Warten auf Vanya von Niekas ================================================================================ Kapitel 7: Sem -------------- Als sie das Haus erreichten, dämmerte es schon. Es war eigenartig, dachte Natalia, wie fremd das vertraute Haus ihr plötzlich schien. Bisher war es ein Gefängnis gewesen, aber jetzt war sie entkommen. Sie hatte bereits gewonnen. Sie hatte Ivan. „Sollen wir die Vorder- oder die Hintertür nehmen?“, fragte sie. Ivan legte den Kopf schief. „Die Hintertür“, entschied er. „Ist jemand da, um das Haus zu verteidigen?“ Natalia runzelte leicht die Stirn und schüttelte den Kopf. „Toris ist zu schwer verletzt dafür. Raivis ist zu klein, und Eduard habe ich niemals eine Waffe halten sehen. Sonst ist da nur noch Katyusha.“ Ivans Augen leuchteten auf. „Katyusha“, murmelte er versonnen. „Ja“, sagte Natalia und schob die Finger in seine große Hand. Er blinzelte sie überrascht an, gluckste dann aber nur leise und ging weiter. Sie liefen hinter einigen Büschen, um vom Haus aus nicht so leicht zu sehen zu sein. Als sie nur noch ein paar Meter von der Hintertür entfernt waren, fiel Natalia die kleine Gestalt auf, die auf den drei Stufen vor der Tür hockte. „Raivis“, zischte sie und blieb stehen. „Wer?“ „Das ist Raivis.“ Ivan betrachtete ihn zwischen den Zweigen hindurch. „Er sieht niedlich aus“, sagte er amüsiert. „Wahrscheinlich soll er Wache halten.“ „Was für einen Sinn hat es, eine Wache aufzustellen, wenn sie sich bei einem Angriff sowieso nicht verteidigen können?“ „Man kann nie wissen“, sagte Ivan und legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. „Er ist ein kleiner Junge. Kannst du dir etwas ausdenken, um ihn abzulenken, damit wir unbemerkt vorbei kommen?“ „Glaubst du, das ist nötig?“ „Die Sache ist am einfachsten, wenn wir sie überraschen. Man weiß ja nie, was für unvernünftige Dinge Leute in aussichtslosen Situationen tun.“ Natalia runzelte die Stirn, aber wenn Ivan es sagte, musste es ja stimmen. Ein Lächeln zog über ihre Lippen. „Ich glaube, ich weiß etwas.“ „Sehr gut“, sagte Ivan zufrieden. „Ich gehe allein. Komm erst, wenn ich dir winke.“ „In Ordnung.“ Er verließ sich auf sie, dachte Natalia, während sie aus den Büschen heraus trat und sich auf den Weg in Raivis' Richtung machte. Es war ein großartiges Gefühl, etwas zu tun und Ivan in ihrem Rücken zu wissen. Solange er da war, konnte ihr nichts passieren. Und wenn sie ihre Sache gut machte, würde er stolz auf sie sein. Raivis hob den Kopf und blinzelte sie an, als sie vor ihm stand. „Hallo, Natalia“, sagte er verblüfft. „Hallo, Raivis“, erwiderte sie und versuchte, freundlich zu klingen. Sie wusste nur nicht recht, wie sie das anstellen sollte, weil sie es kaum jemals ausprobiert hatte. „Was machst du denn hier?“ „Ich halte Wache. Sobald jemand kommt, sage ich es Toris.“ Natalia zuckte bei der Erwähnung seines Namens leicht zusammen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. „Aha. Und was will er dann tun?“ Raivis zog betrübt die Schultern hoch. „Ich weiß es nicht. Er hat gesagt, wenn Feliks tot ist, dann will er auch...“ Er verstummte. Natalia zog die Augenbrauen hoch. „Dann will er auch...?“ „Das weiß ich nicht. Er hat nicht weiter gesprochen.“ Raivis hob zaghaft den Kopf. „Aber Feliks ist doch nicht tot, oder?“ Natalia zog es vor, darauf nicht zu antworten. „Stell dir vor, was passiert ist, Raivis“, sagte sie stattdessen und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinunter. „Ich habe jemanden mitgebracht.“ „Wen denn?“ „Vanya.“ Raivis sah sie mit großen Augen an. Dann zog ein breites Lächeln über sein kleines Gesicht. „Er ist wirklich da?“ „Ja.“ „Und wird er uns mitnehmen?“ „Das wird er. Er ist hier, Raivis. Soll ich ihn rufen?“ Raivis nickte stürmisch, doch plötzlich hielt er inne. „Aber eigentlich hat Toris sich ja entschuldigt“, murmelte er. „Er hat gesagt, es tut ihm Leid, dass er wenig Zeit für mich hatte. Und er wird alles wieder gut machen, sobald er gesund ist und alles wieder gut wird.“ Da kannst du lange warten, hätte Natalia gern gesagt, aber das stand außer Frage. Hastig versuchte sie, sich etwas anderes auszudenken. „Aber... aber es kann doch nicht schaden, noch einen Bruder zu haben, oder?“ „Noch einen Bruder?“ „Toris und Vanya könnten doch beide deine Brüder sein, oder?“ Raivis überlegte einen Moment lang, doch das Strahlen auf seinem Gesicht ließ kaum noch einen Zweifel, wofür er sich entscheiden würde. „Also bist du einverstanden? Willst du, dass Vanya dein Bruder wird?“ Noch immer lächelnd nickte Raivis. „Soll ich ihn mal holen?“ Wieder ein begeistertes Nicken. Zum Sprechen war Raivis offenbar zu aufgeregt. Natalia lächelte süßlich, drehte sich um und winkte Ivan, der aus dem Gebüsch kam. Einige Zweige knackten. „Du bist Vanya?“, fragte Raivis mit großen Augen. „Ja.“ „Du bist aber ganz schön groß.“ „Er ist ja auch dein großer Bruder.“ „Bruder?“, fragte Ivan perplex. „Ja“, erklärte Natalia hastig. „Raivis möchte dein Bruder sein. Du hast doch nichts dagegen?“ Verblüfft sah Ivan hinunter zu Raivis, lachte dann laut auf und nahm ihn kurzerhand auf den Arm. „Was sollte ich dagegen haben? Er ist so niedlich!“ „Nicht so laut!“, zischte Natalia. „Wenn sie uns hören, war alles umsonst.“ Ivan nickte und gluckste nur noch leise in sich hinein, während er Raivis wieder absetzte. In Wahrheit war es Natalia herzlich egal, ob die anderen sie hörten. Sie mochte es nur nicht, zu sehen, wie gut Ivan und Raivis sich verstanden. Sie konnte Raivis immer noch nicht ausstehen, und Ivan war immer noch ihr Bruder. Was war nur in ihn gefahren? „Gehen wir?“, fragte sie ungeduldig. „Ja“, sagte Ivan sorglos. Raivis lief neben ihm her und stolperte einige Male fast, weil er noch damit beschäftigt war, ihn neugierig anzusehen. Sie betraten das Haus und stiegen die Treppe hinauf. „Bist du jetzt mein großer Bruder?“ „Aber ja. Das habe ich doch schon gesagt.“ „Ich habe noch einen großen Bruder, Toris. Ich dachte, er mag mich nicht mehr, aber jetzt mag er mich doch.“ „Wie könnte man dich auch nicht mögen?“ „Ich weiß nicht. Aber ich freue mich, dass ich jetzt zwei große Brüder habe. Toris und dich.“ „Ich freue mich auch. Heute morgen hatte ich gedacht, ich hätte eine Schwester oder höchstens zwei, und jetzt habe ich sogar noch einen Bruder dazu bekommen! Es ist so schön, eine Familie zu haben.“ „Finde ich auch.“ „Und du bist ohne Zweifel der niedlichste kleine Bruder, den ich je hatte.“ „Er ist der einzige kleine Bruder, den du je hattest, Vanya“, sagte Natalia streng. „Aber er ist trotzdem der niedlichste“, entgegnete Ivan zufrieden und fuhr Raivis mit der freien Hand durch die Haare. Natalia knirschte mit den Zähnen. Wie die Turteltauben. „Sie sind alle in Toris' Zimmer“, sagte Raivis zu Ivan. „Eduard und Yekaterina und Toris.“ „Und wo ist das?“ „Diese Tür“, antwortete Natalia knapp und deutete auf die Tür am Ende des Flurs. „Sehr gut“, sagte Ivan und betrachtete sie nachdenklich. „Ich werde reingehen“, erklärte er und griff wieder nach dem Bajonett, das über seinem Rücken hing. „Ihr beide bleibt dicht hinter mir.“ „Alles klar“, sagte Natalia. „Was machst du?“, fragte Raivis verwirrt. Natalia verdrehte die Augen, griff nach seinem Arm und zog ihn neben sich neben die Tür. „Lass Vanya einfach machen“, zischte sie. „Was denn machen?“ „Es wird schon richtig sein. Vertraust du ihm nicht?“ Ivan warf ihnen einen letzten Blick zu. „Da steht ihr gut“, sagte er und nickte. Dann griff er nach der Türklinke und stieß die Tür auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)