Es war einmal in Domino ... von moonlily (oder wie ging die Weihnachtsgeschichte?) ================================================================================ Kapitel 1: Krippenspiel ----------------------- „Nein, nein und nochmals nein! Ich ziehe das nicht an!“ „Aber, Joey, warum denn nicht?“ Tea sah erst ihn und dann das Kleidungsstück an, das er mit angewidertem Gesichtsausdruck auf Armlänge von sich gestreckt hielt. Ihr Fuß tippte ungeduldig auf den Bretterboden der Bühne in der Schulaula. „Meine Mutter und ich haben uns echt Mühe mit den Kostümen gegeben.“ „Schön und gut, das ist auch echt nett von euch beiden, aber trotzdem: Ohne mich.“ „Du hast versprochen, dass du in dem Stück mitspielst“, entgegnete die Brünette. „Nur weil Frau Kobayashi meine Noten sonst runtersetzen will. Aber weißt du was, ich pfeife drauf. Ich ziehe kein Kleid an.“ „Das ist kein Kleid.“ Sie verdrehte genervt die Augen. „So was tragen Engel nun mal.“ „Sagt wer?“, konterte er augenblicklich. „Kannst du mir eine zuverlässige Quelle nennen, in der es heißt, dass Engel Nachthemden oder Kleider tragen?“ „Jetzt hör endlich auf zu kläffen und zieh dich um, Köter“, kam es aus einer anderen Ecke der Bühne. „Ich habe heute noch genug andere Termine und weder Zeit noch Lust, mich hier länger als nötig aufzuhalten.“ Joey musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wem diese gelangweilt-arrogante Stimme gehörte. „Schön, dass du auch endlich da bist, Kaiba“, kam Tea ihrem Freund zuvor, ehe dieser zu einer Entgegnung ansetzen konnte. „Und du, Joey, zieh dich endlich um, damit wir mit der Probe anfangen können.“ „Aber ich will kein –“ „Zieh dein Kleid an und gib Ruhe, Hündchen.“ „Erstens“, Joey wandte sich zu dem Firmenchef um und hob leise knurrend den Zeigefinger, „bin ich kein Hund. Zweitens ... Woher wollt ihr das mit den Engelskleidern so genau wissen?“, versuchte er Zeit zu gewinnen. „Schön ... wie du meinst.“ Bei dem Gesichtsausdruck, den Tea aufgesetzt hatte, schluckte ihr Gegenüber. „ Es ist nicht erwiesen, dass Engel weiße Kleider tragen. Du kannst von mir aus auch nackt auf die Bühne, wenn dir das lieber ist. Die Mädchen aus dem Chor würden sich bestimmt freuen. Dann haben sie bei dem langweiligen Weihnachtsprogramm wenigstens mal was zu gucken.“ Joey war sich ziemlich sicher, mit seinem Gesicht in einem Fass Tomaten gerade nicht weiter aufzufallen. Das konnte unmöglich Teas Ernst sein. Obwohl ... Entsetzt sah er, wie sie ihm das Kostüm abnahm und auf den Rand der Bühne zuging. „Halt, warte! Ich ziehe mich ja schon um.“ Er lief an ihr vorbei, schnappte sich das Engelskostüm und verschwand, um sich fertig zu machen. Keine fünf Minuten später betrat er die Bühne wieder, dieses Mal mit Gewand. „Wo sind die Flügel?“, beschwerte sich Tea, kaum dass sie ihn gemustert hatte. „Es reicht doch völlig, wenn ich die sperrigen Dinger bei der Aufführung trage. Mit denen komme ich durch keine Tür“, erwiderte er und zupfte an dem Heiligenschein, dem Tea mittels Goldspray ein glänzendes Aussehen verpasst hatte. „Meinetwegen, aber jetzt alle auf ihre Plätze“, begann sie zu kommandieren. „Wer hat dich plötzlich zur Regisseurin ernannt?“, fragte Yami, der einen der Heiligen drei Könige geben sollte. „Ich, wenn du es unbedingt wissen willst. Wir haben heute schon genug Zeit verloren.“ „Was sage ich die ganze Zeit“, ließ sich Seto hören. „Ich muss in einer halben Stunde zu einer Sitzung, also lasst uns diesen Quatsch endlich hinter uns bringen. Im Übrigen verstehe ich noch viel weniger als Wheeler, warum ich in eurem Kindertheater mitspielen soll. Ich habe keine schlechten Noten, die aufgebessert werden müssen.“ „Für König Herodes brauchen wir eine stattliche Erscheinung, da bist du die Idealbesetzung“, flötete die selbsternannte Regisseurin süßlich lächelnd. „Hör auf, dich bei mir einzuschleimen.“ „Tue ich nicht, Kaiba. Aber wenn du einen Termin hast, meinetwegen, dann kommt als erstes die Szene im Thronsaal mit den drei Weisen. Yami, Bakura, Duke, auf eure Plätze!“ Von ersterem kam ein lautes Lachen. „Stimmt was nicht?“ „Bakura und ... hahaha ... Der und ... weise!“, brachte Yami zwischen seinen Lachanfällen hervor. „Du wagst es und zweifelst an mir. Ausgerechnet du, der die Hilfe von diesem Knirps brauchte, um dich überhaupt an deine Vergangenheit zu erinnern?“, giftete der Weißhaarige zurück. „Jungs, bitte.“ „Du halt dich da raus!“, wurde das Mädchen von zwei Seiten angefahren, bevor sich Yami und Bakura in einen handfesten Streit vertieften. Es dauerte nicht lange, dass Joey und Tristan sie packten, um zu verhindern, dass sie die Bühnendekoration zu Kleinholz verarbeiteten. Duke gesellte sich derweil zu Tea, die sich schlecht gelaunt, weil sie heute dauernd missachtet wurde, auf dem Bühnenrand niedergelassen hatte und in den Textheften blätterte. Er setzte sich neben sie und ließ die Beine über die Kante baumeln. „Hey, Kopf hoch, Kleines. Du kennst die zwei doch.“ „Das sagt sich so leicht, Duke“, seufzte sie. „In einer Woche ist das Weihnachtsfest der Schule, dann sollen wir mit den Proben durch sein, hat Frau Kobayashi gesagt und sie meinte, da ich mich gut mit Tanz und Theater auskennen würde, da würde sie was Besonderes von mir erwarten. Aber ich habe absolut keine Ahnung, was ich daraus machen soll!“ „Hmm ...“, überlegte er und zwirbelte sich nachdenklich eine seiner schwarzen Haarsträhnen um den Finger. „Die Weihnachtsgeschichte kennt jedes Kind, sie ist immer nur eine Wiederholung, genau wie die ganze Feier in der Schule.“ „Eine Wiederholung?“ „Du weißt schon, jedes Jahr dasselbe: Das Krippenspiel, die gleichen Lieder des Schulchors, die Rede von unserm Direktor, die ich inzwischen auswendig kann ...“ „Augenblick, das ist es, Tea! Du bringst mich da gerade auf eine Idee.“ Ein leichtes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, als er sich zu seinen Freunden umdrehte und sie nacheinander einer kurzen Musterung unterzog. „Was hast du vor?“ „Wirst du gleich sehen. Hey, Leute, hört mir zu, ich hab euch was zu sagen.“ „Und was?“, fragte Joey, der sich immer noch damit abmühte, Bakura ruhig zu halten, damit sich dieser nicht wieder auf Yami stürzte und den Stall zertrümmerte. „Ihr findet diese ganze Krippennummer mit den Hirten, Engeln und dem Jesuskind doch genauso langweilig wie ich. Was haltet ihr davon, wenn wir unser eigenes Krippenspiel schreiben? Wir nehmen die Grundidee, aber machen was ganz anderes draus. Ich hätte da auch schon eine Idee ...“ Sie lauschten seinen Worten nachdenklich. Nach und nach sprang das Grinsen auf ihre Gesichter über, wurde breiter, bis ein vielstimmiges „Ja, das machen wir!“ ertönte. „Nur über meine Leiche“, ließ sich dagegen Seto vernehmen. „Vergesst es, das ist ja schlimmer als das Original, das wir aufführen sollten.“ „Und ich weigere mich, vor dem“, Bakuras Finger fuchtelte wild in Yamis Richtung, „auf die Knie zu gehen.“ „Pech für euch, aber euch wird keine Wahl bleiben.“ Teas zuckersüßes Lächeln jagte selbst Seto einen kalten Schauer über den Rücken. Sie beugte sich zu den beiden herüber und senkte ihre Stimme so weit, dass nur die beiden sie noch hören konnten. „Erinnert ihr euch noch an das letzte Schulfest, Jungs? Ihr seid irgendwann zusammen verschwunden und ... kurz gesagt, ihr könnt von Glück reden, dass ich das Überwachungsvideo aus dem Bioraum an mich genommen habe, bevor sich das jemand ansehen könnte. Wäre sicher interessantes Futter für die Presse.“ „Das wagst du nicht.“ Seto bedachte sie mit einem seiner Eisblicke. „Ich bitte euch lediglich, in unserem Stück mitzuspielen, dann wird nie jemand etwas davon erfahren.“ „Das ist Erpressung.“ „Wenn es unbedingt sein muss, mach ich eben bei dem Kaspertheater mit“, lenkte Bakura ein. „Trotzdem bleibt das Problem“, dämpfte Ryou die allgemeine Freude, „dass wir nicht genug Leute dafür haben. Die andern aus der Klasse hatten alle keine Lust, sich zu beteiligen oder sind anderweitig verplant.“ „Wieso Problem?“, fragte Joey verdutzt. „Ich kann Marik und Ishizu fragen, ob sie mitmachen, und Valon können wir bestimmt für die Technik und so weiter kriegen.“ Eine Woche und viele schweißtreibende Proben später ... „Seht euch das an!“ Tristan sah teils begeistert, teils voller Lampenfieber durch den schmalen Schlitz des Theatervorhangs. Yami drängte sich neben ihn und schob ihn zur Seite, um ebenfalls etwas zu sehen. „Wow, die Plätze sind schon fast alle besetzt. Da vorne sitzt Opa Muto. Hey, Kaiba, Mokuba ist auch gekommen!“ „Was? Geh mal beiseite.“ Seto schubste ihn weg, als er seinem Befehl nicht sofort Folge leistete, und spähte nach draußen. „Das ist doch ... Bin gleich wieder da.“ „Wo willst du hin?“ Ohne Tea auch nur einen Blick zu schenken, marschierte der Brünette an ihr vorbei hinter die Bühne, an der Schaltzentrale für die Lichttechnik vorbei, und betrat die Aula durch eine kleine Tür rechts von der Bühne. Mokuba hatte sich mit Noah einen Platz gleich in der zweiten Reihe gesichert, die erste war für die Lehrer reserviert. „... tut die ganze Zeit schon so geheimnisvoll, wenn ich ihn nach den Proben frage und – Hi, Seto!“ „Was hast du hier zu suchen?“ Er baute sich vor seinem kleinen Bruder auf und funkelte ihn an. „Na, was schon, ich will mir das Stück ansehen.“ „Ich habe dir gesagt, dass das nichts für dich ist.“ Mokubas Miene glich der eines sehr geduldigen Lehrers, der einem kleinen Kind das Einmaleins erklärt. „Du spielst zum ersten Mal in einem Theaterstück mit, großer Bruder. Sag nicht, du hast wirklich geglaubt, ich würde mir das entgehen lassen.“ „Ich hatte angenommen, ich hätte mich klar ausgedrückt. Wo ist Roland?“ „Der war eben noch auf Parkplatzsuche.“ „Der kann sich bald einen neuen Job suchen, wenn er meine Anweisungen so missachtet.“ „Kaiba, jetzt komm endlich her“, winkte ihm Tea von der Tür aus zu. „Der Direktor will gleich mit seiner Rede anfangen und gleich nach dem Chor sind wir dran.“ Seto bedachte seinen Bruder mit einem strengen Blick und ging nach einem geraunten „Wir sprechen uns noch!“ zurück hinter die Bühne, um sich endlich in sein Kostüm zu werfen. Der Direktor trat an das Rednerpult, ordnete seine Notizen und räusperte sich vernehmlich. Im Saal wurde es ruhig. „Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Eltern, es ist mir eine große Freude, Sie und euch heute hier willkommen zu heißen“, begann er seine Rede. Die Schauspieler, die die letzten Vorbereitungen für ihren Auftritt trafen, hörten nur mit halbem Ohr hin. Wie Tea vermutet hatte, war es die gleiche Rede wie im letzten Jahr, ihr Direktor schien lediglich die Daten bei den Schulereignissen, die er Revue passieren ließ, ausgetauscht zu haben. Die letzten Minuten seiner Rede nutzte der Schulchor, um sich auf den Stufen zur Bühne aufzustellen. Frau Kobayashi, die für die Planung der Weihnachtsfeier verantwortlich war, legte den Auftritt des Chores immer mit Absicht direkt hinter die Rede, darauf hoffend, die lauten Stimmen der Sänger würden die Leute wieder aus ihrem Halbschlaf reißen, damit sie bis zum Krippenspiel wieder richtig wach waren. Nachdem die letzten Töne von Stille Nacht, heilige Nacht verklungen waren, begab sich der Chor unter höflichem Applaus auf seine Plätze zurück. Frau Kobayashi betrat, die Hände nervös knetend, die Bühne. Trotz ihrer bohrenden Nachfragen hatte kein Mitglied der Krippenspielgruppe ihr verraten, um was für Änderungen in der Geschichte es sich genau handelte, die Tea ihr gegenüber fast beiläufig erwähnt hatte. Dukes Grinsen, der während ihrer Unterhaltung neben ihnen gestanden hatte, ließ sie das schlimmste vermuten. Sie nahm das Mikrofon vom Rednerpult und blickte sich im Publikum um. Ihr Chef thronte auf seinem Platz in der ersten Reihe und sah sie erwartungsvoll an. Bitte, Kinder, lasst mich eure Kreativität nicht meinen Kopf kosten, schickte sie noch schnell ein Stoßgebet zum Himmel. „Wir sehen nun das ... äh Krippenspiel in einer modernen Variante. Ich wünsche viel Spaß.“ Die Lichter im Saal verdunkelten sich, ein Spotlight tauchte die Bühne in gleißendes Licht. Der Vorhang teilte sich ein kleines Stück, gerade weit genug, dass Alister, beladen mit einem Barhocker, seinem Textbuch, einer Colaflasche und einem schnurlosen Mikrofon, durchkam. Er stellte den Hocker am linken Rand der Bühne ab, ließ sich darauf nieder und verfluchte sich gedanklich zum hundertsten Mal für seine große Klappe. Nachdem er sich bei den Proben wiederholt über seine Freunde lustig gemacht hatte, war er von ihnen kurzerhand verdonnert worden, ihnen als Geschichtenerzähler und Souffleur zu dienen. Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf ihn. „Hey, Leute!“, winkte er in den Saal. „Wir sind heute hier, um euch eine Geschichte zu erzählen. Aber es ist nicht die Geschichte von Maria, Josef und den drei Weisen. Bei uns geht es um einen anderen König und ... warum rede ich so lange, fangen wir lieber an.“ Der Vorhang wurde nun vollständig aufgezogen. Schon das Bühnenbild sorgte für das erste Raunen im Saal. Statt dem erwarteten Stall sahen sich die Zuschauer der Skyline von Domino gegenüber, unverkennbar durch die Silhouette des Firmensitzes der Kaiba Corp. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Erfinder des Duel Monster Spiels und Herrscher über Industrial Illusions, Maximillian Pegasus, ausging, dass die besten Spieler der Welt an seinem neuen Turnier teilnehmen sollten. Dieses Spiel war seit langer Zeit das erste und geschah zu der Zeit, da Seto Kaiba als König der Spiele bekannt war. Und so ging jeder Spieler in den Spieleladen seiner Heimatstadt, um sich für das Turnier einzutragen. Da machte sich auch Yugi aus Japan, aus der Stadt Domino, in selbige auf, um sich einzutragen, und mit ihm ging seine Frau Tea, die schwanger war.“ Händchen haltend betraten die beiden zuletzt Genannten die Bühne und wanderten auf dieser hin und her. Yugis Wangen waren gerötet, wie schon während der ganzen Proben; Bakuras kleine Sticheleien deswegen machten die Sache nicht besser. Tea hatte sich von ihrer Mutter ein geblümtes Umstandskleid geliehen, das sie mit einem dicken Kissen ausgestopft hatte. „Yugi, wie lange müssen wir denn noch laufen?“, murrte Tea und wurde immer langsamer. „Mir tun die Füße weh, ich bin müde. Und du hast mir Salamipizza mit Schokocreme versprochen.“ „Ja, ja“, grummelte er, dem sich allein bei dem Gedanken an diese Speisenkombination der Magen umdrehte. Von rechts wurde ein großes Gebäude aus Pappe auf die Bühne geschoben, über dem in Neongrün Hotel stand. „Und als sie in Domino waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte“, fuhr Alister mit seiner Erzählung fort. Synchron dazu krümmte sich Tea wie unter Schmerzen zusammen. „Ist es schon soweit?“, entfuhr es Yugi panisch. Er pochte so hektisch an die Tür des Hotels, dass er die Kulisse beinahe umwarf. „Doch sie fanden keinen Einlass in dem Hotel und mussten weitersuchen.“ Der Bunthaarige half seiner Frau auf die Beine und zog mit ihr weiter. Das Hotel verschwand und machte ein paar Bäumen und einem Spielhaus Platz, in das sie sich setzten. „Und da sie auch sonst überall abgewiesen wurden, richteten sie sich auf einem alten Spielplatz im Stadtpark ein“, erzählte Alister. „Dort gebar Tea ihren ersten Sohn und nannte ihn Yami. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in einen Pappkarton.“ Im Schutz von Yugi, der noch um sie herumwuselte, um es ihr möglichst bequem zu machen, entfernte Tea das Kissen, zog die Babypuppe hervor, die Yugi in einem Rucksack mitgebracht hatte, und legte sie in den mit einer Decke ausgeschlagenen Pappkarton. Es hatte sie stundenlange Mühe gekostet, eine passende Perücke zu finden und so einzufärben und zu frisieren, dass sie der Haartracht von Yami und Yugi entsprach. Die rechte Seite, auf der die beiden saßen und ihr neugeborenes Kind ansahen, verdunkelte sich. Die Scheinwerfer richteten sich nach links, wo Valon und Rafael, zuständig für die Kulissen, in der Zwischenzeit, während das Publikum von Yugi und Tea abgelenkt gewesen war, die auf Rollwagen befestigten Wolken aufgestellt hatten. Yami, gekleidet in ein weißes Hemd und eine ebensolche Hose, trat auf und marschierte, die Arme vor der Brust verschränkt, zwischen den Wolken umher. „Wo bleibt er schon wieder? Joey! Nie ist er pünktlich, wenn ich nach ihm rufe.“ Er wandte sich um und verließ die Bühne. Hinter einer der Wolken tauchte Marik auf, die Haare reichlich zerwuschelt, die weißen Flügelchen schief auf dem Rücken, und sah sich um. „Hat da nicht eben wer nach dir gerufen? Das klang ganz nach Ihm.“ „Hmm?“ Joeys Kopf wurde sichtbar. „Ach, das hast du dir nur eingebildet“, meinte er und zog Marik wieder zu sich herunter. „Joey!“ Yami stürmte mit wenigen großen Schritten auf die Bühne. „Herkommen, sofort!“ Widerwillig ließen die beiden Engel voneinander ab und kamen hervor. Frau Kobayashi hielt entsetzt den Atem an und sah sich hastig unter ihren Kollegen um, die nicht minder erschrocken wirkten. Frau Hino, die Religion unterrichtete, machte den Eindruck, als würde sie jeden Augenblick mit einem Herzinfarkt zusammenbrechen. Joey und Marik hatten ihre langen Engelsroben, die im eigentlichen Krippenspiel vorgesehen gewesen waren, gegen hautenge Hosen aus weißem Leder und hauchdünne Hemden getauscht, die mehr enthüllten als verbargen. „Ihr wünscht, Herr?“, fragte Joey und beeilte sich, seine Kleider zu ordnen. „Warum bist du noch hier? Ich habe dir schon vor Stunden einen Auftrag gegeben. Glaubst du, die Ankündigung macht sich von allein?“, wetterte Yami. „Warum macht das nicht Gabriel? Den schickt Ihr doch sonst immer, wenn Ihr was zu verkünden habt.“ „Der ist mit anderen Aufträgen beschäftigt und nun ab mit dir.“ Yami seufzte schwer und sah seinem Engel nach. „Wie gut, dass ich diesen Chaoten nicht geschickt habe, als Jesus zur Welt kam.“ Wieder verdunkelte sich kurz die Bühne, Valon und Rafael räumten eilig die Wolken beiseite und versuchten nicht mit Tristan und Ryou zu kollidieren, die sich mit ihren Duel Disks an ihnen vorbeidrängten. Alister nutzte die Gelegenheit, um seine Kehle mit ein paar Schlucken Cola anzufeuchten. „In dem Park, in dem sich Yugi und Tea einquartiert hatten, waren Jugendliche unterwegs, die sich des Nachts ein Duell lieferten und von Kuribohs und anderen Monstern umringt waren.“ Neben Ryou erschien ein halbes Dutzend Kuribohs, die mit großen Kulleraugen die flauschigen Sündenböcke ansahen, welche sich Tristan von Joey ausgeliehen hatte. „Da trat der Engel Gottes zu ihnen und ... äh, Engel?“ Alister sah sich auf der Bühne um. „Dein Auftritt!“, flüsterte Yami und gab dem Blonden einen Schubs, der ihn eher stolpernd als hoheitsvoll auf die Bühne beförderte. Er rückte leise knurrend seinen Heiligenschein zurecht und wartete auf das Spotlight, das ihn mit dem göttlichen Glanz für sein Erscheinen umgeben sollte. Doch es blieb dunkel. Bei den Proben hatte alles reibungslos geklappt. „Hey, Technik! Wo bleibt mein Licht?“ Das plötzlich aufflackernde Spotlight stach ihm in die Augen, machte ihn für einige Sekunden blind. Alister nickte zufrieden. „Und nachdem der Engel seine Differenzen mit der technischen Abteilung des Himmels geklärt hatte, sprach er zu den Duellanten.“ „Fürchtet euch nicht! Seht, ich verkünde euch große Freude, denn euch ist heute der neue König der Spiele geboren worden, hier im Stadtpark von Domino“, erklärte Joey salbungsvoll. „Gehet hin und ihr werdet das Kind finden, in Windeln gewickelt und in einem Pappkarton liegend.“ „Alter, hast du zu viel getrunken?“, fragte Tristan, nachdem er sich von dem ersten Schock wegen der Engelserscheinung erholt hatte. „Pff“, machte Joey. „Früher hatte man vor uns Engeln wenigstens noch Respekt. Jetzt geht schon.“ Angesichts des donnerartigen Grollens, das im Hintergrund zu hören war, hielten es Tristan und Ryou für angeraten, ihr Duell zu unterbrechen und, gefolgt von ihren Kuribohs und Sündenböckchen, zu Yugi und Tea zu marschieren „Ist das der zukünftige König der Spiele?“, erkundigte sich Ryou bei der glücklichen Mutter. „Bisschen klein für einen König“, meinte Tristan. „Lasst ihn erst mal groß werden, dann werdet ihr schon sehen“, sagte Tea und sah ihr Kind mit strahlenden Augen an. „Dann rettet er uns vor fiesen Duellanten, größenwahnsinnigen Grabwächtern und anderen Bösewichten.“ Joey packte hinter der Bühne Marik am Kragen, um ihn daran zu hindern, zu Tea zu stürmen und sie zu erwürgen. Den letzten Satz musste sie eben erst eingefügt haben, er hatte ihn jedenfalls nie in ihrem Drehbuch gelesen. „Wie oft muss ich mich denn noch für damals entschuldigen, bis mir das nicht mehr vorgehalten wird?“ „Wir haben nun eine kurze Umbaupause“, verkündete Alister, als der Vorhang zuging. Sofort setzten wieder überall die Unterhaltungen ein. Der Rothaarige spitzte die Ohren. Was er aufschnappte, reichte von „interessante Interpretation“ bis „wetten, die fliegen dafür von der Schule?“. Er gönnte sich noch einen tiefen Schluck Cola und bekam von Yami das Zeichen, dass es weitergehen konnte. „Als Yami in Domino geboren war, kamen drei weise Meister des Duellierens in die Stadt und suchten nach ihm, denn in alten Schriften wurde von seiner Geburt berichtet. Dies kam auch Seto Kaiba, dem derzeitigen König der Spiele, zu Ohren.“ Der Vorhang teilte sich und offenbarte auf der linken Seite (rechts im Dunkeln hockten nach wie vor Yugi und Tea) einen großen Schreibtisch, hinter dem Seto, gehüllt in einen weiten roten Umhang mit Pelzbesatz, saß und auf die Tastatur seines Laptops einhackte, bis ihn das melodische Brüllen des Weißen Drachen, das aus seinem Handy drang, aus der Arbeit riss. „Ja? ... Wie bitte, ein neuer König?!“ „Er befahl daraufhin seine Marketingleiterin Ishizu in sein Büro, von der man sagte, sie könne in die Zukunft sehen – auch wenn er natürlich nicht daran glaubte und das eigentlich für blanken Unfug hielt.“ Ishizu schob sich an ihrem Bruder vorbei und trat zu Seto, der sie kurz von oben bis unten musterte. Sie trug ein elegantes Kostüm, das sie bisher nur einmal angehabt hatte, bei ihrem Vorstellungsgespräch im Museum von Domino. „Also, wo wird dieser Dummkopf geboren, der glaubt, mir den Titel nehmen zu können?“ „Ich habe dich schon einmal gewarnt, Kaiba, und du hast mir nicht glauben wollen, dass dein Thron bedroht ist.“ Ishizu ignorierte das abfällige Schnauben. „Der neue König der Spiele wird hier aus Domino kommen.“ Sie sah ihn noch einmal bedeutungsschwer an und ging. „Wenn ich den in die Finger kriege.“ Alister erlaubte sich ein kurzes Grinsen. „Kaiba ließ die drei Meister zu sich kommen, um von ihnen näheres über den Aufenthaltsort des künftigen Königs der Spiele zu erfahren.“ Die Augen des Erzählers und die des Publikums wandten sich erwartungsvoll dem Bühnenrand zu. „Aua, pass doch auf, wo du hintrittst!“, drang es aus den Kulissen. „Wenn du mir mit deinen Quadratlatschen in den Weg läufst, kann ich nichts dafür“, erwiderte Bakura auf Dukes Beschwerde. „Und jetzt macht mir Platz.“ „Wenn überhaupt einer als Erster reingeht, dann ja wohl ich!“, mischte sich Dartz ein. „Ich war immerhin der König von –“ „Jetzt kommt endlich rein“, knurrte Seto, dem die Streiterei der drei so genannten „Weisen“ schon bei den Proben auf die Nerven gegangen war. „Ich habe noch anderes zu tun.“ Dicht hintereinander kamen Duke, Dartz und Bakura auf die Bühne, ihre Duel Disks am Arm und jeder mit einem Tablett in der Hand, das von einem Tuch verdeckt wurde. „Wie ich höre, sucht ihr nach dem König der Spiele.“ „Ja, und wir bringen ihm Geschenke, die ihm bei seiner Aufgabe helfen sollen.“ „Ihr könnt mir die Sachen auch gleich geben“, sagte Seto und sah lauernd auf die Tabletts. „So schnell wird es keinen anderen König der Spiele geben.“ „Bedaure, mein lieber Kaiba, aber so läuft das nicht“, wies Bakura ihn zurecht und brachte sein Geschenk aus seiner Reichweite. Die drei nickten ihm zu und machten sich wieder auf den Weg. „Die weisen Duellanten fanden endlich Yami mit seinen Eltern“, las Alister weiter vor, „knieten nieder und überreichten ihre Gaben.“ Dartz zog das Tuch von seinem Tablett, auf dem eine Duel Disk lag. „Von mir gibt es das Wichtigste, damit er sich überhaupt duellieren kann.“ „Spiel dich mal nicht so auf“, sagte Bakura und hielt für einen Moment die drei Götterkarten hoch, so dass alle sie sehen konnten. „Ohne die hier ist das Teil vollkommen wertlos.“ Sein Blick wanderte über den Geflügelten Drachen des Ra, Slifer den Himmelsdrachen und Obelisk den Peiniger. Endlich lagen sie in seiner Hand und ... „Bakura.“ Duke sah ihn mahnend an. Wenn auch mit großem Zähneknirschen, überreichte Bakura sie Yugi. Seit dieser ihm die Karten kurz vor der Aufführung gegeben hatte, hatten ihn die anderen nicht mehr aus den Augen gelassen. „Und was soll er damit?“ Tea hatte das Tuch von Dukes Tablett gezogen und hielt eine Hose aus schwarzem Leder in die Höhe. „Da wächst er schon rein. Damit ist unser zukünftiger Held für seine Abenteuer standesgemäß gekleidet und die Herzen werden ihm noch schneller zufliegen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Und als Yami alt genug war, machte er sich daran, sein Schicksal zu erfüllen, aber das ist eine andere Geschichte“, sagte Alister und schloss das Buch. Stille senkte sich über den Raum. Totenstille. Tea tauschte einen nervösen Blick mit Duke. Da es ihre gemeinsame Idee gewesen war, würden sie auch zusammen die Verantwortung übernehmen müssen. Die Brünette schalt sich, dass sie auf seinen Rat gehört hatte, statt ein ganz normales, traditionelles Krippenspiel aufzuführen, wie die Leute es erwartet hatten. Das leise Zusammenschlagen zweier Hände, das mit jedem Schlagen lauter wurde, holte sie aus ihrer gedanklichen Verabschiedung von ihrem Studium an der New Yorker Tanzakademie. In dem schwachen Licht, das von der Bühne auf das Publikum hinausstrahlte, sah sie Mokuba, der sie belustigt angrinste. Noah fiel in den Applaus seines Freundes ein und endlich begannen auch die restlichen Zuschauer sich aus ihrer Starre zu lösen und ihnen Beifall zu zollen. Frau Kobayashi fiel ein Felsbrocken vom Hals. Die Erleichterung zeichnete sich deutlich auf den Gesichtern der Schauspieler ab, die nacheinander nach vorne traten. Für die letzte Reverenz fanden sie sich zu einer langen Kette zusammen und verbeugten sich gemeinsam. „Wir wünschen euch frohe Weihnachten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)