass ihn die Einladung offenbar freute. Er warf einen Blick auf sein Handy, ehe er kaum merklich den Kopf schüttelte, als antworte er sich selbst auf eine nicht laut ausgesprochene Frage. Dann sah er auf und der Blick, den er Joel zuwarf, war bereits wieder etwas munterer. "Das klingt ehrlich gesagt ziemlich gut." meinte er, stand auf und blickte Joel noch einmal an, als erwarte er, dass dieser ihm offenbarte, dass es sich um einen Scherz handelte, ehe der junge Mann noch einmal nickte und seine Jacke holte. Joel trank aus, zahlte seinen Drink bei dem blonden Barkeeper - und den des jungen Mannes, wenn er gerade dabei war, gleich dazu - und wartete auf seine heutige Abendbegleitung. Vielleicht meinte es der Weihnachtsabend doch nicht so schlecht mit ihm. Zumindest schien er eine angenehme Gesellschaft zu bekommen, dachte er, als er das Lächeln des jungen Mannes sah, der ihm entgegenkam. "Du bist Franzose, oder?" fragte er neugierig, als sie die Bar verließen. Joel nickte lächelnd. Hatte man es seinem Akzent angehört? "Wie sagt man "Frohe Weihnachten" auf französische?" fragte Joels Begleitung, und dieser antwortete versonnen: "Joyeux Noel..." Die letzten beiden Gäste verließen gerade die Bar, von dem rothaarigen Jungen abgesehen, und Shinji wartete, bis dieser sein Glas geleert hatte, ehe er sich ihm zuwandte und ihn freundlich darauf hinwies, dass er bald schließen würde. Der Junge nickte und begann, durch seine Taschen zu kramen, woraufhin Shinji kurzerhand meinte: "Ist in Ordnung. Das geht aufs Haus, weil ich dich rauswerfen muss." Und mit einem freundlichen Lächeln nickte er dem Jungen zu, der ihn erst misstrauisch ansah, als wolle er prüfen, ob Shinji das Ernst meinte, ehe er schließlich selbst lächelte und nickte. "Ich revanchier mich bei Gelegenheit." meinte der Junge, hob noch einmal grüßend die Hand, und verschwand. Shinji lächelte weiterhin. Wie sollte ein Junge ihm helfen? Allerdings - man sollte niemanden beurteilen, ehe man seine Fähigkeiten kannte, oder? Er wischte ein letztes Mal über den Thresen und begab sich zur Tür, um abzuschließen. Rei verließ die Bar und blickte die Straße entlang. Es schneite wieder, und es schien, als wolle die Natur die Stadt und all deren Schwierigkeiten unter der weißen Decke verbergen. Oder eher ersticken? Sie streckte sich - und zog die Arme sofort wieder nach unten. Meine Güte, war das kalt! Zwar wärmte der Alkohol sie ein wenig, aber kaum genug, um lange vorzuhalten, und sie beschloss, sich doch auf den Heimweg zu machen. Was sollte sie lange in der Stadt herumstreunen, hier gab es ja doch nichts für sie. Plötzlich ertönte ein lauter Knall und Rei fuhr so heftig zusammen, dass sie fast erneut ausgerutscht wäre. Entsetzt blickte sie sich um, und für einen kurzen Augenblick durchfuhr sie die panische Angst, dass jemand ausgerechnet hier und jetzt eine Schießerei beginnen würde, und sie wollte sich schon an die nächste Häuserwand drängen, als das Geräusch sich wiederholte und sie sich verwirrt umsah. Jetzt, wo sie es genauer vernommen hatte, klang es nicht wirklich wie ein Schuss. Was konnte es sonst gewesen sein? Rei sah sich um, und erst, als das Geräusch ein drittes Mal ertönte wurde ihr klar, dass es von oben kam. Sie hob den Blick und erkannte einen Schneeball, der aus einem Fenster gegen eine Wand geworfen wurde, und beim Aufprall einen lauten Knall erzeugte. Rei verspürte Wut. Sie hatte sich bis ins Mark erschreckt. "Arschloch!" brüllte sie nach oben. Jess blickte dem nächsten Schneeball hinterher, den er geformt und dann an die gegenüberliegende Mauer geworfen hatte. Es war schon der - er zählte noch einmal die weißen Flecken an der Wand - sechste, und immer noch fielen unzählige, dicke Flocken vom Himmel, die ihm in kürzester Zeit Material für sein nächstes Wurfgeschoss bieten würden. Jemand brüllte ein lautes Schimpfwort durch die Gegend, und Jess presste die Lippen aufeinander. Gab es da unten etwa einen Streit? Was für eine wunderbare Weihnachtsstimmung hier doch herrschte... Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich um. Was für einen Grund konnte es haben, dass Yumi und Hiro ihn ausgerechnet für diese Tage, ja, genau, über Weihnachten, an einen anderen Ort verfrachtet hatten? Dass sie eine schlechte Entschuldigung eines Weihnachtsbaumes aufgestellt hatten war kein Ausgleich, und die Wohnung war so kärglich eingerichtet, dass Jess fast auf die Idee kommen könnte, dass sie ihn ärgern wollten. Warum sollte er sich überhaupt hier verstecken? Er war über die Feiertage ja wohl kaum stärker gefährdet als sonst, und hier gab es so viele Sicherheitsvorkehrungen, dass die Wohnung, in der er mit Yumi und Hiro normalerweise war, eher einem Kinderspielplatz glich. Jess konnte nicht einmal einen Fuß vor die Tür setzen, ohne dass jemand es bemerkte, und einen Moment hatte er sich gefragt, warum man ihn nicht immer an solch einem Ort unterbrachte - bis er sich selbst die Frage beantwortete, als ihm klar wurde, dass er es keine Woche hier aushalten würde. Nein, hätte man ihn derart an einen Ort gebunden, wäre er schon lange auf und davon. Für ein paar Tage würde es wohl gehen, aber hoffentlich holten sie ihn danach wieder hier heraus. Gerade hörte er, wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte, und wandte sich dieser zu. Bestimmt waren es Yumi oder Hiro, die ihm entweder Vorschriften machen wollten, oder - ja, oder was? Etwas anderes taten sie selten. Jess war klar, dass er im Augenblick mehr als unfair war, aber das war ihm egal. Schließlich behandelte man ihn genauso, indem man ihn ohne irgendeine Erklärung einfach hierher gebracht hatte und dann allein ließ. "Sehr witzig." begann er deshalb, noch ehe die Tür offen war. "Wenn sich einer von euch als Weihnachtsmann verkleidet, dann sag ich euch gleich, dass ihr mich mal gehörig am..." Seine Augen weiteten sich überrascht, als es keiner der von ihnen erwarteten Personen war, die eintraten. Oh nein, die Person, die nun etwas unsicher über die Schwelle trat, war die, die er von allen am wenigsten hier erwartet hatte. Kyra lächelte seinen besten Freund warm an. "Nicht wundern. Ich bin’s nur.“ meinte er, und es klang fast, als entschuldige er sich bei Jess dafür, dass er nun hier aufgetaucht war. Jess sprang auf. "Kyra! Was machst du denn hier, mí amigo?" brachte Jess heraus, während er versuchte, die Freude zu unterdrücken, die er bei Kyras Anblick empfand. Er sollte sich nicht freuen! Kyra sollte zuhause sein, wenn er schon frei hatte. Und nicht hier, in dieser Hochsicherheitsbruchbude! “Warum bist du nicht daheim?“ hakte er sofort nach. Kyra jedoch zuckte nur mit den Schultern, während er weiterhin lächelte. “Meiner Mutter habe ich gesagt, dass ich ein Date habe... Sie war gleich einverstanden.“ Jess fuhr sich durch die Haare, doch da gab es nichts dran zu rütteln - Kyra freute sich offensichtlich, hier zu sein. "Ich habe eine Nachricht bekommen, dass ich zu dieser Adresse hier soll. Es stand, warte mal..." Kyra zog einen Zettel hervor und warf einen Blick darauf. "An dieser Adresse wartet dein Weihnachtsgeschenk. Bring etwas zu essen mit, es ist sicher hungrig." las er vor, ehe er aufsah und Jess angrinste. Erst jetzt bemerkte der Halbspanier, dass Kyra mit Taschen und Schüsseln bepackt war. "Dios mio..." murmelte er, und beeilte sich, Kyra die Sachen abzunehmen und auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes abzustellen. Jess ließ den Blick über das üppige Essen gleiten. "Qué... Kyra, was hast du dir dabei gedacht?" Kyra betrachtete stolz, was er aufgeboten hatte, und begann munter, die verschiedenen Schüsseln zu öffnen, und die restlichen Lebensmitteln aus den Taschen zu holen. "Was?" meinte er und zuckte mit den Schultern. "Ich wollte nur mit meinem besten Freund Weihnachten feiern." Er wandte sich Jess zu, und sein Blick zeigte, dass ihn langsam Unsicherheit, aber auch Trotz beschlich. "Was soll daran schlimm sein?" fragte er dann leise, und Jess seufzte tief. Wenn er so weitermachte, schalt er sich, dann würde er Kyra endgültig vor den Kopf stoßen. "Ach, mí corazon." sagte er und schüttelte den Kopf. "Wie soll ich da nein sagen?" Und gemeinsam packten sie alle möglichen Leckereien aus, bei denen Jess sich langsam aber sicher zu fragen begann, wie sie zu zweit das alles vertilgen sollten. Sogar eine Flasche Sekt zauberte Kyra hervor, und als Jess sich schon beschweren wollte, dass so etwas ja absolute Geldverschwendung war beschwichtigte Kyra ihn und erklärte, dass die Flasche ebenso wie ein Großteil des Festmahls bei der Nachricht dabei gewesen war. Schließlich hockten sie vor dem Miniaturweihnachtsbaum auf dem Boden, da der Tisch voller Essen war, jeder mit seinem Teller vor sich, und Jess fummelte so lange an der Lichterkette herum, bis sie tatsächlich ein schwaches Licht spendete. "Wie sagt man auf spanisch nochmal?" meinte Kyra schließlich und hob sein Glas. "Feliz Navidad?" Jess nickte lächelnd. "Si. Feliz Navidad, mí corazon." Er ließ die Gläser aneinander klingen und fragte sich, wann sich ein Licht das letzte Mal so warm angefühlt hatte, als er die kleinen, alten Lämpchen ansah. "Feliz Navidad..." Rei grummelte immer noch vor sich hin, als sie schon lange nicht mehr an der von Schneebällen malträtierten Wand stand. Sie hatte die Nase sowas von voll von diesem Tag, am liebsten würde sie einfach bereits zu Hause sein und sich irgendwo verkriechen. Sie steckte die kalten Hände in die Taschen ihrer Jacke. Es würde zwar nicht viel helfen, aber vielleicht wenigstens ein bisschen. Plötzlich ergriff sie etwas, das sie verwundert aufblicken ließ. Sie konnte sich gar nicht erinnern, ein Kästchen in ihre Jacke getan zu haben - bis ihr das Geschenk einfiel, das Ken ihr zugeworfen hatte. Das hatte sie vor lauter Trubel und Kälte ganz vergessen! Neugierig nahm sie das kleine Päckchen heraus. Es passte bequem in ihre beiden Hände, und sie hob es hoch, betrachtete es von allen Seiten und schmunzelte. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal ein Geschenk bekommen hatte. Und jetzt hatte sie eins nur für sich allein! Ein kleines, in blaues Papier verpacktes Geschenk. Am liebsten hätte Rei ein Foto davon gemacht, nur, dass sie sich immer daran erinnern konnte. Sie blickte das Geschenk unschlüssig an. Sollte sie es öffnen? Oder lieber zulassen? Ken hatte gesagt, sie sollte es mit nach Hause nehmen. Aber, wenn sie ehrlich war, dann wollte sie das Paket nicht in ihrer trostlosen Ein-Zimmer-Wohnung öffnen, die der Inbegriff der Tatsache war, dass sie auch den Rest des Abends allein verbringen würde. Nein. Rei hob den Kopf und sah nach oben. Der Schnee fiel immer noch, und bedeckte alles um sie herum mit seinem weißen Frieden. Sie atmete tief durch. Warum nicht? Hier, inmitten der Stadt, an einem Ort, der nur in diesem einen Moment so rein und weiß war, wie sie ihn nun vor sich hatte, war es eine Erinnerung, die sie bewahren konnte. Sie zupfte das Papier vorsichtig auf, als fürchte sie, auch den Inhalt zu zerstören, wenn sie etwas falsch machte. Ihre Finger waren klamm und fast gefühllos, als sie endlich die kleine Schatulle in den Händen hielt, und ein Zettel glitt heraus, den sie gerade noch auffangen konnte. In der einen Hand die Schatulle, in der anderen den Zettel sah sie unschlüssig von einem zum anderen, bis sie schließlich erst die Schatulle öffnete. Ihre Augen weiteten sich, als sie erkannte, was darin lag: Es war eine Halskette. Ein schlichtes, matt silbernes Kreuz an einem schwarzen Lederband. Einfacher Modeschmuck, aber Rei hatte noch nie mit dem Gedanken gespielt, so etwas zu tragen. Mit einer Mischung aus Freude und Verwirrung faltete sie den Zettel auseinander und las, was darauf geschrieben stand: "Weil ein Mädchen ruhig ab und zu sowas tragen darf, auch wenn es sonst niemand weiß. Im Westen ist das Kreuz ein Schutzsymbol. Pass auf dich auf, Rei-chan. Gezeichnet: deine Brüder" Rei presste die Lippen aufeinander, und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die in ihren Augen brannten. Diese Idioten! Eine Kette? Was sollte sie denn mit einer Kette anfangen, dachte sie, und versuchte, Empörung zu empfinden. Aber alles, was Rei fühlte, war Rührung und Freude über das Geschenk. Wenn man es an ihr sah, war es nur ein Modeschmuck, den Frauen sowie Männer tragen konnten - aber sie wusste, dass hinter dieser Kette mehr steckte als nur ein einfaches, billiges Schmuckstück. Es war der Beweis, dass Rei irgendwo immer noch ein Mädchen war, und der Umstand, dass es jemanden gab, der es wusste und respektierte machte es so präsent wie schon lange nicht mehr. Doch das beste und größte Geschenk an dem Päckchen war, dachte sie bei sich, die Unterschrift gewesen. Ihre "Brüder", Seth und Keiji - Reis Familie. Sie wusste, dass der Zettel, wenn er in die falschen Hände geriet und man ihn mit ihr in Verbindung bringen würde, sie schwer in die Bredouille bringen konnte. Trotzdem tat sie ihn sorgsam in die Schatulle, ehe diese wieder in ihrer Jackentasche verschwand. Sie wandte den Blick dem trüben Himmel entgegen, und ihr Herz schlug so fest gegen ihre Brust, dass sie glaubte, es müsste zerspringen vor Glück. Ob Seth sein Geschenk schon bekommen hatte? Sie schmunzelte in sich hinein und setzte sich wieder in Bewegung. "Frohe Weihnachten, kleiner Bruder..." murmelte sie vor sich hin, als sie durch den Schnee nach Hause stapfte. Seth sah auf und seufzte. Er hätte Rei das Geschenk viel lieber persönlich gegeben, aber die musste ja auf und davon, um mal wieder irgendetwas in der Stadt zu erledigen, das sie, wie Seth die Kleine kannte, ohnehin in Schwierigkeiten brachte. Ja, er musste zugeben, dass er ein wenig unruhig war. Er hatte nur durch den Wetterbericht mitbekommen, dass selbst in Tokyo Schnee lag, und seitdem fragte er sich, ob sie es wenigstens warm hatte, denn wie er sie kannte wohnte sie ohnehin irgendwo, wo die Mieten niedrig und der Standard noch niedriger war. Jemand klopfte an seine Tür und er fuhr aus seinen trübsinnigen Gedanken auf. Seufzend stand er auf, um zu öffnen. Grübeln brachte ihn auch nicht weiter. Besser, er schalt Rei einfach das nächste Mal, wenn sie mit irgendwelchen Blessuren aufkreuzte! Genau, das würde er tun. Als er die Tür öffnete, stand Ken davor. Seth runzelte die Stirn - und riss die Augen überrascht auf, als er sah, was Ken in der Hand hielt. Dieses Paket! Seth hatte es Rei gegeben, dass sie es den Jungs überbringen konnte. Warum war es hier? War etwas mit Rei passiert? "Seth," begann Ken ernst, und Seth hielt den Atem an. "Ich soll dir etwas von Rei ausrichten. Würdest du bitte mit mir kommen?" Seth erstarrte und folgte Ken wie ein Schlafwandler. War der Kleinen etwas passiert? Wenn das der Fall war, dann war er, Seth, schuld, weil er sie um diesen Botengang gebeten hatte. Er hätte nicht zustimmen sollen, egal, wie sehr sie ihn damit genervt hatte, dass sie etwas für ihn tun wollte. Er hätte sie einsperren und fesseln und knebeln sollen, dachte er verzweifelt bei sich, während Ken ihn in einen warm beleuchteten Raum führte, in dem doch tatsächlich ein Weihnachtsbaum stand, von der restlichen, kitschigen Dekoration einmal abgesehen. Es sah aus wie ein Zimmer aus einem amerikanischen Weihnachtsfest! Seth sah sich um. Wo war Rei? Er wandte sich Ken zu, der ihm das Geschenk entgegenhielt und Seth damit vollkommen verwirrte. "Rei lässt dir sagen, dass du das Geschenk gefälligst selbst übergeben sollst." Seth schluckte. "W-was?" Ken konnte nun nicht mehr anders und schmunzelte. "Na gut, bei ihr klang es ein bisschen anders, aber ich glaube, zwischen "Weichbirne" und "der soll den Finger aus dem Arsch nehmen" habe ich sie mit dem gerade eben doch richtig übersetzt." Seth schüttelte den Kopf. "Aber... aber ich..." Ken trat einen Schritt zur Seite, und hinter ihm wurde eine Tür geöffnet, durch die drei Gestalten traten, die Seth sich fragen ließ, ob er mit offenen Augen träumte. Das war doch – unmöglich, oder? Aber offenbar doch nicht. Daiki lächelte ihn unsicher an, Takeshi räusperte sich verhalten, und Inu, nein, Hayato, strahlte regelrecht. Seth stolperte auf die anderen zu und erst, als sie ihn in ihre Arme schlossen wurde ihm klar, dass es Wirklichkeit war. Dass seine Freunde echt, und hier waren. In Sicherheit. Bei ihm. Seine Beine versagten ihm den Dienst, und er hatte Glück, dass die anderen ihn aufrecht hielten. Erst, als Hayato ihm ein Taschentuch reichte wurde Seth klar, dass er vor Freude und Erleichterung weinte. Er schloss sie alle immer wieder in die Arme, und sogar Takeshi ließ es über sich ergehen und während Daiki und Hayato selbst weinten glitzerten Takeshis Augen verräterisch. "Aber... aber wie..." begann Seth nach einer Weile, als er endlich seine Sprache wieder gefunden hatte. "Frag uns nicht..." murmelte Takeshi und seufzte. "Das ging alles furchtbar schnell." "Keiji hatte etwas damit zu tun." mischte Daiki sich ein. "Du kennst Keiji natürlich, oder? Er hat sich uns vorgestellt und gesagt, dass du ihm geholfen hast und dafür gesorgt hast, dass er uns rausholt..." Hayato schlang erneut seine Arme um Seth. "Danke, Masaru." flüsterte er, und Seth konnte nur nicken. Daiki und Takeshi tauschten ein Lächeln aus, ehe Takeshi schließlich das Geschenk an sich nahm, das in all der Wiedersehensfreude vergessen worden war. "Das ist also für uns?" fragte er verschmitzt, und Seth konnte nur noch nicken, während Takeshi sich mit dem Geschenk beschäftigte. "Stell dir vor, sogar die Kätzchen haben sie mitgenommen." erzählte Daiki begeistert, und erneut nickte Seth nur, doch lächelte mittlerweile ebenfalls. "Und, wir sollen dir etwas ausrichten..." meinte Hayato leise, und Seth blickte den jungen Mann an. Langsam sickerte die Erkenntnis in sein Bewusstsein, und er musste sich Mühe geben, nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Seit wann war er nur so weich geworden? "Ein Junge, so ein kleiner mit roten Haaren, hat uns gebeten, dir was zu sagen." fuhr Daiki fort, und Takeshi nickte. Hayato jedoch war es, der fortfuhr: "Und zwar sollen wir dir Frohe Weihnachten wünschen." sagte er lächelnd, und Takeshi meinte grinsend: "Du hast das "Vollidiot" vergessen, dass wir ihm ausrichten sollen... Und das "siehste, wir haben es doch geschafft", und noch ein paar andere, weniger nette Sachen." Alle drei lachten, und schließlich fiel auch Seth in das Lachen mit ein. Eine Zentnerlast war von seinen Schultern genommen, und er ließ sich schließlich wohlig in die Gemeinschaft seiner Freunde sinken, die er, wie ihm jetzt erst voll bewusst wurde, tatsächlich schmerzlich vermisst hatte. Tja - die Überraschung war Keiji und Rei, und sicher noch einigen anderen, die daran beteiligt gewesen waren, gelungen, dachte Seth bei sich und musste ebenso wie die anderen lachen, als plötzlich eine der Katzen wie von der Tarantel gestochen auf den Weihnachtsbaum losschoss, den sie soeben entdeckt und offenbar als Beute identifiziert hatte. Rei hörte das leise Quieken, als die Katze die Maus erwischte. Kurze Zeit später spazierte das Tier mit stolz erhobenem Kopf an Rei vorbei, als wolle sie mit ihrem Fang angeben. Rei verzog das Gesicht. "Kannste behalt'n..." brummte sie, auch wenn sie zugeben musste, ein wenig neidisch zu sein. Noch jemand, der heute Abend etwas Gutes zu essen bekam - was natürlich Ansichtssache war, aber gut im Sinne einer Katze eben - und Rei damit etwas vorraus hatte. Doch, ermahnte sie sich, sie sollte sich lieber nicht beschweren, und schloss eine ihrer kalten Hände um die Kette, die sie mittlerweile über den Kopf gestreift hatte und um den Hals trug. Nein, im Gegenteil - auch ohne eine warme Bleibe und etwas zu essen war das wohl das beste Weihnachten seit Jahren. Grinsend stand sie schließlich vor dem Haus, in dem sich ihre Wohnung befand, und sie schlüpfte durch das kalte Treppenhaus, durch das der Wind empfindlich hindurch pfiff, bis sie auf den Gang trat, in dem ihr Zimmer lag. Müde und durchgefroren öffnete sie ihre Tür mit dem gewohnten Schieben, Drücken und Treten, trat ein, streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus - und blinzelte. Irgendetwas stimmte nicht. Erstens war das Licht an, und sie war sicher, dass sie es ausgeschaltet hatte, als sie gegangen war. Zweitens kam ihr kein kalter Luftzug entgegen, der normalerweise durch das immer offene, weil klemmende Fenster pfiff. Und drittens... "Da bist du ja endlich!" meinte Josh und sah auf. Er hatte bis eben an Reis Tisch gesessen, und ihr verblüffter Blick wanderte von ihm zu der Silberfolie, die er offenbar vor das Fenster gespannt hatte und die man für gewöhnlich über die Windschutzscheibe eines Autos zog, um es vor Frost zu schützen, zu dem Heizlüfter, der in einer Ecke des Raumes stand, und zurück zu Josh. "Was..." Josh richtete sich auf. "Du erwartest doch nicht, dass ich in dieser Eishöhle auf dich warte, oder?" erklärte er sofort, und nickte zu dem Heizlüfter. "Und dass ich dieses Schrottding wieder mitnehme kannst du knicken. Kannst es ja wegwerfen, wenn es dich stört, aber erwarte dann nicht von mir, hier in der Kälte zu sitzen, wenn ich das nächste Mal vorbei komme." Rei unterdrückte ein Grinsen und blickte ihn aus schief gelegtem Kopf an. "Meine Fresse, du Weichei. Am Ende willste ne richtige Heizung, oder was?" Nun musste sie doch schmunzeln, und auch Joshs Mundwinkel zuckten verräterisch. Rei ließ sich neben ihn auf den Boden sinken und hoffte, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie sehr sie die Wärme genoss. "Und?" fragte er schließlich. "Was machen wir heute?" Rei sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Hä? Was wir heut' mach'n? Wie kommste auf die Idee, dass ich was mit dir unternehm'?" Josh sah Rei amüsiert an. "Du hast mal wieder nichts zu futtern im Haus. Du wirst doch wohl kaum hier verhungern wollen?" In Reis Bick mischte sich Zorn. "Das geht dich n Scheißdreck an. Und vielleicht hab ich ja schon gegess'n." Josh wollte schon patzig antworten, als er Reis zitternde Finger bemerkte. Ihm wurde bewusst, dass sie so, wie sie hier saß, hereingekommen und damit draußen gewesen war. Kein Wunder, dass ihre Hände blau vor Kälte waren. Er schluckte den Kommentar, der ihm eben noch auf der Zunge gelegen hatte, hinunter. Rei war so ein Sturkopf! "Ich jedenfalls hab Hunger!" verkündete er. "Und ich hab keinen Bock, alleine zu essen, also kommst du gefälligst mit." Rei verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich komm gefälligst gar nix. Wenn du denkst, du kannst mich rumkommandieren, dann..." Josh stand auf, selbst nun mit einem Anflug von Wut. "Hör mal, ich hab die Nase voll von diesem Weihnachtsmist da draußen. Ich bin problemlos abgehauen, weil das Haus so gut wie ausgestorben ist, und mein Vater ist wer weiß wo auf so ner blöden Feier. Ich feier schon seit Jahren alleine, und ich hab kein Problem, es diesmal wieder zu tun. Also denk nicht, ich sei auf dich angewiesen!" Rei öffnete den Mund - und klappte ihn wieder zu. Gerade noch hatte sie ihn anfahren wollen, doch als sie den Sinn seiner Worte begriff schwieg sie. Sie waren beide seit Jahren allein - was hinderte sie daran, das nun zu ändern? Ach ja, ihre Sturheit! Rei schürzte die Lippen. Sie würde sich von ihrem eigenen Trotz doch nicht um ein schönes Weihnachtsfest bringen lassen, dachte sie widerspenstig, und wandte sich zu Josh um. "Was?" fuhr sie ihn an. "Geh'n wir nu' oder nich'?" Verblüfft von diesem plötzlichen Sinneswandel sah er sie an, ehe er grinste und nickte. Rei ging voraus, und schlang draußen auf der Straße die Arme um sich. Sie hatte das Gefühl, dass es in der kurzen Zeit noch kälter geworden war, und missmutig sah sie Josh an, der gerade nachkam und in eine dicke Winterjacke schlüpfte. "Wo geh'n wir hin?" fragte sie, bemüht, das Zittern zu unterdrücken. "Können wir gleich überlegen. Wart' kurz. Wo zum..." Rei sah neugierig dabei zu, wie Josh in seinen Taschen wühlte, ehe er stirnrunzelnd die Straße herabblickte. Sofort folgte sie seinem Blick - und sah sich verblüfft um, als dort nichts zu erkennen war. Sie wollte sich gerade zu Josh umdrehen und fragen, was das sollte, als sich plötzlich etwas von hinten um ihren Hals schlang. Automatisch zuckte Rei zusammen und wollte sich wehren - bis ihr klar wurde, dass es flauschig und weich war, und verblüfft sah sie an sich herab. Ein Schal? Sie wandte sich zum Josh um, und dieser schnappte sich kurzerhand Reis Hände und schob Handschuhe darüber, allerdings ungeschickt genug, dass sich ihre Finger ganz falsch in dem Stoff verteilten. "Was... was soll'n das?" fragte Rei verwundert, und Josh sah sie kurz an, ehe er den Blick abwandte sich räusperte. "Denk nichts Falsches von mir. Aber das ist bestimmt der zwanzigste Schal, den ich gekriegt hab, und ich hab die Schnauze voll von dem Kram. Dachte mir, naja, du wirst ihn schon irgendwie gebrauchen können." Rei sah auf den Schal und die Handschuhe herunter. Sie waren neu, und fühlten sich unglaublich warm an. Aber das wärmste war das Gefühl in ihrem Inneren, das sich gerade ausbreitete, als ihr klar wurde, dass sie von Josh ein Weihnachtsgeschenk bekommen hatte. "Das... das ist ja mal voll schwul..." murmelte Rei und kauerte sich tiefer in den Schal. Josh räusperte sich. "Da!" meinte er nur und drückte ihr auch noch eine Mütze in die Hände, deren Muster zu dem Schal und den Handschuhen passte. Kurz überlegte Rei, griff an ihre eigene Mütze - und ließ die Hände sinken, ehe sie Josh packte und mit sich zog. "Los, komm mit!" befahl sie und schleifte ihn hinter sich her. Sie gingen gemeinsam durch die Straßen, vorbei an hell erleuchteten Reklamen, Läden und kitschigen Weihnachtsbäumen. Auf dem Weg kaufte Josh ihnen ein paar mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, nachdem er großspurig erklärt hatte, dass er jetzt Hunger hatte und nicht mehr warten wollte, so dass Rei gar keine Chance hatte, zu protstieren, ehe sie auch schon selbst eine der Teigtaschen in die Hand gedrückt bekam. Es dauerte einige Zeit, bis sie an Reis Ziel ankamen, und Josh wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte: Es war ein Friedhof. Doch Rei zögerte keinen Augenblick, sondern zog Josh einfach durch das Tor und nach kurzem Suchen blieb sie vor einem kleinen, unscheinbaren Grab stehen. Sie zog ein Räucherstäbchen aus ihren Taschen, von dem Josh sich wie immer und bei allem, was Rei aus der Jacke kramte, fragte, wo es herkam, beugte sich herunter, steckte es in das Töpfchen mit Sand, das auf der Steinplatte vorn festgemacht war und zündete es an. Josh brauchte den Namen weder zu kennen noch zu lesen, um zu wissen, wessen Grab das war. Er fühlte sich fehl am Platze, und war unsicher, was er nun tun sollte, doch Rei nahm ihm diese Entscheidung schnell ab. "Hey, Mama." begann sie unbekümmert. "Tut mir Leid, dass ich vorbei komm', heute, wo ich sonst nie da bin. Aber, ich wollte dir persönlich... naja, wollte sorry sagen." Rei nahm ihre Mütze ab und hockte sich vor das Grab. "Ich weiß, man soll Geschenke nich' weiterschenk'n." fuhr sie fort und drehte die Mütze in ihrer Hand. "Aber ich denk, das is' okay, oder? Ich mein, es ärgert ihn bestimmt. Er findet sie eh doof." Rei schmunzelte. Das war keine wirkliche Begründung, um deutlich zu machen, dass sie Josh aus Mangel eigener Mittel etwas schenken wollte, das ihr selbst lieb und teuer war, aber immerhin ging es nicht darum, das ihm klar zu machen, sondern ihrer Mutter. Und die würde sie schon verstehen! "Wollt s dir nur sag'n, kay? Alles klar..." Sie richtete sich auf, wandte sich Josh zu, streckte sich - setzte ihm ihre Mütze auf den Kopf, ehe er protestieren konnte und lachte. Josh starrte sie einen Augenblick wortlos an. Diese Mützen hatte sie von ihrer Mutter bekommen? Kein Wunder, dass sie so darauf aufpasste und so wütend wurde, wenn man sich an ihnen vergriff. Kurz überlegte er, was er tun sollte, als Rei ihm die Entscheidung abnahm. "Steht dir." meinte sie zwinkernd, und Josh legte eine Hand an den Mützenschirm und zog die Mütze schief auf den Kopf. "Ich weiß." erwiderte er nur. "Mir steht eben alles!" Rei warf ihm einen ungläubigen Blick zu. "Hmm, schon klar..." meinte sie, und zog sich nun ihrerseits die Mütze auf, die Josh ihr geschenkt hatte. "Und jetzt?" fragte sie, als sie von dem Friedhof gegangen waren und Josh aufatmen konnte. Verschmitzt grinste er sie an. "Jetzt? Jetzt machen wir natürlich einen drauf, wie es sich für Weihnachten gehört!" verkündete er, ehe er lachend an ihrem Schal zog. "Sowas geb ich dir öfter..." meinte er amüsiert, während Rei sich gegen die Würgeattacke wehrte. Josh erblickte die Kette und sah Rei amüsiert an. "Und du sagst, ein Schal ist schwul... was ist denn das da?" Rei folgte seinem Fingerzeig, doch statt einer Antwort meinte sie: "Ohhh, verdammt!", als ihr siedend heiß einfiel, dass sie sich noch gar nicht bedankt hatte. Eilig tippte sie eine SMS an Keiji, ehe sie Josh in die Seite schlug und losrannte, dass er gar keine Wahl hatte, als ihr lachend zu folgen. Keiji sah auf, als er das Vibrieren seines Handys vernahm, machte aber keine Anstalten, zu reagieren. Er war müde, und endlich hatte er einmal seine Ruhe. Wenn etwas wichtig war, würde man ihn schon anrufen, dachte er bei sich, auch wenn die Kurzmitteilung einen unangenehmen Beigeschmack hinterließ. Nach kurzem Zögern stöhnte er genervt auf. Er konnte es einfach nicht liegen lassen, ohne nachzusehen. Seufzend richtete er sich auf, doch Reika war schneller. Sie nahm das Handy, und Keiji ließ sich wieder nach hinten sinken. Wenn es wichtig wäre, würde Reika ihm schon sagen, worum es ging. "Heiwa," begann sie und er sah auf. "Bist du sicher, dass du den Abend hier verbringen willst?" Im Augenblick saß Keiji auf einem Sofa, das in Reikas Büro in seinem Stützpunkt stand, und er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. "Sicher? Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder woanders hin will." Reikas Miene blieb kühl, doch das amüsierte Funkeln in ihren Augen, als Keiji sie kurz ansah war, das wusste er, ihr Äquivalent eines Lächelns. "Du liegst da wie ein Hund." murmelte sie, und Keiji grinste. "Wenn ich einschlafe und mit den Beinen zucke jage ich bestimmt Katzen im Traum..." Nun schmunzelte Reika tatsächlich ein wenig, und Keiji war jedesmal wieder verblüfft, wie sehr es sie veränderte, wenn sie das tat. Es machte sie jünger, weniger sorgenvoll, doch gleichsam wusste er, dass er der Einzige war, der diese Miene sehen durfte. Er streckte die Arme auf der Lehne aus. "Nein, das ist okay. Du arbeitest schließlich auch." Reika zuckte mit den Schultern. "Ich bin auch Japanerin. Weihnachten ist hier lediglich ein Konsumfest, das weißt du." Keiji sah auf und grinste. "Und was bin ich?" Sie zuckte mit den Schultern. "Ein teils westlich orientierter Japaner mit einer gut versteckten emotional-romantischen Ader." Keiji räusperte sich, um deutlich zu machen, dass ihm ihre Beschreibung weniger gut gefiel, doch sie ließ sich davon nicht stören. Eine Weile breitete sich wohliges Schweigen zwischen ihnen beiden aus, nur ab und zu unterbrochen von dem Rascheln des Papiers, wenn Reika etwas zur Seite schob, als ein leises Vibrieren eine erneute Mitteilung ankündigte, Reika nun aber sofort nach dem Mobiltelefon griff und einen Blick darauf warf, ehe sie weiterarbeitete. Keiji schloss erneut die Augen, doch er konnte keine rechte Ruhe finden. Schließlich fragte er, in dem Versuch, es beiläufig klingen zu lassen: "Was ist denn? Will irgendwer was von mir?" Reika sah ihn direkt an. "Willst du das wirklich wissen?" Keiji richtete sich auf, mit einem Mal hellwach. "Was ist?" hakte er sofort nach. "Ist etwas passiert? Ist..." Wortlos kam Reika zu ihm herüber und reichte ihm das Handy, ehe sie sich auf das Sofa setzte. Keiji öffnete gerade die erste Nachricht - und sah überrascht auf. Reika schenkte ihm einen sanften, fast liebevollen Blick, und meinte: "Du hast ein paar Menschen heute sehr glücklich gemacht, Heiwa." meinte sie leise. Die erste Nachricht war von Rei. Sie bedankte sich in gewohnt ruppigen Worten für die Kette, und bat Keiji, ihr das nächste Mal dieses Kreuz näher zu erklären - und versprach ihm, das nächste Jahr Weihnachten mit ihm und den anderen zu verbringen, auch wenn in ihrer Version einige vulgäre Ausdrücke mehr vorkamen, ganz zu schweigen von ihrem Versuch, es klingen zu lassen, als sei sie dazu gezwungen worden. Die zweite war von Seth, und er hatte offenbar Schwierigkeiten mit dem Tippen gehabt, denn sie war gespickt mit Fehlern, und er hatte seinen Satz immer wieder neu begonnen. Entweder war er beschäftigt oder, dachte Keiji lächelnd, hatte es immer noch nicht so ganz begriffen, was geschehen war. Keiji hatte selten so oft das Wort "Danke" in einer Nachricht gelesen. Abschließend verkündete Seth, dass sie das nächste Weihnachten unbedingt mit Keiji feiern wollten - alle vier von ihnen. Die dritte von Jess, der rüde nachhakte, wo Keiji denn war - und fast im gleichen Atemzug betonte, dass es kein richtiges Fest war, wenn nicht alle da waren, die dorthin gehörten und einen solchen Abend möglich gemacht hatten, unterbrochen von spanischen Einwürfen und, so war Keiji sich ziemlich sicher, Schimpfwörtern. Gerade vibrierte es noch einmal, und stirnrunzelnd öffnete Keiji die neue Nachricht. Sie war von - Reika? Verwundert sah er auf und blickte die junge Frau neben ihm an, die soeben ihr Handy wegsteckte und Keiji auffordernd zunickte. Er las die Nachricht. "Verstehst du jetzt, was du alles möglich gemacht hast? Du hast gute Arbeit geleistet - ich bin sehr stolz auf dich. Ruh dich aus, Heiwa, du hast es dir verdient. Ich bleibe wach, während du schläfst, du musst dir keine Sorgen machen. Ich wünsche dir Frohe Weihachten." Keiji seufzte tief und ließ sich zurück sinken, bis sein Kopf auf Reikas Schoß lag. Es bedurfte keiner Worte, nur dieser einen Geste, dass Reika ihre Hand immer wieder durch Keijis Haar gleiten ließ und die andere locker auf seine Brust legte. Von einer angenehmen Ruhe erfüllt, in dem Bewusstsein, dass Reika für ihn Augen und Ohren offen hielt, und es sogar seinen Schützlingen verhältnismäßig gut ging, dämmerte Keiji in einen sanften Schlummer hinüber, während er sich einen Bruchteil eines Augenblicks den selbstsüchtigen Wunsch erlaubte, eines Tages wirklich ein Weihnachten zu feiern, das allen erlaubte, zuversichtlich ins Neue Jahr zu blicken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)