Nippon no Makai von abgemeldet (Japans Hölle) ================================================================================ Kapitel 2: Samuel ----------------- Ort: Hölle "Nichtsnutz!", ertönte der wütende Ausruf im ganzen Thronsaal. Eine der Wachen, die neben der Tür postiert waren, wich gegen die Wand aus Ebenholz zurück. Wenngleich auch die Wut des Herrschers nicht ihm galt, so genügte allein die Anwesenheit eines zornigen Satan, ihn in Angst und Schrecken verfallen zu lassen. "Einen einfachen Befehl auszuführen... selbst der dümmste Dämon hätte das gekonnt!" Der Herrscher der Dämonen war aufgesprungen und fixierte mit seinem durchdringenden Blick den Mann vor seinem Thron. Fuzen. "Du wagst es wirklich, mir nach dieser Schande unter die Augen zu treten? Verbannen sollte ich dich, ins Fegefeuer schicken!" Er wusste, er konnte es nicht. Er wusste es nur zu genau. Doch in diesem Moment war die Versuchung groß. Egal wie sehr der Mann beteuerte, er habe etwas gesehen, was von Bedeutung sein kann, egal wie sehr es auch stimmen mochte - Satans Zorn war groß, und niemand auch nur annähernd bereit, ihm in dieser Situation zu widersprechen. Sein bordeauxroter Umhang wehte und gab den Blick auf sein schwarzes, mit silbernen Ketten zugebundenes Oberteil sowie seine ebenfalls schwarze Hose und Stiefel frei, als er mit wenigen Schritten die Treppen zu seinem Thron herabstieg und sein Gegenüber mit drei Fingern am Kinn packte, ihn zwang, ihn direkt anzusehen. "Aber Herr", presste Fuzen zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, "der Christus..." Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment gab Satan zwar den Griff um seinen Kiefer frei, schlug ihm jedoch mit dem Handrücken ins Gesicht. Leise hallte der Schlag von den Wänden wider und Fuzen taumelte zur Seite. Bevor der langhaarige Mann auch nur einen weitere Ton herausbringen konnte, war Satan nahe an ihn herangetreten, hatte ihn am langen, umgeschlagenen Kragen seines Mantels gepackt. Mit seinem rechten Fuß, der in dem schweren, schwarzen Schnürstiefel, welcher auf Kniehöhe mit einer breiten, silbernen Schnalle befestigt war, steckte, stellte er sich auf einen von Fuzens nackten Füßen, verlagerte einen Teil seines Gewichtes darauf. Mit seinem markanten Gesicht kam er nahe an das seines Untergebenen, der einen guten halben Kopf kleiner war als er. Fuzen spürte, wie der raue Ziegenbart ihn mit seinem Ende am Kinn, fast an den Lippen kratzte, während er nicht anders konnte als in die tiefschwarzen, vor Wut fast glänzenden Augen seines Herrn zu blicken. "Ich will keinen Ton des Widerspruchs hören", zischte Satan mit tiefer Stimme, "nie wieder. Von dir schon gar nicht. Ich sagte: bring seine Tochter. Mit was kommst du zurück? Mit nichts. Alleine. Dass du es wagst, dich meinen Befehlen ein weiteres Mal zu widersetzen, gehört gestraft." Doch noch bevor sich einer der beiden bewegen oder etwas sagen konnte, wurde ein Tumult laut, direkt vor den großen, ebenfalls aus Ebenholz gefertigten Flügeltüren des Thronsaales. Dieser war zwar nicht ganz so groß wie Fuzen es manchmal in mittelalterlichen Zeiten auf der Erde gesehen hatte, doch groß genug, dass sie noch immer ein ganzes Stück vom anderen Ende entfernt standen. Mit einem plötzlichen Ruck stieß Satan den Langhaarigen von sich weg, nahm den Stiefel von seinem Fuß, ehe Fuzen vollends das Gleichgewicht verlor und unelegant nach hinten fiel. Im nächsten Moment öffneten sich die Türen wie von selbst und Satan sah dem unerwünschten Besucher entgegen. Laut klackten Schritte auf dem Boden, wie von Hufen, als eine junge Frau den Thronsaal durchschritt. "Der Kleine ist da!", rief sie Satan schon von weitem zu. Sie war bis auf sich leicht kräuselndes, aber dickes Fell um ihren Intimbereich und auf den Oberschenkeln, welches jegliche Blicke abschirmte, nackt. Ihr Haar, das im gleichen schmutzigen Braun wie das Fell gehalten war, war zu zwei Hörnern, die denen eines Alpensteinbockes glichen, gebogen, reichte als Fell um den Hals herum und lief kurz vor ihren kleinen, zarten Brüsten spitz zu. Aus ihrem Kopf wuchsen Ziegenohren. Ein paar Schritte vor Fuzen blieb sie stehen, blickte aus ihren pupillenlosen, komplett braunen Augen Satan an und verneigte sich vor ihm. In der nächsten Sekunde betraten zwei weitere Männer den Saal, einer von ihnen groß, aber zierlich, mit langem, blondem Haar und fast vollkommen in Schwarz, der andere mit kurzem, schwarzen Haar und vorwiegend in Rot und Schwarz gekleidet, doch genauso zierlich, wenn auch zwei Köpfe kleiner als der andere. "Yagi, so warte doch auf uns", rief der kleinere der Männer, was offenbar an die Mischung aus Ziege und Frau gerichtet war, denn sie wandte den Kopf nach den beiden um, legte ihn schräg, stieß ein meckerndes Lachen aus, wie um die zwei zu verhöhnen. Ihr kleines Ziegenschwänzchen kurz über ihren Po wackelte. "Weder haben wir Hufen und deine Beine, mit denen wir so schnell rennen können, noch deine Ausdauer! Was hast du es auch so eilig?" Die zwei Fremden blieben neben ihr stehen und verneigten sich ebenfalls vor dem wütenden Herrscher, Yagi tat es ihnen ein weiteres Mal nach, hatte sie doch noch nicht die Erlaubnis, sich zu erheben. Satan betrachtete die drei Personen einen Moment. Yagi, der Sündenbock, Lucifer, sein Heerführer, Samuel, Lucifers Sohn in seiner jetzigen Gestalt. Sein Blick wanderte weiter, zu dem noch immer vor ihm liegenden Fuzen und mit einer kurzen Bewegung des Kopfes bedeutete er ihm, sich endlich zu erheben. Eine weitere Bewegung, diesmal in Form eines ausgestreckten Armes in Richtung der Flügeltüren ließ diese sich schließen. Erst, als sie mit einem lauten Krachen in ihre geschlossene Form gefallen waren, befahl er: "Hebt die Köpfe. Zumindest von dir, Lucifer, hatte ich angemesseneres Verhalten erwartet." Der Mann mit den blonden Haaren erhob sich, wie die anderen beiden nach ihm. Mit seinen silbernen Augen blickte er Satan furchtlos an, trat einen Schritt vor. "Der junge Christ lebt auf dem selben Fleck Erde wie meine Tochter", begann er, ohne auf die Erlaubnis zu sprechen zu warten, "ich denke, das solltest du wissen. Genau wie die Tatsache, dass wir den Aufenthaltsort deiner Zwillinge kennen." Gehobene Augenbrauen, eine in Falten gelegte Stirn und ein Blick, der unverhohlene Neugier zeigte, antworteten ihm, wie eine stumme Aufforderung, weiterzusprechen. "Für deine Zwillinge können wir im Moment recht wenig ausrichten, denn bedenke Jeremiels Worte. Zu handeln, wenn die Zeit gekommen ist. Ich fürchte, wir müssen auf ihre nächsten Schritte warten. Doch zumindest kann ich versichern, dass die jungen Seher nicht auf der Erde sind." Allen Anwesenden war klar, was das bedeutete, machte deutlich, dass die Lage der Zwillinge wahrlich aussichtslos war. "Was gedenkst du zu tun? Was wäre deine taktisch kluge Entscheidung?", wollte Satan wissen. Er selbst war ein Meister des Krieges, der Taktik und der Waffen, doch wollte er dieses Mal eine weitere Meinung einholen. Und Lucifer, so hatten Jahrtausende an Erfahrung und Zeit gezeigt, war nicht weniger begabt in der hohen Kunst der Kriegsführung. "Doch zunächst", setzte er an und wies auf Yagi und Fuzen, "euch beiden werden Gemächer im Schloss zugewiesen. Auch wenn ich kein sehender Erzengel bin, eure Zeit ist nicht gekommen. Ihr erhaltet weitere Befehle, sobald ihr von Nutzen seid." Er fuhr in seiner Handbewegung fort und wies auf die Türen. Erst als die beiden den Thronsaal verlassen hatten, blickte Satan Lucifer wieder an. "Nun?" "Ich schlage vor, Samuel auf die Erde zu schicken, Make zu beschützen, wie es einst Fuzen tat und sobald die Zeit reif ist, sie zu uns zu bringen. Ihr wisst um Fuzens Eigenschaft, Ihr dürft ihn nicht in Gefahr bringen." *** Ort: Erde Es war dunkel, nur der Fernseher war angeschaltet und spendete Licht. Obwohl sie ihre Umgebung nur in undeutlichen Schemen wahrnahm, wusste Make instinktiv, wo sie sich befand: im Haus der Familie Konpaku. Aikos Familie. Sie war versucht aufzustehen, sich umzusehen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Ebenso wenig, wie sie sich vom Fernseher abwenden konnte. Wie in Zeitlupe sah sie die Bilder, nahm sie auf, war dennoch unfähig, sie zu verarbeiten. Ein tragischer Unfall, unweit eines Krankenhauses. Die Eltern mit ihrer Tochter umgekommen. Familienname: Konpaku. Make sah das Gesicht der verängstigten, weinenden Aiko, die Scherbe, die in ihrem Fuß steckte, auf dem Bildschirm flimmern. Im nächsten Moment änderte sich die Dunkelheit, ein Ziehen in ihrem Bauch störte sie in diesem Traum, sie bemerkte ihr Erwachen. Es war kein bewusstes wach werden, vielmehr die Gewissheit, dass alles nur Bilder aus ihrem Kopf waren, dass sie nicht mehr elf war und Aiko längst tot. Nur dieser eine, bewusste Gedanke, bevor sie wieder fest schlief, diesmal ohne Traum. * Im Rücken drei mächtige, doch fast kahle Bäume und um sich herum einige Mitschülerinnen, so saß Make auf einer Bank auf dem großen Schulhof und aß langsam ihr mitgebrachtes Essen. Es war kalt, also hatte sie einen blauen Wollschal um ihren Hals gelegt. Sie mochte die Hofpause nicht, auch wenn sie nur gut fünfzehn Minuten hier draußen verbringen musste. Ab dem kalendarischen Winteranfang, der, so beruhigte sie sich, nicht mehr allzu lange hin war, durften sie glücklicherweise im Klassenraum bleiben. Nur noch ein Monat. Doch in diesem Moment biss sie ein weiteres Mal von ihrem Brot ab, während sie in der Kälte ausharren musste. An den Gesprächen ihrer Mitschülerinnen beteiligte sie sich nicht, dazu waren sie zu uninteressant. Außerdem, was sollte sie groß dazu sagen? Sich freuen, dass sie in der Parallelklasse einen neuen Schüler bekommen hatten? Wenn sie irgendwelche Kurse zusammen hatten, würde sie ihn schon noch sehen, und ob es wirklich eine Freude war, wusste sie noch lange nicht. "Und, sieht er gut aus?", wollte ein Mädchen wissen. Make blickte nicht auf, um zu sehen, wer es gesagt hatte. Für sie hörten sich die Mädchen bei diesem Thema sowieso irgendwie alle gleich an. Was sie wieder einmal bestätigt bekam, als ein vielstimmiges "Oh ja, und wie" zu hören war. Eigentlich saß sie nur hier, weil es der angenehmste Platz war, den der Schulhof der Oberstufe zu bieten hatte. Heute war wieder einer dieser Tage, den sie hätte durchschlafen können, stellte sie mit einem Blick in den stetig grauen, wolkenverhangenen Novemberhimmel fest. Einer dieser Tage, an denen sie sich mit ihren Gedanken im Kreis drehte. Genau wie wenn sie über den Mann, den sie vorgestern auf ihrem Heimweg getroffen hatte, denken musste. Fuzen, dieser Name war ihr in Erinnerung geblieben. Doch was hatte es mit ihm auf sich? Und mit 'Hitonokotai', wie er sie genannt hatte? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, sie wusste als Adoptivkind ja nicht einmal etwas über ihre wirklichen Eltern. Wie sollte sie den Fremden da verstehen? Nur im Kreis, sie drehte sich nur im Kreis, doch sie musste weiterleben. Eigentlich, wenn sie an die bald anstehenden Zwischenprüfungen zu Weihnachten dachte, konnte sie sich etwas anderes außer Lernen gar nicht erlauben. "Hey, hast du zugehört?" Diese Frage und eine Berührung an ihrer Schulter ließen das kurzhaarige Mädchen aufsehen. Sie blickte in das Gesicht einer ihrer Klassenkameradinnen, Kumomo. Ihr Gesichtsausdruck musste deutlich genug gewesen sein, denn das Mädchen mit den braunen Zöpfen lächelte sie nur vielsagend an. "Die 2-A hat einen Jungen in die Klasse bekommen", erklärte sie, "mit einem ausländischen Vornamen. Samuel", der Name klang seltsam falsch, wenn sie ihn aussprach, "Hitonokokai oder so... nein, kotai. Hitonokotai war's, nicht?" Bei ihrer Frage blickte sie auf, zu einer ihrer Freundinnen, die nur nickte und sich dann wieder zwei anderen Mädchen zuwandte. Zum ersten Mal seit dem Erlebnis vor zwei Tagen zeichnete sich echte Überraschung auf Makes Gesicht ab. "Nicht wahr?", wollte sie mit ihrer leisen Stimme wissen, ungläubig blickte sie die andere an. Doch Kumomo nickte nur, wollte schon ansetzen, etwas Neues zu sagen, da war Make aufgestanden. "Wo ist er, weißt du das?" Ein wenig überrascht schüttelte das andere Mädchen den Kopf, konnte Make schließlich nur hinterher sehen, als sie über den Schulhof lief und sich umsah. Lange brauchte sie nicht zu suchen, denn Samuel stand nicht sehr weit von der Gruppe unter den Bäumen entfernt bei zwei Jungen, von denen einer der beiden gerade wild gestikulierend etwas erzählte. Der schwarzhaarige Junge, gekleidet in die typische Uniform der Shato-Hari-Schule, blickte ihr aus grünen Augen entgegen, sagte etwas und Make hörte einen der anderen Jungen, die sich ebenfalls umgedreht hatten, sagen "Ach, die geht in die 2-C, glaub ich. Iota hat mit ihr ein paar Kurse." Das brachte das innerlich aufgewühlte Mädchen dazu, ihre Schritte zu verlangsamen, doch schon bald hatte sie die kleine Gruppe erreicht. "Samuel?", fragte sie in Richtung des Jungen mit den grünen Augen, welcher nickte. "Kann ich dich kurz sprechen? Alleine?", brach es schnell aus ihr heraus, ehe sie es anders überlegte. Vielleicht, so überlegte sie, täuschte sie sich auch einfach nur. Aber sie hatte den Namen Hitonokotai noch nie zuvor gehört, konnte sich kaum vorstellen, dass es so einen Zufall geben konnte. Erst Fuzen, der ihr irgend etwas von Engeln erzählte, dann Samuel, der kurz darauf neu auf diese Schule kam... Samuel folgte ihr auch, bis sie an der großen Eiche, die direkt an den Schulhof der Mittelschüler grenzte, standen. Das schwarzhaarige Mädchen drehte sich zu ihm um. In ihrem Blick lag unverhohlene Neugier, aber auch Misstrauen, vielleicht auch so etwas wie die Angst, sich zu täuschen. "Jemand namens 'Fuzen'... kennst du ihn?", wollte sie schließlich wissen. Doch ihr Gegenüber hob die Augenbrauen. "Fuzen?", wiederholte er. "Nie gehört." Und wenn sie doch falsch lag? Oder wenn Samuel ihn wirklich nicht kannte, aber von den anderen Sachen wusste? Etwas ins Wanken geraten durch diese Antwort fragte Make weiter. "Und die Tatsache, dass es Engel gibt? Weißt du das?" Ein weiteres Mal antwortete Samuel: "Nein, nie gehört. So ein Quatsch, du liest zu viele Fantasy-Romane. Engel gibt es nicht." Er wollte sich umdrehen, wieder gehen, doch in ihrer Verwirrung und Angst, dass alles doch nicht real gewesen war, oder dass sie sich in Samuel einfach getäuscht hatte, hielt Make ihn an einem Arm fest. "Und was ist mit deinem Nachnamen? Hitonokotai?" Seufzend wandte Samuel ihr den Kopf zu, rollte überdeutlich mit den Augen, blickte sie genervt an. "Jetzt hör aber auf", verlangte er in harschem Ton, "das ist mein Nachname. Nichts Besonderes. Hat jeder Mensch, weißt du?" Makes Griff um seinen Arm lockerte sich, ganz langsam, sie wich seinen Blicken aus. "Tut mir leid", murmelte sie und verfluchte sich selbst innerlich für ihre Dummheit, dafür, nicht nachgedacht zu haben. Natürlich. Ein dummer Zufall, sie hatte überreagiert. Nur ein Zufall. Auch wenn es nicht sein konnte. Auch wenn es für sie so unwahrscheinlich wie warmer Sonnenschein in dieser Jahreszeit war, ein Zufall. Mit einem Ruck befreite der Schwarzhaarige seinen Arm aus dem lockeren Griff und drehte sich um, ging zurück zu den Jungen oder sonstwohin. Make sah es nicht. Sah ihm nicht nach, hatte nur den Blick auf ihre Hände gerichtet. Und was sollte sie jetzt tun? Alles vergessen, was passiert war? Es war nicht viel, aber es war aufwühlend gewesen. Hatte sie sich in diesem Moment nicht gewünscht, es vergessen zu können? Wo war es geblieben, das ruhige, bedachte und bodenständige Mädchen, dem die Leute sonst egal waren? Doch sie konnte es nicht vergessen, sie wusste, dass es real gewesen war. Wie sollte sie weiterleben mit diesem Wissen? * Es war bereits dunkel, als Make das erste Mal von ihren Hausaufgaben aufsah und links neben sich aus dem Fenster blickte. Nichts Neues im Herbst, aber ein wenig wunderte sie sich schon, wie sie sich so lange auf die ermüdenden Aufgaben hatte konzentrieren können. Draußen konnte sie nur einige orange leuchtende Punkte ausmachen, von Straßenlaternen und weiter entfernt von den Lichtern der Innenstadt. Nicht lange blieb ihr Blick an dem dunklen Bild hängen, denn sie wandte sich wieder ihren Heften und Büchern zu, die sie zuklappte und auf einem Stapel, unten die Hefte und oben die Bücher, zur Seite legte. Schön ordentlich, wie sie es mochte. Anschließend streckte sich das Mädchen, musste kurz gähnen, bevor sie aufstand und zur Tür ihres hell eingerichteten Zimmers hinausging. Leise schlurfte sie auf ihren schwarzen Socken mit den kleinen, roten Ringeln durch den Flur, über die blau-graue Auslegware, die Treppe hinunter. Ihr Ziel war die Küche, denn durch das ewige Arbeiten an den Aufgaben war sie hungrig geworden. Doch kurz bevor sie das Ende der Treppe, die auf einem breiten Mittelstreifen ebenfalls blau-grau bedeckt war, erreichte, hielt sie inne. Dort unten, in dem gut sichtbaren Hauseingang, stand ihre Schwester und band sich gerade einen grün-weiß gestreiften Schal um den Hals. Hatte sie Namida abends je fortgehen sehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Eigentlich war es ihr immer egal gewesen. Sie sah hübsch aus, musste Make eingestehen, in ihrem beigen Mantel, der Jeans, dem dicken Schal, der so gut zu ihren grauen Augen passte, in denen ein paar grüne Flecken zu erkennen waren, ab und an, wenn das Licht gut war. Auch Namida schien sie jetzt zu bemerken, denn die Blonde sah wie zufällig zur Treppe und fing an zu lächeln. "Hallo Make", begrüßte sie ihre Schwester auf ihre stets liebevolle Art, "unsere Eltern sind noch nicht daheim. Hast du Hunger?" Lange schon hatte sie sich mit der stillen Art des gut zwei Jahre älteren Mädchens abgefunden. So machte es ihr nichts aus, als die Schwarzhaarige nur nickte. "Es steht noch was im Kühlschrank. Glasnudeln haben wir auch, die passen wunderbar dazu." Ein weiteres Nicken antwortete ihr. Kurz fasste sich Make in den Nacken, fühlte ihre dünnen, kurzen Haare enden, zog wie von selbst die Augenbrauen ob dieser Tatsache missbilligend zusammen. Setzte ihren Weg fort, doch blieb noch einmal stehen. Einen Moment lang zögerte sie, rang mit sich selbst, bevor sie sich zu ihrer Schwester umdrehte und fragte: "Wo gehst du hin?" Warum, das wusste sie noch immer nicht, vielleicht war es ihr noch immer egal. Dennoch zog sie die Frage nicht zurück, ging nicht durch das Wohnzimmer in die Küche, blieb nur stehen und wartete auf eine Antwort. Namida, die mit ihrem Schal kämpfte, um ihn richtig zu knoten, hielt inne, erwiderte Makes Blick mit großen Augen. "Na, zum Kirchenchor", antwortete sie wie selbstverständlich, "seit ich zehn Jahre bin schon." Das Nicken ihrer großen Schwester antwortete ihr. Also fünf Jahre, von denen sie vier miterlebt, doch nie wirklich bemerkt hatte. Mit dreizehn hatte sie diese Familie adoptiert. Ja, vier Jahre, die sie jetzt schon in diesem Haus wohnte. Ohne ein Wort zu sagen, trat Make auf ihre kleine Adoptivschwester zu und knotete den Schal, mit dem die kleine Blonde nun schon ewig haderte, richtig zusammen. Diese sah auf, lächelte, sagte "Danke!" "Ach was", wehrte Make den Dank leise ab, wand sich um. "Ich gehe Essen machen." Kein Wort des Abschieds kam über ihre Lippen, nur noch einen Moment sah Namida ihr hinterher. Was in ihrer älteren Schwester vorging, hatte sie nie wirklich begriffen. Vielleicht entzog es sich aber auch bewusst ihrem Verstehen, vielleicht konnte sie es einfach nicht. Nie war das ältere Mädchen besonders gemein oder freundlich gewesen, nur unbeteiligt hatte sie gewirkt. Mit einem nachdenklichen Blick öffnete sie die Haustür und erschrak. Make in der Küche wurde im selben Augenblick überrascht. Die Glasnudeln, die sie aus einem Vorratsschrank genommen hatte, waren ihr heruntergefallen. Zwar nur auf die Arbeitsplatte, ein paar Wenige aber aus der Packung und auf den Fliesenboden, wo sie zersprangen wie feinstes Glas. So, überlegte die Schwarzhaarige, wie ein Leben in der nächsten Sekunde vorbei sein konnte. Aus Versehen. Heruntergefallen, nicht wieder aufzuheben oder zusammenzusetzen. Unheilbar. Es traf meistens die Falschen, überlegte sie, als sie sich bückte und in dem recht schmalen Gang zwischen Arbeitsplatte und Anrichte die ungekochten Nudeln in ihre Handfläche aufsammelte. Die, denen wie durch Zufall Unglück geschah, konnten nichts dagegen tun, nur abwarten, was sie wohl endgültig zerbrechen würde. Es waren doch immer kleine Kinder, Leute mit Familie, deren Leben mit einem Schlag beendet wurde. Durch einen Zufall. Doch wer von all denen hatte es wirklich verdient? Wer war so böse, dass dieses Unglück gerechtfertigt war? Es brachte nichts, sich diese Dinge zu fragen, mahnte sie sich selbst und konnte nur schwer dem Drang zu weinen widerstehen, als in ihr das Bild von Aiko aufstieg, dieses eine, bösartige Bild, welches sie seit sechs Jahren nun schon zu verfolgen schien. Sie war die Falsche gewesen. Und Namida erinnerte sie so sehr an die kleine Blonde, mit der sie nie wieder ein Wort hatte wechseln können. Mit einem verbissenen Blick wandte sie sich wieder dem Kochtopf zu, nachdem sie die zerbrochenen Nudeln weggeworfen hatte, drehte an einem der Knöpfe am Herd, musste nur noch warten, bis das Wasser kochte. "Warum so traurig, Make?", erklang von rechts eine Stimme, die sie vor Schreck herumfahren ließ. Sie trat auf ihr Hosenbein in dem Versuch, ein paar Schritte zurück zu gehen, stolperte jedoch über den schwarzen Stoff und hielt sich an der Arbeitsplatte fest. Mit geweiteten Augen sah sie den jungen Mann an, der ihr gegenüber stand. Statt seiner Schuluniform trug er nun eine dunkelrote Jacke mit silbernen Knöpfen und eine schwarze Hose mit ebenso schlichten, schwarzen Schuhen. Obwohl sie im Haus waren. "Samuel, was..?" So erschrocken war sie, dass ihr der Rest der Frage entfiel, wenngleich sie ihn einerseits anschreien, andererseits aber auch froh sein wollte, dass er hier war. Einige Momente lang sahen sich die Jugendlichen einfach nur an, bis sich die Schwarzhaarige wieder gefasst hatte und kurz den Kopf schüttelte, wie um unerwünschte Gedanken zu vertreiben, sich kurz zu ordnen. "Was machst du hier?", stellte sie nun die Frage, die nun aus ihr herausbrach, als erwartete sie eine Antwort auf alle Fragen der Welt. Der grünäugige Junge lachte leise, in ihren Ohren klang es ein wenig spöttisch, bevor er antwortete. "Darf ich nicht einfach eine Schulkameradin besuchen?", wollte er nun wissen, eine Hand in die Seite gestützt, mit einem Lächeln, das irgendwo zwischen Hohn und purer Freundlichkeit lag. Mit der anderen Hand strich er seinen schräg geschnittenen Pony aus den Augen. Makes Hände fassten die Ärmel ihres langen, grau-schwarz gestreiften Pullovers. "Nachdem du so gemein zu mir warst", erwiderte sie flüsternd, "nachdem..." Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu sprechen, denn mit einem Mal verschwand das Lächeln aus Samuels Gesicht und machte einem ernsten Ausdruck Platz. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Die Hand des Jungen, eben noch in die Seite gestützt, griff nach ihr, zerrte sie vom Fenster in ihrem Rücken weg, als plötzlich ein lauter Knall ertönte, es zerbrach. Make wollte schreien im ersten Moment, fühlte ihren Kopf nach unten gedrückt, hob die Arme zum Schutz darüber, als sie auf die Fliesen fiel. Samuel hatte sie nicht losgelassen, bemerkte sie, als sie die Glassplitter nur neben sich fallen sah, wie durch ein Wunder unversehrt davongekommen war. Es dauerte nur Sekunden, dann hob sie den Kopf und sah den Schwarzhaarigen vor sich knien, die Linke ausgestreckt, deren Blick sie folgte. Doch nichts war zu sehen. Nur die Dunkelheit in dem kleinen Garten neben dem Haus, der Schemen eines Busches, der vom orangefarbenem Licht einer Straßenlaterne umrissen wurde. "Verdammt", murmelte Samuel, "wir müssen verschwinden. Viel zu früh..." Er zerrte an ihrem Arm, um sie zum Aufstehen zu bewegen. "Komm schon, sie sind da!" Ungeschickt kam Make auf die Beine, stand wackelig, als Samuel sie auch schon aus der Küche zog, die Treppe hinauf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)