Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 37: ------------ Er sah die pechschwarze Schildkröte über Max ragen, der dem Monster wagemutig den Reißzahn in den Bauch rammen wollte. Die anderen großen Jungen hatten nicht sofort bemerkt, was sich auf dem Kampfplatz abspielte, waren viel mehr in Panik verfallen, als sie sahen, wie ihr Freund mitten ins Geschehen rannte. „Ist er wahnsinnig geworden?!“, hörte er Ray entgeistert fragen, sobald die Gestalt von Max, im fahlen Schein der Monster, aus einer dunklen Ecke hervor hechtete. Kai ging durch den Kopf, dass die Schildkröte vielleicht dessen böser Wolf war, denn Maxs Ausdruck war ganz anders als sonst. Er schaute unglaublich zornig – nicht so heiter wie sonst. So hatte er ihn noch nie erlebt und irgendwie schüchterte es das Kind auch ein. Dennoch war er erstaunt, als die Schildkröte sich schützend über Max warf, als er drohte, von den spitzen Eiszapfen und Felsbrocken, zermalmt zu werden. Kai hatte einen Moment den Atem angehalten, weil er fürchtete, sein Freund würde nun von dem Monstrum zerquetscht werden, doch glücklicherweise verschafften ihm die kurzen Stummelbeine der Schildkröte, noch genug Platz, um unter dem massigen Leib des Wesens, in Deckung zu gehen. Doch es sah schrecklich eng aus… Da erhaschte das Kind zum ersten Mal den Gegenstand in Maxs Hand, der in seinen Augen so seltsam wirkte. Genau wie die Bit Beasts, schimmerte auch der Reißzahn in einem merkwürdigen Farbton. Kai hatte an Tysons Ärmel gezupft, um ihn zu fragen, ob er auch sah, was Max da in der Hand hielt, doch die anderen Jungen waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, in einer hitzigen Debatte einen Plan auszutüfteln, wie sie ihrem Freund aus seiner Misere helfen konnten, während Allegro wie wild auf der Stelle hüpfte, in heller Aufregung. Tyson wollte schon ungestüm losstürmen, da packte ihn Ray unter den Achseln und fragte ihn entsetzt, ob er noch ganz bei Trost sei. Kai vernahm nur vage, die Gesprächsfetzen welche die Monster miteinander austauschten, da sah er auch schon, wie Max den Reißzahn mit einem Tritt, in die Brust des Bit Beasts verfrachtete. Kurz darauf erhellte ein gleißendes Licht die Kammer, dessen Zentrum von der Schildkröte ausging. Es begann bei den feinen Linien, welche die Konturen der schwarzen Oberfläche des Panzers abzeichneten. Dann entstanden seltsame Muster an Stellen, wo sie nicht hinzugehören schienen. Wie sprießende Veilchen, zogen sich immer mehr Risse über den Rücken der Schildkröte. In einem hellen Violett strömte das Leuchten, aus dem Inneren von Maxs Bit Beast, hinaus an die Oberfläche. Kai hörte knackende Laute. Es erinnerte ihn an die Schale einer Walnuss, die geräuschvoll aufsprang. Er wich zurück, denn das gefiel dem kleinen Kind ganz und gar nicht. Und auch die anderen Jungen schienen es zu merken… Da wurde das Licht so grell, dass es Kai in den Augen schmerzte und er die Hände vor das Gesicht schlug. Er vernahm noch Tysons Stimme, fühlte dessen Fingerspitzen, die ihn noch am Arm streiften, ganz so, als wollte er ihn noch ergreifen, da riss es Kai aber schon von den Füßen. Er fühlte wie er weit durch den Raum katapultiert wurde. Wie Blätter in einem Sturm driftete die Gruppe auseinander. Der eiskalte Wind in der Höhle pfiff um Kais Ohren. Die Stimmen seiner Freunde entfernten sich von ihm, als auch sie von der Druckwelle erfasst wurden. Während seinem Flug, wurde Kai ständig um die eigene Achse gedreht. Dabei erhaschte er einen Blick auf das zerschellende Bit Beast. „Der Wolf vom blassen Kater…“, dachte Kai noch erstaunt, beobachtete, wie das Monster in tausend Tropfen zerstob, die sich zu einer riesigen Welle formten. Selbst den Drachen riss es mit sich und Kai konnte hören, wie durch den Druck sämtliche Eiszapfen in der Höhle abbrachen und auf Talfahrt gingen. Er betete noch inständig, seine Freunde mögen von den Geschossen verschont bleiben, da landete er schmerzhaft auf kaltem Untergrund. Dass er über den Boden rollte, merkte er schon gar nicht mehr, denn da war schon alles um ihn herum schwarz geworden… Es kam Kai wie eine gefühlte Ewigkeit vor, als er langsam wieder aus der Dämmerung erwachte. Er fror entsetzlich und spürte kurz darauf auch schon, dass er in einer Pfütze lag. Das kalte Wasser stach auf seiner Haut wie tausend Nadeln. Die dünnen Eisschollen, welche die Oberfläche bedeckt hatten, waren unter seinem Gewicht eingebrochen. Es war sein Glück, dass er auf dem Rücken gelandet war, andernfalls hätte er durch seine Bewusstlosigkeit ertrinken können. Sofort als Kai begriff, worin er lag, bäumte sich der Junge fahrig auf und sträubte sich unwillig. Ihm war so furchtbar kalt. Seine Kleidung klebte an seinem Rücken, da sich dort der Stoff mit Flüssigkeit vollgesogen hatte und als er sich aufstemmen wollte, merkte Kai, dass er bereits ein wenig festgefroren war. Der erste Versuch loszukommen misslang. Erst beim zweiten Mal riss er sich mit aller Kraft los, watete eiligst aus dem Wasser, was ihm lediglich bis zu den Knöcheln reichte und kletterte über den höher gelegenen Rand einer Felsformation, um aus dem kleinen Tümpel herauszukommen. Er spürte jeden Knochen im Leib, denn alles tat ihm weh. Bestimmt hatte er viele blaue Flecken. Am liebsten hätte Kai geweint, doch da die großen Jungen das auch nie taten, verkniff er es sich, auch wenn das Kind ein Schniefen mit der Nase nicht unterdrücken konnte. Beinahe hatte sich Kai endgültig aufgezogen, als er einen erstickten Laut von sich gab und wieder mit dem Fuß zurückrutschte. Erst als er auf der anderen Seite keine Regung vernahm, getraute das Kind sich nochmal, auf die Zehenspitzen zu stehen und seine obere Gesichtspartie, über den Rand zu heben. Seine großen Kinderaugen blinzelten neugierig darüber hinweg. Nur wenige Meter von ihm entfernt, erhaschte Kai einen Blick, auf die riesenhafte Gestalt, von Tysons bösem Wolf. Der Drache lag auf dem Rücken, er wirkte wie tot, die Klaue seines verbliebenen Arms ragte verkrampft empor. Sein Rachen war weit aufgesperrt, dadurch konnte Kai jeden einzelnen Zahn erblicken. Das Gebiss wirkte furchteinflößend und voller Erstaunen, begann das Kind, jeden einzelnen Fangzahn abzuzählen. Er kam nur auf zwölf. Nicht weil es etwa so viele Zähne waren, sondern weil Kai partout nicht darauf kam, welche Zahl nach der Zwölf folgte. In seiner Grübelei vergaß er für einen kurzen Moment seine Freunde, stattdessen fragte er sich, ob es normal war, dass ein Monster noch immer so himmelblau leuchtete, selbst wenn es doch eigentlich verstorben war. Er hätte erwartet, dass es sich mit diesen komischen Wesen, wie mit Glühwürmchen verhielt. Wenn die starben, wurden sie zu kleinen schwarzen Bällchen. Sie sahen dann aus wie Hasenhäufchen. Verstohlen spähte Kai, von seinem Versteck aus, zu dem toten Drachen und wie er ihn so liegen sah, da packte ihn seine kindliche Neugierde. Er wollte so gerne wissen, wie sich die Schuppen von diesem Monster anfühlten. Er stellte sie sich ganz rau vor - oder vielleicht doch glatt? Wie bei einem Aal… Den schlangenhaften Körper besaß der Drache doch schon. Kai wollte eifrig seinen Fuß über den Rand seines Versteckes schwingen, um sich das Ungetüm einmal näher anzuschauen, da fiel ihm siedend heiß ein, dass er doch eigentlich nach seinen Freunden suchen sollte. „Tyson hat gesagt, du sollst nicht von ihm weggehen!“, rief er sich energisch in Erinnerung. „Du hast es sogar geschworen! Und wenn du nicht auf ihn hörst, musst du Pfeffer auf die Zunge streuen.“ Einen Moment verzog er beleidigt das Gesicht, denn das wollte Kai nun wirklich nicht. Dennoch spielte er mit dem Gedanken, ganz leise zum Drachen zu schleichen, ihn kurz anzufassen und dann auch schnell wieder davon zu rennen. Vielleicht merkte Tyson gar nicht, das er unartig gewesen war. Er konnte es ihm doch verheimlichen… „Du tust es schon wieder! Du willst etwas verheimlichen… Tyson mag das nicht.“ Es ließ Kai einen Schmollmund ziehen. Er hatte ihm versprochen, kein Streuner mehr zu sein, also würde er ihn jetzt auch suchen. Versprochen, war versprochen. Das Kind kletterte aus seinem Versteck hervor, bog aber entgegen seines ursprünglichen Ziels, nach links ab, weg von dem Drachen, auch wenn er nicht verhindern konnte, dass er noch einmal anhielt und einen sehnsüchtigen Blick auf das Monster warf. Etwas unschlüssig ob der Versuchung, knetete er die Hände, bis er sich mit einem energischen Kopfschütteln abwandte. Umso weiter sich Kai von dem Wesen entfernte, umso dunkler wurde es wieder. Das machte ihm irgendwie Angst, aber die anderen Jungen waren so mutig, also wollte er das auch sein. Er tapste wacklig über die unebene Fläche, vorbei an zerstörtem Gestein, schlang dabei die Arme um seinen Körper, um die Kälte aus seinen Gliedern zu treiben. Mehrmals hauchte er sich seinen warmen Atem zwischen die Finger, rieb die Hände ineinander, doch ihm schien es eher wie vergebliche Liebesmüh. Ihm fiel auf wie ruhig es plötzlich in der Kammer geworden war. Lediglich das leise Plätschern des Wassers drang an sein Ohr, gelegentlich ein Tropfen der zu Boden fiel. „Tyson?“ Kais kindliche Stimme schallte durch die Höhle. Doch keine Antwort kam zurück. „Ray?“ Es war dasselbe Spiel. Das Echo verklang, ohne eine Entgegnung. Kai biss sich auf die Unterlippe, begann seine Finger nervös ineinander zu verhaken. „Max? Wo seid ihr?“ Einen furchtbaren Moment erwartete er erneut, dass sein Rufen ungehört blieb, da schrak Kai auf, als ein gequältes Stöhnen dicht neben ihm erklang. „Wer ist da?“ Anstatt einer Antwort, kam wieder nur ein Schmerzenslaut. Kai tapste in der Finsternis vorsichtig zum Ursprung des Geräusches, da stolperte er über etwas, was der Länge nach, seinen Weg versperrte. Er fiel über den Gegenstand, der sich zu seinem Schreck bewegte und wich entsetzt davon zurück. Es kostete das Kind viel Überwindung, seine Hand auszustrecken und tatsächlich ertastete er Stoff zwischen seinen Fingern. Nur Menschen trugen Kleidung. Da lag jemand unter einem Steinhaufen verschüttet. Kai sprang alarmiert auf und begann, Brocken um Brocken, Stein um Stein, von der Person fortzuschaffen. Die Stimme klang weder nach Tyson, noch nach Ray. Er ahnte um wen es sich dabei handelte und kurz darauf, erblickte er im fahlen Licht der Höhle, einen hellen Haarschopf. „Max! Oh nein, geht es dir gut?“ Dessen Antwort war nur ein ungesundes Husten. Etwas befleckte Kais Gesicht dabei und er kniff verdutzt die Augen zusammen. Eine warme Flüssigkeit war auf seine Wange gefallen. Er fuhr mit den Fingern über die Stelle und blickte auf den dunklen Film, der daran zurückgeblieben war. Etwas ratlos stand er auf, näherte sich einige Schritte der einzigen, größeren Lichtquelle hier unten – Dragoons Leichnam. Desto näher er dem Körper des Bit Beasts kam, desto weiter wurden seine Augen. Irgendwann blieb Kai entsetzt stehen. Es war Blut… Max hatte Blut gespuckt! Er fuhr wieder zu seinem Freund herum, rannte auf ihn zu, fiel vor ihm auf die Knie und berührte seine Wange vorsichtig. Jetzt bekam das Kind wirklich Angst, weil Kai nicht wusste, was er nun tun sollte. Max hatte eine schlimme Verletzung. „Was soll ich tun? Sag es mir! Ich weiß es nicht…“, begann er panisch. Sein Freund öffnete mehrmals den Mund zu einer Antwort. Es war ein Krächzen. Allein der Versuch zu sprechen, ließ ihn wieder einen bösen Hustenanfall bekommen, der seine Lippen mit Blut benetzte. Die Flüssigkeit glänzte im fahlen Licht. Da kam Kai endlich die rettende Lösung. „Ich suche Galux. Du musst durchhalten!“, das Kind drückte seine Hand und spürte, wie sein Freund die Geste schwach erwiderte. Anstatt mit Worten zu antworteten, nickte er nur schwach mit dem Kopf. Es musste das gewesen sein, was er bereits die ganze Zeit sagen wollte. Kai sprang auf und begann nach Galux zu rufen und auch nach den restlichen Mitgliedern ihrer Gruppe. Wie er Max so gesehen hatte, kam er kaum umhin, sich zu fragen, ob sie vielleicht nicht auch so übel zugerichtet wurden. Der Gedanke raubte ihm einen Moment die Stimme, doch er schüttelte den Kopf und ermahnte sich, nicht aufzugeben. Tyson gab schließlich auch niemals auf… Da sah das Kind auch schon weit in der Ferne eine Lichtquelle, die regungslos auf dem Boden verharrte. Allein die Farbe verriet ihm, welches Bit Beast es sein musste. Sofort rannte Kai los. Er hopste über einen weiteren Felsvorsprung und geriet augenblicklich ins Straucheln, als er auf spiegelglatter Oberfläche aufkam. Kai plumpste auf die Knie. Er tastete irritiert den Boden ab und begriff, dass er auf einem weiten, zugefroren See stand. Das Kind klopfte gegen die Eisschicht, doch sie schien meterdick, also stand er wieder auf und rutschte vorsichtig voran. Das große Katzen Bit Beast lag auf der Seite, offenbar bewusstlos. Ihre Glieder ruhten kraftlos auf dem Boden, doch desto näher Kai trat, desto mehr war er sich sicher, die stetigen Atemzüge ihres Brustkorbes zu sehen. Als das Kind bei dem Bit Beast eintraf, berührte er zaghaft ihr Fell. Es fühlte sich samtweich zwischen seinen Fingern an und verwundert stellte er fest, dass die aufgescheuerten Handflächen, durch ihre bloße Berührung verheilten. „Galux?“, er begann sie vorsichtig zu rütteln. „Wach auf, bitte.“ Zu seiner Erleichterung gab sie ein Murren von sich. Es ermutigte ihn so sehr, dass er nun energischer ihren Oberkörper schüttelte. Das Bit Beast war am Kopf verletzt worden. Dort war eine feine Wunde, die noch während er sie begutachtete, langsam zuwuchs. Der Heilungsprozess sah merkwürdig aus. Es erinnerte das Kind an Moos, was sich Millimeter um Millimeter vorankämpfte, in der Absicht, irgendwann einen weichen Teppich zu bilden. Kai strich ihr zaghaft an den Rändern ihrer Verletzung entlang, was Galux einen schnurrenden Laut von sich geben ließ, bis sie endlich die Augen öffnete. Ihre saphirgrünen Pupillen huschten unendlich träge zu ihm aus, als wäre sie noch benommen, bis sich ihr Blick gänzlich auf ihn heftete. „Geht es dir gut?“, wollte Kai wissen. Ihre Mundwinkel schienen sich zu einem Lächeln zu verziehen, dann erhob sie sich, ohne ihm eine Antwort zu geben, auf ihre wackligen Beine. In der Ferne hörte man Maxs Husten wieder durch die Höhle schallen. Kai beobachtete, wie sich Galuxs Ohren dem Geräusch zuwandten. Ihr Schweif begann unruhig von einer zur anderen Seite zu peitschen. „Max geht es ganz schlecht! Du musst ihm schnell helfen!“, begann Kai sie zu drängen. „Ich höre es.“, doch geschwächt wie das Bit Beast war, klappte es zunächst zusammen. Galux schloss schwer atmend die Augen, um wieder zu Sinnen zu kommen. „Du solltest vom Eis runter. Steig auf meinem Rücken.“ „Nein. Du bist doch selber geschwächt. Kümmere dich lieber um Max!“ „Kleine Menschenkinder sollten nicht auf zugefroren Seen laufen.“ „Du hast keine Zeit! Bitte beeil dich!“ Das nächste Husten klang mehr nach einem blutigen Gurgeln. Galux blickte unschlüssig zu dem Kind, dann sprach sie hastig: „Geh auf demselben Weg zurück, wie du gekommen bist. Wenn das Eis dich bis hier her getragen hat, wird es dein Gewicht auch ein weiteres Mal aushalten. Verstehst du das, kleiner Mensch?“ Das Kind legte den Kopf auf die Seite, nickte jedoch. Damit ging das Bit Beast in die Hocke und federte sich vom Boden ab. Kai fand es erstaunlich, wie weit sie springen konnte. Galux machte einen weiten Bogen, rollte sich in der Luft mehrmals mit einem Salto, landete jedoch etwas holprig auf dem felsigen Ufern des Sees. Einen Moment keuchte er auf, weil sie noch einmal in sich zusammenklappte. Sie schüttelte jedoch energisch das Schwindelgefühl ab und kraxelte schließlich humpelnd den Hang hinauf, wo ihr Licht hinter der Anhöhe verschwand. Kai überlegte, ob er nach seinen Freunden suchen sollte, doch ihm fiel ein, was ihm Galux zunächst aufgetragen hatte. Er stemmte sich vorsichtig auf und tat einen achtsamen Schritt, nach dem anderen in Richtung Ufer, bis er einen weiteren reglosen Lichtfleck, etwas tiefer im Zentrum des Sees erhaschte, der viel kleiner als alle vorherigen wirkte. Seine Augen weiteten sich, dann flüsterte Kai: „Allegro…“ * Tyson wurde wach, als er einen polternden Laut in seiner unmittelbaren Nähe hörte. Er versuchte sich aufzurichten, da fiel ihm jedoch auf, dass etwas Schweres auf seinen Armen lastete. Zaghaft versuchte er seine Finger zu bewegen und stellte erleichtert fest, dass dies noch funktionierte – doch er konnte sich nicht aus eigener Kraft befreien. Beinahe hätte ihn die Panik übermannt, da horchte er in die Stille hinein. Das Poltern kam näher. Er hörte schnaufende Laute und eine Stimme, die dumpf durch die Felsbrocken, unter denen er verschüttet lag, seinen Namen rief. Kurz darauf fühlte er, wie die Last von seinem rechten Arm abfiel. Sofort riss Tyson den Arm hoch. „Ray! Hier bin ich!“ „Warte, ich habe es gleich.“ Er hörte ihn weiterschaufeln und konnte gar nicht sagen, wie glücklich er war, ihn bei sich zu wissen. Es verging keine Minute, da schob er vorsichtig den Brocken weg, der wenige Zentimeter über seinem Kopf eingeklemmt, vor seinen Augen ragte. Eine Schweißperle rann Tyson ins Genick, als er daran dachte, was für ein Glück er gehabt hatte, dass der Stein kurz vor seinem Gesicht, eingezwängt worden war. Er bezweifelte das Galux einen gespaltenen Schädel heilen konnte. Sobald er sich mit seinem rechten Arm etwas Freiraum verschaffte, begann er Ray zu helfen, das Geröll von ihm zu entfernen. Sämtliche Brocken, die auf ihm lagen, waren glücklicherweise recht klein geraten, doch die Masse machte das Gewicht auf seinem Körper aus. Irgendwann griff Ray nach seinem Arm und zerrte ihn aus dem restlichen Haufen hinaus. Es staubte und beide begannen zu husten. Dieses Gefühl verschüttet gewesen sein, war noch weitaus schlimmer, als in dem engen Tunnelsystem herumzuwandern. „Wo sind Kai und Max?“, fragte er prompt. „Ich weiß es nicht. Kannst du laufen?“ „Probieren geht über Studieren.“, er hob sich stöhnend auf alle Viere und atmete erleichtert aus, als sämtliche seiner Gliedmaßen ihm gehorchten, wenn auch mit ziemlichen Schmerzen. Tyson hätte es nicht gewundert, wenn er durch diesen unschönen Zwischenfall, mit einigen blauen Flecken übersät war. Er schaffte es dennoch sich auf die wackligen Füße zu heben. Als er sich umsah, versuchte Tyson auszumachen, woher die Lichtquelle herrührte, die unmittelbar aus einer Ecke der Kammer, zu ihnen herüber leuchtete. Er erstarrte… Zunächst war Tyson sich nicht sicher, was er da sah. Bis er einige Schritte auf den riesigen, schlangenhaften Leib zu tat. Er merkte nicht einmal, wie seine Gesichtszüge entglitten, als er dieses Wesen aus seiner Kindheit, leblos auf dem Rücken liegen sah. Dragoons Maul war aufgerissen, als hätte er mit einem letzten Atemzug einen Schmerzensschrei ausgestoßen. Seine Lider waren geschlossen. Auf seiner schuppigen Haut hatten sich tiefe Risse aufgetan. Entsetzt stellte Tyson fest wie nah ihm dieser Anblick ging. Er fühlte sich, als würde er vor dem Grab eines verschollenen Freundes stehen, mit dem er nach einem bösen Streit, im Unguten auseinandergegangen war und erst dessen Tod, brachte sie nun wieder zusammen – allerdings zu spät um sich noch zu versöhnen. Ohne ein Wort des Abschieds. Tyson merkte gar nicht, dass seine Schritte ihn wie betäubt zu dem Leichnam seines Bit Beasts führten. Als er vor Dragoons massiger Gestalt stehen blieb, streckte er seine Finger, nach seinem alten Partner aus. Zum ersten Mal konnte er die schuppige Haut tatsächlich unter seinen Kuppen fühlen. Nach allem was zwischen ihnen vorgefallen war, sollte er doch glücklich sein, dass Dragoon tot war. Er konnte aber einfach nicht so empfinden. Sie waren doch einmal Partner gewesen. Hatten Seite an Seite gekämpft. Es tat so schrecklich weh ihn so zu sehen… „Tyson.“ Erst Rays Stimme holte ihn zurück aus seinem Entsetzen. Als er sich zu ihm umwandte, sah er das staubbefleckte Gesicht seines Freundes. Rays Unterlippe war aufgeplatzt. Er schaute aus als wäre er verprügelt worden. Dennoch ruhte sein helles Augenpaar mitleidig auf ihm. „Ich verstehe dich.“, war alles was er dazu sagte. Mehr Worte bedurfte es auch nicht. Einen Moment wurde es still zwischen ihnen. Warum auch immer, aber Tyson war zum Weinen zu mute. Er fühlte sich elend, obwohl er wusste, dass er es nicht sollte. Beschämt blickte er zur Seite, weil er das Gefühl hatte, einen Verrat an seinen Freunden zu begehen, die aufgrund seines Bit Beasts, doch so viel hatten durchstehen müssen. Auf Rays verständnisvolle Anteilnahme konnte er nur wortkarg nicken. Da riss beide ein lautes Husten aus ihren Gedanken. Sie wandten sich prompt zum Geräusch. „Das klang nach Max!“ „Hört sich gar nicht gut an.“, sprach Ray hastig. Da machte er auch schon auf dem Absatz kehrt. Tyson blieb noch eine Sekunde zurück. Seine Hand ruhte noch immer auf dem Körper seines verblichenen Bit Beats. Er sah wehmütig zu ihm auf und flüsterte: „Ich wollte niemals dass es so kommt, Dragoon.“ Erst dann fand er die Kraft seinem Freund hinterher zu jagen. Rays weiße Tracht war gut in der Dunkelheit auszumachen. Die Sorge um ihren Freund ließ beide geradezu wendig durch die unwegsame Landschaft hüpfen. Aus einer anderen Richtung erhaschte Tyson einen Lichtfleck, der auch auf die qualvollen Geräusche von Max zusteuerte. Kurz darauf kreuzte Galuxs Gestalt pfeilschnell ihren Weg und rannte zielsicher auf den Punkt zu, aus dem sie ihren Freund wittern musste. Sofort nahmen beide die Verfolgung auf. Max Husten schallte geradezu schmerzlich in seinen Ohren und als Galuxs helle Silhouette, in einiger Entfernung, vor ihnen zum Stehen kam, hielt Tyson geschockt die Luft an. Es war schlimmer als er angenommen hatte… Maxs Haut war leichenblass, auf seinem Shirt hatten sich blutige Flecken gebildet, während unter seinen Augen tiefe Ringe lagen. Sobald sie ihn erreichten, sank Ray vor ihm auf die Knie und umgriff seine Hände, während Galux sich über ihren Freund beugte und ihren Zauber wirken ließ. Tyson konnte nur entsetzt daneben stehen und machtlos wie er sich fühlte, war er zu nichts anderem im Stande, als mit offenem Mund auf Max zu starren. Ein Tunnelblick tat sich vor ihm auf. Maxs heller Haarschopf war mit Staub befleckt. Tyson sah, wie Ray nach einem Stück Eis tastete, um es seinem Freund kühlend auf die Stirn zu legen. Sofort atmete der seufzend aus und desto länger die Behandlung ging, desto ruhiger wurde er. Nur ganz beiläufig registrierte Tyson, dass die Lichtgestalt, die sie begleitet hatte, auch dazu gestoßen war. Sie hielt fassungslos die Hände vor das Gesicht, schüttelte immer wieder den Kopf und irgendwann fiel sie vor Max auf die Knie. Lediglich ihre bebenden Schultern zeugten von der Trauer in ihrem Herzen… Nun fühlte sich Tyson in seinem Verdacht bestätigt. Eine so tiefe Sorge konnte nur eine Mutter empfinden. Er ging neben dem Geist in die Hocke, blickte ebenfalls auf Max herab, beobachtete, wie Galuxs sonderbarer Zauber, etwas mehr Leben in den Körper seines Freundes hauchte. Der hellrote Sprühregen kam erneut aus ihrem Mund. Es bedurfte mehr davon, als damals bei Ray. Anders als bei ihm, verzichtete Galux darauf, ihre Stirn auf Maxs Kopf zu legen. Stattdessen platzierte sie ihn dieses Mal auf seinen Bauch. Erst da begriff Tyson, was ihr Freund hatte – innere Blutungen. Als Draciel explodiert war, musste Max die ganze Wucht abbekommen haben. Der Druck der Wassermassen hatte dessen Körper wahrscheinlich in arge Mitleidenschaft gezogen. Tyson stöhnte gequält. Er griff nach Max Hand und sprach mit beklommener Stimme: „Verdammt, was machst du nur für Sachen? Wie konntest du nur so blöd sein?“ Doch es kam keine Antwort von ihm. Er sah lediglich Maxs blaues Augenpaar zu ihm huschen und dann zu der Geistergestalt an seiner Seite. Sein Blick heftete sich auf sie und verzog sich zu einem gequälten Ausdruck. Er wusste wer sie war… „Ich glaube kaum, dass Judy so etwas von dir wollte! Sieh doch was für Sorgen sie sich um dich macht!“, erriet er dessen Gedanken. Der Vorwurf ließ Rays Atem stocken und erst da schaute er auf. Seine Augen hefteten sich auf die Lichtgestalt zu ihrer Seite und weiteten sich in Unglauben, als auch ihn endlich die Erkenntnis traf. Mittlerweile zeigte Galuxs Magie endlich die erhoffte Wirkung. Tyson kam es vor, als ob es länger dauerte, als beim letzten Mal – und das es sie mehr Kraft kostete. Denn als sie nach langem endlich von Max abließ, schien sie sehr erschöpft. Das Bit Beast tat einige Schritte zurück und ließ sich auf die Pfoten fallen. Doch es schien ohnehin vollbracht zu sein… Endlich richtete sich Max vorsichtig auf, hielt sich jedoch den Bauch, als könne er dort den Schmerz noch spüren. Sein Gesicht wirkte verschlossen. „Das war so unglaublich dumm von dir!“, sprach Ray fassungslos. „Und wenn schon…“ „Und wenn schon?!“, wiederholte Tyson. Die Art wie gleichgültig er es sagte, machte ihn so wütend, dass der Zorn in ihm hochkochte. Er packte Max am Kragen. „Bist du dir im Klaren, dass du mit deinem Leben gepokert hast?! Du kannst dich nicht einfach so ins Kreuzfeuer stürzen! Wäre dir deine Rache dein eigenes Leben wert gewesen?!“ Max Mund verzog sich lediglich zu einem störrischen Ausdruck - und doch vermied er es, Tyson in die Augen zu sehen. Der ging mit ihm inzwischen hart ins Gericht. „Wir haben uns Sorgen gemacht! Du hättest immerhin Tod sein können! Hast du auch nur einen Moment an uns gedacht?!“ Er schloss die Augen. Entgegnete noch immer nichts. Es machte Tyson so wütend, dass er Max am liebsten verprügelt hätte. „Und dein Vater? Hast du nicht einen Moment an ihn gedacht?“ Ihre Gesichter schossen zur Seite. Alle starrten Judys Geist an, denn es war zweifelsohne ihre Stimme gewesen, die sie da vernommen hatten. Vor Schreck entglitt Tyson der Kragen zwischen seinen Fingern und Max fiel zurück. Doch prompt setzte er sich wieder auf und starrte wie gebannt auf seine Mutter. Auf ihrem Gesicht ging eine Wandlung durch… Nach und nach, taten sich auf der blanken Oberfläche, menschliche Züge auf. Eine zierliche Stupsnase trat hervor, gefolgt von einem Augenpaar, dessen Lider sich mehrmals blinzelnd darüber legten. Genau wie bei ihrem Sohn, war auch Judys Iris von einem tiefdunklen Blau, dass an den nächtlichen Himmel erinnerte. Die Augen lagen umrahmt von dichten, schwarzen Wimpern, während die Brauen sich langsam in Form brachten. Judys Finger fuhren erstaunt zu ihren Lippen, die sich begannen rosig abzuzeichnen. Man hatte den Eindruck, als würde vor ihren Augen, ein Portrait gemalt werden. Offenbar irritierte Mrs. Tate ihre eigene Stimme, genauso sehr, wie den Rest der Gruppe. Als ihr Gesicht vollendet war, getraute sich niemand von ihnen so recht, die aufgekommene Stille zu durchbrechen. Sie alle waren schlicht und ergreifend sprachlos… Judy tastete verwirrt ihre neugewonnenen Konturen ab, fuhr mit den Fingerkuppen über ihre Wangen, da holte sie Galuxs Murmeln aus ihrer Starre. „Draciel ist tot. Und ein totes Bit Beast braucht kein Gesicht.“, ein erschöpftes Seufzen entrang sich ihr. „Nun lichtet sich das dunkel. Mir war klar, dass ihre Seele mir bekannt vorkommt. Doch damit hatte selbst ich nicht gerechnet…“ „Dann hat es sich gelohnt.“, zischte Max zwischen seinen Zähnen hindurch. „Draciel hat bekommen, was es verdient hat und meine Mutter endlich ihr Gesicht zurück!“ „Wie kannst du nur so etwas sagen?!“, herrschte Judy ihren Sohn stattdessen an. Ihr Blick legte sich tadelnd auf ihn. „Deine Freunde haben ganz Recht! Was du getan hast, war der schiere Wahnsinn! Ich bin tausend Tode deinetwegen gestorben!“ Max stand auf. Seine Schritte wirkten taumelig. „Ich musste es tun.“ „Nein, musstest du nicht!“ „Du verstehst das nicht…“ „Das tue ich auch nicht! Diese Tat war so sinnlos! Hast du auch nur einen Moment daran gedacht, dass dein Vater zuhause auf dich wartet? Du hättest sterben können!“ „ICH MUSSTE ES TUN!“, brüllte Max auf einmal los. Das Echo schallte noch lange in der Kammer. Seine Augen wirkten so zornig, dass Tyson einen Moment den Atem anhielt. Noch nie hatte er ihn so wütend erlebt. Als sein Blick zu Maxs Händen huschte, hatten diese sich zu zitternden Fäusten geballt. Offenbar war das jener Damm, von dem Galux prophezeit hatte, dass er irgendwann brechen würde. „Ich musste es tun! Weil es meine Schuld ist, dass du jetzt tot bist!“ „Aber nein… Das sagt doch niemand.“, versuchte Ray ihn zu beruhigen. Doch als er freundschaftlich seine Hand auf Maxs Schulter legen wollte, schlug der sie mit einem Fauchen zurück. „Natürlich bin ich schuld! Ich habe dieses Monster in unser Haus geholt! Ich war es der Draciel bekommen hat und anstatt zu begreifen, was ich da für eine tickende Zeitbombe in meinen Händen halte, bin ich damit umgegangen, als wäre es ein Spielzeug!“ „Wir wussten es alle nicht.“, sprach Tyson, erschüttert über diesen Gefühlsausbruch. „Unwissenheit schützt nicht!“, brach es lediglich verbittert aus Max heraus. „Ich allein bin dafür verantwortlich… Seht sie euch doch an! Seht was Draciel aus meiner Mutter gemacht hat! Sie ist ein gottverdammter Geist!“ Judy hielt sich die Hände vor den Mund. Sie blinzelte aus betroffenen Augen zu ihrem Sohn. Der richtete die nächsten Worte verzweifelt an sie. „Ich hatte gar keine andere Wahl, Mum! Nicht nur um deinetwillen, sondern auch um meinetwillen! Ich bin den Pakt mit diesem Monster eingegangen – also musste ich es auch in die Schranken weisen! Dein Blut, klebt genauso an meinen Händen, wie an Draciels! Mir doch scheißegal ob ich dabei draufgegangen wäre, ich-…“ Klatsch! Die Ohrfeige schallte geräuschvoll durch die Kammer. Tysons Atem stockte vor Entsetzen, als er sah, wie Judys Geist mit der Hand zulangte. Sie mochte zwar auf ihrer Seite stehen, doch sie war eine tote Seele – und das machte jede ihrer Berührungen zu einer potenziellen Gefahr. Seine Augen wurden tellergroß. Ein pechschwarzer Handabdruck war auf Maxs Wange zurückgeblieben. Seine Finger fuhren irritiert zu der Stelle und er starrte seine Mutter aus offenem Mund an. Deren Blick war jedoch weitaus gekränkter, als seiner. Irgendwann schaute Max verbittert zur Seite. „Du hast mich noch nie in meinem ganzen Leben geohrfeigt – und ausgerechnet hier fängst du damit an?!“, sprach er geradezu vorwurfsvoll. „Ja. Weil ich nicht fassen kann was ich da höre!“ Offensichtlich hatten sich beide ihre Zusammenkunft anders vorgestellt. Eine ganze Weile wurde es still. Etwas besorgt huschten Tysons Pupillen zwischen den beiden Personen umher, bis Judy das Wort direkt an ihn richtete. „Ich muss mit ihm unter vier Augen sprechen. Von Mutter zu Sohn…“ Etwas unentschlossen sah er Rays Blick zu ihm irren. Beide waren sich nicht sicher, ob es klug war, ausgerechnet einen Geist mit Max alleine zu lassen – selbst wenn es seine eigene Mutter sein mochte. Dennoch nickte Tyson irgendwann. „In Ordnung. Ich mache mir ohnehin Sorgen um Kai.“ „Ich weiß wo ihr ihn findet. Deine Sorge ist unbegründet.“ Der Satz ließ ihn erleichtert ausatmen. In all der Aufregung um Max, hatte er doch tatsächlich den kleinen Jungen vergessen. Irgendwie bekam Tyson ein schlechtes Gewissen dabei. Ray beugte sich zu Galux hinab, denn etwas stimmte mit dem Bit Beast nicht. Der Glanz der von ihr ausging wirkte irgendwie trüb. Behutsam hob er sie auf den Arm, was die Katze mit einem leisen Miauen quittierte. „Wendet euch mehr nach rechts und dann immer geradeaus. Ich sage euch schon, wenn ihr vom Weg abkommt.“, Galux Stimme klang leise. Bevor er Max zurückließ, warf Tyson ihm einen besorgten Blick zu, doch der schien sich keine Gedanken zu machen, dass er von jetzt an mit einem Geist alleine war. Tatsächlich schien es ihrem Freund weitaus mehr zu beschäftigen, dass seine Mutter nicht seinen Standpunkt begriff. Geradezu verbittert blickte er zu Boden, während sein Kiefer zornig mahlte. Als Tyson zu Judy blickte, nickte diese ihm aufmunternd zu. Das sanfte Lächeln auf ihren Lippen genügte, damit Tyson sich in dem Gefühl bestätigt wusste, dass dieses Gespräch hier stattfinden musste. Damit wandte er sich beruhigt ab… * Die Schritte seiner sich entfernenden Freunde klangen noch lange in seinem Ohr nach. Dennoch schenkte Max ihnen wenig Beachtung. Irgendwie war ihm das ganz recht, denn Tysons Vorwurf war ihm sauer aufgestoßen. Allein diese lächerliche Frage… „Hast du auch nur einen Moment an uns gedacht?!“ Natürlich tat er das! Seit ihrer Ankunft hier, gab Max sein bestmöglichstes, um der Gruppe eine Stütze zu sein. Nicht einmal hatte er sich beklagt! Er war mit der Gruppe kommentarlos in das verwunschene Hiwatari Anwesen gestürmt, um Kai aus Dranzers Fängen zu befreien – weil er an seine Freunde dachte. Er hatte es Tyson nachgesehen, dass er ihr Notizbuch mit den Erinnerungen in den Kanda Fluss geworfen hatte – weil er an seine Freunde dachte. Selbst als Ray ihn durch den Parasiten hinterrücks im Schlaf angriff, kehrte er jeglichen Groll unter den Teppich – weil er an seine Freunde dachte! Und das obwohl ihm die ganze Zeit, der düstere Gedanke durch den Hinterkopf schwebte, dass er bei seiner Ankunft in der Menschenwelt, seine Mutter zu Grabe tragen musste, während sein Vater wahrscheinlich in tiefer Trauer auf ihn wartete. Das Drama war für Max nicht vorbei, wenn er es nachhause schaffte. Es ging für ihn dann gleich weiter. Was er getan hatte, war gefährlich gewesen, das wollte er gar nicht abstreiten, aber Draciel hatte es verdient. Es war eine einmalige Gelegenheit gewesen, es diesem Verräter heimzuzahlen, die sich nie wieder ergeben hätte. Wie wahrscheinlich war es auch, dass er – ein kleiner Mensch der dazu im Körper eines Jungen steckte – einen Uralten besiegte! Und nun, da er das Unmögliche vollbracht hatte, erntete er nur Vorwürfe von allen Seiten. Er war bestimmt kein Jammerlappen, doch er kam sich ziemlich missverstanden vor. Selbst von seiner eigenen Mutter… Anstatt ihm dafür zu danken, dass er ihren Mörder zur Strecke gebracht hatte, wurde er wie ein kleines Kind geohrfeigt. Max rieb sich noch immer über die Wange. Sie fühlte sich merkwürdig taub an. Noch nie hatte seine Mutter ihn geschlagen. Bei dieser Überlegung schnaubte er verächtlich, weil ihm der Moment für dieses erste Mal, so verkehrt vorkam – als hätten beide jetzt nicht andere Sorgen. Es lenkte Judys Aufmerksamkeit auf ihn, die bis dahin stillschweigend beobachtet hatte, wie sich seine Freunde entfernten. Ihr Blick legte sich mitleidig auf seine Gestalt. „Unser Wiedersehen hatte ich mir anders vorgestellt…“ „Nicht meine Schuld.“, blockte Max angesäuert. Er vernahm ihr Seufzen. „Ich bin nicht hier um mit dir zu streiten, mein Schatz.“ „Ach wirklich? Der Eindruck kam mir aber!“ „Das war keine Ohrfeige aus einem Streit heraus. Es war ein Weckruf für dich.“ „Ich bin wach. Sonst hätte ich nicht gemerkt, was sich für eine Chance vor mir aufgetan hat!“ „Die Chance auf Rache?“ „Natürlich. Was denn sonst!“, er wandte sich von ihr ab. Als Max die USA verlassen hatte, war er heilfroh gewesen, eine Weile Ruhe vor seiner Mutter zu haben. Sie war nach ihrem Rauswurf aus dem Institut, ständig so verstimmt gewesen und als sie starb, machte er sich Vorwürfe, weil sie beide sich in ihren letzten Tagen so häufig angeschnauzt hatten. Nun waren sie für kurze Zeit wieder vereint – und kabelten sich doch wieder. „Ich verstehe dich nicht. Da räche ich deinen Mord und alles was du dafür übrig hast, ist den einzigen Moment zunichte zu machen, der uns vielleicht noch bleibt!“ „Wie kannst du nur so etwas sagen?“, Judys Stimme war ein Wispern. Ein fassungsloses, tief verletztes Wispern. „Hast du eine Ahnung, wie weh mir diese Worte tun? Und allein deine Aktion von vorhin! Das dein Leben dir so egal ist… Das ist das Schlimmste was du mir antun kannst.“ „Ich konnte Draciel damit nicht davonkommen lassen.“ „Diese Rache hätte dich das Leben kosten können!“ „Es ist doch alles noch einmal gut gegangen. Warum regen sich alle so auf?!“ „Weil du zu jung bist um zu sterben. Deine Zeit ist noch lange nicht gekommen!“ „Deine auch nicht!“, rief er verbittert aus. „Sollte ich es einfach so hinnehmen? Wie hätte ich Dad unter die Augen treten sollen? Allein das ich ihm erklären muss, dass mein eigenes Bit Beast, seine Frau getötet hat…“ „Um Himmelswillen, Maxi! Bitte gib dir doch nicht die Schuld dafür!“, sie tat einen Schritt auf ihren Sohn zu. „Glaubst du wirklich ich hätte so etwas von dir verlangt? Ich würde doch niemals dein Leben vor meines stellen! An meiner Situation lässt sich nichts mehr ändern, warum sollte ich also mein einziges Kind, auch mit ins Unglück stürzen?“ „Das ist mein Leben. Ich kann damit machen was ich will!“ „Dann bin ich wohl eine schlechtere Mutter gewesen, als ich angenommen habe…“ „Das habe ich doch nie behauptet!“, Max keuchte geschockt. „Ich habe das für dich getan, Mum! Warum fällst du mir so in den Rücken?!“ „Das du glaubst ich wäre so selbstsüchtig, kränkt mich. Ich kann nicht fassen, wie unachtsam du mit deinem Leben umspringst - wo es mir doch alles bedeutet!“ Max Blick senkte sich. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, dass hier die letzte Gelegenheit war, mit seiner Mutter im Guten auseinander zu gehen. Er würde sie nie wieder sehen. Bei diesem Gedanken tat sich ein dicker Kloß in seiner Kehle auf. „Weißt du was ich in meiner Zeit hier gelernt habe, Maxi?“, begann seine Mutter plötzlich aus heiterem Himmel. „Das am Ende deines Lebens nur zählt, was du im Leben erreicht hast. Ich war vielleicht eine gute Wissenschaftlerin, ich habe Preise gewonnen, Diplome erhalten und meine Glanzmomente gehabt... Doch das größte und wertvollste was ich für die Nachwelt hinterlasse, sind nicht meine polierten Pokale oder staatlich beglaubigte Papierfetzen. Das großartigste was ich zustande gebracht habe – das bist in erste Linie immer noch du gewesen.“ Max war nicht in der Lage zu antworten. Seine Lippen bewegten sich, denn er wollte darauf entgegnen, wie viel ihm diese Worte doch bedeuteten, aber sein Hals war wie ausgedörrt. Stattdessen starrte er Judy nur weiterhin an. Da lag ein glänzenderen Tränenfilm in ihren Augen, bis seine Mutter den Kopf schüttelte. Ihre fliesenden Haare wehten dabei sachte mit ihren Bewegungen. Kurz darauf sprach Judy mit sanfter Stimme: „Habe ich dir jemals erzählt, wie dein Vater und ich zusammengekommen sind?“ Max schwieg zunächst, noch immer unfähig zu sprechen. Nur zögerlich kam sein verneinendes Kopfschütteln. Es ließ sie wissend die Augen schließen. „Als ich noch eine junge Absolventin war, gerade erst frisch eingestiegen, in ein wachsendes Forschungsinstitut, gab es da zahllose Männer, die allesamt um mich warben. Es klingt schrecklich großspurig, aber es verging kaum ein Tag, an welchem ich nicht angesprochen wurde. Meistens handelte es sich dabei um Kollegen, allesamt studierte Männer, die gerne mit ihrem Wissen vor mir prahlten. Was diese eingebildeten Herren aber wussten, wusste ich schon zehnmal, deshalb langweilten sie mich eher. Das einzige, was für mich zählte, waren meine Forschungen. Ich war so auf meine Arbeit fixiert, dass ich mitunter recht genervt reagierte, sobald mich jemand ansprach. Die Männerwelt muss mich für eine ekelhafte Zicke gehalten haben.“ Ein melancholischer Ausdruck trat auf Judys Lippen – ihre Gedanken schienen weit weg. „Dann kam aber der Tag, an welchem ich deinem Vater begegnete. Ich führte einen Rundgang durch unser Institut und er war einer jener Besucher, innerhalb der Gruppe, die ich betreuen sollte. Alle stellten professionelle und äußerst seriöse Fragen. Es waren ganz hohe Tiere aus dem Ausland unter den Besuchern und ehrlich gesagt, machte mich das etwas nervös. Die einzige Frage die dein Vater aber an mich richtete, war, ob ich noch zu haben sei.“ Die Erinnerung ließ Judy kurz kichern und auch Max musste schmunzeln. Es klang so typisch für seinen Vater, der wirklich gerne nach Herzenslust herumalberte. „Du hättest die Gesichter der anderen Teilnehmer mal sehen sollen. Aller Blicke richteten sich auf ihn. Er stand aber nur wie ein frecher Junge, inmitten dieser Schlipsträger und kratzte sich strahlendend am Nacken. Während der Führung versuchte er mehrmals mit mir ins Gespräch zu kommen, aber sein unseriöses Verhalten empfand ich als unverschämt – bis wir in eine Abteilung mit einer strengen Sicherheitskontrolle ankamen und alle ihre Besucherausweise vorzeigen sollten. Erst dort stellte sich heraus, dass dein Vater gar keinen besaß! Du musst dir mal vorstellen, was das für einen Aufruhr verursachte! Der Chef des Sicherheitspersonals fuhr komplett aus der Haut, weil es so einfach für deinen Vater gewesen war, in unser Forschungsinstitut hineinzugelangen. Ich bekam ebenfalls ziemlichen Ärger, weil mir der Fehler nicht früher aufgefallen war. Ich war so sauer und dein Vater flog hochkant aus dem Institut hinaus!“ Max klappte der Mund etwas auf. Das war ja dreist… „Als ich am Abend das Gebäude verließ, stand dein Vater aber unten an der Treppe, die zu der Eingangshalle hinaufführte. Als ich ihn erblickte, wollte ich eigentlich schnurstracks an ihm vorbeilaufen, immerhin hatte ich seinetwegen eine schlimme Standpauke kassiert. Er hatte aber eine Becherhalterung dabei, mit verschiedenen Kaffee Sorten darin. Die brachte er mir als Friedensangebot – so nannte er es jedenfalls. Da er nicht wusste, welche Sorte ich mochte, hatte er von jeder eine gekauft und meinte zu mir, er wolle sich dafür entschuldigen, dass er mir solch schreckliche Unannehmlichkeiten bereitet habe. Es wäre nie seine Absicht gewesen, dass ich Ärger bekomme. Ich war recht schnippisch und fragte ihn, warum er überhaupt an der Führung teilgenommen habe. Die könne man für ein paar Dollar, auch ohne weitere Probleme online buchen – da sagte er doch tatsächlich zu mir, dass ihm die Führung eigentlich Schnuppe gewesen sei. Er habe mich jeden Morgen beim Bäcker angetroffen, aber ich sei ständig so vertieft in meine Lektüren gewesen, dass ich ihn gar nicht registriert habe. Ständig hätte er mir die Tür aufgehalten, mich gegrüßt, mir einen schönen Tag gewünscht, versucht mit mir in ein Gespräch zu kommen – doch ich bin wohl ein halbes Jahr an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Also ist er mir einmal hinterher gelaufen, um zu beobachten, wo ich nach meinem morgendlichen Besuch beim Bäcker überhaupt hingehe.“ „Und seine Mühen haben dich so gerührt, dass du nachgegeben hast?“, fragte Max. „Ganz und gar nicht. Ich fragte ihn ob er ein verrückter Stalker sei. Er fragte mich nur grinsend, ob ich das nicht bei einem Abendessen herausfinden wolle.“ Sie seufzte, dennoch spielte ein Lächeln um ihren Mund. „Ich habe es ihm nicht gerade einfach gemacht. Ehrlich gesagt, war ich auch noch so geladen, von der Zurechtweisung zuvor, dass ich ihn stehen ließ. Ich ging die darauffolgenden Wochen, auch gar nicht mehr zu meinem üblichen Bäcker, weil ich deinem Vater nicht begegnen wollte. Lieber ging ich morgens mit hungrigem Magen zur Arbeit. Dafür stand er dann eines Morgens, mit einem Plunderstück, vor der Eingangshalle und meinte, dass, wenn ich schon seinetwegen nicht mehr zum Bäcker käme, er nun auch dafür sorgen müsste, dass ich nicht auf der Arbeit verhungere. Das fand ich dagegen schon charmanter. Ich fragte deinen Vater, weshalb er sich denn bloß so viel Mühe mit mir gab. Er fragte mich stattdessen, ob ich die Legende vom roten Faden kennen würde. Als ich verneinte, antwortete er, dass er es mir erzählen würde – allerdings nur wenn ich mit ihm zu Abend esse.“ Max musste lächeln, denn er kannte diese Erzählung. In Japan war sie ein weitverbreiteter Volksglaube. Hilary hatte ihm den Mythos einmal erklärt, weil vor allem junge Mädchen, diese Vorstellung romantisch fanden. „Ich gab also nach, weil mich die Beweggründe deines Vaters interessierten. Mich wunderte, wie ein Mensch sich nur zu so dummen Handlungen verleiten lassen konnte. Wir trafen uns noch am selben Tag zum Abendessen in einem italienischen Restaurant. Dort erzählte mir dein Vater von sich – davon, dass er viel um die Welt gekommen sei, weil dein Opa doch als Militäroffizier gedient hatte. Dabei sei er auch einmal in einer Militärbasis in Japan gewesen, wo er von der Legende des roten Fadens erfuhr. Jener unsichtbare Faden, der zwei Menschen miteinander verbindet, die vom Schicksal dazu bestimmt sind, zueinander zu finden. Angeblich ist er am kleinen Finger befestigt. Unsichtbar, auch unzerreißbar und die Verbindung zu der uns bestimmten Person, soll bereits seit dem Tag unserer Geburt bestehen. Als ich deinen Vater fassungslos fragte, ob er tatsächlich an so einen Humbug glaubte, meinte er nur – natürlich. Immerhin hätte er den roten Faden selbst gesehen. Er erklärte mir, dass, als er mich das erste Mal beim Bäcker bemerkte, ich einen roten Mantel getragen hätte. Den konnte ich noch nie wegwerfen, weil er einfach so wundervoll warm hält, obwohl er alt und abgetragen ist. An jenem Tag, als dein Vater mich das erste Mal bemerkte, war auch noch eine Naht an meinem Ärmel aufgerissen. Beim ersten Luftzug der durch die Bäckerei ging, flog einer der Fäden, zu deinem Vater an den Tisch, während er gerade seinen üblichen Morgenkaffee trank und eine Zeitung las. Der Faden legte sich direkt auf seinen kleinen Finger, als wolle er auf den Mythos hinweisen. Dein Vater blickte von seiner Zeitung auf, sah mir nach und behauptete seit diesem Tag, steif und fest, dass es ein Wink des Schicksals gewesen sei. Er war schon immer ein unglaublicher Romantiker. Dabei habe ich sowas früher immer belächelt… Ich glaubte ihm natürlich kein Wort und musste anfangen zu lachen. Dennoch ging ich ein weiteres Mal mit ihm aus, vielleicht weil ein kleiner Teil in mir, deinem Vater von ganzem Herzen gönnte, dass sein Wunschglaube doch wahr wurde. Und ehe ich es mich versah, waren wir bald ein Paar, heirateten und ein Jahr nach unserer Trauung, kamst du auch schon auf die Welt. Wenn dein Vater und ich über diese Zeit sprachen, strahlte er bis über beide Ohren und prahlte damit, dass er wirklich Recht gehabt hätte. Er war der festen Überzeugung, dass der rote Faden uns zueinander geführt habe. Ich neckte ihn dann immer und meinte, dass ich einfach nur Mitleid mit ihm bekam und deshalb noch einmal mit ihm ausgegangen bin.“ Ein verschwörerisches Lächeln trat auf Judys Mund. „Aber ich verrate dir nun etwas, Maxi. Etwas was ich selbst kaum glauben konnte, als ich hier ankam… Denn diesen roten Faden - den gibt es wirklich!“ Seine Mutter bedachte ihn wehmütig. „Es fiel mir gleich als erstes auf, während ich starb. Eine hauchdünne, rote Schnur, die an meinem kleinen Finger befestigt ist, welche ich zu meinen Lebzeiten aber nie bemerkt hatte. Man sieht wirklich ein gleißendes Licht, wenn man stirbt. Es kommt von dem Faden. Ich weiß genau, dass er direkt zu deinem Vater führt. Mit diesem Wissen kommt man hier einfach an. Es ist so selbstverständlich wie der erste Atemzug. Doch was dein Vater wohl nicht ahnen konnte, ist, dass seine Erzählung nur zur Hälfte korrekt war. Es hängt nämlich nicht nur ein Faden an meinem kleinen Finger, es sind dutzende weitere und sie führen nicht nur in die Menschenwelt, sondern auch ins Jenseits. Seit ich tot bin, fühle ich jede Person, die am Ende jedes Fadens auf mich wartet. Es muss sich dabei nicht zwangsläufig um einen Ehemann handeln, denn es können auch Menschen sein, die einfach dazu bestimmt sind, zu deinem Leben zu gehören – einen großen Teil zu deiner Persönlichkeit beizutragen. Bei mir führen zwei Fäden zu meinen verstorbenen Großeltern, die ich als kleines Mädchen so abgöttisch geliebt habe, dass ich wochenlang weinend in meinem Bett lag, als sie bei einem Autounfall umkamen. Sie waren wundervolle Menschen und haben mich so geprägt, wie es nicht einmal meine eigenen Eltern vermochten, obwohl auch zu denen Fäden führen. Ein anderer Faden führt sogar zu einer engen Kindheitsfreundin, die viel zu früh an Krebs verstarb und deren Tod mich unendlich traurig stimmte. Selbst als ich schon längst Erwachsen war, dachte ich manches Mal an sie, an jeden Moment, an welchem wir zusammen gelacht haben und wie kurz ihr Leben doch gewesen war. Die Bekanntschaft mit ihr ließ mich manches Mal überdenken, worauf es im Leben wirklich ankommt, vor allem wenn ich zu vertieft in meine Arbeit war und drohte euch zu vernachlässigen. All diese Fäden leuchten mir in der Dunkelheit den Weg ins Jenseits und als ich starb, tröstete es mich auf der Stelle, dass dort jemand ist, der mich empfangen wird.“ Judy hielt ihre Hand in die Höhe, als bedachte sie die Spuren, welche für seine Augen im Verborgenen lagen. „Und dann sind da noch jene Fäden, die in die Menschenwelt führen. Die deines Vaters beispielsweise... Ich bin auch hier noch verbunden mit ihm und kann jetzt umso deutlicher spüren, wie es ihm gerade geht. Mir ist elend zu Mute, weil ich weiß, wie sehr ihn mein Verlust getroffen hat. Ich höre, wie er weinend in der Küche sitzt, ich sehe, dass er ein Bild von mir in den Händen hält und spüre jede Träne, die er meinetwegen vergießt. Sein Kummer bricht mir das Herz. Ich würde ihn so gerne umarmen und ihm sagen, wie viel er mir bedeutet hat! Diese Worte sind so schnell gesagt und trotzdem habe ich sie so selten ausgesprochen… Ich wünschte ich hätte es ihm jeden Tag gesagt.“ Ihr schienen nun selbst die Tränen zu kommen. Ein wässriger Glanz lag in ihren Augen. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lider, um sich zu sammeln. Ihre Stimme klang belegt, als sie fortfuhr. „Und ob du mir glaubst oder nicht, Maxi… Ein roter Faden führt auch zu dir. Als ich kein Gesicht mehr hatte und spürte, dass du hier unten feststeckst, da führte mich unser beider Faden zu dir. Ich brauchte keine Augen, um den Weg zu sehen. Ich konnte fühlen, wie verzweifelt du bist und hörte förmlich all die Schuldgefühle, die auf dir lasten. Es war nie notwendig, dass du mir mein Gesicht zurück bringst! Denn was ich wirklich sehen musste, konnte ich sehen.“ Nun wurden auch Maxs Augen feucht. Er blickte beschämt von ihr weg. „Es gibt einen Grund, warum manche Geister nicht von ihrem Leben ablassen können – weshalb manche von ihnen, in diesem fahlen grauen Licht leuchten. Diese Seelen tragen Trauer. Es ist wie die schwarze Kleidung bei einer Beerdigung. Allerdings trauern wir nicht um uns selbst, sondern um unsere Hinterbliebenen. Diese Geister wollen mit aller Macht noch eine Sekunde länger bei den Lebenden sein – um ihnen Trost zu spenden. Desto länger ihre Hinterbliebenen um sie weinen, desto schwieriger macht man es auch der Gegenseite, ins Jenseits einzutreten. Doch es gab etwas, was mich davor bewahrt hat, zu einer dieser verwirrten Gestalten zu werden. Das war der tröstende Gedanke, dass ihr beiden, du und dein Vater, noch einander habt.“ Judy tat einen Schritt auf ihren Sohn zu. „Und noch ein weitere Gedanke, hat mich vor der grauen Farbe gerettet – deine Freunde. Diese Menschen sind etwas ganz besonderes und wie ihr euch in der Irrlichterwelt geschlagen habt, konnte ich durch den Faden deutlich erkennen. Ich weiß du bist verzweifelt, weil ich nicht mehr bei dir sein kann, aber Maxi… Du darfst durch meinen Tod nicht die Lebenden um dich herum vergessen! Es gibt so vieles, was auf der anderen Seite auf dich wartet. Auch du hast sicherlich noch einigen roten Fäden zu folgen – und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass ein paar von ihnen, auch zu deinen Freunden führen. Dein Vater und deine Freunde. Diese Menschen geben mir im Jenseits das Gefühl, dass du in guten Händen bist. Und ohne diese Gewissheit, werde ich auch eine graue Gestalt. Ich muss wissen, dass es dir gut geht. Du bist doch mein Kind.“ Sie blickte ihn nun beinahe flehend an. „Bitte lass dich nicht von der Trauer zerfressen, mein Liebling. Ich will nicht, dass du nur an den Tod denkst. Halt nicht daran fest. Das wird es auch mir schwerer machen…“ „Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.“, brach es aus Max mit tränenerstickter Stimme heraus. „Du warst immer da!“ „Wir sind miteinander verbunden. Ich bin auch jetzt noch da…“ „Bevor du gestorben bist – da habe ich dich wieder angefahren! Es hat mich so geärgert, dass meine letzten Worte an dich, so abweisend waren…“ Er brauchte seine Zeit, um den feuchten Film auf seinen Augen, zu unterdrücken. Judy kam ihm näher, auch wenn sie darauf achtete, ihn nicht damit zu gefährden. „Schatz, das ist doch normal. In den besten Familien streitet man sich. Die Kunst ist es, sich danach auch wieder zu versöhnen – und sich zu entschuldigen. Auch ich hatte meine schlechten Tage. Das ist menschlich…“ Sie lächelte ihn an. „Und nach deinem vorherigen Ausbruch, denke ich, dass du dich bei deinen Freunden entschuldigen solltest. Sie haben es nicht verdient, von dir so abgewiesen zu werden.“ „Aber Tyson hat mir unterstellt, dass ich nicht an unsere Gruppe denke!“, grollte Max beleidigt, allerdings war seine Wut mittlerweile stark abgeflaut. „Ich habe mich bisher immer meinen Freunden zuliebe zurückgehalten und musste mir so eine Unterstellung anhören!“ „Wir haben denselben Satz gehört und dennoch interpretieren wir einen komplett anderen Sinn heraus. Für mich klang es nämlich nicht, als ob er dir zu wenig Zusammenhalt vorwirft – sondern dass du nicht daran gedacht hast, wie entsetzlich es für deine Freunde wäre, wenn dir gestorben wärst.“ Max stutzte. Dann ging er im Geiste noch einmal Tysons Vorwurf durch. „Hast du auch nur einen Moment an uns gedacht?!“ Er seufzte, fuhr sich über die Nasenwurzel, denn offenbar war sein Verstand, tatsächlich so von seinen Rachegelüsten umnebelt gewesen, dass er nicht gesehen hatte, wer es eigentlich noch gut mit ihm meinte. Jetzt erst fiel ihm auf, wie betroffen seine Freunde geschaut hatten. „Genau diese Weisheiten werde ich vermissen, Mum.“ „Ich weiß, aber jedes Kind trägt irgendwann seine Eltern zu Grabe. Für dich kam dieser Moment nun leider auch. Aber wenn deine Zeit gekommen ist, werden wir uns wiedersehen. Ich bin dann bei dir, mein Schatz. Und ich will die Erste sein die dich in Empfang nimmt.“, sie lächelte ihn mitfühlend an. Eine weitere ihrer Eigenheiten, die er schmerzlich vermissen würde. „Die Menschenwelt ist nicht mehr weit. Du musst jetzt wieder zurück zu deinen Freunden gehen. Es wird Zeit das du nachhause kommst…“ „Musst du etwa gehen?“, fragte Max beklommen. „Leider ja. Ihr habt es nicht mehr weit – aber für mich ist die Reise hier vorbei. Ich muss zurück.“, sie seufzte traurig. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich dich zum Abschied noch einmal umarmen würde. Aber tust du mir noch einen Gefallen?“ „Natürlich…“ „Erzähl deinem Vater auch von dem roten Faden – und das ich ihn immer lieben werde.“ * „Warum hast du Kai alleine zurückgelassen?“, fragte Ray recht vorwurfsvoll. Das der Kleine nun irgendwo, bis zu ihrer Rückkehr, alleine ausharren musste, missfiel auch ihm. Inmitten dieser Düsternis war Tyson dieser Gedanke ebenfalls gekommen. Ginge es nach ihm, wären sie den restlichen Weg gerannt, einfach weil er sichergehen wollte, dass es dem Kind gut ging. Doch die felsige Umgebung war an vereinzelten Stellen, von einer spiegelglatten Schicht überzogen, was es schwierig machte, schnell voranzukommen. Es bedurfte äußerste Vorsicht. Tyson erinnerte sich, wie Hilary in der Fugaku Windhöhle böse auf den Hintern gelandet war. Kenny hatte sie damals gewarnt, mit ihren flachen Ballerinas mitzukommen, doch ihre Eitelkeit war größer gewesen. Hinterher jammerte sie allen im Wagen die Ohren voll, weil sie einige blaue Flecken abbekommen hatte, was Tyson mit dem bissigen Kommentar quittierte, dass sie das nächstes Mal gleich noch beschissenere Schuhe tragen sollte. Inzwischen blickte Galux müde zu Ray auf. „Das Kind bestand darauf, dass ich mich um euren Freund kümmere. Er war dem Tode einfach zu nahe.“ „Den Anblick vergesse ich nicht so schnell.“, brummte Ray gedankenverloren. Etwas anderes hätte Tyson auch gewundert. Allein das Geräusch von Maxs blutigem Gurgeln, klang noch in seinen Ohren nach. Sein aschfahles Gesicht, mit den dunklen Augenringen auf der blassen Haut, war erschreckend gewesen. Für einen Moment hatte Tyson wirklich geglaubt, er sterbe ihnen unter den Fingern weg. Mit dieser Selbstmordaktion hatte er allen eine ziemliche Angst eingejagt. Sobald seine Sorge verflogen war, wollte Tyson ihn dafür verprügeln! Einfach so in den Kampf der Uralten zu rennen, war lebensmüde gewesen. Er hoffte inständig das Judy ihm ins Gewissen redete – ein letztes Mal zumindest. Es war ein recht trauriger Gedanke… „Galux, du wirkst so erschöpft. Stimmt etwas nicht?“, fragte Ray inzwischen. Lange Zeit blieb sie stumm, dann antwortete das Bit Beast, in einer geradezu schmerzvollen Tonlage: „Ich glaube Driger ist tot.“ Es ließ Ray einen Moment inne halten. Er blickte auf Galux herab, deren Körper matt auf seinem Arm ruhte. Dabei sprach sie nur aus, was alle befürchtet hatten, als sie Dragoon in der Höhle vorfanden. Es konnte gar nicht anders sein… Wäre Driger als Sieger hervorgegangen, wäre sein Gegner wohl kaum hier aufgetaucht. Dennoch hinterließ diese Nachricht einen fahlen Nachgeschmack. „Warum bist du dir da so sicher?“, wollte Ray wissen. Seine Stimme klang gefasst, aber nicht besonders euphorisch. Tyson versuchte einen Blick in dessen Gesicht zu erhaschen. Nach allem was passiert war, konnte er seinem Bit Beast kaum noch sonderlich viel Zuneigung entgegen bringen - dennoch wirkte Ray nicht glücklich über diese Botschaft. „Ich meine, euch das schon einmal erklärt zu haben… Drigers Macht ist wie der Stamm eines Baumes. Doch ich bin nur eines der vielen Blätter, was sich an seiner Energie labt.“, Galux seufzte müde. „Ich glaube… nun bricht der Herbst über mich herein. Also kann mein Stamm nur schlafen oder gar tot sein.“ Tyson stockte einen Moment der Atem. „Was bedeutet das? Bist du in Gefahr?“ Ihm schien als würde das Bit Beast ihm ein müdes Lächeln schenken. „Ich muss sparsamer mit meiner Kraft umgehen. Das ist alles. Und ich sollte meiner kleinen Mao einen Besuch abstatten, sobald ich in der Menschenwelt bin.“ „Warum?“, fragte Ray verwundert. Doch Tyson wusste die Antwort bereits von seiner Unterhaltung mit Wolborg. „Weil das Menschenkind eines Bit Beast, wie eine Art Energiequelle fungiert.“, wiederholte er Wolborgs Worte nachdenklich. Ihm kam es damals so vor, als wäre er nur eine Steckdose für Dragoon. Das hatte ihn im ersten Moment ziemlich gekränkt. Dennoch schaute er Ray nun drängender an. „Mariah kann ihr helfen. Wir sollten Kai holen und zusehen, dass wir von hier verschwinden. Galux muss ihre Kräfte schonen.“ „Beeilt euch. Ihr habt nicht mehr viel Zeit um hinauszugelangen.“, drängte das Bit Beast schwach. Ein Nicken war die Antwort. Da erblickte die kleine Gruppe einen hüpfenden Lichtfleck, der eiligst auf sie zusteuerte. Kurz darauf vernahmen sie Allegros Rufe, der bereits von weitem auf sich aufmerksam machen wollte. „Himmel… Eine Sorge weniger!“, stieß Tyson strahlend aus. Er hatte sich schon gefragt, was aus ihrem wackeren Mäuserich geworden war. Der legte auf den letzten Metern zu ihnen eine Vollbremsung hin. Doch bevor er ihm seine Erleichterung beteuern konnte, sahen sie die kleine Springmaus, wie wild mit den Ärmchen rudern. „Bei allen Uralten, habe ich euch endlich gefunden!“, die winzige Gestalt vor ihnen, warf mit Gesten förmlich um sich. „Kommt schnell, meine Herren! Beeilung!“ „Was ist los?“ „Der kleine Mensch! Da wollte mir das Kind etwas Gutes tun und mich von einem Eissee herunterholen, nun steckt der arme kleine Tropf selbst in Schwierigkeiten!“ „In was für Schwierigkeiten?“, keuchte Ray entsetzt. „Er ist festgefroren… Auf der Eisschicht!“ „Was?!“, kam es von den beiden Jungen wie aus einem Mund. Es war die Situation an sich, die ihnen so verboten bekannt vorkam, dass es beinahe schon makaber wirkte. „Na wenn ich es euch doch sage! Als ich wieder aufgewacht bin, habe ich den kleinen Kai auf mich einreden hören. Er nahm mich behutsam in die Handflächen und wollte dann auch schon mit mir ans Ufer laufen, da bemerkten wir aber, dass er nicht mehr von der Stelle kam! Der Ärmste ist festgefroren und bekommt sich nicht los. Nun ist der Helfer zum Opfer geworden und ich musste los, um euch zu finden!“ Galux atmete hörbar aus. „Ich hatte ihm gesagt, er soll sofort von der Eisfläche hinunter!“, stieß sie empört hervor. „Ai, ai, ai… Was soll ich da noch antworten, meine liebe Mademoiselle?“, Allegro hob hilflos die Ärmchen. „Man mag kaum glauben, wie gering die Aufmerksamkeitsspanne von einem Kind ist. Da horcht jeder Goldfisch im Glas besser zu!“, Galux versuchte sich von Rays Armen aufzustemmen, glitt jedoch müde zurück. „Menschen machen stets nur Ärger. Ist ein Problem aus der Welt geschafft, sorgen sie auch schon für das Nächste.“, beklagte sie sich. „Jetzt vergiss doch deine Vorwürfe!“, stieß Tyson aufgebracht aus. „Allegro, das Eis ist doch nicht aufgebrochen, oder?“ „Das nicht…“ „Dann führ uns sofort zu ihm!“ „Jawohl, die Herren!“, die Strommaus salutierte vor ihm, tat mit einem Hüpfer in der Luft kehrt und rannte schleunigst in die Richtung, aus der er gekommen war, während die beiden Jungen ihm hinterherschlitterten. In Tysons Kopf tauchte das Szenario vom Baikalsee auf. Innerlich fluchte er, weil Kai es geschafft hatte, sich erneut in eine so dämliche Lage zu manövrieren. Was stimmte mit dem Jungen nicht, dass er ständig auf irgendwelchen bescheuerten Seen festfror? Damals auf dem Baikalsee war es schon eine Schnapsidee gewesen, darauf zu bladen, aber er hatte ja dort unbedingt den knallharten Kerl markieren müssen. Kenny war nicht sonderlich begeistert davon gewesen, als sie ausgerechnet die spiegelglatte Oberfläche des Sees, als Austragungsstätte für ein finales Match zwischen ihnen wählten, doch Kai war so stur geblieben und hatte darauf beharrt, an Ort und Stelle die Fronten zu klären. Das Ende vom Lied war, dass er ihr Match verlor, die Blades einen solchen Schaden auf der Eisschicht hinterließen, dass sie aufsprang und Kai es irgendwie vollbrachte, auf einer der Schollen festzufrieren und dabei drohte abzusaufen! Toller Plan Mr. Hiwatari… Noch heute warf Tyson ihm diesen Zwischenfall vor. Einmal wollte er sogar von Kai wissen, ob es möglich war, dass Black Dranzer als Pfand für seine immense Kraft, die Gehirnzellen seines Bladers außer Kraft setzte. Kai hatte ihm daraufhin schmerzhaft gegen die Schulter geboxt, weil er diese alte Kamelle, nach all den Jahren, einfach nicht mehr hören wollte. Inzwischen sprang Allegro über eine kleine Anhöhe, die stark an einen Damm erinnerte. „Da unten! Er scheint noch unversehrt.“ „Galux, du bleibst hier.“, wies Tyson sie an. „Ich denke wir bekommen das schon alleine hin. Es sollten so wenig wie möglich Leute auf dem See herumspazieren.“ Das Bit Beast nickte dankbar, während Ray sie auf dem Boden absetzte. Kurz darauf kraxelte er über die Steigung, während Tyson bereits über den Rand gekommen war. Gleich dahinter, ging es steil bergab. Es wirkte wie der Tellerrand einer Suppenschüssel. Bis auf die Größe des Sees und die Umgebung, in welcher sie sich befanden, hätte Tyson schwören können, in einer Vergangenheitssequenz fest zu stecken. Anstatt waldige Landschaft umsäumte ein steiles Ufer den unterirdischen See. Seine Oberfläche wirkte dunkel, ja geradezu finster. Nicht wie damals auf dem Baikalsee, dessen dicke Eisschicht vom puderartigem Neuschnee, des letzten Abends, bedeckt war. Tyson rutschte den Abhang hinab Richtung Ufer und bemerkte ein weiteres Mal, wie spiegelglatt die Felsen waren, denn er bekam keinen richtigen Halt. Stattdessen schlitterte er holprig näher an den See heran, als eigentlich beabsichtigt und landete schmerzhaft auf dem Rücken. Innerlich fluchte er über Kai – weil er nun seinetwegen hier herumschlittern musste. Dem Jungen gehörte der Hosenboden versohlt! Sobald Tyson sich stöhnend aufgerichtet hatte, spähte er zu der Kindergestalt im Zentrum des Sees. Aus der Ferne betrachtet, schien die dunklere Silhouette noch immer damit beschäftigt zu sein, sich mit aller Kraft, vom Eis zu lösen. Ihm den Rücken zugewandt, beobachtete Tyson, wie Kai geradezu verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Er packte seinen eigenen Fuß und zerrte daran, als könne sein leichtsinniges Vorhaben, etwas an seiner misslichen Situation ändern. „Sei gefälligst vorsichtiger! Du weißt nicht wie dick die Eisschicht unter dir ist!“ Als die herrische Forderung zu Kai schallte, geriet der vor Schreck ins Straucheln. Das Kind musste seine Handflächen auf dem Eis abstützten, um nicht auf den Hintern zu landen. Kurz darauf blickte es geradezu vorwurfsvoll, über seine Schulter hinweg, zu ihm und rief: „Das war gemein! Du hast mich erschreckt!“ Ray tat neben Tyson den ersten zaghaften Schritt auf die Eisfläche, um die Stabilität zu überprüfen. Als er sicher war, das sie sein Gewicht hielt, arbeitete er sich mit schleifenden Bewegungen vorwärts. Inzwischen fühlte Tyson, wie Allegro sein Hosenbein hinaufkraxelte, um auf seinem Cappy Platz zu nehmen. Kurz darauf folgte er Rays Beispiel, tat einen Schritt vor den anderen, konnte es aber auch nicht lassen, Kai weiterhin zu tadeln: „Wie zum Geier bist du wieder festgefroren?!“ Ihm leuchtete einfach nicht ein, wie ein einzelner Mensch, so viel Pech haben konnte. Womöglich war etwas an Kais Gangart verkehrt und er watschelte mit den Schuhsohlen, wie es Gänse taten. „Ich weiß nicht. Es ist ganz plötzlich passiert.“ „Das ist doch unglaublich!“ „Tut mir Leid.“, hörte er Kais schuldbewusste Stimme. „Dich kann man nie aus den Augen lassen!“ „Ich habe doch gesagt, dass es mir Leid tut…“ „Zweimal!“, redete sich Tyson stattdessen in Rage, während sie sich weiter dem Zentrum näherten. „Das ist das zweite Mal das du auf einem verdammten See festfrierst!“ „Gar nicht wahr…“ „Doch! Als du Erwachsen warst! Das hatte ich dir erzählt!“ „Hör auf mich auszuschimpfen!“, klagte das Kind nun trotziger. Tyson konnte sich gut ausmalen, wie seine blassen Wangen vor Zorn rot brannten. „Dir gehört es nicht anders!“ „Leute, ich fand es eigentlich ganz angenehm, das ihr euch hier so selten gestritten habt.“, warf Ray inzwischen genervt ein. Sein Kommentar ging aber ungehört unter, denn da schallte Kais Ruf auch schon wieder zu ihnen. „Das war doch gar keine Absicht!“, stellte der Kleine klar. „Den Eindruck hat man aber!“, blaffte Tyson nach vorne. „Ich habe dir doch erklärt was mit dem grauen Katzenkind passierst ist! Hörst du mir eigentlich nie zu?“ „Das habe ich vergessen…“ Ein fassungsloses Schnauben kam aus seiner Kehle. „Vergessen! Na dann rühr dich wenigstens nicht von der Stelle, bevor Ray und ich kommen. Oder willst du das auch wieder vergessen?!“ „Leute…“ „Ich kann gar nicht weg! Ich bin festgefroren!“, kam Kais schnippische Entgegnung. „Auch noch neunmalklug? Noch ein Wort und du bleibst wo du bist!“ „Leute!“, knirschte Ray erneut mit den Zähnen. „Monsieur, bitte etwas mehr Konzentration bei der Sache.“, tadelte auch Allegro ihn. „Du bist manchmal richtig doof!“, hörte Tyson das Kind ihn anklagen. „Wag es nicht, jetzt auch noch frech zu werden!“ „Du hast angefangen!“ „Wenn ich dich in die Finger kriege, zieh ich dir die Ohren lang, du kleiner Unruhestifter!“ „Sofort die Klappe halten!“, fauchte Ray ein Machtwort. Seine Stimme schallte noch lange in der Kammer. Er blieb so abrupt stehen, dass Tyson in ihn hineinrannte. Da drehte sich sein Vordermann auch schon zu ihm um und taxierte ihn böse. „Können wir uns für ein paar Minuten darauf konzentrieren, dass wir den Kleinen vom See bekommen? Ohne ein großartiges Drama daraus zu machen?!“ Eine unangenehme Stille kam zwischen ihnen auf. Tyson blickte in Rays helles Augenpaar, auf die Brauen darüber, die verärgert zuckten. Wie von alleine wanderte seine Hand in seinen Nacken und ein verlegenes Lächeln trat auf seinen Mund. „Tschuldigung. Die Macht der Gewohnheit.“ „Diskutier nicht mit ihm. Du bist älter!“, mahnte Ray mit erhobenem Zeigefinger. „Eigentlich ist er...“ „Hörst du jetzt auf?!“ „Bin schon ruhig.“, Tyson vollführte eine Bewegung, als würde er einen Reißverschluss vor seinen Mund zuziehen. Es dauerte bis sein Freund den strengen Blick von ihm abwandte. Als er wieder vorsichtig voran schritt, vernahm Tyson noch etwas, was verdächtig nach „altes Ehepaar“ klang. Dieser Vorwurf ließ ihn entnervt die Augen verdrehen. Er konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie oft er diesen Spruch von Ray zu hören bekam, sobald Kai und er sich einmal kabelten. Es entwickelte sich zu seinem persönlichen Slogan. Immerhin hatten sie sich in den letzten Tagen doch zusammengerissen, da konnte ein Rückschlag einmal passieren. Dennoch nahm Tyson die Standpauke hin, denn eigentlich wäre es ihm auch lieber, Kai vom Eis herunterzuholen, bevor etwas schlimmeres passierte. Das Eis knarzte leise unter ihren Sohlen, dennoch gab es nicht nach. Es schien tatsächlich äußerst dick zu sein, aber die Vergangenheit hatte sie gelehrt, dass ihr Urteilsvermögen ziemlich schlecht war, was dieses Thema betraf. Immerhin hatten sie sich auch auf dem Baikalsee sicher gefühlt. Sie gingen deshalb auch äußerst umsichtig vor. Beinahe bei dem Kind angekommen, bemerkte Tyson, wie bockig es zur Seite schaute und die Lippen zu einem Schmollmund verzogen hatte, dabei hielt Kai auch noch die Arme beleidigt vor der Brust verschränkt. Er schmunzelte und musste gestehen, dass der Kleine mehr putzig, als störrisch ausschaute. Scheinbar war Tysons eigenes „Inneres Kind“ mit ihm durchgegangen, was ihm auch schon wieder Leid tat. Ray machte vor ihm einen weiteren Schritt, als sie ein Knacken vernahmen, was nicht ganz so gut klang. Beide hielten den Atem an, doch Kai schien es noch nicht bemerkt zu haben. Er sollte nun bloß nicht in Panik verfallen… „Ich denke, ich gehe besser alleine weiter. Zwei Personen, sind bestimmt zu viel.“, flüsterte Ray leise an ihn gewandt, offenbar um das Kind nicht zu beunruhigen. Doch Tyson packte ihn am Handgelenk und schüttelte energisch den Kopf. „Du bist größer als ich. Wahrscheinlich dann auch schwerer. Lass mich vorangehen.“ „Okay, aber bleib vorsichtig.“, ermahnte Ray ihn besorgt. Er setzte ein zuversichtliches Lächeln auf und nickte. Erst dann folgte ein zögerlicher Schritt vorwärts. Er ließ seine Schuhsohle ganz nah über der Oberfläche schleifen, um mit dem Aufsetzen seines Fußes, keine unnötigen Erschütterungen auf dem Untergrund zu verursachen. Es knackte auch weniger als zuvor. Tyson entfernte sich einige Schritte von Ray, der aufmerksam jede seiner Bewegungen verfolgte. Kurz vor dem Kind, streckte er die Hand aus, um Kai zu verdeutlichen, dass er bald bei ihm angekommen war, bemerkte aber, dass der noch immer ob seiner Standpauke schmollte. Er schnalzte genervt mit der Zunge. „Bist du noch immer sauer?“ „Ja!“, beklagte der Junge sich. Sichtlich empört, dass er überhaupt noch fragte. „Muss das jetzt sein?“ „Du schimpfst immer mit mir! Das ist gemein!“ „Darüber reden wir später. Gib mir deine Hand.“ Er streckte seinen Arm weiter in dessen Richtung aus. Dennoch griff Kai nicht zu. „Worauf wartest du?“ „Ich mag dich nicht mehr. Ray soll mich holen…“ „W-Was? Wieso?!“ „Weil du mich nicht ausschimpfen darfst! Ich bin auch ein großer Kater! Das hast du selbst gesagt!“ „Aber jetzt bist du klein!“ „Mir egal… Ich will zu Ray.“ „Oh, tut mir Leid werter Prinz!“, brauste Tyson verärgert auf. „Du wirst mit mir Vorlieb nehmen müssen, also stell dich gefälligst nicht so an!“ „Nein.“, weigerte sich Kai bockig und schüttelte nur umso sturer den Kopf. Beinahe wären Tyson die Sicherungen durchgebrannt - jetzt hatte der Zwerg schon viel mehr von seinem erwachsenen Alter Ego! Er hörte wie Allegro, dicht neben seinem Ohr, die Hände verzweifelt ins Gesicht schlug. „Was für ein Starrsinn!“, jaulte die Strommaus auf. „Um Himmels willen, Kai! Jetzt gib ihm endlich deine Hand!“, rief nun auch Ray hinter ihm entgeistert aus. Er konnte sich gut vorstellen, dass der sich vor Verzweiflung die Haare raufen wollte. „Aber ich will nicht immer ausgeschimpft werden!“ Tyson wurde es zu bunt. Er tat einen weiteren Schritt auf das Kind zu, da hörte er ein unheilvolles Knarzen unter seiner Schuhsohle. Als sein Blick hinabirrte, erkannte er eine zarte weise Linie, die wie die wirre Verästelung einer Baumkrone wirkte, der vor einem dunklen Hintergrund prangte. Seine Augen weiteten sich und nun hatte auch Kai das Geräusch gehört. Das Kind hielt die Luft an und starrte mit offenem Mund in seine Richtung. Es wurde einen Moment still zwischen ihnen. „Krümel… Wir reden später darüber.“, sprach Tyson nun mit äußerstem Nachdruck. Er streckte seine Hand weiterhin in Kais Richtung aus, setzte jedoch eine Miene auf, die keine weitere Diskussion zuließ. „Ich möchte, dass du nach meiner Hand greifst. Jetzt… sofort! Hast du das verstanden?“ Das hatte er… Denn Kai wurde sich nun seiner Lage doch bewusst. Er löste vorsichtig die verschränkte Haltung vor seiner Brust, als habe er Angst, dass selbst diese Bewegung zu viel war und streckte sich nach ihm aus. Als Tyson ihn zu fassen bekam, fühlten seine winzigen Finger sich eiskalt, in seiner Handfläche an. „Ich ziehe jetzt. Okay?“ „Geht es da unten tief hinunter?“, kam die eingeschüchterte Frage. „Das wollen wir gar nicht erst herausfinden. Auf drei ziehe ich. Eins, zwei… Drei!“ Kai verzog das Gesicht, als Tyson den Ruck ausübte – leider erfolglos. Stattdessen ließ sein Vorhaben weitere Verästelungen aufblühen. Bei dem Gedanken trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn. Tyson versuchte seine Position zu ändern, um nicht ständig wegzurutschen, sobald er zog. Das war aber leichter gedacht als getan. „Kannst du mir deine andere Hand auch noch reichen?“ Kai streckte sich noch weiter vor, um seinen Vorschlag in die Tat umzusetzen, da knackte es umso lauter. Nun schossen die Risse, wie ein Blitz über die Eisfläche, tanzten knisternd um Kai herum, da tat sich auch schon ein Sprung, direkt zwischen ihnen auf. Es gab einen lauten Knall und schon fühlte Tyson wie er ins Schlittern geriet, als die Scholle auf und ab wankte. Er geriet ins Straucheln und fiel auf den Boden, die zarten Kinderfinger in seiner Handfläche entglitten ihm. Sein Sturz brachte eine solche Erschütterung mit sich, dass das Eis unter ihm komplett von restlichen Teil abbrach. Er hörte Rays Ruf hinter sich. „Zurück, Junge! Zurück!“, forderte Allegro prompt. Tyson fühlte, wie die Scholle auf der er trieb, unter seinem Gewicht absank. Die kalten Wassermassen, saugten sich in seinen Jeansstoff und machten seine Bewegungen dadurch noch schwerfälliger. Er warf einen Blick zu Kai, der mit weit aufgerissen Augen, wie ein Schiffsbrüchiger auf einer verlassenen Insel wirkte – seine Eisplatte sank jedoch nicht. Bevor er unterging, rappelte sich Tyson eiligst auf und mit einem beherzten Sprung rettete er sich, auf die noch unversehrte Platte von Ray, der entsetzt die Augen aufriss und einige Schritte zurückwich. „Monsieur! Hüpf hier nicht herum wie ein Reh im Wald!“, ermahnte Allegro ihn eindringlich. „Du hättest dabei auch diese Eisplatte zerbrechen können! Willst du die Oberfläche vollends beschädigen?“ Tyson verzog peinlich berührt das Gesicht. Das hatte er in seiner Panik fast vergessen, aber immerhin sagte das viel, über die Dicke des Eises, auf dieser Seite aus. „Verdammt!“, fluchte Ray laut und blickte hilflos zu dem Kind hinüber. „Versuch dich so wenig wie möglich zu bewegen!“ „Okay…“, kam es ziemlich nervös zurück. Kai atmete schnell, als wäre er in Panik, knetete dabei mit seinen Fingern heftiger als je zuvor. Die Eisplatte auf der Tyson zuvor gelegen hatte, brach inzwischen in viele weitere auseinander, während das größte Stück davon, vor ihren Augen, blubbernd auf und ab schwappte. Die Wellen die es dabei auf dem See erzeugte, ließen auch Kais Platte in Bewegung geraten, bis die Gruppe mit stockendem Atem zusehen musste, wie das letzte Stück, was seine Eisscholle, mit dem übrigen Teil verband, auch abbrach. Der Junge ruderte erschrocken mit den Armen um das Gleichgewicht zu halten – doch sein kindlicher Körper kam ihm in diesem Fall sogar zugute. Kai war viel leichter, als damals auf dem Baikalsee, weshalb sich seine Platte nicht hinabsenkte. Noch nicht… Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie womöglich auch auseinander brach. Tyson konnte seinen Blick nicht von ihm abwenden, wie der Kleine vorsichtig die Arme streckte, um die wankende Platte unter sich, wieder ruhiger werden zu lassen. Kais Kopf war starr erhoben, doch seine Augen schielten bang auf seinem Untergrund. „Vielleicht kommen wir von der anderen Seite besser an ihn heran.“, spekulierte Ray. „Und wenn die auch einbricht?“, warf Allegro vehement ein. „Beinahe wäre schon Tyson untergangen, es würde uns gerade noch fehlen, wenn wir dich auch noch aus dem Wasser fischen müssten.“ „Vielleicht können wir ihn irgendwie herüberziehen? Mit einem Stock oder so…“ „Wo willst du hier einen finden?“ „Und was sollen wir dann machen?!“, jaulte Ray geradezu verzweifelt. „Darauf hoffen, dass der See in den nächsten fünf Minuten wieder zufriert, wird uns nicht weiterbringen!“ „Er hat Recht. Wir müssen es zumindest versuchen.“, sprach Tyson entschlossen an Allegro gewandt. Da bemerkte er wie Kai zu zappeln begann. Er wollte ihn schon dazu ermahnen, gefälligst still zu bleiben, da fiel ihm erst auf, dass das Kind sein Bemühen lediglich auf seine Beine beschränkte. Irgendein Plan schien sich in seinem Kopf gebildet zu haben. Als Tyson auf Kais Füße spähte, wurde ihm endlich klar, was er da trieb. Er versuchte aus seinen Schuhen zu schlüpfen. „Hör auf damit!“, rief er ihm panisch zu. „Das ist Wahnsinn! Eher kippt die Platte noch um, bevor du dich aus deinen Schuhen befreien kannst. Oder sie geht kaputt!“ „Doch… Das geht!“, beteuerte ihm Kai energisch. „Ich bin schon fast draußen!“ „Nein, Junge, hör auf ihn! Lass deine Freunde dir helfen!“ „Ich schaffe das!“ Die Scholle geriet bedrohlich ins Schwanken, doch plötzlich machte Kai einen kleinen Hüpfer, um seinen Schuhen zu entsteigen. Tyson starb tausend Tode. Er sah die Platte unheilvoll auf und ab springen. Kai kam ungeschickt, jedoch auch unversehrt auf ihr auf. Noch einige Zeit rutschte das Kind leicht auf der glatten Oberfläche umher, vollbrachte es doch aber tatsächlich, sich auf ihr zu halten. Als die Erschütterungen nachließen, atmete der Junge erleichtert aus und blickte zu ihnen herüber. Dieser kleine, flinke Kater… Tyson musste grinsen und auch über Kais Gesicht huschte ein Lächeln, als sich ihre Blicke trafen. Womöglich unterschätzte er tatsächlich manchmal das Kind. „Okay. Das war zwar gewagt, aber gut gemacht.“, sprach er anerkennend. „Hab ich dir doch gesagt…“ Der Kleine klang ganz schön stolz. Tyson rollte mit den Augen, ließ ihm aber mit einem Schmunzeln, seinen Glanzmoment durchgehen. „Vielleicht kann ich auch zu euch herüber springen?“ Sofort rutschte ihm das Herz wieder in die Hose. Ihm stockte der Atem. „Auf gar keinen Fall!“, warf Ray entsetzt ein. „Das ist viel zu weit für dich!“ „Ich kann es doch probieren…“ „Nein Kai!“, schrie Tyson fast schon panisch. „Lass es bleiben! Das Eis könnte brechen!“ Doch da versuchte das Kind auch schon soweit es ging Anlauf zu nehmen. Ihm gelangen lediglich zwei kleine Schritte. Die Platte geriet durch die plötzliche Bewegung in eine extreme Schräglage und als Kai den Rand erreichte, erhob sich das andere Ende bereits steil in die Luft, wie bei einer Wippe. Nur ein kleiner Satz gelang ihm, da landete das Kind auch schon im eiskalten Wasser. „Um Himmels willen!“, rief Allegro aus. Mit geweiteten Augen beobachtete Tyson, wie die Eisplatte hinter Kai sich auf die andere Seite wendete, als wäre sie eine Münze, die sich in der Luft um die eigene Achse drehte. Sie verfehlte nur haarscharf den Kopf des Jungen, der wie ein ertrinkender Welpe in den Fluten voran kraulte. Als ihre flache Oberfläche auf das Wasser klatschte, stoben die Tropfen nur durch die Gegend. Eine kleine Welle entstand dabei, die Kai erfasste und weiter in ihre Richtung trieb, dennoch nicht nah genug, damit er an den Rand fassen konnte. Tyson ging eiligst in die Knie und streckte sich soweit es ging, in seine Richtung aus. Unter ihm war das Wasser pechschwarz. Kais Hände vor ihm verfehlten ihn mehrmals. Das Gewicht seiner nassen Kleidung musste schwer auf ihm lasten, denn er drohte unterzugehen. „Greif nach mir! Bitte Kai, versuch meine Hand zu erreichen!“ Seine Stimme überschlug sich vor Panik. Doch Kai erreichte ihn nicht. Er schien auch kein besonders guter Schwimmer zu sein. Vielleicht konnte er es in diesem Alter auch noch gar nicht. Die Erkenntnis ließ Tysons Augen weiter werden. Kai stellte sich so ungeschickt an, dass es gar nicht anders sein konnte! „Halt mich fest Ray!“, es bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Sein Freund begriff sofort was Tyson vorhatte. Der schob sich weiter vorwärts, bis sein Oberkörper über den schwarzen Fluten schwebte und als Kai unterging, tauchte er ihn hinab, während Ray seine Beine zu Boden drückte, damit er nicht auch gänzlich hineinrutschte. Das Wasser plätscherte Laut um seine Ohren als er eintauchte. Augenblicklich umfing ihn eine tödliche Stille, samt einer schmerzenden Kälte. Sie stach auf seiner Haut wie tausend Nadeln. Ihm blieb komplett die Luft weg. Selbst die Augen taten ihm weh. Inmitten dieser Schwärze, war Kais winzige Gestalt, wie ein heller Lichtfleck, der drohte, von seiner eigenen Kleidung hinabgesogen zu werden. Sein blasser Arm streckte sich nach ihm aus und Tyson bäumte sich noch ein weiteres Mal vorwärts, lehnte sich gegen Rays Griff auf, um noch ein paar Zentimeter mehr zu gewinnen und das Kind zu fassen zu bekommen. Endlich fühlte er die kleine Handfläche, die sich in seine eigene legte. Er versuchte seinen Oberkörper hoch zu stemmen, damit Ray begriff, dass er wieder hinaus wollte. Sofort spürte er den festen Griff, an seiner Jacke, der ihm aufhalf. Tyson stieß den Kopf keuchend aus den Fluten, atmete dabei japsend nach Luft. „Hast du ihn?!“, wollte Ray wissen. Er nickte mit dem Kopf. Immer wieder. Immer wieder… Weil er zu nichts anderem in der Lage war, um sich Gehör zu verschaffen. Ständig verschwand er mit dem Oberkörper in den Fluten und jeder Satz von ihm, ging in einem hustenden Gurgeln unter. Kai strampelte verzweifelt unter Wasser an seiner Hand. Mit aller Macht versuchte Ray ihn herauszuzerren. Doch offenbar war es ein enormer Kraftakt, zwei Menschen aus einem See zu bekommen, deren Kleidung sich gleichermaßen mit Wasser vollgesogen hatte. Tyson hob den Kopf ein weiteres Mal aus der Kälte, um nach Luft zu schnappen. Seine Lunge gefror förmlich. „MAX!“, hörte er Ray verzweifelt brüllen. Da ging er auch schon wieder unter. Die Stimme klang dumpfer unter Wasser. Tyson versuchte mit der anderen Hand nach Kais Arm zu greifen, doch brauchte er die, um wenigstens noch hinaufpaddeln zu können und sich einen Atemzug zu verschaffen. „MAX!“ Rays Stimme glich nun einem Brüllen, wie ein Tier was in einer Falle festsaß. Noch immer hielt er Tyson fest am Kragen gepackt, um ihm auf zu helfen. Der fühlte wiederum, wie die Bewegungen in seiner Hand träger wurden. Seine tauben Finger hielten Kai fest umschlossen, weigerten sich, von dem Jungen abzulassen. Ihn trieb der Gedanke, dass er es nicht ertragen könnte, wenn der Kleine irgendwo dort unten, leblos dahin trieb. Da schallte auch schon der nächste Schrei aus Rays Kehle. Nun klang es wie das Brüllen eines Tigers. Lauter als je zuvor… „MAX! WIR BRAUCHEN DICH!“ ENDE Kapitel 37 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)