Zwischenwelten von Arle ================================================================================ Kapitel 6: Sempai ----------------- Beginn: 02.09.2009 Ende: 08.09.2009 Kapitel 6: Sempai Von der Aussicht auf eine nach seinen Wünschen gestalteten Zukunft beflügelt, öffnete Kira die Tür zu seinem Zimmer. Allein die Vorstellung, er könne anders als in einem Einzelzimmer untergebracht werden, war für ihn so absurd gewesen, dass er keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Tatsächlich wohnte er mit drei weiteren Vampiren zusammen, wobei sich einer von ihnen grundsätzlich in anderen Zimmern aufzuhalten schien. Und die nächtliche, manchmal auch tägliche Geräuschkulisse ließ keinen Zweifel daran, welche Art körperlicher Bewegung er bevorzugte. Kira war weiß Gott nicht der Einzige gewesen, der sich über die Gemeinschaftszimmer beschwert hatte, aber die Einzelzimmer waren ganz ausdrücklich jenen vorbehalten, deren soziale Kompetenz bei Null und deren Aggressionspotential weit über dem Durchschnitt lag. Man wollte unter den Unsterblichen lieber keine Toten. Bis jetzt erfüllten drei Personen die Kriterien für eine Sonderbehandlung – und mindestens eine davon war Lehrer an dieser Schule. Jedenfalls war jegliche Diskussion sinnlos gewesen, vielleicht auch deshalb, weil sich Luca nicht für Rangunterschiede und die gewöhnlich damit verbundenen Annehmlichkeiten und Vorteile interessierte. Und natürlich, weil es eine wichtige Erfahrung für sie war und ihren Horizont immens erweitern würde. Das Einzige das sich bis jetzt erweitert hatte, war die Zeitspanne in der er schlechte Laune hatte. Von Privatsphäre hatten sie hier offenbar noch nie etwas gehört. Aber, das musste er wohl oder übel zugeben, er hätte es wahrlich schlechter treffen können. Seine Mitbewohner waren durchweg ältere Schüler, deren Ruhe und Gelassenheit ihn immer wieder in Erstaunen versetzte. Wenn es tatsächlich so etwas wie eine innere Mitte gab, dann hatten sie sie mit Sicherheit gefunden. Und obwohl jeder von ihnen eher die Kriterien eines Einzelgängers erfüllte, kamen sie ganz gut miteinander aus. Viel seltsamer als das war jedoch die Wirkung, die seine Zimmergenossen auf ihn hatten. Er war von Natur aus misstrauisch und obwohl er im Grunde so gut wie nichts über sie wusste, erschienen sie ihm doch überaus zuverlässig und was noch wichtiger war: verschwiegen. Bevor sich ihre Wege trennten, würde er sie fragen ob sie für ihn arbeiten wollten. Denn sie schienen ihm genau von der Art zu sein, wie er sie für die Umsetzung seiner Pläne benötigte. Als er eintrat hob Fabio den Kopf und sah zu ihm herab. Er lag rücklings auf der oberen Matratze des Doppelstockbettes und hatte ganz offensichtlich irgendein literarisches Werk gelesen. Sein Gesicht blieb so ausdruckslos wie seine Augen. Er nickte ihm kurz, aber respektvoll zu und vertiefte sich dann wieder in die seitenreiche Lektüre. Soray saß an dem Tisch, der ihnen für diverse Schreibarbeiten zur Verfügung stand und war so in seine Arbeit vertieft, dass er ihn gar nicht wie gewohnt begrüßte. Kira trat von hinten an ihn heran – Fabios Blick schien ihm plötzlich wieder zu folgen – und sah ihm über die Schulter hinweg dabei zu, wie er sorgfältig ein Schriftzeichen an das andere reihte. „Was machst du da?“ Der Ältere zuckte kaum merklich zusammen. Er wandte sich nicht um als er antwortete: „Hausaufgaben.“ Kira nickte träge und wandte sich von ihm ab. Soray, dessen schmale Augen ebenso wie sein Vorname zumindest noch ein wenig von der asiatischen Abstammung seiner Familie verrieten, war einfach viel zu pflichtbewusst. Vorbildlich in allem was er tat. Ein hervorragender Schüler soweit er wusste. Schweigsam und intelligent. Sehr beherrscht und wie es schien vollkommen leidenschaftslos. Eine hübsche Puppe, die er nur allzu gern für seine Zwecke nutzen wollte. Schwieriger war es dagegen herauszufinden, womit er den anderen locken konnte. Was war für ihn so interessant oder bedeutend, dass er sich dafür in den Dienst eines Adligen stellen würde? Denn auch wenn es eine Ehre war, so wusste doch jeder um die Demütigungen, die damit einhergingen. Kira hatte nicht vor ihn zu demütigen, aber er würde ihn auf die Probe stellen müssen. Er konnte niemanden gebrauchen der nicht bereit war, absolut alles für ihn zu tun. Der nicht bereit war das Leben seines Herrn mit dem seinen zu schützen. Aber das herauszufinden hatte Zeit. Kira ließ den Blick durch das kleine Zimmer schweifen, auf der Suche nach etwas, das möglicherweise sein Interesse wecken, zumindest aber die Langeweile vertreiben konnte. Wie erwartet fand er nichts das ihn fesselte, ging zu seinem Bett hinüber und setzte sich auf die weiche Matratze. Es konnte schließlich nicht jeder in einem Sarg schlafen und außerdem war dies hier eine Schule und keine Gruft. Und die Tatsache, dass ihr Schlaf dadurch weitaus weniger tief war, war nicht unbedingt von Nachteil. Was hier auch tagsüber durch die Gänge streifte, konnte eine abgeschlossene Zimmertür nicht aufhalten und nicht jeder liebte es, im Schlaf überfallen zu werden. Auch dann nicht, wenn man durchaus in der Lage war sich zu wehren. „Wo bekommt man am schnellsten die sichersten Informationen?“, fragte er in den Raum hinein, ohne einen der beiden Vampire direkt anzusprechen. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Das war immer so bei ihnen. Beim ersten Mal hatte er geglaubt sie hätten seine Frage nicht verstanden, tatsächlich aber nutzten sie diese Zeit dazu um zu klären, wer von ihnen antworten sollte. Die beiden waren ein sonderbares Gespann. Oberflächlich betrachtet hatten sie nicht mehr miteinander zu tun, als ein gemeinsam bewohntes Zimmer nun einmal notwendig machte. Sah man jedoch genauer hin und machte sich zudem die Mühe sie ein wenig näher kennenzulernen, dann stellte man unweigerlich fest, dass es eine ganz besondere Art von Beziehung zwischen ihnen geben musste. Die Art wie sie sich ohne ein Wort verstanden, ein Blick genügte um zu klären was ein Gespräch nicht hätte vermitteln können – all das zeugte von einer tiefen Verbundenheit, wie Kira sie noch nie zuvor gesehen und erlebt hatte. Nach wie vor unklar war ihm allerdings, worauf dieses besondere Verhältnis der beiden beruhte. Erotik oder sexuelle Anziehungskraft schienen es jedenfalls nicht zu sein. Er konnte nichts dergleichen zwischen ihnen spüren. „Kenai Ichimura“, antwortete Fabio schließlich, ohne den Blick von den Seiten zu lösen. Kira hatte schon von ihm gehört. Der Sprössling einer der seit neuestem sehr zahlreich vertretenen asiatischen Clans. Japanisch, soweit er wusste. Die Ichimuras waren ebenso wie die Feroces eine überaus mächtige und einflussreiche Familie, wenngleich sie in der Rangfolge unter ihnen standen. Geringfügig zwar, aber deutlich genug, um sie gelegentlich daran zu erinnern. Der Adel hasste Konkurrenz. Kenai war einer der zahlreichen hoffnungsvollen Sprösslinge des Familienoberhauptes, zum Leidwesen seines Erzeugers jedoch niemand, der sich für die politischen Ränkespiele der Familie besonders interessierte. Ein eigensinniger Vampir, um den sich in Ermangelung von Fakten und gesichertem Wissen zahlreiche Legenden rankten. Und das obwohl er nur unwesentlich älter war als Kira selbst. „Wenn du schnell an sichere Informationen gelangen möchtest, dann bist du bei ihm richtig“, ergänzte Soray, der noch immer in seine Arbeit vertieft schien. Niemand, der sie von außen beobachtet hätte, wäre auf die Idee gekommen, dass sie ein Gespräch miteinander führten. „Wie steht es mit seiner Verschwiegenheit?“ Wieder war es Soray der antwortete. „Er ist etwas exzentrisch.“ Eine Pause trat ein. Eine vielsagende Pause. „Der konkrete Inhalt der Antwort, die du auf deine Frage hin erhältst, sollte jedoch sicher sein.“ Kira ahnte was er meinte. Wenn dieser Kenai der Meinung war, dass er Gewinn daraus ziehen konnte dass er es mit der Diskretion nicht ganz so genau nahm, dann würde er es tun. Gut zu wissen und eine Einstellung, die Kira durchaus gefiel. Der junge Mann hätte für ihn eine Menge seiner Glaubwürdigkeit verloren, wenn er versucht hätte den Eindruck zu erwecken es sei ganz und gar selbstlos und ginge ihm in keinster Weise um seinen eigenen Vorteil. „Wie zuverlässig sind seine Informationen?“, fragte er weiter. „Hundertprozentig“, erwiderte Fabio und blätterte die Seite um. Einen Moment lang fragte sich Kira ob der andere dazu in der Lage war gleichzeitig zu lesen, zuzuhören und zu antworten, ohne dass ihm auch nur das Geringste entging. Zuzutrauen war es ihm jedenfalls. „Wer erfährt noch davon?“ Fabio blätterte in seinem Buch als könne er darin die Antwort finden. Tatsächlich war es aber sein Zimmergenosse, der sie ihm gab. „Jima.“ Für Kira klang es wie der Name eines Haustieres. „Was ist das? Ein Hund?“ Einen Moment lang glaubte er den Anflug eines Lächelns auf den Zügen des anderen bemerkt zu haben, dann war das Gesicht wieder von der gleichen ausdruckslosen Ernsthaftigkeit wie zuvor. „Jima“, die Stimme des Älteren klang nachdenklich. „Nein, ein Hund ist er nicht. Er ist sein Schatten, sein Beschützer, sein stummer, ewiger Begleiter.“ „Er weicht nicht einen Moment von seiner Seite“, mischte sich Fabio in den Monolog des anderen ein. „Kenai zu treffen ohne Jima zu treffen ist so gut wie unmöglich. Auf seine Verschwiegenheit kannst du dich allerdings verlassen. Er spricht grundsätzlich fast ausschließlich mit seinem Herrn. Nicht ein einziges Wort, das er von eurem Gespräch hört, wird jemals seine Lippen verlassen. Du wirst ihn unweigerlich bemerken, aber solange du für seinen Herrn keine Bedrohung darstellst, werdet ihr füreinander quasi unsichtbar sein.“ Kira war sich nicht sicher, ob ihm diese Vorstellung gefiel, aber wenn Fabio Recht hatte, dann ließ es sich ohnehin nicht ändern. Und Kenai würde ganz sicher nicht auf seinen treuen Beschützer verzichten. Allerdings hatte er noch eine andere und weitaus wichtigere Frage. „Wo ist der Haken?“ Zum ersten Mal seit er das Zimmer betreten hatte, schenkten ihm die beiden ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ihre Gesichter verrieten sogar ein gewisses Erstaunen als sie zuerst ihn und dann einander ansahen. „Ich will dieses Buch heute noch fertig lesen.“ „Ich muss meine Hausaufgaben bis morgen fertiggestellt haben.“ Die Aussagen standen im Raum, während die beiden Vampire ihren Kampf mit Blicken ausfochten. „Er ist, wie gesagt, etwas exzentrisch“, erklärte Fabio, der das Duell offenbar durch Kapitulation verloren hatte. „Seine Informationen kosten in der Regel etwas. Das hängt ganz davon ab, wie schwer sie zu beschaffen waren und für wie bedeutsam er sie für den Interessenten hält. Dabei gilt übrigens ausschließlich sein eigener Maßstab. Meistens verlangt er dafür Dinge oder Informationen, die er selbst gerade besitzen möchte. Manchmal besteht der Preis auch darin, etwas bestimmtes zu tun oder eben zu lassen. Manchmal muss man für die gewonnene Information auch etwas aufgeben. In gewisser Weise handelt er mit dem was er bekommt. Eine Art Tauschbörse wenn man so will, aber alles andere als ein Flohmarkt.“ „Seine Preise tun weh?“ „Wenn er es will, tun sie das.“ Eine Weile herrschte Schweigen. Kira nutzte diese Zeit, um die neuen Erkenntnisse zu einem möglichst stimmigen Bild zusammenzufügen. Eines, das ihm womöglich noch mehr über diesen Vampir verriet. Als er bemerkte, dass Fabio ihn aufmerksam ansah und offenbar auf weitere Fragen wartete, sprach er einfach seine Gedanken aus. „Wie macht er das? Gibt es etwas das er nicht weiß?“ Fast kam ihm die Frage albern vor, aber in der Welt der Vampire konnte man nie wissen. „Es heißt es gäbe kein gesprochenes Wort, von dem er nichts weiß.“ Soray hatte ihn nicht angesehen, doch als er weitersprach tat er es. Sein Blick hatte etwas seltsam Eindringliches. „Über das Wie solltest du deine eigenen Erkundigungen einholen – und entsprechende Schlüsse daraus ziehen.“ „Aber ihr wisst wie er es macht?“, fragte Kira scharf, ohne dabei die geringste Regung bei den beiden auszulösen. „Wir vermuten es.“ „Würde es mir schaden, wenn ich ich es wüsste?“ „Das ist nicht auszuschließen.“ Kira nickte. Seine Gedanken kreisten bereits um ein Treffen mit diesem geheimnisvollen Mann. „Besten Dank“, sagte er und stand auf. Er konnte nicht behaupten, dass er die beiden verstand, aber ihre Informationen waren Gold wert. Zielstrebig bewegte er sich auf die Tür zu, als Soray noch einmal das Wort an ihn richtete. „Ich würde dir davon abraten ihn heute noch aufzusuchen. Wir haben keinen Ausgang und er legt großen Wert auf Anmeldungen.“ Kira lächelte süß-säuerlich und drückte die Klinke herunter. „Ich muss nachsitzen.“ „Oh.“ Diesmal war er sich sicher ein Lächeln auf dem Gesicht des anderen bemerkt zu haben und verließ entsprechend missmutig den Raum. Kapitel 6 - ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)