Nippon no Makai von abgemeldet (Japans Hölle) ================================================================================ Prolog: Familie --------------- "Make, geh ins Bett." "Nein." "Wieso nicht?" "Aiko darf auch noch wach bleiben! Ich find's ungerecht." "Das ist egal, du gehst jetzt schlafen." *** Da lag sie nun, als kleines, schwarzhaariges Mädchen von gut elf Jahren zwischen hellblauem Bettbezug, starrte mit klaren, ebenso schwarzen Augen die dunkle Decke ihres Zimmers an und seufzte. Ihr Magen knurrte laut, was der einzige Grund war, weshalb sie noch immer wach war. Wieder einmal war sie ohne Abendessen auf ihr Zimmer und schließlich ins Bett geschickt worden. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt schon das Wort Willkür gekannt, in Zusammenhang mit ihren Pflegeeltern hätte sie es längst verwendet. Make rollte sich auf die Seite, hielt ihren Bauch, als ob sie so das ständige Knurren unterbinden könnte. Zwecklos, ihr Magen schien fast zu lachen, als er das nächste Mal grummelte. Tränen stiegen ihr in die Augen. "Was hab' ich denn getan?", fragte sie sich selbst leise. Geduldig mit sich selbst schluckte sie die aufkommende Trauer und Verzweiflung tapfer hinunter. Sie wusste es nicht genau. Vielleicht hatte sie irgendwann als Baby ihren Brei hinuntergeworfen oder nicht aufgegessen. Es gab viele Theorien, aber keine, die ihr wirklich gefiel. Vielleicht gab es den komischen, alten Mann über den Wolken aber auch wirklich und er mochte sie einfach nicht. Dabei kannten sie sich nicht einmal. Und wenn er doch existieren sollte, was sie stark anzweifelte, so würde sie ihn sowieso hassen. Für was genau, brauchte sie gar nicht lange überlegen: für alles, was bisher schiefgegangen war. In ihren Augen war das eine Menge, aber es aufzuzählen, würde viel zu lange dauern. Außerdem würden die angestaute Trauer und die vielen, nicht vergossenen Tränen an die Oberfläche gespült, sodass sie nicht länger an sich halten und in lauten Trauerschreien ausbrechen würde. Nein, das brauchte sie bei weitem nicht. Aber es war ein guter Weg, um den Hunger zu bekämpfen. *** Irgendwann, es musste weit nach Mitternacht gewesen sein und sie war von ihren Überlegungen nur noch hungriger geworden, schlich sie sich hinunter in die Küche. Sie konnte die helle und freundliche Einrichtung des Hauses nur erahnen, musste sich über die Arbeitsfläche aus hellem Holz vorwärts tasten, um zum Kühlschrank zu gelangen. Der Boden unter ihren Füßen knarrte nicht, wenn sie wie auf leisen Pfoten darüber schlich. Kaum ein Licht der Straßenlaternen fand den Weg in das große Zimmer. Bestimmt war noch etwas vom Abendessen da, oder sie konnte sich unbemerkt ein Brot schmieren. Während Make in dieser Hoffnung den Kühlschrank durchstöberte, bemerkte sie nicht, wie sich jemand von hinten an sie heranschlich. Sie nahm eine schwere Salatschüssel aus dem Kühlschrank, stellte sie auf die Anrichte und nahm den Deckel vom Glas, um den Inhalt genauer zu inspizieren. Die Hände waren wie zum Schutz um die Schüssel gelegt. Erst als eine bekannte Stimme hinter ihr ertönte, wurde ihr bewusst, dass sie beobachtet worden war. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken, geprägt von Angst und Schock, als sie die Worte hörte: "Hab' ich dich! Das sag' ich Mom und Dad, du Diebin!" Make wirbelte, die Schüssel noch immer in den Händen, herum und sah kurze, blonde Haare um ein rundliches Gesicht. Aiko, erkannte sie sofort, denn das Licht des offenen Kühlschrankes schien dem anderen Mädchen direkt ins Gesicht und erleuchtete ihre zierliche und dünne Figur, die so gar nicht zu dem rundlichen Gesicht passen wollte. Noch im selben Augenblick, als sie dies alles bewusst wahrnahm, glitt ihr die Schüssel aus den ausgestreckten Händen und traf das andere Mädchen ihr gegenüber direkt auf den kleinen Brustkorb. Die Schüssel ging zu Boden, zerbrach, und nur Sekunden später trat Aiko taumelnd in einen der Glassplitter. Mit einem lauten Aufschrei fiel die Blonde nach hinten. Ihren Fuß hielt sie in die Höhe gestreckt, sodass Make selbst im Licht des Kühlschrankes erkennen konnte, dass die Scherbe tief im Fleisch steckte. Fast ungerührt, vielleicht auch ein wenig schadenfroh und sehr verwundert über sich selbst war sie unfähig, den Blick von der Verletzung abzuwenden. Es dauerte nicht lange, da waren das Wohnzimmer und die Küche hell erleuchtet, die Eltern wach und Make saß ganz still in einem beigefarbenen Sessel. In sich zusammengekauert musste sie sich Vorwürfe und Absichten von ihrer Stiefmutter unterstellen lassen, zusammen mit dem Hinweis, man wolle sie nicht mehr haben. Ihr Stiefvater war mit Aiko auf dem Weg ins Krankenhaus. Kapitel 1: Auftrag ------------------ Ort: Hölle Eine lange Tafel, in der Mitte zerbrochen. Sieben mehr oder minder erschrockene Gesichter. "Herr, was bei allen Dämonen der Unterwelt tut ihr?!", rief einer der Gäste aus und starrte auf den jungen Mann, der zwischen den beiden Hälften kauerte, mit Teilen des üppigen Mahles bespritzt und den Blick fast stur auf den Boden gerichtet. Der Angesprochene, welcher vor dem Mann stand, hob den Blick und nur einen kurzen Augenblick später war der Gast bemüht, sich wortreich zu entschuldigen. Die tiefschwarzen, unergründlichen Augen des Herrn versetzten ihn in fast panische Angst. "Verzeiht, mein Herr, es ist mit mir durchgegangen", bat er und erhob sich, "Eure Entscheidungen in Frage zu stellen lag nicht in meiner Absicht." Eine tiefe Verbeugung folgte, bei der dem Mann mit den Zornesfalten seine krausen, braunen Haare tief ins Gesicht fielen, bevor er sich wieder setzte und mit nicht minder wütendem Ausdruck wieder den Mann beobachteten, der zuvor das Gleiche gewagt und seines Herren Entscheidung angezweifelt hatte. Eine eisige Stille senkte sich über den Saal. Die Fackeln, die in die Steinwände gerammt waren, spendeten das einzige Licht, welches das Szenario vor den Gästen nur schauriger hatte erscheinen lassen. Der kniende Mann erhob sich langsam, rieb sich über die linke Schulter und befreite sich grob von den Essensresten. Seine langen, schwarzen Haare waren von Soße verklebt. "Entschuldigt, Herr, aber ich wei-" Weiter kam er nicht, denn im nächsten Moment hatte der Herr ihm einen kräftigen Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht verpasst. Der Mann taumelte, stützte sich an dem dunklen Holz der ehemaligen Tafel ab. Der Herr, ein weitaus kräftigerer Mann mit kurzen, schwarzen Haaren und einem Ziegenbart, baute sich vor ihm auf. In den Hörnern, die aus seinem Kopf zu wachsen schienen, brach sich der Schein des Feuers. "Du bist nicht hier, um dich mir zu widersetzen, sondern allein, um meine Befehle auszuführen", sprach er mit einer kalten, fast emotionslosen Stimme, "und dein jetziger Befehl lautet: bring seine Tochter hierher. Sofort!" Das letzte Wort donnerte er, sodass es von den hohen Steinwänden widerhallte. Wie um seine Anweisung zu verdeutlichen, packte er seinen Untergebenen an einem Büschel seiner langen Haare und riss ihn endgültig zu Boden. Mit der gleichen eiskalten Stimme wie zuvor fuhr er fort: "Ich denke, ich habe mich deutlich ausgedrückt." "Ja, mein Herr", war die einzige Antwort, die er erhielt, bevor der Mann sich schwerfällig in eine kniende Position brachte, den Kopf gesenkt. Im nächsten Moment löste er sich in schwarzen Rauch auf. *** Ort: Erde Ein Blitz durchzuckte den Himmel, fern grollte der Donner, als Make aus dem Fenster des Klassenraumes sah. Nur kurz hielt sie inne, um die dunklen, fast schwarzen Wolken durch das klare Glas zu betrachten, ehe sie ihre Schultasche vom Tisch nahm und sich zum Gehen wandte. Der Klassenraum leerte sich auffallend schnell, denn keiner wollte in den sich anbahnenden Regen hineingeraten. Auch die Schwarzhaarige nicht, weswegen sie sich unter die Schülermasse mischte und mit vielen anderen das hohe Gebäude mit der mittlerweile schmutzigen, grauen Fassade verließ. Die dunkelblaue Jacke, die zu ihrer Schuluniform gehörte, hatte sie schon im überfüllten Flur fest um ihren Oberkörper gezogen. Ein starker Herbstwind begrüßte sie draußen und ließ sie den knielangen Rock mit einer Hand an der Seite zusammenhalten, damit er ihr nicht allzu hoch wehte. Sie fröstelte. Um sich herum vernahm sie die laut schwatzenden Gleichaltrigen, ab und an kreischende Mädchen, noch in der Mittelstufe und mit weitaus kürzeren Röckchen. Der erste Tropfen traf Make im Gesicht, ließ sie ihre Schritte beschleunigen und an anderen Schülern vorbei hasten, der bei diesem Wetter grau und eintönig wirkenden Umgebung keine Beachtung schenkend. Ihr Heimweg war lang und wenn sie noch halbwegs trocken dort ankommen wollte, hieß es, sich zu beeilen. Am Ende des Schulgeländes, welches fast am Stadtrand lag, schlug sie den Weg in ein abgelegeneres Viertel ein. Bisher kannte sie niemanden außer ihrer Adoptivschwester, der ebenfalls dort wohnte. Und eigentlich, so überlegte sie, war es auch egal. Überhaupt war die ganze Schule unwichtig. Wofür brauchte sie das alles? Wozu sollte das gut sein? Geräuschvoll atmete Make aus und schüttelte den Kopf, schloss kurz die schwarzen Augen, setzte dann ihren Weg fort. Eine Weile lief sie auf dem Trampelpfad neben der Landstraße entlang, verlangsamte die Schritte immer weiter, bis man sie für eine gemütliche Spaziergängerin halten konnte. Blassgrünes Gras wiegte sich im abgeflauten Wind neben ihr hin und her, ein paar vereinzelte Büsche rauschten leise und beständig. Nur ab und an sah sie ein Auto an sich vorbeifahren, ansonsten erschien die Umgebung menschenleer, fast tot. Die graue, triste Welt hier draußen zog sie in ihren Bann, sie konnte nicht anders, musste sich umsehen, alles in sich aufnehmen, die Bilder, die sie sah, waren auf eine ihr unerklärliche Art und Weise faszinierend. Erst als ihr Blick sich ein weiteres Mal gen Himmel richtete, nahm sie die Dunkelheit bewusst wahr. Obwohl es erst Nachmittag war, fühlte sie sich, als würde sie nachts umherwandern. Ihr Herz tat einen Sprung, ihre Schritte wurden wieder schneller. Ein weiteres Mal drang Donnergrollen an das Ohr der schwarzhaarigen Oberschülerin, diesmal viel näher als zuvor. Erschrocken riss sie ihre Augen auf, rannte den Weg fast und verwünschte ihren langen Schulweg ein weiteres Mal. Noch lange war sie nicht am Ende der Straße angelangt, an deren Ende sich ganz in der Nähe das kleine Haus ihrer Adoptiveltern befand. Zwar konnte sie die Abzweigung bereits sehen, doch lag sie noch in weiter Ferne. Noch ehe sie einen weiteren Gedanken klar fassen konnte, wurde der Himmel über ihr hell, fast weiß, als etwas wie ein Blitz direkt über ihr durch die Luft zuckte. Einen schrillen, kurzen Schrei ausstoßend hockte sie sich mit geschlossenen Augen nieder, presste die Hände auf die Ohren. Die Schultasche war achtlos neben ihr auf die Erde gefallen, ihre Knie berührten den Boden, als sie sich ihm entgegen beugte, darauf hoffend, das Gewitter möge sie verschonen. Woher diese panische Angst kam, vermochte sie nicht zu sagen, nur dass sie schon ein Leben lang da war. In diesem Moment wünschte sie sich wie selten zuvor Gesellschaft, selbst ihre Adoptivschwester, Namida, wäre ihr jetzt recht. Obwohl sie das andere Mädchen noch nie wirklich leiden konnte. Ironie des Schicksals, dass Namida ausgerechnet diese Woche Ordnungsdienst hatte und erst einige Zeit später nachkommen würde. Der Donner wollte gar nicht mehr aufhören, in ihren Ohren zu dröhnen. Nicht laut oder gar unerträglich, viel mehr angemessen, beständig, fast als ein Teil des normalen Lebens. Makes Atem ging schnell und unregelmäßig, die blassen Lippen zitterten vor Furcht. Erst als ein Schrei durch den Donner an ihr Ohr drang, hob sie den Kopf. Suchend blickte sie sich um, wollte wissen, woher sie Stimme gekommen war. Es hatte nicht ängstlich oder erschrocken geklungen, vielmehr verärgert. Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen, ließ ihren Blick wieder über den Himmel und ihre Umgebung wandern, auf der Suche nach Blitzen und der Person, zu der die Stimme gehörte. Unfähig, sich zu bewegen, als sie die Herkunft dieser gefunden hatte. Über ihr, einige Meter abgehoben vom Erdboden, erblickte sie drei Gestalten. Menschen, erkannte sie, genau wie Menschen sahen sie aus. Einen Moment lang glaubte sie, ihre Augen spielten ihr einen Streich, aber im nächsten wusste sie, dass es real war. Woher dieses Wissen kam, war ihr nicht klar, nur eine Gewissheit hatte sie: so lange sie sich erinnern konnte, war sie überaus bodenständig gewesen. Was auch immer in diesen Minuten sich über ihr abspielen mochte, so hoffte sie, dass es bald vorbei sein und sie alles vergessen können würde. Doch konnte sie ihren Blick nicht von den Personen über ihr abwenden. Was dort geschah, war ihr ein Rätsel. Jedes Mal, wenn die Unbekannten aufeinandertrafen, gab es ein Geräusch wie ein Donner. Keinen konnte sie genauer erkennen, doch eine der Personen schien dunkler zu sein, es fiel ihr schwer, den Unbekannten zu beobachten, während die anderen beiden hell erschienen, wie komplett in weiß gekleidet, fast leuchtend. Mit einem Mal trat Stille ein, in der Nähe der dunkleren Person glänzte etwas und nur Sekunden später leuchtete die Umgebung gleißend hell. Als würde ein Blitz auf die Erde niederfahren. Make, die bisher mit schreckgeweiteten Augen und vor Angst offen stehendem Mund zugeschaut hatte, beugte den Kopf wieder dem Erdboden entgegen, doch unfähig, die Augen zu schließen. Auch ihre Hände pressten sich nicht panisch auf die Ohren, sondern krallten sich auf Höhe ihrer Schlüsselbeine in die Jacke der Schuluniform. "Aufhören", flehte sie leise zu sich selbst, ihre Stimme zitterte und war unnatürlich hoch. Einige Zeit, die die Schwarzhaarige nicht einzuschätzen vermochte, verstrich ohne weitere Donner oder gar Blitze. Das Letzte, was sie hörte, waren zwei dumpfe Geräusche ganz in ihrer Nähe. Mit ruhigem Atmen versuchte sie, ihr rasendes Herz zu beruhigen, als sie den Kopf hob, um sich umzusehen. Ihr erster Blick wanderte gen Himmel, doch dieser war leer. Nur dunkle, bedrohliche Wolken zogen sich darüber, keine Person weit und breit war zu sehen. Auf der Wiese jedoch, die sie wie zufällig mit ihrem Blick streifte, bemerkte sie zwei Körper. Helle Körper. Wie die beiden, die sie eben am Himmel beobachtet hatte. Sie lagen nicht allzu weit entfernt und ihr erster Impuls war, zu ihnen zu laufen und zu fragen, ob alles in Ordnung war. Doch keiner regte sich mehr. Vor dem dunklen Hintergrund erkannte sie erst jetzt die dritte Gestalt, die zwischen den beiden Menschen stand. Zumindest vermutete Make, dass es Menschen waren. Die stehende Person hatte ihr Augenmerk auf die Jugendliche gerichtet und lief nun mit schnellen Schritten auf sie zu, hinter ihm schienen die Körper in einem Licht zu vergehen, sich aufzulösen. Nur wenige Momente später zeugte nichts mehr davon, dass sie jemals real gewesen sein mochten. Wie von selbst kam Make auf die Beine, bemerkte jedoch ihre zitternden Knie. Ein paar Mal schluckte sie kräftig. Als der Unbekannte näher kam, erkannte sie in ihm einen Mann mit langen, schwarzen Haaren, zerzaust von einem imaginären Wind. Sein langer, ebenso schwarzer und eng anliegender Mantel war geschlossen und nur das Ende schlug beim Laufen um seine Füße, die, erstaunlich genug, nackt waren. Je näher er mit seinem federnden Gang kam, desto ruhiger wurde Make. Das Zittern ließ nach und auch ihr Herzschlag beruhigte sich. Unerklärlicherweise. Ein Lächeln, welches man nur als warmherzig beschreiben konnte, breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. "Da bist du ja!", rief er ihr entgegen und rannte die letzten Meter auf sie zu. "Sie haben dich nicht erwischt, oder?" Ohne eine Antwort abzuwarten, oder gar zu erklären, was er mit dieser Frage meinte, strich er über ihre kurzen Haare und musterte sie eingehend, bevor er geräuschvoll ausatmete. "Nein, zum Glück nicht. Das wird deinen Vater freuen." Er blickte in Makes verwirrtes Gesicht, seine eisblauen Augen schienen nach etwas wie Verstehen oder einer Antwort zu suchen. "Wer sind Sie? Was ist eben passiert?" Die Fragen brachen leise aus der Schwarzhaarigen heraus, ihre Stimme hatte etwas Brüchiges, wie eine uralte Pergamentrolle, die beim ersten Berühren zu Staub zerfallen wollte. Der Fremde griff sich mit einer Hand in die Haare, machte ein undefinierbares Geräusch, während er die Umgebung eingehend betrachtete. "Richtig, darum bin ich ja hier", murmelte er wie im Selbstgespräch, bevor er Make wieder aufmerksam anblickte, "aber du wirst mir nicht glauben." Der Mann, gut einen Kopf größer als Make, sank auf die Knie und verbeugte sich vor ihr. "Mein Name lautet Fuzen, ich bin im Auftrag, dich in die Heimat zu bringen hier, Make Hitonokotai. Was eben passiert ist, ist leicht erklärt. Zwei Diener des Herrn über den Wolken, in deiner Sprache Engel genannt, wollten dich töten, also musste ich einschreiten. Durch einen glücklichen Zufall war ich ebenfalls auf den Weg zu dir." Fuzen blickte zu ihr auf. Von der Begrüßung verwirrt und erschrocken wagte Make es, sich zu bewegen, einen Schritt nach hinten zu gehen. "Sie... brauchen nicht vor mir zu knien. Bitte, stehen Sie auf. Außerdem... ich äh... ich verstehe kaum die Hälfte, was Sie von sich geben", gab sie zu, "und ich glaube auch nicht an Engel. Eigentlich dachte ich... sie wären nur eine Erfindung. Wieso gibt es sie? Warum sollten sie mich töten wollen? Ich bin verwirrt." Die Hände, welche sie bis eben noch immer im Stoff ihrer Jacke vergraben hatte, ließ sie nun langsam neben sich sinken. "Warum?" Der Mann erhob sich wieder, sie nicht eine Sekunde aus den Augen lassend. Sein Lächeln war verschwunden und hatte einem ernsten Ausdruck Platz gemacht. Make konnte nicht einmal schätzen, wie alt er sein mochte, so wandelbar wirkte er mit diesen verschiedenen Gesichtsausdrücken. "Es ist zu viel, um alles zu erklären. Vor allem hier und jetzt, wo sie wissen, dass du hier bist. Dass du lebst. Es ist nicht sicher. Die Kurzform ist, dass-" Plötzlich verstummte er, blickte rechts die Straße hinunter und einen Moment später hatte er sich in einem schwarzen, wabernden Rauch aufgelöst, der langsam mit der Luft zu verschmelzen schien. Make streckte eine Hand nach ihm aus, doch verteilte sie den Rauch nur noch mehr. "Was ist denn? Was soll das?", fragte sie in die aufgekommene Stille hinein, ehe sie dem letzten Blick Fuzens folgte und ihre Schwester die Straße entlangkommen sah. Namida. Ihre Schwester. Das jüngere Mädchen lief schnellen Schrittes auf Make zu, ihre langen, blonden Haare schwangen als Pferdeschwanz hinter ihr hin und her. "Make! Da bist du! Ich habe dich gesucht", rief sie der Älteren zu, als sie näherkam. Ein paar Schritte, bevor sie direkt vor der Schwarzhaarigen stand, blieb Namida stehen. "Mein Gott, was ist denn passiert? Du siehst blass aus", fragte sie und etwas, das Make als echte Besorgnis deuten würde, spiegelte sich im Gesicht ihrer kleinen Schwester. Langsam schüttelte Make den Kopf, versuchte dabei, sich möglichst unauffällig nach dem Mann, nach Fuzen, umzublicken. "Das Wetter... das wird es sein", schloss sie, nachdem sie nichts entdecken konnte und somit gezwungen war, ihre Beobachtungen einzustellen und Namida zu antworten. Es war noch nicht einmal gelogen. "Gehen wir heim. Es fängt bald an zu regnen." Make machte kehrt und lief weiter die Straße hinunter. Ihre Knie waren weich, dennoch zwang sie sich, so sicher wie möglich zu wirken. Trotzdem pochten Fragen in ihrem Kopf. Warum alles real gewesen war, warum es passiert war, neben der Frage, die sie sich ihr Leben lang schon stellte - wer sie wirklich war. *** Ort: Himmel Jung, fast kindlich und auf eine undefinierbare Art unreif kam sich Salathiel vor. Irgendwie töricht. "Jeremiel schickt mich", begann er, noch immer kniend und den Kopf nach unten gesenkt, "Ihr wisst, er ist Verkünder. Er sagt, die Zeit, die Bitte zu stellen, sei gekommen." Seine braunen Augen suchten den weißen Marmorboden nach einem Punkt in dem kaum zu erkennenden, hellgrauen Muster ab, den er fixieren konnte. Er fand keinen, so richtete er seine Augen auf die eigene Faust, die geballt auf eben diesem kalten Boden auflag. Auf dem Weg hierher war er so sicher gewesen, hatte die Gewissheit gehabt, seine Zeit sei endlich gekommen. Die Zeit, dem Herrn ein erstes Mal eine richtige Aufgabe erfüllen zu dürfen. Doch wie er hier kniete, seine zierliche Gestalt in dem schlichten, blauen Frauenkleid, die gewellten, dunkelbraunen Haare über den Rücken fallend, vor den größten der beiden Erzengel, da sah er sich als ein ungeduldiges Kind, klein und ungeduldig. Vor ihm, nur drei niedrige Stufen höher, blickte Gabriel nach links. Nur einen kurzen Moment fanden seine Augen die Michaels, der seinen Blick erwiderte. Wie ein stummes Gespräch, ein Übereinkommen mochte es für das Auge eines zufälligen Betrachters wirken. Nach einem kaum merklichen Nicken seitens Michael wandten sie sich beide wieder dem jungen Salathiel zu. "Nun zögere nicht so lange", erklang die helle Stimme Gabriels, der einen Arm auf der ebenfalls marmornen Lehne seines kleinen Thrones abgestützt hatte und mit einer Strähne seines langen, weizenblonden Haares spielte. "Was hast du uns vorzutragen?" Die gewohnte Gereiztheit schwang mit, was Salathiel nur noch nervöser machte. Doch der Jüngste der Erzengel fasste sich ein Herz, holte tief Luft und hob den Kopf, die Augen geschlossen haltend. "Der kindliche Messias der Neuzeit wandelt auf Erden", begann er, im nächsten Moment schalt er sich einen Idioten. Die beiden Höheren wussten bereits davon, da war er sicher. "Ich stelle die Bitte, das Mädchen von der Gegenwart des Hitonokotai zu befreien und in die Heiligtümer des Himmels zu führen. Als 'Führer des Volkes' wies mir einst Jeremiel diese Aufgabe zu und nun ereilte mich die Botschaft, die Zeit sei gekommen." Langsam, zögerlich öffnete er seine Augen und blickte abwechselnd in die Gesichter Gabriels und Michaels. Beide wirkten nicht überrascht, Michael fast schon ungerührt, doch Salathiel war bekannt, dass der, der die Frage in seinem Namen trug, in den seltensten Fällen etwas Annäherndes wie Interesse bekundete. Je länger er auf eine Antwort warten musste, desto nervöser wurde der Braunhaarige wieder und der Zweifel, die Zeit sei doch noch nicht reif, beschlich ihn. Ein Versuch, ihn mit Jeremiels Worten aus seiner Erinnerung auszulöschen, scheiterte. "Jeremiel, der Verkünder", murmelte Michael vor sich hin, ehe er seinen Blick über die schmucklosen Wände gleiten ließ. Schlussendlich fanden seine hellblauen Augen zurück zu dem Jungen vor sich. Die Worte des weisen Engels, der sich in die Abgeschiedenheit geflüchtet hatte, waren Gesetz. Er war der Seher der Zeit, rief sich Michael ins Gedächtnis und war sicher, dass Gabriel dies auch so sah. Darum wandte er seinen Blick nicht zu seinem blonden Gefährten, sondern nickte Salathiel zu. "Hol sie." Einen Augenblick brauchte der kniende Erzengel, um zu begreifen, dass er die Erlaubnis hatte, die ihn so viel Zeit mit Warten und Nichtstun verbringen hatte lassen. Mit zaudern, zögern, mit der Angst, den einmaligen Augenblick der Bitte verpasst zu haben. Doch Michaels Zusage, seine zwei einzigen Worte, die er an ihn gerichtet hatte, waren Bestätigung genug. Auch wenn er nicht lächelte, so zeugte sein Gesicht von Freude, als Salathiel auf die Beine kam und sich verbeugte. "Vielen Dank", brachte er heraus, bevor er sich umdrehte und mit wehendem Gewand versuchte, so bedächtig, langsam wie möglich der großen Tür am Ende des langen Raumes entgegenzugehen. Ein wenig amüsiert klang Michael, als er dem Jüngsten hinterher rief: "Nun mach schnell!" Im nächsten Moment war Salathiel so schnell wie möglich laufend verschwunden, die Tür aus hellem Ahornholz geschlossen. Der Mann mit dem hellbraunen, lockigen Haar wandte sich Gabriel zu. "Waren wir jemals wie er?" Das Schulterzucken seitens des Blonden blieb die einzige Antwort, die er erhielt. Kapitel 2: Samuel ----------------- Ort: Hölle "Nichtsnutz!", ertönte der wütende Ausruf im ganzen Thronsaal. Eine der Wachen, die neben der Tür postiert waren, wich gegen die Wand aus Ebenholz zurück. Wenngleich auch die Wut des Herrschers nicht ihm galt, so genügte allein die Anwesenheit eines zornigen Satan, ihn in Angst und Schrecken verfallen zu lassen. "Einen einfachen Befehl auszuführen... selbst der dümmste Dämon hätte das gekonnt!" Der Herrscher der Dämonen war aufgesprungen und fixierte mit seinem durchdringenden Blick den Mann vor seinem Thron. Fuzen. "Du wagst es wirklich, mir nach dieser Schande unter die Augen zu treten? Verbannen sollte ich dich, ins Fegefeuer schicken!" Er wusste, er konnte es nicht. Er wusste es nur zu genau. Doch in diesem Moment war die Versuchung groß. Egal wie sehr der Mann beteuerte, er habe etwas gesehen, was von Bedeutung sein kann, egal wie sehr es auch stimmen mochte - Satans Zorn war groß, und niemand auch nur annähernd bereit, ihm in dieser Situation zu widersprechen. Sein bordeauxroter Umhang wehte und gab den Blick auf sein schwarzes, mit silbernen Ketten zugebundenes Oberteil sowie seine ebenfalls schwarze Hose und Stiefel frei, als er mit wenigen Schritten die Treppen zu seinem Thron herabstieg und sein Gegenüber mit drei Fingern am Kinn packte, ihn zwang, ihn direkt anzusehen. "Aber Herr", presste Fuzen zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, "der Christus..." Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment gab Satan zwar den Griff um seinen Kiefer frei, schlug ihm jedoch mit dem Handrücken ins Gesicht. Leise hallte der Schlag von den Wänden wider und Fuzen taumelte zur Seite. Bevor der langhaarige Mann auch nur einen weitere Ton herausbringen konnte, war Satan nahe an ihn herangetreten, hatte ihn am langen, umgeschlagenen Kragen seines Mantels gepackt. Mit seinem rechten Fuß, der in dem schweren, schwarzen Schnürstiefel, welcher auf Kniehöhe mit einer breiten, silbernen Schnalle befestigt war, steckte, stellte er sich auf einen von Fuzens nackten Füßen, verlagerte einen Teil seines Gewichtes darauf. Mit seinem markanten Gesicht kam er nahe an das seines Untergebenen, der einen guten halben Kopf kleiner war als er. Fuzen spürte, wie der raue Ziegenbart ihn mit seinem Ende am Kinn, fast an den Lippen kratzte, während er nicht anders konnte als in die tiefschwarzen, vor Wut fast glänzenden Augen seines Herrn zu blicken. "Ich will keinen Ton des Widerspruchs hören", zischte Satan mit tiefer Stimme, "nie wieder. Von dir schon gar nicht. Ich sagte: bring seine Tochter. Mit was kommst du zurück? Mit nichts. Alleine. Dass du es wagst, dich meinen Befehlen ein weiteres Mal zu widersetzen, gehört gestraft." Doch noch bevor sich einer der beiden bewegen oder etwas sagen konnte, wurde ein Tumult laut, direkt vor den großen, ebenfalls aus Ebenholz gefertigten Flügeltüren des Thronsaales. Dieser war zwar nicht ganz so groß wie Fuzen es manchmal in mittelalterlichen Zeiten auf der Erde gesehen hatte, doch groß genug, dass sie noch immer ein ganzes Stück vom anderen Ende entfernt standen. Mit einem plötzlichen Ruck stieß Satan den Langhaarigen von sich weg, nahm den Stiefel von seinem Fuß, ehe Fuzen vollends das Gleichgewicht verlor und unelegant nach hinten fiel. Im nächsten Moment öffneten sich die Türen wie von selbst und Satan sah dem unerwünschten Besucher entgegen. Laut klackten Schritte auf dem Boden, wie von Hufen, als eine junge Frau den Thronsaal durchschritt. "Der Kleine ist da!", rief sie Satan schon von weitem zu. Sie war bis auf sich leicht kräuselndes, aber dickes Fell um ihren Intimbereich und auf den Oberschenkeln, welches jegliche Blicke abschirmte, nackt. Ihr Haar, das im gleichen schmutzigen Braun wie das Fell gehalten war, war zu zwei Hörnern, die denen eines Alpensteinbockes glichen, gebogen, reichte als Fell um den Hals herum und lief kurz vor ihren kleinen, zarten Brüsten spitz zu. Aus ihrem Kopf wuchsen Ziegenohren. Ein paar Schritte vor Fuzen blieb sie stehen, blickte aus ihren pupillenlosen, komplett braunen Augen Satan an und verneigte sich vor ihm. In der nächsten Sekunde betraten zwei weitere Männer den Saal, einer von ihnen groß, aber zierlich, mit langem, blondem Haar und fast vollkommen in Schwarz, der andere mit kurzem, schwarzen Haar und vorwiegend in Rot und Schwarz gekleidet, doch genauso zierlich, wenn auch zwei Köpfe kleiner als der andere. "Yagi, so warte doch auf uns", rief der kleinere der Männer, was offenbar an die Mischung aus Ziege und Frau gerichtet war, denn sie wandte den Kopf nach den beiden um, legte ihn schräg, stieß ein meckerndes Lachen aus, wie um die zwei zu verhöhnen. Ihr kleines Ziegenschwänzchen kurz über ihren Po wackelte. "Weder haben wir Hufen und deine Beine, mit denen wir so schnell rennen können, noch deine Ausdauer! Was hast du es auch so eilig?" Die zwei Fremden blieben neben ihr stehen und verneigten sich ebenfalls vor dem wütenden Herrscher, Yagi tat es ihnen ein weiteres Mal nach, hatte sie doch noch nicht die Erlaubnis, sich zu erheben. Satan betrachtete die drei Personen einen Moment. Yagi, der Sündenbock, Lucifer, sein Heerführer, Samuel, Lucifers Sohn in seiner jetzigen Gestalt. Sein Blick wanderte weiter, zu dem noch immer vor ihm liegenden Fuzen und mit einer kurzen Bewegung des Kopfes bedeutete er ihm, sich endlich zu erheben. Eine weitere Bewegung, diesmal in Form eines ausgestreckten Armes in Richtung der Flügeltüren ließ diese sich schließen. Erst, als sie mit einem lauten Krachen in ihre geschlossene Form gefallen waren, befahl er: "Hebt die Köpfe. Zumindest von dir, Lucifer, hatte ich angemesseneres Verhalten erwartet." Der Mann mit den blonden Haaren erhob sich, wie die anderen beiden nach ihm. Mit seinen silbernen Augen blickte er Satan furchtlos an, trat einen Schritt vor. "Der junge Christ lebt auf dem selben Fleck Erde wie meine Tochter", begann er, ohne auf die Erlaubnis zu sprechen zu warten, "ich denke, das solltest du wissen. Genau wie die Tatsache, dass wir den Aufenthaltsort deiner Zwillinge kennen." Gehobene Augenbrauen, eine in Falten gelegte Stirn und ein Blick, der unverhohlene Neugier zeigte, antworteten ihm, wie eine stumme Aufforderung, weiterzusprechen. "Für deine Zwillinge können wir im Moment recht wenig ausrichten, denn bedenke Jeremiels Worte. Zu handeln, wenn die Zeit gekommen ist. Ich fürchte, wir müssen auf ihre nächsten Schritte warten. Doch zumindest kann ich versichern, dass die jungen Seher nicht auf der Erde sind." Allen Anwesenden war klar, was das bedeutete, machte deutlich, dass die Lage der Zwillinge wahrlich aussichtslos war. "Was gedenkst du zu tun? Was wäre deine taktisch kluge Entscheidung?", wollte Satan wissen. Er selbst war ein Meister des Krieges, der Taktik und der Waffen, doch wollte er dieses Mal eine weitere Meinung einholen. Und Lucifer, so hatten Jahrtausende an Erfahrung und Zeit gezeigt, war nicht weniger begabt in der hohen Kunst der Kriegsführung. "Doch zunächst", setzte er an und wies auf Yagi und Fuzen, "euch beiden werden Gemächer im Schloss zugewiesen. Auch wenn ich kein sehender Erzengel bin, eure Zeit ist nicht gekommen. Ihr erhaltet weitere Befehle, sobald ihr von Nutzen seid." Er fuhr in seiner Handbewegung fort und wies auf die Türen. Erst als die beiden den Thronsaal verlassen hatten, blickte Satan Lucifer wieder an. "Nun?" "Ich schlage vor, Samuel auf die Erde zu schicken, Make zu beschützen, wie es einst Fuzen tat und sobald die Zeit reif ist, sie zu uns zu bringen. Ihr wisst um Fuzens Eigenschaft, Ihr dürft ihn nicht in Gefahr bringen." *** Ort: Erde Es war dunkel, nur der Fernseher war angeschaltet und spendete Licht. Obwohl sie ihre Umgebung nur in undeutlichen Schemen wahrnahm, wusste Make instinktiv, wo sie sich befand: im Haus der Familie Konpaku. Aikos Familie. Sie war versucht aufzustehen, sich umzusehen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Ebenso wenig, wie sie sich vom Fernseher abwenden konnte. Wie in Zeitlupe sah sie die Bilder, nahm sie auf, war dennoch unfähig, sie zu verarbeiten. Ein tragischer Unfall, unweit eines Krankenhauses. Die Eltern mit ihrer Tochter umgekommen. Familienname: Konpaku. Make sah das Gesicht der verängstigten, weinenden Aiko, die Scherbe, die in ihrem Fuß steckte, auf dem Bildschirm flimmern. Im nächsten Moment änderte sich die Dunkelheit, ein Ziehen in ihrem Bauch störte sie in diesem Traum, sie bemerkte ihr Erwachen. Es war kein bewusstes wach werden, vielmehr die Gewissheit, dass alles nur Bilder aus ihrem Kopf waren, dass sie nicht mehr elf war und Aiko längst tot. Nur dieser eine, bewusste Gedanke, bevor sie wieder fest schlief, diesmal ohne Traum. * Im Rücken drei mächtige, doch fast kahle Bäume und um sich herum einige Mitschülerinnen, so saß Make auf einer Bank auf dem großen Schulhof und aß langsam ihr mitgebrachtes Essen. Es war kalt, also hatte sie einen blauen Wollschal um ihren Hals gelegt. Sie mochte die Hofpause nicht, auch wenn sie nur gut fünfzehn Minuten hier draußen verbringen musste. Ab dem kalendarischen Winteranfang, der, so beruhigte sie sich, nicht mehr allzu lange hin war, durften sie glücklicherweise im Klassenraum bleiben. Nur noch ein Monat. Doch in diesem Moment biss sie ein weiteres Mal von ihrem Brot ab, während sie in der Kälte ausharren musste. An den Gesprächen ihrer Mitschülerinnen beteiligte sie sich nicht, dazu waren sie zu uninteressant. Außerdem, was sollte sie groß dazu sagen? Sich freuen, dass sie in der Parallelklasse einen neuen Schüler bekommen hatten? Wenn sie irgendwelche Kurse zusammen hatten, würde sie ihn schon noch sehen, und ob es wirklich eine Freude war, wusste sie noch lange nicht. "Und, sieht er gut aus?", wollte ein Mädchen wissen. Make blickte nicht auf, um zu sehen, wer es gesagt hatte. Für sie hörten sich die Mädchen bei diesem Thema sowieso irgendwie alle gleich an. Was sie wieder einmal bestätigt bekam, als ein vielstimmiges "Oh ja, und wie" zu hören war. Eigentlich saß sie nur hier, weil es der angenehmste Platz war, den der Schulhof der Oberstufe zu bieten hatte. Heute war wieder einer dieser Tage, den sie hätte durchschlafen können, stellte sie mit einem Blick in den stetig grauen, wolkenverhangenen Novemberhimmel fest. Einer dieser Tage, an denen sie sich mit ihren Gedanken im Kreis drehte. Genau wie wenn sie über den Mann, den sie vorgestern auf ihrem Heimweg getroffen hatte, denken musste. Fuzen, dieser Name war ihr in Erinnerung geblieben. Doch was hatte es mit ihm auf sich? Und mit 'Hitonokotai', wie er sie genannt hatte? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, sie wusste als Adoptivkind ja nicht einmal etwas über ihre wirklichen Eltern. Wie sollte sie den Fremden da verstehen? Nur im Kreis, sie drehte sich nur im Kreis, doch sie musste weiterleben. Eigentlich, wenn sie an die bald anstehenden Zwischenprüfungen zu Weihnachten dachte, konnte sie sich etwas anderes außer Lernen gar nicht erlauben. "Hey, hast du zugehört?" Diese Frage und eine Berührung an ihrer Schulter ließen das kurzhaarige Mädchen aufsehen. Sie blickte in das Gesicht einer ihrer Klassenkameradinnen, Kumomo. Ihr Gesichtsausdruck musste deutlich genug gewesen sein, denn das Mädchen mit den braunen Zöpfen lächelte sie nur vielsagend an. "Die 2-A hat einen Jungen in die Klasse bekommen", erklärte sie, "mit einem ausländischen Vornamen. Samuel", der Name klang seltsam falsch, wenn sie ihn aussprach, "Hitonokokai oder so... nein, kotai. Hitonokotai war's, nicht?" Bei ihrer Frage blickte sie auf, zu einer ihrer Freundinnen, die nur nickte und sich dann wieder zwei anderen Mädchen zuwandte. Zum ersten Mal seit dem Erlebnis vor zwei Tagen zeichnete sich echte Überraschung auf Makes Gesicht ab. "Nicht wahr?", wollte sie mit ihrer leisen Stimme wissen, ungläubig blickte sie die andere an. Doch Kumomo nickte nur, wollte schon ansetzen, etwas Neues zu sagen, da war Make aufgestanden. "Wo ist er, weißt du das?" Ein wenig überrascht schüttelte das andere Mädchen den Kopf, konnte Make schließlich nur hinterher sehen, als sie über den Schulhof lief und sich umsah. Lange brauchte sie nicht zu suchen, denn Samuel stand nicht sehr weit von der Gruppe unter den Bäumen entfernt bei zwei Jungen, von denen einer der beiden gerade wild gestikulierend etwas erzählte. Der schwarzhaarige Junge, gekleidet in die typische Uniform der Shato-Hari-Schule, blickte ihr aus grünen Augen entgegen, sagte etwas und Make hörte einen der anderen Jungen, die sich ebenfalls umgedreht hatten, sagen "Ach, die geht in die 2-C, glaub ich. Iota hat mit ihr ein paar Kurse." Das brachte das innerlich aufgewühlte Mädchen dazu, ihre Schritte zu verlangsamen, doch schon bald hatte sie die kleine Gruppe erreicht. "Samuel?", fragte sie in Richtung des Jungen mit den grünen Augen, welcher nickte. "Kann ich dich kurz sprechen? Alleine?", brach es schnell aus ihr heraus, ehe sie es anders überlegte. Vielleicht, so überlegte sie, täuschte sie sich auch einfach nur. Aber sie hatte den Namen Hitonokotai noch nie zuvor gehört, konnte sich kaum vorstellen, dass es so einen Zufall geben konnte. Erst Fuzen, der ihr irgend etwas von Engeln erzählte, dann Samuel, der kurz darauf neu auf diese Schule kam... Samuel folgte ihr auch, bis sie an der großen Eiche, die direkt an den Schulhof der Mittelschüler grenzte, standen. Das schwarzhaarige Mädchen drehte sich zu ihm um. In ihrem Blick lag unverhohlene Neugier, aber auch Misstrauen, vielleicht auch so etwas wie die Angst, sich zu täuschen. "Jemand namens 'Fuzen'... kennst du ihn?", wollte sie schließlich wissen. Doch ihr Gegenüber hob die Augenbrauen. "Fuzen?", wiederholte er. "Nie gehört." Und wenn sie doch falsch lag? Oder wenn Samuel ihn wirklich nicht kannte, aber von den anderen Sachen wusste? Etwas ins Wanken geraten durch diese Antwort fragte Make weiter. "Und die Tatsache, dass es Engel gibt? Weißt du das?" Ein weiteres Mal antwortete Samuel: "Nein, nie gehört. So ein Quatsch, du liest zu viele Fantasy-Romane. Engel gibt es nicht." Er wollte sich umdrehen, wieder gehen, doch in ihrer Verwirrung und Angst, dass alles doch nicht real gewesen war, oder dass sie sich in Samuel einfach getäuscht hatte, hielt Make ihn an einem Arm fest. "Und was ist mit deinem Nachnamen? Hitonokotai?" Seufzend wandte Samuel ihr den Kopf zu, rollte überdeutlich mit den Augen, blickte sie genervt an. "Jetzt hör aber auf", verlangte er in harschem Ton, "das ist mein Nachname. Nichts Besonderes. Hat jeder Mensch, weißt du?" Makes Griff um seinen Arm lockerte sich, ganz langsam, sie wich seinen Blicken aus. "Tut mir leid", murmelte sie und verfluchte sich selbst innerlich für ihre Dummheit, dafür, nicht nachgedacht zu haben. Natürlich. Ein dummer Zufall, sie hatte überreagiert. Nur ein Zufall. Auch wenn es nicht sein konnte. Auch wenn es für sie so unwahrscheinlich wie warmer Sonnenschein in dieser Jahreszeit war, ein Zufall. Mit einem Ruck befreite der Schwarzhaarige seinen Arm aus dem lockeren Griff und drehte sich um, ging zurück zu den Jungen oder sonstwohin. Make sah es nicht. Sah ihm nicht nach, hatte nur den Blick auf ihre Hände gerichtet. Und was sollte sie jetzt tun? Alles vergessen, was passiert war? Es war nicht viel, aber es war aufwühlend gewesen. Hatte sie sich in diesem Moment nicht gewünscht, es vergessen zu können? Wo war es geblieben, das ruhige, bedachte und bodenständige Mädchen, dem die Leute sonst egal waren? Doch sie konnte es nicht vergessen, sie wusste, dass es real gewesen war. Wie sollte sie weiterleben mit diesem Wissen? * Es war bereits dunkel, als Make das erste Mal von ihren Hausaufgaben aufsah und links neben sich aus dem Fenster blickte. Nichts Neues im Herbst, aber ein wenig wunderte sie sich schon, wie sie sich so lange auf die ermüdenden Aufgaben hatte konzentrieren können. Draußen konnte sie nur einige orange leuchtende Punkte ausmachen, von Straßenlaternen und weiter entfernt von den Lichtern der Innenstadt. Nicht lange blieb ihr Blick an dem dunklen Bild hängen, denn sie wandte sich wieder ihren Heften und Büchern zu, die sie zuklappte und auf einem Stapel, unten die Hefte und oben die Bücher, zur Seite legte. Schön ordentlich, wie sie es mochte. Anschließend streckte sich das Mädchen, musste kurz gähnen, bevor sie aufstand und zur Tür ihres hell eingerichteten Zimmers hinausging. Leise schlurfte sie auf ihren schwarzen Socken mit den kleinen, roten Ringeln durch den Flur, über die blau-graue Auslegware, die Treppe hinunter. Ihr Ziel war die Küche, denn durch das ewige Arbeiten an den Aufgaben war sie hungrig geworden. Doch kurz bevor sie das Ende der Treppe, die auf einem breiten Mittelstreifen ebenfalls blau-grau bedeckt war, erreichte, hielt sie inne. Dort unten, in dem gut sichtbaren Hauseingang, stand ihre Schwester und band sich gerade einen grün-weiß gestreiften Schal um den Hals. Hatte sie Namida abends je fortgehen sehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Eigentlich war es ihr immer egal gewesen. Sie sah hübsch aus, musste Make eingestehen, in ihrem beigen Mantel, der Jeans, dem dicken Schal, der so gut zu ihren grauen Augen passte, in denen ein paar grüne Flecken zu erkennen waren, ab und an, wenn das Licht gut war. Auch Namida schien sie jetzt zu bemerken, denn die Blonde sah wie zufällig zur Treppe und fing an zu lächeln. "Hallo Make", begrüßte sie ihre Schwester auf ihre stets liebevolle Art, "unsere Eltern sind noch nicht daheim. Hast du Hunger?" Lange schon hatte sie sich mit der stillen Art des gut zwei Jahre älteren Mädchens abgefunden. So machte es ihr nichts aus, als die Schwarzhaarige nur nickte. "Es steht noch was im Kühlschrank. Glasnudeln haben wir auch, die passen wunderbar dazu." Ein weiteres Nicken antwortete ihr. Kurz fasste sich Make in den Nacken, fühlte ihre dünnen, kurzen Haare enden, zog wie von selbst die Augenbrauen ob dieser Tatsache missbilligend zusammen. Setzte ihren Weg fort, doch blieb noch einmal stehen. Einen Moment lang zögerte sie, rang mit sich selbst, bevor sie sich zu ihrer Schwester umdrehte und fragte: "Wo gehst du hin?" Warum, das wusste sie noch immer nicht, vielleicht war es ihr noch immer egal. Dennoch zog sie die Frage nicht zurück, ging nicht durch das Wohnzimmer in die Küche, blieb nur stehen und wartete auf eine Antwort. Namida, die mit ihrem Schal kämpfte, um ihn richtig zu knoten, hielt inne, erwiderte Makes Blick mit großen Augen. "Na, zum Kirchenchor", antwortete sie wie selbstverständlich, "seit ich zehn Jahre bin schon." Das Nicken ihrer großen Schwester antwortete ihr. Also fünf Jahre, von denen sie vier miterlebt, doch nie wirklich bemerkt hatte. Mit dreizehn hatte sie diese Familie adoptiert. Ja, vier Jahre, die sie jetzt schon in diesem Haus wohnte. Ohne ein Wort zu sagen, trat Make auf ihre kleine Adoptivschwester zu und knotete den Schal, mit dem die kleine Blonde nun schon ewig haderte, richtig zusammen. Diese sah auf, lächelte, sagte "Danke!" "Ach was", wehrte Make den Dank leise ab, wand sich um. "Ich gehe Essen machen." Kein Wort des Abschieds kam über ihre Lippen, nur noch einen Moment sah Namida ihr hinterher. Was in ihrer älteren Schwester vorging, hatte sie nie wirklich begriffen. Vielleicht entzog es sich aber auch bewusst ihrem Verstehen, vielleicht konnte sie es einfach nicht. Nie war das ältere Mädchen besonders gemein oder freundlich gewesen, nur unbeteiligt hatte sie gewirkt. Mit einem nachdenklichen Blick öffnete sie die Haustür und erschrak. Make in der Küche wurde im selben Augenblick überrascht. Die Glasnudeln, die sie aus einem Vorratsschrank genommen hatte, waren ihr heruntergefallen. Zwar nur auf die Arbeitsplatte, ein paar Wenige aber aus der Packung und auf den Fliesenboden, wo sie zersprangen wie feinstes Glas. So, überlegte die Schwarzhaarige, wie ein Leben in der nächsten Sekunde vorbei sein konnte. Aus Versehen. Heruntergefallen, nicht wieder aufzuheben oder zusammenzusetzen. Unheilbar. Es traf meistens die Falschen, überlegte sie, als sie sich bückte und in dem recht schmalen Gang zwischen Arbeitsplatte und Anrichte die ungekochten Nudeln in ihre Handfläche aufsammelte. Die, denen wie durch Zufall Unglück geschah, konnten nichts dagegen tun, nur abwarten, was sie wohl endgültig zerbrechen würde. Es waren doch immer kleine Kinder, Leute mit Familie, deren Leben mit einem Schlag beendet wurde. Durch einen Zufall. Doch wer von all denen hatte es wirklich verdient? Wer war so böse, dass dieses Unglück gerechtfertigt war? Es brachte nichts, sich diese Dinge zu fragen, mahnte sie sich selbst und konnte nur schwer dem Drang zu weinen widerstehen, als in ihr das Bild von Aiko aufstieg, dieses eine, bösartige Bild, welches sie seit sechs Jahren nun schon zu verfolgen schien. Sie war die Falsche gewesen. Und Namida erinnerte sie so sehr an die kleine Blonde, mit der sie nie wieder ein Wort hatte wechseln können. Mit einem verbissenen Blick wandte sie sich wieder dem Kochtopf zu, nachdem sie die zerbrochenen Nudeln weggeworfen hatte, drehte an einem der Knöpfe am Herd, musste nur noch warten, bis das Wasser kochte. "Warum so traurig, Make?", erklang von rechts eine Stimme, die sie vor Schreck herumfahren ließ. Sie trat auf ihr Hosenbein in dem Versuch, ein paar Schritte zurück zu gehen, stolperte jedoch über den schwarzen Stoff und hielt sich an der Arbeitsplatte fest. Mit geweiteten Augen sah sie den jungen Mann an, der ihr gegenüber stand. Statt seiner Schuluniform trug er nun eine dunkelrote Jacke mit silbernen Knöpfen und eine schwarze Hose mit ebenso schlichten, schwarzen Schuhen. Obwohl sie im Haus waren. "Samuel, was..?" So erschrocken war sie, dass ihr der Rest der Frage entfiel, wenngleich sie ihn einerseits anschreien, andererseits aber auch froh sein wollte, dass er hier war. Einige Momente lang sahen sich die Jugendlichen einfach nur an, bis sich die Schwarzhaarige wieder gefasst hatte und kurz den Kopf schüttelte, wie um unerwünschte Gedanken zu vertreiben, sich kurz zu ordnen. "Was machst du hier?", stellte sie nun die Frage, die nun aus ihr herausbrach, als erwartete sie eine Antwort auf alle Fragen der Welt. Der grünäugige Junge lachte leise, in ihren Ohren klang es ein wenig spöttisch, bevor er antwortete. "Darf ich nicht einfach eine Schulkameradin besuchen?", wollte er nun wissen, eine Hand in die Seite gestützt, mit einem Lächeln, das irgendwo zwischen Hohn und purer Freundlichkeit lag. Mit der anderen Hand strich er seinen schräg geschnittenen Pony aus den Augen. Makes Hände fassten die Ärmel ihres langen, grau-schwarz gestreiften Pullovers. "Nachdem du so gemein zu mir warst", erwiderte sie flüsternd, "nachdem..." Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu sprechen, denn mit einem Mal verschwand das Lächeln aus Samuels Gesicht und machte einem ernsten Ausdruck Platz. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Die Hand des Jungen, eben noch in die Seite gestützt, griff nach ihr, zerrte sie vom Fenster in ihrem Rücken weg, als plötzlich ein lauter Knall ertönte, es zerbrach. Make wollte schreien im ersten Moment, fühlte ihren Kopf nach unten gedrückt, hob die Arme zum Schutz darüber, als sie auf die Fliesen fiel. Samuel hatte sie nicht losgelassen, bemerkte sie, als sie die Glassplitter nur neben sich fallen sah, wie durch ein Wunder unversehrt davongekommen war. Es dauerte nur Sekunden, dann hob sie den Kopf und sah den Schwarzhaarigen vor sich knien, die Linke ausgestreckt, deren Blick sie folgte. Doch nichts war zu sehen. Nur die Dunkelheit in dem kleinen Garten neben dem Haus, der Schemen eines Busches, der vom orangefarbenem Licht einer Straßenlaterne umrissen wurde. "Verdammt", murmelte Samuel, "wir müssen verschwinden. Viel zu früh..." Er zerrte an ihrem Arm, um sie zum Aufstehen zu bewegen. "Komm schon, sie sind da!" Ungeschickt kam Make auf die Beine, stand wackelig, als Samuel sie auch schon aus der Küche zog, die Treppe hinauf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)