Stacheldraht von Ditsch ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel II --------------------- II Es war halb zwölf, als Rachel vom leisen Brummen ihres Handys unter ihrem Kopfkissen geweckt wurde. Sie hatte schon befürchtet, es nicht zu hören, aber sie hatte es auch nicht gewagt, etwas Auffälligeres als Weckton einzustellen. Die Aufmerksamkeit ihres Vaters, der im benachbarten Zimmer schlief, war das letzte, was sie brauchte. Sie gähnte herzhaft. Warum war sie noch immer so müde? Sie hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt und seitdem geschlafen wie ein Stein. Sie hatte damit gerechnet, von einem Albtraum geweckt zu werden, doch selbst das war nicht geschehen. Aber ihr nächtlicher Ausflug würde ihre Müdigkeit schon vertreiben. Lautlos stand sie auf und schlüpfte in die Kleidung, die sie sich schon zurecht gelegt hatte. Der dicke Pullover, den ihre Tante ihr vor ein paar Wochen geschickt hatte, war zwar nicht gerade der hübscheste in ihrem Schrank, aber mit Abstand der wärmste. Und bei dem Schneegestöber, das draußen herrschte, hatte das eindeutig Vorrang. Allein der Gedanke, dort hinausgehen zu müssen, ließ Rachel erschaudern. Oder war es vielmehr die Furcht vor dem, was dort möglicherweise lauerte? Das Mädchen schüttelte sich, als könne sie so dieses unliebsame Gefühl abschütteln. Es musste etwas unternommen werden, sonst würde er wieder zuschlagen, ein ums andere Mal. Wenn sie ihn nicht aufhielten... Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wer ihm noch alles zum Opfer fallen könnte. Um zwanzig vor zwölf verließ Rachel durch die Hintertür das Haus. Sie hatte entschieden, dass es sicherer war, nicht vorn herauszugehen, da ihr Vater ihre Spuren dort womöglich entdecken würde, wenn er morgen früh die Post hereinholte. Bis er das nächste Mal in den Garten ging, würde der Schnee ihre Fußabdrücke hoffentlich verdeckt haben. Außerdem gingen diese sowieso zwischen den anderen Spuren unter, die Rachel allerdings nach einem Moment der Erleichterung doch eher beunruhigten. Das eine Schuhprofil konnte sie relativ sicher ihrem Bruder zuordnen, doch die andere Spur... Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es sich um Abdrücke ihrer eigenen Schuhe handelte. Erleichtert hob sie ihren Blick wieder. Es wunderte sie zwar, dass diese noch zu sehen waren, obwohl seit ihrem letzten Aufenthalt im Garten schon mehrere Stunden vergangen waren, aber bestimmt lag das einfach daran, dass der Schnee in diese windgeschützte Ecke nicht so gut vordringen konnte. Sie zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht und wickelte den Schal etwas enger, damit der eisige Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich hatte, dann umrundete sie in einem großen Bogen das Haus und kam schließlich zu dem schmalen Weg, der sie durch den Wald hindurch zum Haus von Nathans Freund Samuel führen würde. Sie hatte damit gerechnet, dass es dunkel sein wurde unter den großen Bäumen, in einer wolkenverhangenen Nacht. Doch der Schnee schien das wenige Licht wie magisch zu verstärken, sodass sich ihr ihre nähere Umgebung in einer beängstigenden Klarheit zeigte. Sie fürchtete die Dunkelheit, doch dieses mitternächtliche Grau, in dem die Umrisse der kahlen, schwarzen Bäume noch stärker hervorzutreten schienen, jagte ihr noch viel mehr Angst ein. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, so als könne sie dadurch alles Böse abhalten, und beschleunigte ihre Schritte. Eigentlich war es nicht weit bis zum Haus von Sams Familie, doch heute kam es Rachel so vor, als brauche sie Stunden. Sie atmete erleichtert auf, als sie endlich ein kleines Licht zwischen den finsteren Baumstämmen ausmachen konnte. Trotz all ihrer Ängste und Befürchtungen konnte sie das Gefühl der Freude nicht aufhalten, das in ihr beim Gedanken daran aufkeimte, Sam wiederzusehen. Seit ihrem Bruder der Umgang mit anderen verwehrt war, hatte sie nur einige wenige Male mit ihm gesprochen, und ihre Gespräche waren auch nie besonders intensiver Natur gewesen. Im nächsten Moment schämte sie sich dafür, den grausamen Mord an seinem Bruder als eine Gelegenheit zu sehen, in engeren Kontakt mit ihm zu treten. Um solche Dinge sollte sie sich wirklich erst sorgen, wenn all das hier vorüber war. Als Rachel endlich vor dem einen etwas verlotterten Eindruck machenden Haus stand, blieb sie ratlos stehen. Sie wusste weder, ob Sams Eltern zu Hause waren, noch wie sie sich bei den beiden Jungen bemerkbar machen sollte. Ihr Blick fiel wieder auf das beleuchtete Fenster, das sie schon aus der Ferne bemerkt hatte. Sie schlich näher heran und versuchte, einen Blick auf das Zimmer dahinter zu erhaschen, ohne selbst gesehen zu werden. Doch die Vorhänge waren vorgezogen und ließen nur das Licht durch, Rachel sah nicht einmal Schatten, die sich dahinter bewegten. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es bereits drei Minuten nach Mitternacht war. Möglicherweise hatten die beiden ihr einen anderen Eingang geöffnet. Da sah sie auch schon die Spur, die jemand vor ihr durch die dicke Schneedecke gepflügt hatte. Sie folgte ihr und gelangte zum Gartenzaun, über den sie klettern musste, da das Tor vereist war. Die Spur führte durch den Garten und um die Ecke des Hauses, wahrscheinlich zur Hintertür, die sich dort – wie Rachel vom letzten Treffen hier wusste – befand. Langsam dämmerte ihr, was sie eigentlich gerade tat. Es war kurz nach Mitternacht und sie schlich sich heimlich durch einen fremden Garten, den Garten einer Familie, deren ältester Sohn einen Tag zuvor von einem brutalen, skrupellosen Menschen umgebracht worden war. Nicht unbedingt das, was ein siebzehnjähriges Mädchen tun sollte, das noch viel vorhatte in seinem Leben. Aber wahrscheinlich trotzdem das einzig Richtige. Rachel verbannte all diese Gedanken so gut es ging aus ihrem Kopf, bevor sie mit klopfendem Herzen um die Ecke sah. Dort war niemand, nur der Schnee, der sein Bestes gab, ihr Licht zu spenden. Sie konnte sogar die Tür erahnen, die ihr einen Moment lang erschien wie der tiefe Schlund eines Monsters, das es gar nicht abwarten konnte, sie zu verschlingen. Doch Rachel wehrte sich tapfer dagegen, dass dieses Bild sich in ihrem Kopf einnistete und stapfte auf die Tür zu. Diese war tatsächlich nur angelehnt. Rachel schluckte und griff mit der Hand nach der Pistole ihres Vaters, die sie sich sicherheitshalber in die Innentasche ihrer Jacke gesteckt hatte. Sie war sich zwar sicher, nicht damit umgehen zu können, aber die Waffe, deren Kälte sogar ihre dicken Handschuhe zu durchdringen schien, gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Der Flur, den Rachel durch die Hintertür betrat, war dunkel, doch sie konnte den schmalen Lichtstreifen ausmachen, der durch die geöffnete Tür aus Sams Zimmer auf den Boden fiel. Rachel lauschte. Es war nichts zu hören außer dem leisen Pfeifen des Windes vor der Tür. Ob die beiden bemerkt hatten, dass sie da war? Sams Eltern sollten es jedenfalls nicht merken, daher gab Rachel sich die größte Mühe, leise zu sein, als sie über den Flur schlich. Dann, endlich, öffnete sie die Tür, warf einen Blick in den Raum. Und schrie. Sie musste ohnmächtig geworden sein, denn als sie die Augen öffnete, lag sie auf dem Boden, zur Hälfte auf dem Teppich in Sams Zimmer, zur Hälfte auf den kalten Fliesen des Flurs. Ihr Kopf schwirrte, sie konnte nicht sagen wovon: vom Sturz oder von dem Bild, das sich, obwohl sie es nur ganz kurz gesehen hatte, in ihre Netzhaut eingebrannt zu haben schien? Mutig hob sie den Kopf und ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern, in der Hoffnung, dass es nur Einbildung gewesen war. Doch dort lag er noch immer, Nathan, in einer widernatürlichen Position, mit Stacheldraht zu einem abscheulichen Paket verschnürt. An den Stellen, an denen die scharfen Kanten in seine Haut schnitten, war Blut ausgetreten, das aber inzwischen schon getrocknet war. Doch sogar der tiefe Einschnitt an seinem Hals, der wohl zu seinem Tod geführt hatte und um den sich bereits eine Blutlache gebildet hatte, jagte Rachel nicht halb so viel Angst ein wie die Augen ihres Bruders. Sie waren weit aufgerissen, aber eher vor Überraschung als vor Angst. War der Täter jemand gewesen, den er kannte? Rachel wandte sich von ihm ab und richtete sich auf, als sie bemerkte, dass sie noch immer auf dem Boden lag. Da ihre Beine sich nicht so anfühlten, als würden sie ihre Last tragen können, setzte sie sich nur auf, den Rücken gegen den Türrahmen gelehnt. Sie schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus. Ein, aus, ein, aus... Sie öffnete die Augen wieder und ihr Herz wäre fast stehen geblieben. Dort stand etwas an der Wand. Einen furchtbaren Moment lang dachte sie, es wäre mit Blut geschrieben worden, doch scheinbar war es nur rote Kreide, jedenfalls lag ein Stück davon vor der Wand auf dem Boden. Als es zu Rachels vor Schock gelähmten Verstand durchdrang, was dort geschrieben stand, lief es ihr kalt den Rücken runter und sie schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht erneut laut loszuschreien, auch wenn sie wohl sowieso keiner hörte. Sie wünschte sich fast, dort würde eine Drohung stehen, etwas wie „Du bist als nächstes dran“. Wahrscheinlich hätte es ihr weniger Angst gemacht als das, was tatsächlich dort stand. Alles wird gut. Diese Situation zusammen mit dem Gedanken, dass dadurch irgendwas besser werden könnte, überhaupt die Verbindung zum Wort gut waren es, die Rachel davon überzeugten, dass hier ein Geisteskranker am Werk war. Natürlich, die Leiche war in Stacheldraht gewickelt, aber ohne diese Schrift wäre sogar der Effekt einer solchen Tat geschmälert, wäre dieser Mord nicht anders als die dreizehn im letzten Jahr. Rachel schloss die Augen und nahm sich vor, sie nicht wieder zu öffnen, bevor sie nicht ihre Gedanken geordnet hatte. Dort lag ihr Bruder tot auf dem Boden, im Haus seines besten Freundes, mit dem er sich eigentlich treffen wollte. Seine Eltern waren nicht zu Hause, denn sie hätten sie sicherlich schreien gehört. Und diese Schrift an der Wand war definitiv noch nicht dort gewesen, als Rachel den Raum betreten hatte. Das bedeutete, dass der Mörder, während sie ohnmächtig gewesen war, das Zimmer betreten und diese Nachricht geschrieben hatte. Demnach war es erstens sie, Rachel, für die alles gut werden würde, was auch immer das bedeuten mochte. Und zweitens – erst jetzt wagte sie es, diesen Gedanken zu Ende zu denken – konnte der Mörder ihres Bruders noch nicht weit sein, möglicherweise befand er sich sogar noch im Haus. Das ließ das letzte Fünkchen Mut erlöschen, das noch in ihr gebrannt hatte, und die ersten Tränen bahnten sich den Weg ihre Wangen herab. Sie begann zu schluchzen und versuchte auch gar nicht erst, dies zurückzuhalten. Der Mörder wusste, wo sie war und wenn er sie töten wollte, dann konnte er es tun. Und jemand anders würde sie hier, in einem verlassenen Haus mitten im Wald, wohl kaum hören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)