Zeitlos -♠- von TommyGunArts (100 Storys -1-) ================================================================================ Kapitel 21: Doch dieses Mal war es anders -1- --------------------------------------------- Es war eine kühle Nacht gewesen. Und eine lange. Der achtundvierzig Jahre alte Pete O´Neil rieb sich müde die Augen. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück und streckte seine Arme und Beine aus. Sechs quälende Stunden hatte er den Papierkram bearbeitet und nun war er vollends erschöpft. Ausgelaugt. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als ein wenig zu schlafen. Doch immer wenn er die Augen für einen Moment schloss, tanzten grausame Bilder in seiner Gedankenwelt, die ihn am Einschlafen hinderten. Sie überkamen ihn urplötzlich und nahmen ihm alle Ruhe. Und auch dieses Mal schossen ihm wieder diese Bilder in den Kopf. Diese Bilder… Diese Bilder von Christopher Doyle, der in dem elektrischen Stuhl saß, mit diesem emotionslosen Blick. Wie er Pete ansah, als wollte er ihm damit sagen, dass es nur seine Schuld war. Und dann öffnete er den Mund und flüsterte: »Ich danke dir, Pete.« Pete riss die Augen auf. Das durfte nicht wahr sein! Nicht einmal jetzt konnte er sich ein wenig ausruhen, wo er doch ein wenig Zeit dafür gehabt hätte. Es ließ ihm einfach keine Ruhe. Christopher ließ ihm einfach keine Ruhe. Pete musste sich eingestehen, dass er Angst vor dem heutigen Tag hatte, denn heute war Christophers letzter Tag. Und Pete würde es zu Ende bringen müssen. Schnell schüttelte er diesen Gedanken ab. Zumindest versuchte er es. Es schmerzte ihn zu sehr, daran zu denken, wie es enden würde. Schließlich waren Christopher und er im Laufe der Jahre, die er in diesem Todestrakt verbracht hatte –und Chris war schon etliche Jahre dort- gute Freunde geworden. Eine etwas merkwürdige und eigentlich nicht erlaubte Freundschaft zwischen Gefängniswärter und Sträfling, aber Pete war es immer egal gewesen. Er persönlich hielt Christopher sogar für unschuldig. Leider hatte das Gericht ein anderes, schrecklicheres Urteil gefällt. Lange, unendlich lange hatte Chris auf den Moment seiner Erlösung warten müssen, aber in wenigen Stunden sollte dieser gekommen sein. Pete hatte den elektrischen Stuhl selbst „hergerichtet“, damit sein Freund am Abschluss seines Lebens wenigstens keine Schmerzen, aufgrund von technischen Defekten, erleiden musste. Wenigstens das hatte er tun können. Pete ließ den Kopf in seine Hände fallen und wischte sich die Tränen weg, die sich ungefragt über seine Wangen schlichen. Er durfte jetzt nicht schwächeln! Er musste stark sein. Außerdem hatte er doch schon einige Menschen auf den elektrischen Stuhl gebracht und sie dort verenden sehen. Doch dieser Gedanke änderte nichts daran, dass es dieses Mal anders war. Ganz anders… Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: 05:30Uhr. In ein paar Minuten geht die Sonne auf, dachte er und erhob sich langsam und schwermütig. Und in zwei Stunden geht Christophers Sonne für immer unter. Einfach so. Plötzlich überkam ihn Übelkeit. Der Raum begann sich zu drehen und von ihm fortzubewegen. Mit einem Mal fühlte er sich allein. Verwirrt strich er sich durch die Haare und blinzelte heftig. Sein Arbeitszimmer nahm wieder seine normale Form an und hörte auf sich zu drehen. Doch genau in diesem Augenblick überkam Pete das Bedürfnis zu Chris zu gehen, auch wenn es ihm strengstens untersagt war. Aber das kümmerte ihn nicht im Geringsten. Er nahm den großen, silbernen Schlüssel vom Schreibtisch und ließ ihn in seiner Hand klimpern, während er sein Büro verließ und durch den grauen Korridor ging. Dieses Geräusch dröhnte laut in seinen Ohren, doch er beachtete es nicht. Auch der Korridor erschien ihm sehr viel länger als gewöhnlich, doch auch das versuchte er zu ignorieren. Ohne Vorwarnung breitete sich etwas für ihn unbekanntes in seinem Kopf aus. Es war nicht die Leere oder die Verzweiflung, nicht die Angst oder die Traurigkeit, die ihm in diesem Moment so zu schaffen machten. Natürlich wollte er nicht, dass Chris sein Schicksal ereilte, doch er wusste auch, dass er niemals mehr normal leben könnte, selbst wenn er unerwarteter Weise doch noch eine Begnadigung erhielt. Nein, nicht nachdem er Jahrelang in diesem Trakt gesessen hatte. Doch das war es nicht, was Pete nun so bewegte. Vielmehr fragte er sich, was er sagen sollte, wenn er Christophers Zelle betrat. Sollte er ihm Mitleid schenken, oder ihm ein paar aufmunternde Worte entgegen bringen? Sollte er kalt bleiben und ihm bloß den Fakt nennen, dass er in zwei Stunden nicht mehr existieren würde? Oder sollte er ihm Hoffnungen machen, dass es im Himmel für ihn besser sei? Er wusste nicht was das Beste war oder ob er überhaupt die Möglichkeit hatte etwas Treffendes zu sagen. Etwas Richtiges… Er wusste es nicht. Und auch, als er vor Christophers Zellentür angelangt war, wusste er es nicht. Er atmete tief durch und versuchte sich zu konzentrieren. Vergeblich. Alles was seine Gedanken beherrschte waren diese Bilder. Diese grausamen Bilder, die ihn einfach nicht nachdenken ließen. Es war ihm unmöglich herauszufinden, was er sagen konnte, was er sagen sollte. Er schüttelte seinen Kopf und hoffte, dadurch die Bilder abschütteln zu können, doch noch immer sah er Christopher auf dem elektrischen Stuhl vor sich. »Was ist nur los mit dir?«, fragte er sich selbst und biss sich auf die Unterlippe um einen Tränenausbruch zu verhindern. »Reiß dich verdammt nochmal zusammen!« Noch einmal atmete er langsam ein und aus und steckte dann den Schlüssel ins Schloss. Doch sein Herzschlag beschleunigte sich plötzlich, als er den Schlüssel umdrehte. Was soll ich sagen? Was kann ich sagen? Was… In seiner Kehle breitete sich Trockenheit aus und er begann leicht zu zittern, als er vorsichtig die schwere Tür öffnete. Reiß dich zusammen! Sag einfach das, was dir gerade in den Sinn kommt! Sag das, was du in Christophers Situation hören wollen würdest! Und… »Und tu gefälligst das Richtige!«, ermahnte er sich selbst mit scharfem Ton. »Bitte tu das Richtige, Pete.« Dann betrat er die Zelle seines Freundes. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)