Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 34: ------------ „Mademoiselle, ist ihnen aufgefallen das sie uns noch immer verfolgt?“ Galux nickte nachdenklich. Bei diesen Worten drehte sich Tyson vorsichtig um. Er hielt Kai auf dem Arm, denn das Kind war im Angesicht der vielen Geister, nur noch am Zittern. Für ein so junges Gemüt, war diese Situation einfach zu viel. Er tätschelte ihm mitfühlend über den Rücken, was Kai damit quittierte, dass er seinen Kopf beschämt in seiner Halsbeuge vergrub und die Augen schloss, um den Anblick um ihn herum nicht ertragen zu müssen. In solchen Momenten fiel es Tyson schwer, ihn sich noch als Erwachsen vorzustellen, denn diesen Verhalten passte wirklich zu seinem Aussehen – ein Kind was die Augen zukniff, um das Grauen nicht zusehen. Als die Gruppe inzwischen hinter sich spähte, erhaschten sie tatsächlich die gesichtslose Geistergestalt dort. In einem weiten Abstand flackerte sie vor sich her. Allegro hatte vermutet, dass sie ohne Augen bald vom Weg stürzen würde, doch seltsamerweise schritt sie äußerst souverän voran, als sei sie gar nicht blind. Bisher konnten sie sie auch nicht abschütteln, stattdessen folgte sie ihnen, mit ihrem fließenden Kleid, das ebenso wie der Körper, in einem sanften Licht getaucht war. „Ist sie eine Verdammte?“ „Ich bin mir nicht so sicher. Auch unter den Geistern gibt es viele Unterschiede und nicht alle sind mir geläufig. Um ehrlich zu sein, ist mir dieses Geschöpf ein Rätsel. “, sprach Galux langsam, als würde sie ihre Wortwahl sorgfältig abwägen. Sie wandte den Kopf zu dem Gespenst und beäugte es argwöhnisch. „Sie schreitet viel zu sicher, als würde sie von einer inneren Intuition geleitet werden, selbst ohne ein Gesicht. So etwas habe ich auch noch nie erblickt.“ „Sie hat Ming-Ming abgeschüttelt.“ „Nein. Sie hat sie besänftigt. Das ist etwas weitaus mächtigeres. Dieses Mädchen war erst vor kurzem verstorben und mit der Situation überfordert. Vielen Menschen ergeht das so, vor allem wenn ihr Tod zu plötzlich kam. Die ersten Tage hier unten, irren sie über die Wurzeln, ohne zu wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Manche fürchten sich sogar vor ihren Leidensgenossen, weil sie nicht begreifen, dass sie selbst, auch bereits zu ihnen gehören. Durch ihre sanfte Art, hat dieser Geist das Mädchen aber getröstet. Womöglich hat sie ihr Schicksal nun akzeptiert und sich auf den Weg zu ihrem Jenseits gemacht…“ Galux hielt einen Moment inne und blickte zurück. Die gesichtslose Gestalt blieb ebenfalls stehen, als würde sie einen Sicherheitsabstand zu ihnen halten wollen. Eine Hand lag auf ihrer Brust und offenbar schien sie jeden von ihnen genau zu beobachten, auch ohne Augen – bis sich ihre Finger erhoben. Tyson sah Max neben sich den Gruß unsicher erwidern, bis Ray ihm mit den Ellbogen einen Stups gegen die Rippe verpasste. „Du musst nicht mit allem flirten was dir unter die Augen kommt!“ „Mache ich doch gar nicht.“, maulte er beleidigt. Max zuckte mit den Schultern und murmelte vor sich her, dass er nur nett sein wolle, dabei grub er die Hände schmollend in die Taschen seines Overalls. „Ich weiß mir nicht zu helfen, doch dieser Geist kommt mir keinesfalls verwirrt vor. Es scheint viel Verstand in ihr zu stecken.“, sprach Galux ernst. „Zumal sie in einem anderen Licht leuchtet. Der Glanz in jenem sie strahlt, ist jener der Seelen, die kurz davor standen, sich von allem irdischen abzukapseln. Sie muss bereits auf dem Weg in ihr Jenseits gewesen sein… Bis sie etwas davon abgehalten hat.“ „Womöglich ist es ein Hinterhalt.“, Allegro verschränkte auf Rays Schulter die Ärmchen vor der Brust und legte den Kopf argwöhnisch auf die Seite. „Sie könnte uns etwas vorgaukeln, um dann zuzuschlagen, sobald wir Vertrauen zu ihr fassen.“ „Womöglich…“, kam Galuxs Antwort. Ihre Augen wurden zu Schlitzen. Die Seele faltete sittsam die Hände vor sich und blickte schweigend in ihre Richtung. „Ich mag sie.“, gestand Kai leise ein. „Sie ist nicht so böse wie die Anderen.“ Es ließ ein belustigtes Schmunzeln die Runde machen. „Dennoch müssen wir vorsichtig bleiben.“, ermahnte Mariahs Bit Beast die Gruppe streng. „Lasst uns weitergehen. Sollte sie weiterhin nicht von uns ablassen, werde ich sie uns zur Not, mit Gewalt vom Halse schaffen.“ Tyson nickte und wandte dem Gespenst den Rücken zu. Es passte ihm ganz und gar nicht, sie hinter sich zu wissen. Dennoch wurde auch er das Gefühl nicht los, dass diese Seele anders gestrickt war. Als sie weiterschritten, bemerkte er, dass sie tatsächlich immer dann anhielt, sobald sie drohte, ihnen zu nahe zu treten. Es trennten sie stets mehrere Meter, als wäre es nicht ihre Absicht, die Gruppe mit ihrer Anwesenheit zu verängstigen. Irgendwann gesellte sich plötzlich ein weiterer Geist zu ihr. Dieses Mal allerdings wieder im fahlen grauen Licht. Sofort fühlte Tyson, wie Kai sich auf seinen Armen verkrampfte, doch da ging die gesichtslose Seele auch schon dazwischen, um ihren jammernden Leidensgenossen von einer Verfolgung abzubringen. Galux hielt es daher nicht für nötig einzuschreiten. Es nahm so viel Zeit in Anspruch, dass die beiden Geister, irgendwann aus ihrem Sichtfeld verschwanden und von der Dunkelheit hinter ihnen verschluckt wurden. „Na also.“, sprach Allegro anerkennend und nickte. „Wir sind sie los.“ „Wo sie herkommt gibt es genug andere.“ „Aber Mademoiselle… Ich muss doch bitten! Woher dieser düstere Pessimismus?“ „Ich kann erst sicher sein, meine Pflicht erfüllt zu haben, wenn wir die Jungen wieder hinaus geführt haben.“, seufzte Galux. Sie kam Tyson etwas betrübt vor. Womöglich dachte sie an Driger, der sich so aufopferungsvoll für sie einsetzte. Es hätte ihn auch brennend interessiert, ob der Kampf noch immer zwischen den beiden Uralten anhielt. Dabei wurde ihm bewusst, dass er sich eines Versäumnisses schuldig gemacht hatte. „Bei all den Turbulenzen, konnte ich dir noch gar nicht für deine Hilfe danken.“ „Für Danksagungen ist es noch verfrüht.“ „Ich finde nicht. Allein deine Unterstützung ist mehr als wir erwartet haben. Seit wir hier sind, habe ich den Glauben an Bit Beasts verloren, aber euer beider Rückgrat gibt ihn mir doch irgendwie wieder zurück.“ Ray und Max schauten stillschweigend auf den Weg. Es war wohl eine Sache die auch ihnen durch den Kopf ging. „Du gehst hart mit euren Bit Beasts ins Gericht.“ „Wundert dich das?“ „Ja. Denn gerade weil Dragoon mit dir so erbarmungslos gegen dich vorgeht, hätte ich angenommen, dass du dich mit vorschnellen Unterstellungen zügelst.“ Tyson hielt wie vom Donner gerührt inne. „Was soll das heißen?“ Auch Galux blieb nun stehen. Ihre saphirgrünen Pupillen musterten ihn wissend. „Es gibt einen Grund, weshalb eure Bit Beasts euch ausgesucht haben. Das waren genau jene Worte, die du Driger gesagt hast, als du ihn davon überzeugt hast, Ray zu euren Gunsten, von seinem Fluch zu befreien.“ Irritiert blinzelte Tyson sie an. „Ich verstehe nicht worauf du hinaus willst…“ „Ich schon.“, zischte Max - überraschend abfällig. „Sie will damit sagen, dass wir unseren Bit Beasts ähnlich sind. Sowohl in ihren guten, als auch in ihren negativen Seiten.“ Er taxierte Galux anklagend. „Und weißt du was? Ich halte das für absoluten Mist, also lass von solchen üblen Vergleichen ab! Ich bin keineswegs wie Draciel! Mir würde niemals in den Sinn kommen, jemand anderes Mutter zu töten, nur um mich zu rächen.“ „Draciel hat lediglich auf Dragoons Anweisung gehandelt. Es tritt kaum von alleine in Aktion.“ „Das ist keine Entschuldigung!“ „Aber so ist Wasser nun einmal. Es folgt jenen Bahnen, die sich ihm ergeben. Dragoon hat nichts anderes getan, als den Flusslauf zu ändern und Draciel hat jene Richtung eingeschlagen, die sich auftat.“ „Ein äußerst poetischer Vergleich.“, sinnierte Allegro. „Ihr wollt blödsinnige Vergleiche? Na was ist dann mit einem Tsunami?“, fragte Max ziemlich giftig. „Da ist Wasser auf einmal nicht mehr so teilnahmslos, nicht wahr?“ „Durchaus nicht… Doch ist ein Tsunami eine Ursache, oder nur eine Folgeerscheinung?“ Einen Moment wurde es ruhig. Tyson versuchte zu verstehen, was Galux ihnen mitteilen wollte. Er dachte an die letzte Dokumentation, die er nach der vergangenen Tsunamikatastrophe verfolgt hatte. Demnach entstanden diese Monsterwellen erst, in Folge einer Erschütterung, wie beispielsweise einem Erdbeben. Also war es eigentlich nur eine Folgeerscheinung. Er spann den Gedanken weiter und tatsächlich - da waren Parallelen. Wenn ein Bit Beast wirklich sein Element verkörperte, handelte es dann vielleicht auch dementsprechend? Er blickte zu Max. Wenn ihre Bit Beasts ihnen tatsächlich ähnelten… Es ließ sich nicht abstreiten, dass auch er sich gerne mit Vorliebe, von ihrer Gruppe mitreißen ließ. Max war kein wirkliches Alphatier. Vielmehr ließ er die anderen die Entscheidungen fällen und fügte sich der breiten Masse. Deshalb verbrachte Tyson auch so gerne Zeit mit ihm. Es war ziemlich einfach ihn für etwas zu begeistern. Wie eine Welle die vom Wind aufgepeitscht wird… Als ihm klar wurde, welche Rolle er dabei spielte, musste er schlucken. „Heißt das, dass der Charakter eines Uralten, sich aus seinem Element ergibt?“, stellte Ray jene Frage, die auch ihm durch den Sinn ging. Das Bit Beast seufzte. „Das euch das nicht schon früher klar war… Ward ihr all die Jahre tatsächlich so blind?“ Etwas ratlos schüttelte er darauf den Kopf. „Natürlich haben wir uns gedacht, dass unsere Bit Beast etwas mit den Elementen zu tun haben. Aber wir haben nicht gewusst, dass sie dieses Element so stark verkörpern – mir zumindest war das nicht so klar. Ich konnte ja nie wirklich mit Driger sprechen. Eine richtige Unterhaltung, von Angesicht zu Angesicht, hatte ich erst hier mit ihm.“ „Sie verkörpern ein Element nicht nur. Sie sind dieses Element. Mit Haut und Haaren. Durch ihre Venen fließt kein Blut, sondern Erde, Feuer, Wasser oder Luft.“ Galux blickte in die Runde. „Es ist doch eigentlich recht simpel. Wenn ihr den Elementen einen Charakter zuschreiben müsstet, welcher wäre das? Findet das heraus und ihr werdet viel über euch selbst lernen. Denn eines muss euch klar sein – selbst wenn euch diese Wahrheit noch so sehr missfällt – ihr seid jene Geschöpfte, die den Uralten am ähnlichsten sind. Deshalb haben sie euch ausgesucht. Deshalb wurdet gerade ihr Vier ihre Menschenkinder! Ich kann verstehen, wie ein Bit Beast in jenem Moment fühlt. Als ich meine Mao fand… da war es für mich, als würde ich in einen Spiegel blicken, der mir meine eigene Seele offenbart.“ Es wurde schlagartig ruhig, denn niemanden von ihnen ließ diese Überlegung los. Selbstverständlich hatte Tyson geahnt, dass Dragoon etwas mit dem Wind zu tun hatte, doch daraus Schlüsse auf dessen Charakter zu ziehen - dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen. Er sinnierte darüber, wie er den Wind beschreiben würde. Stürmisch, aufbrausend, wild, nicht zu bändigen, einfach unkontrollierbar. Weit oben im Himmel und unnachgiebig gegen alles, was sich unter ihm befand. Störrisch pfiff er um die Bergspitzen, als wollte er sie zum Einsturz bringen, auch wenn dieses Unterfangen noch so zwecklos war und wenn er sich erst zu einer tosenden Windhose aufbäumte, ließ er einen mit Schrecken erkennen, wie winzig der Mensch im Angesicht seiner Kraft war. Tyson biss sich auf die Unterlippe bei diesem Gedanken. Es gab so viele negative Charakterzüge, dass es ihm merkwürdig vorkam, weshalb ihm das nicht schon eher in den Sinn gekommen war. Dragoon verhielt sich tatsächlich nur seinem Element entsprechend. Was ihn aber noch mehr missfiel, war, dass tatsächlich ein gewisser Wahrheitsgehalt in Galuxs Worten lag, was ihn selbst betraf. Allein in seiner Kindheit, hatte Hitoshi geradezu verzweifelt auf Tysons eigensinnige Art reagiert. Er sah seinen Bruder vor sich, wie er ihn, nach einer erneuten Prügelei in der Vorschule, abholte und streng mit den Worten bedachte: „Du bist viel zu aufbrausend! Lern endlich mehr Geduld zu haben. Ich kann nicht ständig Ausflüchte für deine große Klappe beim Direktor suchen. Hast du eine Ahnung wie anstrengend du bist?“ Hiro war wirklich verzweifelt gewesen, weil es nicht die erste und auch nicht die letzte Auseinandersetzung dieser Art war. Zudem musste er die Rolle ihres Vaters übernehmen, obwohl er doch selbst noch ein halber Junge war. Nach dem Tod ihrer Mutter, hatte der sich nämlich komplett in seine Ausgrabungen gestürzt – offensichtlich ein Versuch der trostlosen Stimmung im Haus zu entkommen. Sein Bruder hatte sich damals besorgt zu ihm herabgebeugt. „Ich weiß doch dass du im Grunde ein lieber Junge bist. Du hast das Herz wirklich am rechten Fleck. Aber wenn du so aus der Haut fährst, machst du es den Leuten schwer, mehr in dir zu sehen, als eine vorlaute, bockige Rotznase. Jetzt haben die Menschen um dich herum noch Mitleid mit dir, weil Mutter gestorben ist, aber bald wird dein Welpenschutz vorbei sein - und ihre Nachsichtigkeit wird dann in Ärger umschlagen!“ Hiro hatte seine Hände auf seine Schultern gelegt und seinen kleinen Bruder eindringlich gemustert. „Du musst geduldiger werden – und vor allem ruhiger. Deine stürmische Art wird dir sonst zum Verhängnis.“ Er war kein einfaches Kind gewesen… Tyson wusste noch, dass er trotz der gutgemeinten Worte, voller Zorn gedacht hatte, dass der andere Junge die Trachtprügel doch verdient habe. Am nächsten Tag geriet er wieder mit ihm aneinander und sein Großvater legte ihn dafür übers Knie, weil er seine Faxen einfach satt hatte. Erst dann lernte Tyson seine Lektion. Bei diesem Gedanken zog er nachdenklich die Brauen herab. Auch seine Freunde bemängelten ständig seine Ungeduld, seine trotzige Haltung und wie schnell er manchmal aufbrausen konnte. Diese Parallelen zu Dragoon, machten ihm irgendwie Angst. Schlagartig fragte er sich, ob tief in seinem Inneren, ebenfalls ein solches Monster versteckt lag. Er musste hart Schlucken, als ihm seine dritte Weltmeisterschaft in den Sinn kam. Daichi hatte damals gemeint, dass er sich wie ein kleiner Tyrann aufführte. Er erinnerte sich wieder, wie sehr ihn der Ausstieg seiner Freunde gekränkt hatte, wie er mit Vorwürfen geradezu um sich schlug – so wie Dragoon momentan. Damals hatte er auch alles daran gesetzt, seine ehemaligen Teamkameraden in die Schranken zu weisen, weil Tyson sich in seinem Stolz verletzt sah. In seiner blinden Wut, hatte er seinen Partner bis ans äußerste zur Höchstleistung drangsaliert und ständig in Daichi die Schuld, für sein eigenes Versagen gesucht. Genau wie Dragoon es jetzt tat! Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Er schloss einen Moment gequält die Augen und atmete schwer aus. Ihn beschlich das Gefühl, mit jeder Sekunde in dieser Welt, einen neuen Eindruck von sich selbst zu gewinnen. Eine versteckte Seite, die tief unter der Oberfläche lauerte und nun zutage befördert wurde. Erst wurde ihm klar, wie unnatürlich weit seine Gefühle zu Kai reichten, nun auch noch, wie ähnlich er seinem Bit Beast im Grunde seiner Seele war. Mit beidem wusste er nicht so recht umzugehen und einmal mehr fragte er sich, wie es weitergehen sollte, wenn sie jemals aus der Irrlichterwelt herausfanden. War Dragoon wirklich sein Spiegelbild? Mit den Jahren war er doch reifer geworden… Oder etwa nicht? „Ich will das nicht hören!“, sprach Max inzwischen aufgebracht. Es ließ Tysons Blick zu ihm schnellen, denn diesen herrischen Ton kannte er kaum von ihm. „Mein Bit Beast hätte wissen müssen, dass man niemanden willkürlich ermordet! Mit Draciel lasse ich mich ganz bestimmt nicht auf eine Stufe stellen. Keiner kann mir nachsagen, dass ich Richtig von Falsch nicht unterscheiden kann!“ „Und doch sehe ich sehr viel Wasser in deiner Seele.“, entgegnete Galux nur ruhig. „Selbst jetzt, wo du dich so sehr dagegen sträubst, ähnelst du dem Meer. Deine Oberfläche mag klar und ruhig sein, doch in deinen Tiefen brodelt es, als würde dort ein unterseeischer Vulkan, die Wassermassen zum Kochen bringen.“ Bei diesen Worten trafen Max viele besorgte Blicke. Er trug den Tod seiner Mutter tatsächlich mit Fassung, doch wahrscheinlich nur, um ihnen in ihrer jetzigen Situation, nicht auch noch diesen Ballast aufzubürden. Er fügte sich der Gruppe zuliebe in sein Schicksal. Wie es unter dieser Fassade wirklich aussah, mochte keiner von ihnen sagen. Tyson beobachtete, wie mitleidig Ray ihn bedachte, bis Max mit einem verbissen Ausdruck den Kopf abwandte. „Ich bin nicht wie Draciel…“, stellte er erneut klar. Allerdings klang es eher, als müsste er sich selbst davon überzeugen. Tyson sah einen verräterisch Glanz in seinen Augen schimmern. „Lasst uns endlich weitergehen. Ich will einfach nur noch nachhause.“ „Max…“ „Hör auf Ray! Ich will nicht darüber reden.“, er drehte sich von ihnen weg. Tyson beschlich das Gefühl, dass er seine Tränen verbergen wollte. „Wo geht es lang?“ „Ich nehme an in diese Richtung, oder täusche ich mich Mademoiselle?“, Allegro deutete von Rays Schulter aus, auf die vor ihnen liegenden Abzweigung. Galux nickte auf seine Worte, da kam in Max auch schon Bewegung. Es war ziemlich unvorsichtig von ihm, die Vorhut zu bilden, wo er sich nicht gegen die Geister wehren konnte. Das musste auch Ray durch den Kopf gehen, denn er eilte ihm sofort hinterher, um nicht den Anschluss zu ihm zu verlieren. Auch Tyson schritt wieder voran, dennoch blieb er etwas zurück und sprach vorwurfsvoll an Galux gewandt: „Du hättest nicht in dieser Wunde bohren müssen.“ „Die Wahrheit kann schmerzvoll sein.“ „Er trauert aber noch! Da ist es grausam einen solchen Vergleich aufzustellen. Du stellst ihn damit auf dieselbe Stufe wie mit dem Mörder seiner Mutter.“ „Das habe ich nicht behauptet. Ich möchte lediglich, dass er weiß, dass ihre Wesen im Grunde nicht allzu verschieden sind.“ „Momentan ist das aber keine Hilfe.“ „Das er seinen Kummer zurückhält ist besser?“ Da war sich Tyson hingegen nicht so sicher. Er schaute nachdenklich auf die beiden Gestalten vor ihnen. Ray versuchte mehrmals ein Gespräch mit Max zu beginnen, doch er sah ihn nur unwirsch den Kopf schütteln, bis er wütend zischte, dass er nicht darüber reden wolle. Es tat weh ihm nicht helfen zu können. In einer anderen Situation hätte Tyson alles dafür getan, um Max von seiner Trauer abzulenken, doch hier unten, hatten einfach andere Dinge Vorrang. „Irgendwann wird sein Damm brechen.“, prophezeite Galux düster. „Wir können nur hoffen, dass es nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt geschieht. Denn dann werden seine Wassermassen alles vernichten, was sich nicht vor ihm retten kann.“ Damit schien für sie das Thema beendet. Sie tippelte wieder voraus, zwischen den beiden Menschen hindurch, um die Vorhut zu bilden. Einen Moment ließ sich Tyson diese Worte durch den Kopf gehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Max eine Bedrohung darstellen könnte. Dazu war er einfach zu friedliebend. Selten brach aus ihm ein böses Wort hervor. Womöglich dachte Galux auch einfach zu schwarz... „Warum ist Max so traurig?“, riss ihn Kais Frage aus seinen Gedanken. Tyson blickte auf das Kind in seinen Armen, das ihn verunsichert anblinzelte. „Erinnerst du dich an das blasse Katzenkind?“, stellte Tyson die Gegenfrage. Kai nickte. „Weißt du noch was sein Wolf ihm angetan hat?“ „Er hat ihm seine Katzenmama weggenommen.“ „Genau… und deshalb ist Max so traurig.“ Kais Oberkörper drehte sich zu den Gestalten vor ihnen. Er sah die großen Kinderaugen ihren Freund eingehend mustern. „Armes Katzenkind…“, flüsterte er mitleidig. Es ließ Tyson lächeln. Dieser Junge war purer Zucker. Jedoch kam ihm einmal mehr die Frage in den Sinn, wie dieses Kind nur zu einem so verschlossenen Erwachsenen heranreifen konnte. Er überlegte, ob Dranzer und Kai sich auch ähnlich waren. Zunächst sah er keinerlei Parallelen, bis ihm klar wurde, dass er das ganze vielleicht aus einem falschen Blickwinkel betrachtete. Vielleicht sollte er sich nicht auf Dranzer konzentrieren, sondern auf ihr Element, denn eigentlich wusste er kaum etwas über sie, um daraus Schlüsse auf ihr Wesen zu ziehen - zumindest keine guten Schlüsse. Tyson schaute nachdenklich drein. Er versuchte das Element Feuer zu charakterisieren. Warm, leidenschaftlich, temperamentvoll… Er mochte Kai zwar, doch das waren nicht wirklich Eigenschaften, die auf ihn besonders zutrafen. Nur spärlich kam sein Temperament durch und das obwohl Tyson sicher war, dass er wirklich mehr davon besaß, als er durchsickern ließ. Dazu war Kai aber viel zu sehr darauf aus, seine Haltung zu wahren - jedenfalls sein erwachsenes Abbild. Obwohl… Wenn Tyson darüber nachdachte, konnte Kai richtig schön aufleben, wenn man nur etwas hartnäckiger bohrte. Etwas verschmitzt dachte er an all die Male, in jenen er ihn absichtlich zur Weißglut trieb. Es war mit den Jahren zu seinem persönlichen Spiel geworden, weil es ihm gefiel, wenn er ihn aus der Reserve lockte. Tyson musste nur etwas aufdringlich werden, dann fühlte Kai sich schon auf den Schlips getreten. Allein wie seine Augen ihn dann anfunkelten. Sie wurden dann richtig stechend und mit einer diebischen Schadenfreude, hatte er dann beobachtet, wie seine Lippen sich trotzig verzogen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Feuer musste entfacht werden! Und er hatte das all die Jahre mit Vorliebe gemacht, wie Luft, die der Glut mit einem Fächer hinzugeführt wurde. Er konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie oft er diesen ähnlichen Vorwurf von Kenny zu hören bekam. „Du spielst mit dem Feuer! Bist du lebensmüde?! Warum machst du das?“, wollte der einmal von Tyson wissen, als Kai sich nach einer seiner Sticheleien zähneknirschend von ihnen abwandte. Er hatte darauf nur grinsend mit den Schultern gezuckt und geantwortet: „Na weil es Spaß macht!“ Kurz nach dieser Überlegung, biss sich Tyson auf die Unterlippe. Vielleicht war er tatsächlich ein wenig wie Dragoon. Der ging scheinbar auch keiner Konfrontation aus dem Weg. Langsam wurde ihm auch klar, dass Feuer doch sehr treffend für Kais Charakter sein könnte. Womöglich verhalf ihm diese Tatsache ihn besser zu verstehen. Vor seinem inneren Auge, stellte er sich die kleine Flamme einer Kerze vor, die wohlig warm in der Finsternis flackerte. Da stutze er auch schon. Kai besaß eine Begabung dafür, Licht ins Dunkel zu bringen. Während ihrer Zeit in einem Team, hatte Tyson nicht selten darüber gestaunt, wie schnell er die Antworten zu Problemen fand, die ihnen allen Kopfzerbrechen bereiteten. Er war äußerst scharfsinnig, ein Grund, weshalb er es wohl in seiner Karriere so weit gebracht hatte. Derlei Vorfälle wurden auch nach ihrer Zeit als Blader nicht weniger. Tyson begann den Gedanken weiter zu spinnen. Feuer konnte bedrohlich sein. Kai war verdammt gefährlich als Rivale. Das hatte er mehr als einmal zu spüren bekommen. Man mochte in der Arena noch so sehr aufpassen, aber ein unachtsamer Moment und man verbrannte sich an ihm die Finger. Wie eine heimtückische Stichflamme, die etwas in Brand steckte und ohne Rücksicht auf Verluste zerfraß. Als Kai nach der dritten Weltmeisterschaft, einfach so in die BEGA eintrat, war Tyson fassungslos über dessen Skrupellosigkeit gewesen. Er hatte nicht begriffen, wie er ihre Kameradschaft mit den Füßen treten konnte. Das ihm sein brennender Ehrgeiz wichtiger war, als das Band zu seinem Team. Er zog die Brauen nachdenklich zusammen. Das alles… Es passte wie die Faust aufs Auge! Hätte ihm das jemand eher erklärt, das kleine Rätsel, was jetzt so arglos in seinen Armen saß, wäre schon eher entschlüsselt worden. Er schielte zu dem Kind, was die finstere Umgebung um sie herum, inzwischen argwöhnisch beobachtete. Momentan war Kai nur eine kleine Flamme, die während eines Sturmes zu erloschen drohte, doch wenn die Gruppe ihre Hände schützend um ihn legte, flackerte sein Licht wieder ruhiger. Erneut stellte er sich die Kerze vor. Ihre Flamme mochte hell sein und einem ein sicheres Gefühl vermitteln, doch man konnte sich ihr nie gänzlich nähern, auch wenn sie noch so anziehend wirkte. Eine sichere Distanz musste gewahrt bleiben. Kai duldete ebenfalls keine Nähe. Als ob er sich davor fürchtete erstickt zu werden. Tyson atmete schwer aus, als ihn diese Eingebung traf, wenngleich ihn die Erkenntnis auch furchtbar traurig stimmte. Es bedeutete doch eigentlich nur, dass er niemals gänzlich an Kai herankommen könnte, auch wenn er sich noch so sehr bemühte. Er würde nie wirklich greifbar werden, denn Feuer konnte man nicht anfassen, lediglich aus der Ferne bewundern – so wie die Sonne. Er blieb unantastbar… Bei diesem Gedanken tat sein Herz einen unliebsamen Aussetzer. Seine Reaktion entsetzte ihn, denn wenn diese Vorstellung ihn schon so schmerzte, konnte er kaum noch leugnen, wie tief seine Zuneigung für Kai bereits ging. Tyson hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, wenn er wieder nachhause kam. Wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten? Er war noch nie gut darin seine Gefühle zu unterdrücken. Einen egoistischen Moment, formte sich der Wunsch in seinem Kopf, Kai möge seine Erinnerungen nie mehr zurückerlangen. Er wäre dann bestimmt nicht so von seinem Stolz zerfressen. Womöglich würde er so zutraulich bleiben, wie dieser wunderbare kleine Junge in seinen Armen – und Tyson besäße eine reelle Chance. Er drückte das Kind unbewusst fester, da riss ihn gerade dessen Stimme aus seinen Befürchtungen. „Jetzt schaust du auch traurig.“ Er blickte auf ein besorgtes Augenpaar herab. Sie blinzelten ihn voller Unwissenheit an. Ohne zu ahnen, dass sie der eigentliche Grund waren, weshalb seine gesamte Gefühlswelt, aus den gewohnten Bahnen sprang. „Tue ich das?“, er lächelte Kai an, um über sein aufwühlendes Innenleben hinwegzutäuschen. Ein leises Nicken war die Antwort. Der Kleine ließ sich nicht beirren. „Ja… Ganz traurig. Geht es dir nicht gut?“ „Es ist alles in Ordnung.“ „Lügst du?“, fragte das Kind geradezu arglos. Tyson seufzte leise. Kais Intuition war offensichtlich noch da. „Ich musste nur an etwas denken.“ „An was?“ „Das der graue Kater wohl nie richtig zahm wird.“ „Warum?“ „Weil es einfach seine Art ist. Er ist wie Feuer. Du kannst ihm niemals wirklich nahe kommen.“, er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme dabei etwas enttäuscht klang. „Wahrscheinlich wird er auch niemals dem blauen Kater richtig vertrauen. Weil er keinen an sich heranlässt…“ Kai blickte ihn lange an, total konfus ob dieser Wortwahl. Offensichtlich war dieser Vergleich zu komplex für seinen kindlichen Verstand, bis er unsicher die Arme um seinen Nacken schlang und den Kopf auf seine Schulter legte. „Aber Tyson… Ich bin doch hier.“, nuschelte er gegen seine Halsbeuge. Es ließ ihn verdutzt blinzeln. Kais Ärmchen drückten ihn fest an sich, als wollte er ihn mit aller Macht vom Gegenteil überzeugen. „Ich will doch gar nicht weg von dir.“ Es klang geradezu vorwurfsvoll. Als wäre Kai beleidigt, weil er ihm so etwas überhaupt unterstellte. Einen Moment blickte Tyson hilflos zu seinen Freunden. Noch immer versuchte Ray, Max in ein Gespräch zu verwickeln. „Ja. Jetzt vielleicht noch.“, antwortete er beklommen. Er besaß erhebliche Zweifel daran, dass ihre innige Beziehung noch lange anhielt. Sobald Kai erwachsen wurde, rechnete er damit, dass der ihn wieder mit kalter Gleichgültigkeit strafte. Die Vorstellung machte ihn fertig, weil er nicht wusste, ob er einfach so weitermachen könnte, wie vorher. „Nein.“, schüttelte das Kind jedoch trotzig den Kopf. „Niemals! Ich mag den blauen Kater. Er ist mein bester Freund. Ich will immer bei ihm bleiben.“ „Schon gut. Ich glaube dir ja.“, sprach Tyson. Obwohl er es nicht tat. Kai klang jedoch wie ein Junge, der sich fest vornahm, Feuerwehrmann zu werden, sobald er einmal groß wurde. Es ließ Tyson seufzen. Er würde seinen kleinen grauen Kater wirklich sehr vermissen. „Monsieur, du solltest da hinten wirklich aufholen!“, schreckte ihn Allegros Stimme auf einmal aus den Gedanken. „Sie ist wieder da.“ Als er hinter seinen Rücken spähte, war dort erneut eine fließende Lichtgestalt, die ihnen im sicheren Abstand folgte. * „Mir fallen gleich die Beine ab.“, meckerte Kenny. Er trat auf der Stelle um sich zu wärmen, und seiner Begleiterin, die gerade mit ihrem Notizblock aus einer Tankstelle kam, seine Verdrießlichkeit klar zu machen. „Außerdem ist mir kalt! Hätte ich geahnt das wir das Auto stehen lassen, hätte ich aus dem Keller noch meine Winterjacke herausgekramt.“ „Mir ist auch kalt.“, konterte Hana gleichgültig. „Es ist aber jetzt wie es ist.“ „Hast du wenigstens etwas erfahren?“ „Also da drinnen hatte ich endlich Glück.“, sprach sie mit einem siegessicheren Lächeln. „Der Besitzer hat sich an die beiden erinnert, weil das Mädchen beinahe in die Einfahrt gerannt wäre, obwohl gerade ein Auto dort hinein wollte. Der Fahrer hat eine Vollbremsung hingelegt und der Großvater das Mädchen von dort weggezogen, bevor etwas passieren konnte. Sie sind die Straße hinunter und haben an der Hauptstraße, an der Fußgängerampel dort drüben, die Seiten gewechselt. “ Sie deutete in die besagte Richtung. „Meine Fresse.“, schnalzte Kenny irritiert mit der Zunge. „Was ist mit den beiden? Wir haben allein eine Stunde für die Strecke gebraucht. Wozu legen sie diesen Marathon zurück?“ „Das werden wir sie selbst fragen müssen.“, antwortete Hana ihm ebenso ratlos. „Ich kann mir daraus selbst keinen Reim machen. Dieser Weg führt weder zum Kinomiya Anwesen, noch zu den Hiwataris. Keiner von beiden wollte also nachhause.“ „Ich friere wie verrückt und meine Schuhe sind nicht wasserdicht. Wenn wir durch den Schnee stampfen, kommt ständig Wasser durch. Ich fühle mich, als würde ich in nassen Schwämmen laufen! Wie lange willst du dich eigentlich noch durchfragen?“ „Drei Mal darfst du raten...“ Diese Frau war unglaublich stur. Insgeheim fragte sich Kenny, wie Hiro an diesen Hexenbesen geraten war. Eigentlich kannte er Tysons Bruder als ziemlich dominantes Alphatier, aber irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass sie bei ihrer Ehe, die Hosen anhaben würde. Falls die Hochzeit noch stattfand… „Wann wollten Hiro und du eigentlich heiraten?“, rutschte ihm dabei die Frage gedankenlos heraus. Erst als Hana ihn ernst anschaute, merkte er, dass es eine klaffende Wunde war, an welche sie vielleicht gar nicht denken mochte. „Tut mir Leid.“ Sie seufzte auf seine Bemerkung und deutete in die nächste Biegung, die ihr der Besitzer geschildert hatte. Als sie antwortete klang sie ziemlich betrübt. „Schon gut… Es hätte nächstes Jahr im Mai sein sollen.“ „Ehrlich? Tyson hat mir davon gar nichts erzählt.“ „Wahrscheinlich weil Hiro ständig ein Geheimnis aus allem macht. “ Das hörte sich sogar nach ihm an. Kenny hielt die Hände in den Hosentaschen versenkt und zog den Kopf enger an die Schultern, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Eine weiße Schneeschicht lag auf seiner, für seinen Geschmack, viel zu dünnen Übergangsjacke. Dabei ging ihm durch den Kopf, wie Schade es eigentlich war, was für ein angespanntes Verhältnis sich mit den Jahren, zwischen den beiden Brüdern aufgebaut hatte. „Darf ich dich etwas Persönliches fragen?“ Er blinzelte Hana neugierig an. Es wunderte ihn, dass sie erst um Erlaubnis bat, wo sie sich bisher kein Blatt vor den Mund nahm. „Öhm… Ja, klar.“ „Ist es möglich dass Tyson und Hiro nicht sonderlich gut miteinander auskommen?“ Kenny dachte lange nach bevor er antworte. Es war das Letzte was er wollte, in eine Familienfehde hineingezogen zu werden. Deshalb formulierte er seine Worte sehr bedacht. „Ich weiß nicht so genau. Was ich mitbekommen habe, lässt zumindest darauf schließen.“ „Du hast also auch den Eindruck?“ „Naja, Tyson redet nicht viel über Hiro. Früher hat er zu seinem Bruder aber aufgesehen. Ich denke sie haben sich mit den Jahren ziemlich stark entfremdet.“, es war nur die halbe Wahrheit, denn so wie es für ihn aussah, blockte Hitoshi den Kontakt ab, sobald er beim Sender angefangen hatte. Einmal bekam Kenny mit, wie er seinem kleinen Bruder eine Standpauke hielt, weil Tyson sich nicht mehr in der Schule angestrengt hatte und nur eine Lehre als Automechaniker abbekam. Eigentlich wollte Kenny ihn an diesem Abend gerade abholen, weil sie zusammen ins Kino wollten, stattdessen platzte er mitten in ein Familiendrama hinein. Er wusste noch, wie Tyson seinen älteren Bruder geradezu erbost entgegenfauchte, dass nicht jeder so eine verdammt ehrgeizige Bulldogge sein konnte, wie er. Als sich dann auch noch Mr. Kinomiya, auf die Seite seines jüngsten Enkels schlug, hatte Hiro nur verächtlich geschnalzt. „War ja klar dass du dich wieder auf die Seite unseres Nesthäkchens schlägst!“ Da war Tyson auch schon aus der Haut gefahren. Man konnte ihn beleidigen, aber niemals seinen Großvater. Er hatte seinem Bruder frei Schnauze vorgeworfen, nur beim Sender angefangen zu haben, weil er sich für etwas Besseres hielt. „Du bist doch ein versnobter Großkotz! Es ist einfach lächerlich, wie du mit aller Macht versuchst, in die High Society aufzusteigen!“ „Ich bin dein älterer Bruder, also pass auf wie du mit mir sprichst!“, hatte Hiro seine Stellung in der Familie hervorgehoben. „Und so lange du dich mit einer billigen Lehre als Automechaniker zufrieden gibst, hast du kein Recht, mir den Mund zu verbieten!“ Dann war sein Blick strafend zu Mr. Kinomiya gewandert. „Und du nimmst ihn auch noch ständig in Schutz! Verdammt, wie kannst du nur so nachlässig mit ihm sein?! Aus ihm wird nie etwas, wenn er sich auf seinen Lorbeeren ausruht!“ Tysons Großvater hatte nur düster gegrollt, dass sein jüngster Enkel, eben einen anderen Weg für sich suche und auch mehr Interesse daran besitze, den Dojo zu übernehmen, als Hitoshi, den er das letzte Mal im Trainingsraum gesehen habe, als er das Fenster dort drinnen schließen wollte. Hiro hatte gekontert, dass es wohl das Einzige sei, worauf Tyson irgendwann zurückreifen könne, immerhin wäre er zu beschäftigt damit, sich ein schönes Leben mit seinen Freunden zu machen, als mal an einer richtigen Karriere zu arbeiten. „Wenn es dir nicht passt, dann verpiss dich doch einfach!“, hatte Tyson seinem älteren Bruder entgegengebrüllt. Kenny wusste noch, wie er den Atem bei diesem Satz angehalten hatte, aber es gab Dinge, die waren Tyson heilig. Niemand durfte ein Wort gegen seine Freunde richten! Ihm ging dabei durch den Kopf, dass er sogar einmal einen Typen durch die halbe Stadt gejagt hatte, weil er Hilary, am helllichten Tag, ihr Smartphone aus der Hand riss und damit türmen wollte. Kenny war wie erstarrt stehen geblieben und hatte dem Dieb mit offenem Mund nachgeschaut. Doch Tyson… Der war dem Kerl ohne zu zögern hinterhergesprintet, um ihm eine handfeste Lektion zu verpassen. Obwohl Hilary glücklich war, dass sie ihr Smartphone zurückbekam, hatte sie dennoch fassungslos gemeint, dass Tyson so etwas nie wieder tun sollte. „Er hätte gefährlich sein können!“ „War er aber nicht. Du hast doch gesehen wie das Weichei gewimmert hat.“ „Und wenn er eine Waffe hervorgezogen hätte?“ „Dann hätte ich ihm die Beine langezogen!“ „Oh man, Tyson! Das ist nicht witzig.“, sie hatte ihm tadelnd das Smartphone vor das Gesicht gehalten. „Davon kann ich mir immer ein neues kaufen. Die Dinger sind doch schon alt wenn du sie aus dem Laden trägst! Einen toten Freund kriegt man aber nicht zurück…“ Anstatt sie ernst zu nehmen, hatte Tyson aber nur gutgelaunt gelacht und ihr gesagt, sie solle das Ganze nicht so eng sehen, während Kenny noch immer wacklige Knie bekam, allein wenn er an diesen Vorfall zurückdachte. Wie gerne hätte er auch nur einen Fingerhut voll von Tysons Mut. Da holte ihn Hana aus seinen Selbstzweifeln zurück. „Das ist wirklich schade. Ich habe selbst eine Schwester und könnte niemals ohne sie leben. Und die beiden schauen sich nicht einmal mit dem Hintern an. Männer sind echt verstockt, was ihre Gefühle zueinander angehen.“ Kenny biss sich auf die Lippen. „Weißt du, ehrlich gesagt, hat Tyson lange Zeit versucht, den Kontakt zu Hiro aufrecht zu erhalten.“ „Aber?“ „Aber nichts! Es hat einfach nicht geklappt.“ „Du weißt doch mehr als du herauslässt.“ Kenny seufzte über diese Scharfsinnigkeit. „Also, das ist jetzt nicht meine persönliche Meinung, aber Tyson kam es so vor, als würde Hiro sich für seine Familie schämen. Er wollte ihn ständig dazu drängen, in einen anderen Berufszweig einzusteigen. Weg von der Mechaniker Branche. Aber ein Bürojob… Naja. Wer Tyson kennt weiß, dass das nichts für ihn ist. Die ganze Zeit zwischen Schlipsträgern in einen Raum eingesperrt sein? Nicht mit ihm! Er gibt sich lieber mit weniger zufrieden, aber genießt dafür sein Leben und er ist gerne selbständig. Die Werkstatt war das Beste was ihm passieren konnte.“ Hana blickte nachdenklich zu Boden. „Die beiden sind aber auch verschieden. Tyson ist ein fröhlicher Mensch, der gerne Spaß hat, sich mit seinen Freunden trifft und keine Gelegenheit auslässt, um auf den Putz zu hauen. Er macht sich nichts aus Regeln oder Zwängen. Das macht ihn fast schon unberechenbar, weil er mit Aktionen kommt, die einen total überrumpeln können. Einmal hat er mich mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt, weil er zwei Last-Minute-Tickets in die USA ergattert hat, um dort unseren Freund Max zu besuchen. Ich hatte zwanzig Minuten Zeit um meinen Koffer zu packen, da sind wir auch schon losgefahren, um unseren Flieger zu bekommen.“ Er sah Hana bei dieser Erzählung schmunzeln. „Ich würde ihn als ziemlich sprunghaft bezeichnen. Dennoch ist er seinen Freunden gegenüber unglaublich loyal. Dagegen ist Hiro sehr ruhig und bestimmt. Er weiß was er will und war schon immer sehr zielsicher. Für kurze Zeit war er sogar unser Trainer. Hat er dir das erzählt?“ „Ja, das hat er. Er war sehr stolz darauf, dass sein Team, unter seiner Führung, den Weltmeistertitel geholt hat.“ „Er war auch zweifelsohne ein guter Trainer. Das kann ich neidlos zugeben.“, stimmte Kenny ihr zu. „Aber als er danach wieder zuhause wohnte, hat Tyson sich nur noch mit ihm in die Haare bekommen.“ „Warum?“ „Ich weiß nicht ob ich dir das erzählen sollte.“ sprach Kenny unwillig. „Ich kenne nicht beide Seiten und Tyson kann ein Sturkopf sein, wenn er wütend wird. Dann ist jeder Schuld, nur nicht er.“ „Hiro hat momentan genug andere Probleme. Du glaubst doch nicht tatsächlich, dass ich ihm das hier brühwarm erzähle?“ Er wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Naja. Tyson meinte einmal, Hitoshi würde sich selbst nach so vielen Jahren noch, wie sein Trainer aufspielen.“ „Tut er das?“ „Nach seiner Meinung schon.“ „Ich will aber deine Meinung hören.“ Hana blieb stehen und schaute ihn ernst an. Ihr Blick wurde richtig stechend. Da kam wohl die hartnäckige Journalistin in ihr durch. „Ja. Tut er.“, brach die Antwort aus ihm heraus, noch bevor ihm klar wurde, was er da sagte. Panisch fügte er noch hinzu. „Aber was weiß ich schon? Ich kenne ihn kaum…“ „Ich glaube du kennst ihn sogar sehr gut. Sag mir was du von Hiro hältst.“ „Oh man, warum willst du das wissen?“ „Wenn du mir deinen Eindruck sagst, schildere ich dir meine Sicht der Dinge.“ Kenny stutzte über diese Bemerkung, bis er langsam einlenkte. „Hiro kommandiert ihn wirklich ständig herum. Als Tyson seine Lehre als Automechaniker antrat, hat er ihn deshalb immer kritisiert.“ „Denkst du nicht, dass er einfach nur das Beste für seinen kleinen Bruder wollte, als eine schmuddelige Autowerkstatt?“ „Vielleicht. Aber was ist so schlimm daran, wenn man Automechaniker wird? Hiro hat sich beinahe aufgeführt, als würde Tyson auf den Strich gehen, um seinen Unterhalt zu verdienen. Und ganz ehrlich… er war manchmal monatelang nicht zuhause, hat während seinem Studium nie angerufen, um zu fragen, wie es der Familie geht, aber sobald Hiro einen Schritt über ihre Türschwelle gemacht hat, hat er sich aufgespielt, als wäre er das Familienoberhaupt. Das ging früher gut, als Tyson noch ein Teenager war, aber er ist jetzt selbst erwachsen! Da ist es doch nur logisch, dass er sich das nicht mehr gefallen lassen will. Vor allem von jemanden, der vielleicht mal jedes Quartal auftaucht. Es ist einfach schwierig, weil beide Brüder einen sehr starken Charakter haben…“ „Weißt du wie alt Hiros war als seine Mutter starb?“ Die Frage ließ ihn perplex blinzeln. Der Themenwechsel kam einfach so abrupt. „Aus dem Stehgreif kann ich das nicht so genau sagen.“ „Aber ich. Er war elf.“, sie blickte ihn eindringlich an. „Kannst du dir vorstellen wie schwierig es für einen Jungen dieses Alters ist, den Tod eines Elternteils zu verkraften?“ „Natürlich. Aber das hat doch nichts mit Tyson zu tun.“ „Doch, in gewisser Weise schon. Ich will dir nämlich jetzt etwas verraten. Allerdings musst du mir versprechen, dass das unter uns bleibt. Takao darf das nicht erfahren!“ Kenny nickte mit einem neugierigen Ausdruck. Sie atmete aus und nickte ebenfalls anerkennend. Dann sprach sie: „Als Hiros Mutter gestorben ist, bekam sein Vater kurz darauf ein Alkoholproblem.“ Als er das hörte weiteten sich Kennys Augen. Das war ihm total neu. „Davon wusste ich nichts. Tyson hat mir noch nie etwas davon erzählt!“ „Weil er nichts weiß. Hiros Großvater hat das ganze so gedreht, dass die beiden lange Zeit nichts mitbekommen haben. Aber eines Tages fand Hiro seinen Vater betrunken vor der Haustür, als er morgens zur Schule gehen wollte. Kannst du dir vorstellen, was das für einen Eindruck, in der Seele eines Jungen hinterlässt?“ Er schüttelte mit steinerner Miene den Kopf. „Hitoshi hat mir erzählt, dass sein Großvater ihn von dem Anblick wegzog, sobald er mitbekam, was sich vor der Haustür abspielte. Es war ein Ausrutscher, der sich glücklicherweise niemals mehr wiederholte. Von da an raufte sich sein Vater nämlich zusammen. Doch der Schaden war angerichtet… Auch dann noch, als sein Vater einen Arzt aufsuchte, um sein Alkoholproblem in den Griff zu bekommen.“ Ein wehmütiger Atemzug kam aus Kennys Mund. Es war erstaunlich, dass selbst die anständigsten Menschen ihre Leichen im Keller versteckten. Er hatte Tysons Vater wirklich als lieben Mann kennengelernt, der aber seinem Beruf den Vorrang, vor seinen Söhnen gab. „Irgendwann, nahm Hiros Vater ihn eines Abends zur Seite und führte ein eindringliches Gespräch mit ihm, über diesen Vorfall. Er erklärte ihm, weshalb er so abgedriftet sei, wie schwer ihn der Tod seiner Frau getroffen habe und das er niemals wollte, das einer seiner Söhne ihn so erlebt. Aber er erklärte ihm auch, dass der Arzt ihm geraten habe, Abstand vom Haus zu gewinnen, um den Trauerprozess richtig zu bewältigen. Der Arzt ermahnte ihn eindringlich, dass er ansonsten rückfällig werden könnte. Deshalb nahm er eine Stelle für eine Expedition im Ausland an.“ Kenny dachte an all die Male, in jenen Tyson sich über seine Vater geärgert hatte. Sein verbittertes Gesicht, wenn das Thema angesprochen wurde und das verächtliche Schnauben, was danach folgte. „Und Tyson weiß das nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sein Großvater - und auch sein Vater - waren der Ansicht, dass es schon schlimm genug sei, dass Hiro das überhaupt mitbekommen habe. Hiro hat mir erzählt, dass sein Vater sich aufrichtig dafür geschämt habe. Er macht ihm auch keine Vorwürfe deswegen. Es war eine wirklich harte Zeit für seine Familie und es sind viele Dinge im Hintergrund passiert, die Hitoshi niemals seinem Bruder erzählt hat. Einfach weil er seinem Vater versprochen hatte, Tyson nichts davon zu verraten. Er meinte einmal zu mir, dass er das ohnehin niemals tun könnte, weil er nicht möchte, dass sein Bruder sich für seinen Vater schämt, so wie er es in jenem Moment tat, als Hiro ihn sturzbetrunken vorfand. Doch nun stell dir vor, dein Vater verlässt die Familie und bittet dich, seinen Platz zu übernehmen. Dich um deinen kleinen Bruder zu kümmern und ihn auf den richtigen Weg zu führen, obwohl du doch selbst noch ein halbes Kind bist. Hast du eine Ahnung was für eine Verantwortung auf dir lastet?“ „Tysons Großvater war auch noch da.“ „Aber trotzdem hat jemand im Haus gefehlt. Ein Großvater kann nicht Mutter und Vater zugleich ersetzen. Das geht einfach nicht! Es bleibt immer eine Lücke offen. Hiro hätte die beiden doch selbst noch gebraucht, aber musste die Vaterposition einnehmen, während die Mutter gänzlich im Haus fehlte. Ich stelle mir das wirklich schwer vor. Vor allem wenn der ältere Bruder, seine ganze Trauer verdrängen muss, um seiner Rolle gerecht zu werden.“, sie blickte zur Seite. „Er hat diese Rolle aber so gut es geht angenommen. Bis Tyson ihm alt genug schien, um auf sich selbst aufzupassen.“ „Ist er deshalb irgendwann gegangen?“ „So hat er es mir zumindest erzählt.“ „Das er dir überhaupt davon erzählt. Ich hatte das Gefühl, er macht so etwas gerne mit sich selbst aus.“ „Tut er auch, aber ich bin hartnäckig. Ich habe so lange gebohrt, bis ich auf Öl gestoßen bin.“, grinste Hana keck und hob das Kinn. Es ließ auch Kenny schmunzeln, weil er keinen Zweifel an ihren Worten hegte. Da fuhr sie auch schon fort. “Ich weiß dass du Hiro vielleicht für einen Egoisten hältst, weil er sich nicht um einen engeren Kontakt mit seiner Familie bemüht hat. Als das damals mit dem Schlaganfall seines Großvaters passiert ist, war ich selbst überrascht, wie kalt ihn das äußerlich gelassen hat. Aber sieh es doch mal aus seiner Perspektive… Irgendwann wollte auch er seine Ziele in die Tat umsetzen und nicht nur seinem kleinen Bruder dabei zusehen, wie er sich seinen Traum vom Weltmeistertitel erfüllt, während Hiro ihm zuliebe, immer zurückstecken musste. Er hatte doch schon seine Kindheit für Tyson aufgegeben.“ „Willst du damit sagen, Hiro nimmt ihm das Übel?“ „Ich bin mir nicht sicher… Vielleicht. Er meinte einmal, sein Großvater würde Takao ständig bevorzugen, weil er immer das Nesthäkchen war.“ „Das ist unfair!“, sprach Kenny und konnte seine Empörung kaum verbergen. „Das hätte ich von ihm echt nicht erwartet.“ „Ich weiß.“ „Es klingt als würde er Tyson grollen, nur weil er geboren wurde! Er kann doch nichts dafür, dass alles so gekommen ist.“ „Aber so ist das nun einmal. Menschen haben Fehler! Dieser innerliche Frust ist wohl Hiros großer Makel. Ich kann mir gut vorstellen, dass er deshalb so gleichgültig reagiert hat, als Mr. Kinomiya seinen Schlaganfall hatte. Wahrscheinlich geht ihm einfach nicht aus dem Sinn, wie viel sein Großvater von ihm, in seiner Kindheit, abverlangt hat, während er Tyson einen Sonderstatus verpasst hat. Wir wissen doch beide, wer den Dojo bekommt, wenn Mr. Kinomiya stirbt. Da macht sich Hiro auch gar nichts vor. Deshalb fokussiert er sich so stark auf seine eigene Karriere, weil er nicht zu kurz kommen möchte. Er baut sich das auf, was sein kleiner Bruder ohnehin bekommt.“ Kenny schaute mit zusammengezogen Brauen zu Boden, als er das hörte. Er mochte Mr. Kinomiya, doch das der alte Dojolehrer, Tyson schon immer bevorzugte, war ein offenes Geheimnis. Das war wohl dessen Makel… „Wir sind alle nur Menschen.“, sprach er gedankenversunken. Da kam ihm eine andere Überlegung. „Warum suchst du eigentlich so dringend nach Tyson, wo doch Hiro dich viel mehr braucht?“ Hana lächelte wehmütig. Ihm kam es vor, als wäre sie im Gedanken bei ihrem Verlobten und nicht hier, auf diesem Gehweg. „Weil ich es Hiro versprochen habe.“ „Nach all den Streitereien zwischen den beiden, bittet er dich Tyson zu suchen?“ „Du bist Einzelkind, oder?“ Etwas überrascht nickte Kenny. „Dann kannst du nicht mitreden. Geschwister streiten sich immer. Ich habe mal meiner älteren Schwester, eine tote Maus ins Bett gelegt, weil sie Lippenstift verwendet hat, der nachweislich an Tieren getestet wird.“ „Wääh!“, machte Kenny angeekelt. „Du bist doch echt krank!“ „Sie ist selbst schuld… Die blöde Kuh.“ „Wo hattest du die tote Maus her?“ „Unsere Katze hat sie angeschleppt. Es schien mir ein Wink des Universums zu sein.“ „Da sind Tyson und Hiro fast harmlos.“ „Sollte man meinen. Ich habe die Maus sogar noch mit ihrem Lippenstift bemalt.“ „Wieso das denn?!“ „Na, überleg mal! Kosmetische Tierversuche? Ist doch eine tolle unterschwellige Botschaft.“ Er starrte sie verdattert an. Da bekam er fast Angst, dass seine Eltern nochmal mit einem kleinen Bruder nachlegten. Dem Himmel sei Dank, war seine Mutter schon in den Fünfzigern. Hana genoss es regelrecht, ihn so aus der Fassung gebracht zu haben, bis sie sich von ihm abwandte und den Blick die Straße hinunter wandern ließ. Da zog sie plötzlich skeptisch die Braue hoch. „Was ist denn dort drüben los?“ Als Kenny den vorherigen Gedanken abschüttelte und sich wieder auf das wesentliche konzentrierte, wurde auch er auf die Meute, am Ende der Biegung aufmerksam. Dort torkelten mehrere Menschen die Hauptstraße entlang. „Ach… Das schon wieder.“, stöhnte er genervt. „An Halloween finden manchmal Zombie Walks statt. Total bescheuert wenn du mich fragst. Die ganzen Freaks kommen dann raus und verstopfen ständig die Straßen. Letztes Jahr saß ich mit meinem Auto, eine halbe Stunde lang in einer dieser Paraden fest. Das kann man nach der Arbeit echt nicht gebrauchen!“ Hana schnalzte missbilligend „Das hat uns gerade noch gefehlt. Wir müssen dort durchkommen…“ „Hey, mir fällt gerade etwas ein!“, klatschte sich Kenny in die Hände. „Wenn man eins vorher rechts abbiegt, kommt man an eine Fußgängerbrücke. Es ist ein kleiner Umweg, aber wir könnten dann den feierwütigen Mobb auf der Hauptstraße umgehen.“ „Perfekt! Den Weg nehmen wir.“, als sie die Straße ansteuerten, sprach sie wichtigtuerisch. „Siehst du? Mit dem Auto würden wir jetzt wahrscheinlich bei den Zombies festsitzen.“ Kenny rollte murrend mit den Augen. Bevor er abbog, heftete sich sein Blick auf eine Person, die von der Hauptstraße aus, in ihre Richtung strauchelte und einen glänzenden Gegenstand in den Händen hielt. Einen Moment wollte er stehen bleiben und das Objekt genauer anvisieren. Für eine irrwitzige Sekunde hatte er tatsächlich angenommen, ein leuchtendes Ei zu sehen, doch bevor er einen zweiten Blick darauf werfen konnte, hatte ihn Hana unwirsch am Ärmel gepackt, um mit ihm in die Seitengasse einzubiegen. „Trödel doch nicht herum!“, meinte sie nur ungeduldig. „Lass mich doch nur mal schauen…“ Er konnte sich gar nicht erklären, weshalb er so versessen darauf war. „Vorhin hast du dich über die Zombie Walks beschwert, jetzt willst du selber gaffend daneben stehen?“ Kenny gab ein trauriges Seufzen von sich, als sie um die Häuserwand bogen. Etwas in ihm war richtig betrübt darüber, dass das leuchtende Objekt nun aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Sie stiegen die ersten Stufen zur Fußgängerbrücke hinauf. Kurz bevor sie das Konstrukt betraten, hielt ein Radfahrer vor ihnen mit quietschenden Bremsen, dass beide perplex innehielten. Der Mann stieg mit einem entschuldigenden Lächeln ab und trug sein Bike die Stufen hinunter. Dann schwang er sich in den Sattel, um mit einem Affenzahn, in die Richtung zu verschwinden, aus der sie gekommen waren. „Manche Leute können echt nicht langsam machen…“, maulte Kenny, als sie ihren Weg fortsetzten. Er sah das Schmunzeln auf Hanas Lippen, sie öffnete den Mund auf ein Kommentar, da schrien beide jedoch panisch auf, als die Brücke bedrohlich zu schwanken begann. Kenny packte nach Hana, die ins Straucheln geriet und beide fielen auf die Knie, als die Erde unter ihnen, sich bedrohlich hob und senkte. Die Hochhäuser zu ihren Seiten, taumelten wie große betrunkene Gestalten. Aus den umliegenden Läden rannten die Menschen in heller Aufregung hinaus. Er hörte ein lautes Kreischen von der Hauptstraße heraufschallen. Und er betete… Kenny betete, dass keines der Gebäude, durch das Erdbeben, über ihnen zusammenbrach und die Brücke der Erschütterung standhielt. * Dragoon blickte hinab, als er das Poltern aus der Menschenwelt vernahm. Die Kontinentalplatten, welche von Drigers Macht zusammengehalten wurden, drifteten bereits unkontrolliert auseinander. Er hatte damit gerechnet, dass es durch den Tod des Uralten dazu kommen könnte. Doch nicht so früh… Das Wurzelgeflecht unter der Erde knarzte bedrohlich. Es war auch Drigers Aufgabe gewesen, die Verästelungen der Weltenbaumzwillinge, unter der Erde, zu warten. Dragoon wusste noch, wie er die überflüssigen Zweige stutze, die guten Keimlinge großzog und die Abgestorbenen von Yggdrasil abriss. Einmal hatte Dranzer eine hellgrüne Verästelung entdeckt und neugierig beobachtet, wie Driger sie zurecht stutzte. „Warum hast du das getan? Die sah doch gut aus.“, es war zu jener Zeit gewesen, als sie noch ein unwissendes Küken war. Dragoon hatte das nachsichtige Lächeln des Tigers noch vor sich. „Nun, mein Liebes.“, erklärte er mit seiner tiefen, ruhigen Brummstimme. „Eigentlich ist das Wurzelwerk Yggdrasils wie ein Garten. Natürlich könnte ich alles kreuz und quer Wuchern lassen, doch dann würden die neuen Keimlinge in unsere, oder gar in die Menschenwelt wachsen.“ „Wäre das schlimm?“ „Nicht wirklich. Zumindest wenn du ein Geist bist. Aber der Keimling den ich abgetrennt habe, der ist viel zu schnell in die Höhe gewachsen. Wenn er dort oben, in der Menschenwelt, durch ihre Erdkruste emporgeschossen wäre, hätte er ein heilloses Chaos verursacht. Er könnte eine Pflanze, ein Felsen, oder sogar ein Berg werden! Stell dir mal das verdutzte Gesicht der Menschen vor, wenn plötzlich ein Gebirge neben ihrem Haus steht, wo doch einen Tag zuvor nichts war. Und dann erst das Erdbeben das Folgen würde… Wenn man nicht aufpasst ist es so stark, dass es einen ganzen Landstrich verwüsten kann oder einen Kontinent spaltet. Den Fehler habe ich zur Anfang der Welt gemacht und jetzt sind viele Platten entstanden. Da muss man schon ein Auge darauf haben.“ Sein Blick war zu Dranzer gewandert. Sie hatte verwirrt den Kopf zur Seite gelegt. „Du verstehst es nicht?“ „Nein.“, jammerte sie hilflos. „Hast du dir die anderen Planeten mal angeschaut?“ „Die sind alle scheußlich… und dort lebt nichts!“ „Richtig. Weil es keine Macht gibt, welche die Kräfte in geregelten Bahnen lenkt. Dort ist alles chaotisch. Die Erde aber lebt, weil sie das richtige Maß von allem besitzt. Es ist ein kompliziertes System – und äußerst sensibel. Daher ist es so wichtig, immer das Gleichgewicht zu wahren.“ „Aber manchmal lässt du doch auch die Erde beben?“ „Ja natürlich. Allerdings nur, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Wenn man die Kraft so lange unterdrückt, staut sie sich manchmal an einem anderen Punkt, bis man eben eine größere Portion freisetzen muss. Dann haben die Lebewesen auf der Erde dafür wieder länger ihre Ruhe.“ „Warum setzt du nicht einfach immer dasselbe Maß an Energie frei?“ „Weil selbst das schon wieder zu viel wäre. Die Erde würde ständig vibrieren. Wie sollen die Lebewesen auf der Erde dann auf dem Boden laufen? Sie würden ständig auf allen Vieren unsicher vorankriechen.“ Dranzer hatte sich ratlos mit den Krallen am Gefieder gekratzt und eingestanden, dass sie nicht begriff, wie das vonstattenging. Natürlich konnte ein Vogel nicht verstehen, weshalb die Lebewesen auf der Erde, nicht einfach das Fliegen lernten, um diesem Problem aus dem Weg zu gehen. Daraufhin erklärte Driger ihr mit einer Engelsgeduld erneut, wie ein Erd Bit Beast arbeitete. Doch er vergaß dabei, dass sie nun einmal ein Feuerwesen war. Kein Element verstand das andere zu hundert Prozent. Nicht einmal der Partner des Bit Beasts. Deshalb war es umso nötiger, dass bald ein neuer Uralter geboren wurde, damit Draciel wieder von der Bürde, des Erdelements befreit war. Es konnte nur vorübergehend diesen Part übernehmen, weil es schlicht und ergreifend ein Wasserwesen war. Die Vorgänge der Erde wären auf Dauer, selbst für Draciel zu komplex. Eine Vertretung war nie so gut wie jene Person, welche die Arbeit bereits seit Jahrtausenden ausübte und auch Dragoon musste zugeben, dass er Drigers Part nicht verstand. Er besaß schon immer eine Abneigung zum Erdboden, weil alles dort so fest angehaftet war. Außerdem war es dreckig und staubig. Obwohl es ihm Spaß machte den Wüstensand aufzuwirbeln… Doch die Pflanzen rührten sich kaum. Sie standen einfach nur in der Sonne herum. Die Gebirge thronten ebenfalls nur stillschweigend in ihrem Glanz. Driger dagegen, konnte manchmal den Blättern sogar beim Wachsen zusehen, ohne die Muße daran zu verlieren. Einmal versuchte Dragoon es ihm nachzumachen. Bereits nach zwei Stunden, waren ihm die Augen zugefallen, weil es so schrecklich öde war. Für ein Luft Bit Beast wie ihn, was in ständiger Bewegung war, war ein festgewachsener Zustand unbegreiflich. Dragoon blickte auf den Reißzahn in seiner Hand. Als er neben Drigers Leichnam gemerkt hatte, dass es gar nicht regnete, sondern er tatsächlich Tränen weinte, war er zur Salzsäule erstarrt. So etwas war ihm noch nie passiert. Er hatte nie begriffen, was ein Wesen zum Weinen bewegte – bis er den Anblick des toten Tigers vor sich sah. Es war absolut grotesk, denn eigentlich hätte Dragoon voller Verachtung auf ihn spucken sollen, immerhin war er ein Verräter. Stattdessen waren so viele Erinnerungen in ihm aufgekommen. Momente in jenen er mit seinem Kameraden gelacht hatte. Es war ihm schwer gefallen, seine Gedanken davon abzuwenden und sich Drigers Verrat noch weiterhin in Erinnerung zu rufen. Selbst jetzt schwebte ihm durch den Kopf herum, wie sie als junge Geister, zusammen auf einer Wiese spielten. Driger hatte überall Pusteblumen aus dem Boden sprießen lassen und Dragoon die Pollen, mit einem Windhauch, von ihren Stielen abgetrennt. Daraufhin sausten sie wie verrückt über das Gras, denn derjenige der die meisten Pollen schnappte, sollte der Gewinner bei ihrem Spiel sein. Sie waren jauchzend über die Wiese gerannt und Driger hatte Tränen gelacht, als eine Polle sich in Dragoons Nüstern verfing und ihn so heftig zum Niesen brachte, dass ihre ganze Beute erneut davonflog. Schließlich einigten sie sich darauf, die Pollen zu fressen, doch als sie fertig waren, fiel ihnen ein, dass sie nun gar nicht mehr zählen konnten, wer die meisten gefangen hatte. Am Tag danach bekamen sie heftige Bauchschmerzen, doch es war die Freude am Spiel, die es wert gewesen war. Dragoon hielt bei dieser Überlegung inne und rieb sich erschöpft über die Nasenwurzel. Himmel, wo kamen diese Zweifel her? „Reiß dich zusammen.“, flüsterte er sich selbst im Zwielicht des Wurzelwerkes zu. Er hob die Nase und witterte nach den Menschen. Sie waren weit gekommen. Er hatte Zeit verloren, bei der Suche nach dem Eingang, den sie verwendet hatten. Bei seinem Kampf mit Driger, war er durch das Beben verschüttet worden. Zu allem Überfluss war der Eingang auch noch zu klein für seine Bit Beast Gestalt. Da hatte Drigers heimtückisches Liebchen gut mitgedacht. Dragoon musste sich mithilfe seines menschlichen Körpers mühsam hindurchzwängen. Eigentlich hatte er danach mit dem Gedanken gespielt, seine Hülle vollkommen abzustreifen, doch falls er sie dann noch einmal bräuchte, könnte sie in den Irren des Wurzelwerkes verloren gegangen sein. Hier unten musste man wirklich vorsichtig mit seinem Hab und Gut sein. Wenn es von den tausend Wegen stürzte, würde es in der Finsternis auf ewig verschwinden. Zudem wusste er nicht, wie weit genau die Gruppe gekommen war. Wenn sie es bis in die Menschenwelt schafften, bräuchte er seinen Körper noch, um ihnen zu folgen, denn eines stand für Dragoon fest – nachdem er so viel für seine Rache geopfert hatte, sollte dieses Pack nicht ungestraft davonkommen! Nicht nachdem er seinen Arm verloren hatte. Nicht nachdem Driger ihretwegen tot war. „Er ist deinetwegen tot...“ Abrupt verweilte Dragoon ob dieser Überlegung. Wo kam das schon wieder her? Er griff sich stöhnend gegen den Kopf und hoffte inständig, diese düsteren Gedanken mögen sich bald in Luft auflösen. „Konzentrier dich.“, sprach er sich selbst zu. Dann tat das Bit Beast einen tiefen Atemzug und grübelte wie es am besten fortfahren sollte. Er könnte natürlich der Fährte folgen, welche die Gruppe auf dem Wurzelpfad hinterlassen hatte, aber hier unten herrschten andere Gesetze. Es könnte schwierig werden, auf jedem Weg den Duft von Sterblichen zu wittern. Die Geister der Toten sondernden nämlich auch eine Note ab, die den Geruch bald übertünchen würden, je nachdem wie viele Seelen über die Fährte latschten. Die nahmen ohnehin kaum auf etwas Rücksicht, weil sie mit ihrem Selbstmitleid beschäftigt waren. An einem Punkt, schienen die Menschen sogar von ihrem ursprünglichen Pfad abgekommen zu sein. Es hatte Dragoon lange gebraucht, um ihre Fährte wieder auf einer anderen Wurzel zu finden. Momentan befand er sich auf jener Spur, welcher die Gruppe anschließend gefolgt war, nur ob seine Methode nicht zu zeitaufwendig war… Dragoon zog nachdenklich die Brauen ins Gesicht. Am Knotenpunkt der Wurzeln, jener Stelle, an welchen die Weltenbaumzwillinge verwachsen waren, könnte er eine der Verästelungen nutzen, um die Menschen aufzuspüren. Dadurch würde er herausfinden, zu welchem Ausgang Galux die Jungen führte. Etwas sagte ihm, dass sie schlau genug war, um nicht denselben Weg zu wählen, den Draciel benutzt hatte, um die Gruppe am Friedhof einzufangen. Aber wenn er zu seinem Wurzelthron zurückkehrte, könnte er ebenfalls kostbare Zeit verlieren. Im Geiste wog Dragoon die beiden Varianten ab. Dann wandte er sich in die Richtung, die seinem Instinkt nach, zum Wurzelthron führte. Für einen Uralten war die Energie, welche von dort verströmt wurde, wie ein Leuchtturm in der Nacht. Sie wussten stets in welche Richtung sie sich wenden mussten. Dragoon musste einfach schneller sein, die Gruppe am Wurzelthron orten und dann eiligst aufbrechen, um sie am Ausgang abzufangen. „Wer zuerst am Ziel ist, Takao.“, sprach er düster. ENDE KAPITEL 34 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)