Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 41: ------------ „Ob wir zu Fuß nicht doch schneller gewesen wären?“, fragte Ray besorgt. Max wiegte den Kopf von einer auf die andere Seite und zuckte letztendlich mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber jetzt haben wir diesen Wagen, also sollten wir die Gelegenheit nutzen. Zumal wir Glück haben das Hanas ehemaliger Kommilitone in der Nähe gewohnt hat.“ Er schaltete umständlich in den nächsten Gang, denn sein Auto in den USA besaß Automatik, deshalb war er diese Art der Schaltung nicht mehr gewohnt. Es musste jedoch ausreichen… Kenny besaß keinen Führerschein, weil er ständig durch die Praxisführung gerasselt war – er hatte nämlich Nerven aus Pudding wenn es um Prüfungen ging - Mr. Kinomiya war sein Führerschein nach dem ersten Schlaganfall entzogen worden, Kai war noch nicht eingefallen wie man fuhr, Jana war natürlich viel zu jung und Rays Führerschein nicht im Ausland gültig. Max eigener war nur deshalb zugelassen, weil er seine Fahrprüfung in Japan abgelegt hatte – das war noch Jahre bevor ihn die Depression seiner Mutter zwang, in die USA zurückzukehren. „Ziemlich fragwürdiges Glück wenn du mich fragst.“, maulte Großvater Kinomiya inzwischen von hinten aus. „Das hier ist doch kein Wagen, sondern ein Zustand! Zwischen den Ritzen habe ich einen Zwiebelring entdeckt.“ Es stimmte schon - dieses Auto war ekelhaft. Hana hatte die Gruppe aber auch vorgewarnt, als sie eiligst zum Wohnblock liefen, in welchem ihr Bekannter lebte. Sie war der festen Überzeugung, dass sie bei dem Chaos auf den Straßen, kaum ein Taxi finden würden. Stattdessen rief sie ihren Freund vom Handy aus an und bat in einer geradezu süßlich liebreizenden Art darum, ob er der Gruppe nicht seinen Wagen ausleihen würde. Es überraschte Max, dass er tatsächlich zusagte. Er selbst hätte niemals einer wildfremden Meute sein Auto überlassen, erst recht nicht bei diesem Wetter, wo eine Delle bald vorprogrammiert war. Doch Hana meinte, dass ihr Freund ziemlich locker sei – wahrscheinlich sogar zu locker. Zunächst begriffen sie nicht, weshalb Hiros Verlobte es in einem solch merkwürdigen Tonfall aussprach, bis sie auf dem Weg zum Wohnblock erwähnte, dass er sein Studium abgebrochen habe, kurz bevor es zum endgültigen Rausschmiss aus der Universität in Osaka kam. Offenbar hatte Hanas Bekannter einmal zu oft, vor einer Vorlesung, zur Wundertüte gegriffen und war dabei erwischt worden, wobei Mr. Kinomiya verwundert fragte, ob das eines dieser neumodischen Wörter für das Internet sei. Die jüngere Generation versicherte dem alten Mann peinlich berührt, dass sie ihm in einer ruhigeren Minute erklären würden, was es damit auf sich hatte. Hanas Bekannter hielt sich seit seinem Rauswurf scheinbar nur noch, mit diversen kleineren Jobs über Wasser und als die Gruppe ihn zum ersten Mal sah, schien er mit seinem Leben auch ganz zufrieden, so lange er seine ganz spezielle Hydrokultur auf der Feuertreppe anpflanzen durfte. Der Wagen zeugte nur geradezu von seiner lockeren Lebensweise. Es war ein klappriger Honda, Kenny sprach von einem CR-V und war total verwundert gewesen, dass solche Autos noch auf japanischen Straßen existierten, immerhin wurde dieses Modell seit 2001 nicht mehr produziert. An dieser Aussage hatte der Rest der Anwesenden keinen Zweifel. Der vordere Teil des Wagens besaß keinen Lack mehr. Hanas Bekannter erklärte, dass er den eigentlich komplett hatte abschleifen wollen, als ihm auffiel, dass sein Honda nun ausschaute, als habe er richtige Kuhflecken und das ganz ulkig fand. Max vermutete jedoch eher, dass ihm noch Mitten in seinem Vorhaben die Muße verlassen hatte. Wäre die Gruppe nicht in solcher Eile gewesen, keiner wäre in diese Blechdose eingestiegen. Es war nie ein sonderlich gutes Zeichen, wenn der Besitzer eines Wagens das Auto vor einer Fahrt kurzschloss, weil er die Schlüssel einige Wochen zuvor verloren hatte. Diese Kiste schien ziemlich viel mit ihrem Besitzer mitgemacht zu haben. Kenny raufte sich fassungslos die Haare, als Hanas Bekannter ihnen gutgelaunt erklären wollte, wie sie die Kiste wieder starten konnten und ihnen die bunten Kabel präsentierte, die unter dem Lenkrad wahllos hinunterbaumelten. Allerdings war die Gruppe noch überraschter, als Kai aus heiterem Himmel meinte, dass er bereits wisse wie so etwas funktioniert. „Woher zur Hölle weißt du, wie man ein Auto kurzschließt?!“, hatte Max ihn verdattert angestarrt. Kai hatte einige Zeit zurückgeblinzelt, als ob er sich diese Frage ebenfalls stellte. Dann antwortete er nach einer langen Denkpause: „Ich glaube so ein Rotschopf namens Tala hat mir das einmal beigebracht.“ Er klang dabei genauso erstaunt wie Max, doch immerhin verdankten sie Ivanovs fragwürdiger Lehrstunde, dass sie das Auto jederzeit wieder anbekamen, falls es auf halber Strecke absaufen sollte. Auf Mr. Kinomiyas Aussage tat Ray inzwischen einen genervten Atemzug. Dann wandte er sich auf dem Beifahrersitz um und taxierte Tysons Großvater düster, der zwischen Kenny und Kai, breitbeinig und mit verschränkten Armen, im Zentrum der Rückbank saß. „Bei allem Respekt Mr. Kinomiya, aber der Wagen dürfte jetzt wirklich unser geringstes Problem sein!“ „Na… Da magst du sogar Recht haben, Junge.“, der alte Mann schüttelte den Kopf. Auf einmal begann er in der Luft zu schnuppern. „Warum riecht es hier eigentlich so pflanzlich?“ Im vorderen Teil des Autos warfen sich Max und Ray vielsagende Blicke zu. Letzterer räusperte sich. „Keine Ahnung was sie meinen.“, lenkte er vom Thema ab, allerdings hatte sich Ray diese Frage bereits beim Einsteigen gestellt und neugierig das Handschuhfach aufgeklappt, wo er die Antwort in einem kleinen Tütchen fand. Noch bevor jemand etwas merkte, schlug er die Klappe wieder zu und flüsterte Max aus dem Mundwinkel heraus zu, dass sie das Auto lieber einige Blocks vom Revier entfernt parken sollten, damit kein Beamter auf die Idee kam, ihn näher zu durchsuchen. Mittlerweile huschten seine Augen zu Mr. Kinomiyas Nebenmann. Kai blickte nachdenklich aus dem Fenster, auf seinem Schoß seine kleine Schwester haltend. Die nestelte summend an den Bändern des Kapuzenpullovers herum, den Tyson ihm überlassen hatte. Sowohl Mariah als auch Hana waren nicht mitgekommen. Ray hatte seine Frau ermahnt, mit Galux in ihrem Hotel zu bleiben und sobald die Entwarnung kam, wieder ins Zimmer zu gehen. Man hatte Mao angesehen, dass es ihr überhaupt nicht passte, schon wieder zum Warten verurteilt zu sein, doch Ray hatte ihr mit ehrlicher Sorge erklärt, dass es bereits für ihn beschwerlich gewesen sei, durch den Schnee zu waten, da würde das für eine hochschwangere Frau wie sie, umso schwieriger werden. Außerdem war sie zu dick für den Wagen… Das hatte er natürlich nicht gesagt, aber jeder von ihnen dachte es insgeheim. Auch die kleine Jana sollte eigentlich bleiben, doch sobald sie hörte, dass sie wieder von ihrem Bruder getrennt werden sollte, begann sie ganz bitterlich zu weinen. Sie hatte sich an Kais Hosenbein geklammert und aus hochrotem Gesicht zu ihm aufgeschaut, während dicke Krokodilstränen aus ihren Augenwinkeln kullerten. Dabei wimmerte sie, dass er ihr doch versprochen habe, von jetzt an bei ihr zu bleiben. Dieser Vorwurf schien ihren Bruder zu treffen. Kai hatte unschlüssig auf seine Schwester geschaut. Es war unübersehbar dass er wusste, wie wichtig seine Aussage auf dem Revier war und das er Tyson auch wirklich helfen wollte – doch das kleine Mädchen wieder zurückzulassen, schien er nicht übers Herz zu bringen. Letztendlich sah jeder in der Gruppe ein, dass es zeitsparender wäre, sie einfach mitzunehmen, als dem heulenden Kind mühsam zu erklären, warum sie da bleiben musste, auch wenn es im Wagen dadurch noch enger wurde. Dafür hatte sich Hana aber bereiterklärt nachzukommen. Der Plan sah vor, dass die Gruppe schon mal voraus fuhr, während sie selbst, sich auf den Weg zu ihrem eigenen Auto machte, um anschließend zum Revier zu fahren. „Im Prinzip seit ihr die wichtigsten Zeugen. Mariah und ich sind entbehrlich, aber ihr seid die Personen, deren Aussagen am dringendsten gebraucht werden. Deshalb solltet ihr schon einmal los. Ich komme nach, sobald ich zu meinem Wagen gelaufen bin – und Kenny soll während der Fahrt noch einmal ganz genau die abgesprochenen Geschichten mit euch durchgehen.“ Gleich nachdem sie die Gruppe zu ihrem Bekannten führte, hatte sie sich auch schon von ihnen verabschiedet, allerdings nicht ohne noch einmal Ray und Max zur Seite zu nehmen, um ihnen nahezulegen, Kai auf dem Revier nur das nötigste reden zu lassen, falls es sich irgendwie einrichten ließ. „Der Junge kommt total verwirrt herüber. Bitte übernehmt ihr dort also das Reden. Mit seinem lückenhaften Gedächtnis, stellt er sonst eine Schwachstelle dar. Und erklärt ihm wie der Kamin aussah, wo er steht, und wo die Bibliothek in seinem Haus war. Er muss glaubhaft klingen, wenn er von dem Brand spricht!“ Mittlerweile schaute Ray ihr Sorgenkind etwas unschlüssig an, das seinen Ellbogen am Fensterrahmen abstützte und sein Kinn auf die Handfläche gebettet hatte. Während er nach den richtigen Worten suchte, um Kai sein Anliegen zu erklären, zögerte Ray es so lange hinaus, das der von alleine bemerkte, dass er angestarrt wurde. Er hob sein Kinn von der Handfläche und wandte sich ihm zu: „Was ist los?“ „Nichts.“, tat Ray arglos. „Soo… Du erinnerst dich also wieder an Ivanov?“ „Ivanov?“ „Tala. Ivanov ist sein Nachname.“ „Verstehe.“, Kai schaute wieder gedankenverloren aus dem Fenster. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Der Name schwirrte mir einfach vorhin durch den Kopf.“ „War es in deiner Erinnerung ein Rotschopf mit blauen Augen?“ Er nickte langsam und sprach: „Der Junge hatte ein merkwürdiges Grinsen drauf. Irgendwie… boshaft.“ „Ja. Das ist Tala.“, meinte Ray knapp. Dann versuchte er sich vorsichtig an das Thema heranzutasten. „Ist es vielleicht möglich, dass du dich auch an das Hiwatari Anwesen erinnerst?“ Kai überlegte, schloss dabei einen Moment die Lider, als versuchte er sich zwanghaft das Gebäude in Erinnerung zu rufen. „Die Dame Solowéj hatte mich in einen Raum geführt mit einem Kamin.“ Max tat einen hörbaren Atemzug. „Kai, ich weiß es ist schwierig für dich, aber könntest du versuchen, deine Kindheit in der Irrlichterwelt, nicht mit deiner echten in der Menschenwelt zu vertauschen?“, sprach er vorsichtig. Als Max in den Rückspiegel spähte, hoben Kenny und Mr. Kinomiya verwundert die Brauen. Diesen Teil der Geschichte kannten sie schließlich noch nicht. Doch bevor einer von ihnen unnötige Fragen stellte, gab Ray ihnen ein Handzeichen, um ihnen zu gebieten einfach still zu bleiben. Sie würden noch genug Zeit haben, ihre gesamten Erlebnisse zu schildern, nun mussten sie aber Kai erst einmal auf seine Aussage vorbereiten. Der schaute mit einem unergründlichen Ausdruck nach vorne. „Was ist denn meine echte Kindheit?“, wollte er auf einmal wissen. Max öffnete den Mund, merkte dann aber, dass Kai ihnen eigentlich kaum etwas darüber erzählt hatte. Sie kannten ihn nur als Jugendlichen, nicht bereits seit klein auf. Er war all die Jahre zu verschlossen gewesen und das schien sich nun zu rächen. „Ehrlich gesagt wissen wir das auch nicht genau…“, erklärte Ray. „Wir wissen eigentlich kaum etwas über deine Zeit in der Abtei, nur ein bisschen über deine Familie… Aber über deine gesamte Kindheit, hast du noch nie mit uns gesprochen.“ „Abtei.“, wiederholte Kai das Wort. Er hob eine Braue fragend. „Was ist eine Abtei?“ „Das weißt du also auch noch nicht?“ „Nein.“ „Naja, vielleicht ist das nicht einmal so schlimm.“ „Warum wisst ihr nichts über meine Vergangenheit?“ „Sag du es uns…“ „Wie meinst du das?“, kam es verwundert. Offenbar schien Kai tatsächlich nicht klar zu sein, dass sein eigenes Verhalten, an ihrer Ahnungslosigkeit Schuld trug. Rays Mund bleib einen Moment sprachlos offen. Er schaute hilfesuchend zu Max, den diese Erkenntnis genauso schockierte, bis er ihm zuflüsterte: „Er versteht es noch nicht, weil ihm zu viele Erinnerungen fehlen.“ Offensichtlich wusste Kai schlicht und ergreifend noch nicht, was für ein Mensch sein erwachsenes Alter Ego war. Was ihn schlicht und ergreifend zu Kai machte. Denn einen Menschen prägten vor allem seine Erinnerungen. Sie zeichneten ihn und formten auch den Charakter. Einen Moment kehrte betretenes Schweigen ein, was nur von Janas Singsang getrübt wurde und dem klackernden Motor des Hondas, bis Kai noch einmal drängender forderte: „Was meinst du damit? Sag es doch einfach! Hört auf mir ständig alles zu verheimlichen und mich in Watte zu packen! Ich bin kein Kind mehr!“ Das gerade er ihnen Geheimniskrämerei vorwarf, hinterließ einen fahlen Nachgeschmack. Ray schnalzte missbilligend. Einen hämischen Moment hätte er ihm liebend gerne gefragt, wie es sich anfühlte, wenn einem etwas verschwiegen wurde – wie Kai seine eigene Medizin schmeckte. Dann sprach er geradeheraus: „Gut, wie du willst… Ich kann dir nicht sagen, warum wir nichts über deine Kindheit wissen. Denn der Grund dafür bist du. Du hast dich immer davor gescheut uns etwas von dir zu erzählen. Wir haben zwar ständig versucht, die Zeit in der Abtei aus dir heraus zu kitzeln, aber du bist immer wütend geworden, wenn man zu sehr nachgehakt hat, manchmal sogar richtig aggressiv und pampig! Einmal meintest du zu mir, dass du keine Lust hast, dich von uns sezieren zu lassen, wie einen Frosch. Du hast mir vorgeworfen dich analysieren zu wollen. Du bist einfach… schwierig was dieses Thema betrifft und verschließt dich komplett vor uns, wenn man damit anfängt. Deshalb ist es für die meisten von uns zum Tabu geworden, dich überhaupt noch danach zu fragen. Der Einzige der hartnäckig daran festhält ist Tyson. Dafür streitet ihr aber auch entsprechend oft.“ Kais Augen weiteten sich. Seine offensichtliche Überraschung ließ Ray seufzen und er versuchte seinen aufkommenden Groll zu zügeln. Milde walten zu lassen… „Um die Wahrheit zu sagen, wir glauben das du uns nie wirklich vertraut hast. Vielleicht auch, dass du es einfach nicht kannst. Und irgendwann, da haben wir einfach aufgehört es zu versuchen und uns damit abgefunden. Wir respektieren dich Kai. Wir sehen dich als unseren Freund an - dass musst du uns wirklich glauben. Aber wenn ausgerechnet du mich fragst, weshalb wir nicht mehr über deine Vergangenheit wissen, kann ich dir nur antworten, dass wir es versucht haben – und wir an dir gescheitert sind.“ Ray wartete auf Kais Reaktion. Er bemerkte das Max es ihm gleich tat, indem er die hintere Reihe vom Rückspiegel aus beobachtete. Kai schaute tatsächlich verblüfft drein, als könne er das selbst nicht glauben. Es vergingen einige Sekunden in denen er Ray nur stumm anstarrte, bis er irritiert den Kopf schüttelte. „Ich… Ich verstehe nicht warum ich das machen sollte? Ich meine…“, er geriet ins Stocken. Mit seinen fehlenden Erinnerungen schien ihm sein Schutzpanzer geraubt worden zu sein. Er war nicht mehr schlagfertig. „In der Irrlichterwelt habt ihr euch nichts anmerken lassen. Da habe ich euch doch auch vertraut. Ich sehe keinen Grund, weshalb das als Erwachsener jetzt anders sein sollte? Ich kann mir das nicht vorstellen…“ „Weißt du das Jana Trisomie hat?“, fragte Max ihn auf einmal. „Tyson hatte etwas über eine Krankheit erzählt, aber was Trisomie ist weiß ich nicht. Vielleicht fällt es mir bald ein…“ „Gut, mag sein. Das spielt auch jetzt keine sonderlich große Rolle - aber hat Tyson dir auch erzählt, dass du uns Janas Zustand verschwiegen hast?“ „Ich glaube… Ja. Da war irgendetwas.“ „Hat er dir auch gesagt wie lange?“, bohrte Max nach. Ray sah wie sich dessen Finger fester um das Lenkrad klammerten. Kai dachte inzwischen nach und antworte wahrheitsgetreu: „Nein. Das hat er nicht.“ „Schön. Dann halt dich gut fest… Du hast es uns nämlich seit ihrer Geburt verheimlicht! Und jetzt schau dir deine Schwester an und sag mir, für wie alt du sie schätzt. Sie ist der wandelnde Beweis dafür, wie du die einfachsten Dinge jahrelang vertuschst.“ Kai starrte auf seine Schwester herab. Die lehnte ihr Köpfchen an seine Brust, ohne zu begreifen, dass momentan von ihr die Rede war. „Seid ihr sicher dass ich euch das nicht erzählt habe?“, fragte Kai etwas hilflos. „Ganz sicher.“, sprach Max. Er klang verbittert. „Aber warum sollte ich das tun?“ „Sag du es uns.“, forderte Ray erneut. „Aber ich kann es nicht! Ich weiß doch kaum etwas über mich!“ „Dann weißt du jetzt wenigstens, wie sich das anfühlt…“, kam der beleidigte Satz aus Kennys Ecke. Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe, denn augenblicklich wurde es im Auto Mucks Mäuschen still. Kai schaute mit steinernem Ausdruck zu ihm hinüber, doch Kenny schien es nicht zu wagen, den Blick zu heben. Er starrte verbissen auf seine Finger herab, kaute nervös auf seiner Unterlippe, als fürchtete er, ein weiterer solcher Satz könnte daraus hervorbrechen. Die unangenehme Atmosphäre war geradezu greifbar nah. Mit einem lauten „Puh!“, verlieh Mr. Kinomiya seinem Unbehagen inzwischen Ausdruck und sprach: „Jungs, vielleicht heben wir uns diese kleine Reiberei für ein andermal auf.“ „Ja, sie haben recht.“, kam es von Ray. Er wandte sich wieder nach vorne und schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich hätte nicht damit anfangen sollen. Wir haben jetzt wirklich andere Probleme, auf die wir uns konzentrieren sollten. Tut mir Leid, Jungs.“ „Ja. Das gehört hier jetzt wirklich nicht her.“, pflichtete ihm Kenny bei. Er rückte seine Brille zurecht und fuhr sachlich fort: „Dann sollten wir jetzt noch einmal die Aussagen durch…“ „Nein. Mir tut es leid.“, unterbrach Kai ihn auf einmal. Erneut kehrte Stille ein, doch dieses Mal spürte man, wie die geladene Stimmung, durch diesen einen Satz verflog. Als Ray sich noch einmal nach hinten drehte, senkte Kai bestürzt den Blick. Er sah traurig aus. So traurig, dass seine kleine Schwester die Hand nach seinem Gesicht ausstreckte und ihm liebevoll die Wange tätschelte. „Patt, patt.“, erklang ihr helles Stimmchen durch den Wagen. Der Anblick ließ Ray schmunzeln. Kai machte den Eindruck, als sei er mit einem Mal wieder zum kleinen Jungen geworden. Der hatte auch so reumütig geschaut, als Ray ihn wegen seinem waghalsigen Fluchtversuch ohrfeigte. Irgendwie vermisste er diesen Kleinen. Kai war damals so brav und anständig gewesen… Etwas versöhnlicher sprach er: „Mach dir jetzt erst einmal keinen Kopf darüber. Wir hätten damit gar nicht erst anfangen sollen. Es ist nicht fair dich hier vor versammelter Mannschaft in die Ecke zu drängen, wo du nicht einmal die Möglichkeit hast, dich gegen unsere Vorwürfe zu wehren. Das ist als würden wir einen Mann treten, der schon am Boden liegt. Womöglich gibt es tatsächlich einen triftigen Grund für dein Verhalten?“ „Ich wüsste keinen.“, sprach Kai leise. „In jeder Erinnerung in der ihr vorkommt, ward ihr immer freundlich zu mir - und in der Irrlichterwelt auch.“ Diese Ehrlichkeit ließ Ray und Max grinsen. Sie tauschten belustigte Blicke aus. Auf einmal klang Kai nämlich wieder, wie der kleine Junge, der kein Wässerchen trüben konnte und einfach nur arglos sagte, was ihm durch den Kopf ging. Ein winziges bisschen vom dem Kind schien noch immer in ihm zu stecken. „Wie wäre folgender Vorschlag?“, begann Max. „Irgendwann, wenn dieses ganze Chaos vorbei ist, und du alle deine Erinnerungen wieder zurück hast, setzen wir uns zusammen an einen Tisch. Wir trinken Sake, essen etwas Gutes und du erzählst uns, welche Erinnerungen dich zu dem Kai Hiwatari gemacht haben, wie wir ihn kennen. Glaubst du, das schaffst du irgendwann?“ Eine Weile blieb es ruhig im Wagen. Dann nickte Kai langsam, während ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel spielte. * Tyson bollerte stürmisch gegen die Tür des Verhörraumes. Nicht genug, dass er einfach so festgenommen worden war... Nicht genug, dass man ihm nicht einmal großartig erklärte, weshalb er wegen Falschparkens ein Satz Handschellen verpasst bekam… Nicht genug, dass die Beamten kaum Interesse an seiner Version zeigten und einfach gleichgültig die Trennscheibe im Wagen hochfuhren, um sein lästiges „Geplärre“ während der Fahrt nicht ertragen zu müssen… Nein, zu allem Übel, wurde Tyson nun auch noch seit einer dreiviertel Stunde warten gelassen. Das verriet ihm das nervige Ticken der Uhr über der Tür. Für einen Menschen wie ihn, der noch nie mit sonderlich viel Geduld gesegnet worden war, ein absolutes Ärgernis. Bei der Festnahme waren ihm lediglich kurz und knapp seine Rechte verlesen worden. Zumindest wusste er dadurch, dass der erste Beamte, welcher durch diese Tür marschierte, sofort wieder schnurstracks hinausgehen durfte, um ihm ein Telefon zu besorgen. Auf einen Anwalt würde er ganz sicher nicht verzichten. Bereits einige Male hatte er gegen die stählerne Tür geschlagen, um seine Forderung hinauszurufen, doch ihn beschlich die Vermutung, dass man ihn absichtlich ignorierte. Tyson besaß ein lautstarkes Organ. Die Beamten auf diesem Revier hätten schon alle taub sein müssen, um ihn nicht zu hören. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, ihr blöden Affen!“ Er wusste dass das Beamtenbeleidung war, aber so langsam wurde ihm alles egal. Außerdem wollte er die Polizisten auf der anderen Seite dazu verleiten hereinzukommen, um ihn über sein Verfehlen zu belehren, dann hätte Tyson nämlich prompt auf einen Anwalt gepocht. Mal sehen, ob sie dann noch so tun konnten, als hätten sie seine Forderung nicht gehört! Leider blieb sein schöner Plan fruchtlos. Es dauerte noch weitere zehn Minuten, in denen Tyson immer mal wieder das Ohr auf der massiven Tür platzierte, um auszuhorchen was auf der anderen Seite vor sich ging. Irgendwann gab er aber sein Unterfangen schnaubend auf, als ihm einfiel, dass in den meisten Krimiserien, hinter der Wand mit der Scheibe, die Polizisten standen und sich besprachen. Wahrscheinlich lachten sie sich ins Fäustchen, weil er tatsächlich glaubte, dass sie sich ausgerechnet vor der Tür zum Verhörraum unterhielten. Er durchmaß unruhige Kreise durch den Raum. Irgendwann blieb Tyson vor der Scheibe stehen und begann dagegen zu klopfen. „Hallo? Wird das heute noch etwas?“, fragte er und drückte sein Gesicht dagegen. „Hörst du sofort auf deinen Nasenabdruck dort zu hinterlassen?“ Tyson fuhr herum. Endlich war jemand hereingekommen. Ein älterer Mann mit ergrauten Haaren. Es knallte als er die Tür hinter sich schloss. Offenbar war er nicht bester Laune, aber das war Tyson ja auch nicht. Der Beamte vor ihm besaß ein kleines Bäuchlein, das knapp über seinem Gürtel hervorragte und kam mit einer Fallakte herein. Mit ihm zog der Geruch von Zigarettenqualm in den Raum. Allein wegen diesem Gestank, verstand Tyson nicht, wie Kai mit dem Rauchen anfangen konnte und er schwor sich, ihm diese Marotte so madig wie möglich zu machen, bis er freiwillig damit aufhörte. Eine seiner Verflossenen war starke Kettenraucherin gewesen. Tyson hatte sich gefühlt als ob er einen Aschenbecher küsste. „Ich will-…“ „Einen Anwalt. Das wissen wir.“, kam es gelangweilt. Der Beamte warf die Akte auf den Tisch und setzte sich. „Na dann, nennen sie uns doch mal die Kontaktdaten ihres Anwalts. Sie sprechen, ich notiere.“ Er hielt einen Kugelschreiber parat, dessen Miene über einem leeren Blatt Papier schwebte. Tyson verstummte perplex. Er hatte noch nie einen Anwalt gebraucht. „Eigentlich müsste ich erst einen suchen…“ „Wie die meisten wenn sie hier hereinkommen. Dann musst du auf einen Pflichtverteidiger hoffen.“ „Hoffen? Ich will definitiv einen!“, pochte er unnachgiebig. „Also schnell her mit ihm!“ „Hast du schon einmal einen Blick nach draußen geworfen?“ „Ja klar.“ „Dann kannst du dir denken, dass es länger gehen wird…“ „Wie lange?!“ „Wie lange ging es, bis meine Kollegen dich aufs Revier gebracht haben?“ „Keine Ahnung… Eine halbe Stunde? Kam mir ewig vor bei dem Schneechaos.“ „Na dann…“, der Beamte klappte ungerührt die Akte auf. „Werden wir einige Zeit haben, um miteinander eine nette Unterhaltung zu führen.“ „Ohne einen Anwalt dürfen sie mich gar nicht befragen.“ „Wer sagt das?“ „Na… Das ist einfach so!“ „Woher willst du das wissen?“ „Aus dem Fernsehen. Das weiß man doch!“ Der Beamte verdrehte mit einem spöttischen Schmunzeln die Augen. „Lass mich raten. Law and Order? Du weißt das dort das amerikanische Rechtssystem behandelt wird?“ „Na und?“ „Und wir sind hier in Japan!“, bellte er verärgert über den Tisch hinweg, dass Tyson einen Moment verdutzt zurückzuckte. „Setzen!“ Es dauerte bis er der Aufforderung nachkam. Doch irgendwann fauchte Tyson genervt und nahm Platz, denn da er keine Ahnung, über die Unterschiede der einzelnen Rechtssysteme besaß, musste er sich geschlagen geben. Er war einfach nicht vom Fach. „Kommen sie sich jetzt toll vor?“, fragte er den Beamten grantig. „Wenn ich einem Großmaul, der sein Wissen aus einer Serie zieht, darüber belehren kann, dass das echte Leben anders funktioniert – dann ja.“, gab sich der Beamte unbeeindruckt. „Wir haben einige Anschuldigungen abzuarbeiten. Reden wir darüber…“ „Anschuldigungen?! Ich bin nicht vorbestraft!“ „Hmm.“, sein Gegenüber hob die Braue. „Ich habe hier einen Vermerk, dass sie einmal betrunken gegen die Hundehütte ihrer Nachbarin gepinkelt haben.“ Es wurde still im Raum. „Bis auf das…“, murmelte Tyson. Dann warf er wütend die Arme über den Kopf. „Das so ein scheiß überhaupt von euch vermerkt wird! Ein paar Jugendsünden darf doch jeder haben!“ „Das ist richtig.“ „Ich habe dieser alten Hexe die Hütte neu gestrichen. So ordentlich wie danach, sah die Bude für ihr dämliche Töle noch nie aus!“ „Junge, ich kann mir denken, dass du nicht sonderlich begeistert bist, hier drinnen zu hocken – aber mäßige deinen Tonfall! Ich bin momentan noch freundlich.“ „Als könnte irgendwer Zweifel an ihrer Frohnatur haben.“, sprach Tyson trocken. Er verschränkte die Arme hinter den Kopf und wippte auf dem Stuhl. Da schlug der Inspektor mit der flachen Hand auf den Tisch und brüllte: „Klappe halten! Still gestanden! Und hör auf zu wippen, du blöder Lümmel!“ Tyson fuchtelte erschrocken mit den Händen und setzte sich kerzengerade auf. Dieser Mann besaß ein Organ das einem durch Mark und Bein ging. „Ja Sir! Tut mir Leid Sir! Ich bin doch schon ruhig, Sir!“ Sein Gegenüber quittierte seine Worte mit einem grimmigen Brummen. „Hoffe ich auch. An deiner Stelle wäre ich nämlich schön ruhig.“ „Wegen Falschparkens? Ernsthaft?!“ „Ha! Erzähl mir nicht, du wüsstest nicht was los ist…“ „Was meinen sie?“ „Schaust du keine Nachrichten?“ „Ich hatte die letzten Tage keine Zeit. Tut mir echt leid, dass ich nicht die Füße in die Höhe strecken konnte, wie manch anderer! Sie haben keine Vorstellung was ich die letzten Tage durchgemacht habe…“ Ihm fiel ein das er seinen aufbrausenden Tonfall mäßigen sollte, doch der Inspektor sah ihn lediglich ernst an, bis er sich zurücklehnte. „Na dann… Klär mich auf.“ „Muss ich?“ „Es wäre von Vorteil für dich.“ „Sie werden mir nicht glauben.“ „Lass mich das entscheiden.“ Tyson konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er hob spöttisch die Braunen. „Na schön. Machen wir uns den Spaß.“, er faltete fachmännisch die Hände vor sich und begann: „Was würden sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich gemeinsam mit meinen Freunden in eine Welt verschleppt wurde, in der mystische Wesen namens Bit Beasts herrschen und wir dort zahlreiche Gefahren durchstehen mussten. Dazu gehörte, dass wir vor einer gewaltigen Riesenschlange davongerannt sind, weil sie die Seele eines Kumpels fressen wollte. Die Überquerung eines Lavasees, um einen zum Kind gewordenen Freund zu befreien, der von seinem rachsüchtigen Bit Beast, in der Illusion seines eigenes Hauses festgehalten wurde. Das Austricksen einer mordlustigen Wölfin, die die Gestalt einer wunderhübschen Frau im weißen Kimono angenommen hat, um mich hereinzulegen, weil sie mein Herz und die Augen des Kindes wollte. Dann die verzweifelte Suche nach einem weiteren Freund, weil er durch eine bösartigen Parasiten, so manipuliert wurde, dass er versucht hat, meinen anderen Freund, im Schlaf mit den bloßen Händen zu erwürgen und anschließend von uns weg, mitten in den tiefsten Dschungel geflüchtet ist. Und das auch noch bei Nacht! Oh… und nicht zu vergessen, wie wir auf einer riesigen leuchtenden Wurzel gewandert sind, die Mitten im Nichts schwebt und direkt durch das Jenseits führt, wo uns Untote gejagt haben, weil sie an unsere Lebensenergie wollten. Ganz zu schweigen davon, dass ich zwischendrin immer mal wieder, einige Reiberein mit meinem eigenen Bit Beats hatte, weil er sich partout geweigert hat, uns wieder nachhause gehen zu lassen und dann einige wüste Kämpfe, mit seinen Mitverschwörern hatte – und nun tot in einer Tropfsteinhöhle liegt, deren Zugang nur für begrenzte Zeit sichtbar ist und direkt in die Fugaku Windhöhle führt. Ich denke das war so ein grober Überblick…“ Der Inspektor starrte ihn an. Nur das Blinzeln seiner Augen ließ erkennen, wie verwirrt er über diesen sprudelnden Vortrag war. „Aha. Sonst noch etwas?“ „Mm, nein… Obwohl doch! Wir waren auf einer Beerdigung mit Gospelmäusen, zum Gedenken an unsere Freundin Dizzy und das Bit Beast meines alten Gegners Brooklyn, ist der Herr der Alpträume. Der kann übrigens nicht sprechen und hinterlässt bei jedem Schritt ein Loch im Rasen. Das hat Dragoon wahnsinnig gemacht.“ Es wurde still. Sehr lange still… Tyson schaute belustigt in das Augenpaar seines Gegenübers, bis der den Blick zu seiner Akte wandern ließ und etwas notierte. „Was schreiben sie da?“ „Nur das du ein Hornochse bist. Nichts weiter…“ „Hey! Das ist Beamtenbeleidigung!“ „Beamtenbeleidigung wäre es, wenn du mich beleidigst.“, stellte er schnaubend klar und ließ die Mappe achtlos auf den Tisch fallen. Trotz Tysons erbosten Blick faltete er nur die Hände auf seinem Bauch und begann zu erklären. „Da du dich offenbar für besonders witzig hältst, konfrontiere ich dich mal mit den harten Fakten. In den letzten Stunden herrschte überall Mord und Totschlag, wo immer du aufgetaucht bist.“ „Wie bitte?“, seine Brauen hoben sich verblüfft. „Zum einen erhielten wir kurz nach dem vermeintlichen Schlaganfalls deines Großvaters, den Hinweis, dass du dich zuvor noch heftig mit ihm gestritten hast.“ „Na und? Wir zanken uns ständig…“, kam es perplex von Tyson. „Seltsam wäre es, wenn wir mal leise wären. Dann sollte man die Polizei holen.“ Doch der Beamte hob die Hand, um ihn zum Stillschweigen zu bewegen. „Der nächste Punkt ist das Anwesen des Hiwatari Clans, das fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist und aus dem es das Oberhaupt der Familie, mehr tot als lebendig herausgeschafft hat. Laut Zeugenaussagen der Sanitäter und den Kameraaufnahmen auf dem Grundstück, sind du und deine Freunde dort eingetroffen, kurz bevor das Feuer loswütete.“ Tyson klappte der Mund auf. Irgendwie überkam ihn das ungute Gefühl, dass er tatsächlich nicht wegen Falschparkens hier saß. Er wollte etwas erwidern, wurde aber unterbrochen. „Nächster Punkt. Nachdem ihr im Krankenhaus ward, ist dort eine Pflegerin aufs Übelste entstellt worden. Sie wurde ins künstliche Koma versetzt, nachdem man ihr die Zunge auf brutalste Art entrissen hat. Die Augen wurden ausgekratzt, die Hornhaut dabei so stark beschädigt, dass sie höchstwahrscheinlich nie mehr sehen wird. Zudem scheint sie auch noch taub zu sein…“ „W-Was? Was hat das mit uns zu tun?“ „Ich weiß nicht. Sag du es mir?“, er griff erneut nach der Mappe und kramte zwischen den Unterlagen herum. „Ich weiß von keiner Krankenschwester! Wollen sie mir ernsthaft unterstellen, ich hätte etwas damit zu-…“, Tyson fuhr erschrocken zurück, als der Inspektor ein Foto auf die Tischplatte klatschte. Er blinzelte verdutzt auf das Motiv darauf, bis seine Augen sich in blanken Entsetzen weiteten. Auf dem Hochglanzfoto lag eine, aufs übelste zugerichtete Frau, in einem Krankenbett. Einige ihrer Bandagen waren blutdurchtränkt. Sie schien recht beleibt, zumindest wölbte sich die Decke stark über ihrem Bauch. Ihre Haut war leichenblass und zerkratzt, wodurch die blauen Flecken, an Armen und Beinen umso mehr hervorstachen. Tysons Finger streckten sich zu dem Bild aus, um das Gesicht näher zu mustern. Er hatte das Gefühl diese Frau zu kennen, selbst wenn ihre Augen mit Pflastern zugeklebt waren und der Mund von den Schläuchen des Beatmungsgerät verdeckt wurde. Ihre Wangen kamen ihm zu dick vor, als hätte man ihr etwas in die Backentaschen gestopft, wie nach einem Zahnarztbesuch, bei dem man diese widerlichen Wattekugeln bekam, um die Blutung im Rachenraum zu stillen. Tyson runzelte nachdenklich die Stirn. Was Gesichter betraf, besaß er ein recht gutes Gedächtnis. Er drehte das Foto mehrmals, darüber grübelnd, woher er diese Frau kannte, bis der Groschen fiel. Er tat einen hörbaren Atemzug als er sie erkannte. Es handelte sich dabei um die unfreundliche Nachtschwester, die er auf Kais Verschwinden hingewiesen hatte, als der wie aus dem Nichts in den Besucherräumen erschienen war und sie alle weckte. Auf einmal musste Tyson hart schlucken. Er war vorlaut, aber sicherlich nicht dumm - konnte Eins und Eins zusammenzählen. In Kais Körper hatte damals Dranzer gesteckt. Und der war auch dann noch im Krankenhaus geblieben, als die Gruppe zum Friedhof aufbrach. Tyson fuhr sich nervös über die trockenen Lippen, ohne zu bemerken, wie genau er von seinem Gegenüber gemustert wurde. Er spürte, dass sämtliches Blut aus seinen Wangen wich, denn wie er dieses grauenhafte Foto in den Händen hielt, wurde ihm klar, dass das sein Großvater hätte sein können oder sogar die kleine Jana, wäre Galux nicht rechtzeitig eingeschritten. Dadurch dass sie die beiden zu Mariah brachte, hatte sie ihnen dieses Schicksal erspart. Ihm wurde klar wie weit Dranzer gegangen wäre. Ob Kai überhaupt wusste, wozu ihn sein Bit Beast, mit seinem eigenen Körper getrieben hatte… Bei diesem Gedanken wurde Tyson noch blasser, ja, geradezu aschfahl. Er wusste nicht was er noch sagen konnte, ohne den Verdacht auf ihn zu lenken. Kai war als einziger von ihnen dort zurück geblieben. Wenn Tyson davon berichtete, dass sie das Krankenhaus, noch vor dem Angriff auf die Nachtschwester, verlassen hatten, dann könnte er ins Visier der Behörden geraten. Andererseits musste er Ray und Max schützen… „Was schwirrt dir durch den Kopf wenn du dieses Foto siehst?“, wollte der Inspektor wissen. Sein Ausdruck war ernst. Die dunklen Augen ruhten auf Tyson. Ein schwerer Kloß bildete sich inzwischen in dessen Hals. Er schluckte hart, doch irgendwie schien sich nichts zu lösen. Auf einmal schien es sehr leise im Raum zu sein, als könne man selbst seine Gedanken hören. Die Uhr über der Türschwelle kam ihm mit jedem Tick lauter vor. „Es ist furchtbar.“, war alles was er hervorbrachte. Tyson räusperte sich. „Wann ist das passiert?“ „Weißt du das nicht?“ „N- Nein.“ „So so… Du weißt also nicht, ob die Krankenschwester noch heil war, als ihr das Gebäude verlassen habt?“ Er zuckte ratlos mit den Schultern. Doch eigentlich dachte Tyson darüber nach, wie er seine Antworten so schwammig wie möglich gestalten könnte. Er musste den Verdacht auf eine Uhrzeit lenken, in welcher Kai sich unmöglich noch im Krankenhaus befinden konnte. Allerdings wusste er selbst nicht genau, wann das gewesen war. „Wann habt ihr das Krankenhaus verlassen?“ „In der Nacht…“ „Eine Uhrzeit.“ „Keine Ahnung. Acht Uhr?“ „Bist du sicher?“ „Nein. Ich weiß es nicht mehr.“ „Wer ist alles gegangen?“ „Na wir alle. Meine Freunde und ich eben…“ „Ihr alle?“ Tyson nickte. Da zog der Inspektor ein weiteres Bild aus der Akte. Er schob das Schwarzweißfoto über die Tischplatte, damit er auch wirklich einen uneingeschränkten Blick darauf bekam. Es war eine Kameraaufnahme. Sie zeigte wie sie das Krankenhaus verließen – ohne Kai. Der stand nur vor dem Eingang und sah ihnen nach, wie sie einstiegen. „Doch nicht alle, oder?“ „Woher haben sie das?“ „Kam herein kurz nachdem wir dich aufgegriffen haben.“ Tyson starrte stillschweigend auf das Foto, blickte auf die Uhrzeit, die rechts unten eingeblendet war. Er hatte sich um einige Stunden vertan, denn es war kurz vor elf gewesen, als sie zum Friedhof aufbrachen. Kurz darauf musste Dranzer die Krankenschwester attackiert haben… „Ich frage mich ob der Angriff vor oder nachdem ihr gegangen seid stattfand. Das würde zumindest dich entlasten, nicht wahr? Immerhin war einer von euch noch da…“ Er tippte mit dem Finger auf Kais Gesicht. Es ließ Tyson knurrend die Zähne fletschen. „Halten sie ihn da heraus!“ „Warum so wütend?“ „Kai hat viel durchgemacht! Er musste mit ansehen, wie sein eigenes zuhause niedergebrannt ist! Er kam mehr tot als lebendig heraus und hat es trotzdem noch geschafft, zuvor seine Schwester aus dem Gebäude zu retten – also lassen sie gefälligst die Finger von ihm!“ „Nicht so aggressiv… Er könnte den Brand immerhin selbst gelegt haben.“ „Seine Schwester war daheim!“, fuhr Tyson ihn an. „Sie kennen ihn nicht! Er würde niemals etwas tun, was ihr schadet. Er sorgst sich vorbildlich um Jana, weil sie Trisomie hat.“ „Davon hörte ich von den Ärzten, die sie nach dem Brand untersucht haben. Aber…“ „Nein!“, fuhr Tyson dazwischen. Ein energischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Kai pflegt seine Schwester mit einer Disziplin, die man nicht vergleichen kann! Vor kurzem habe ich mir einen dummen Streich erlaubt. Dadurch habe ich versehentlich einen Arzttermin für Jana platzen lassen. Kai war außer sich! Er wollte sogar nie mehr mit mir reden und den Kontakt abbrechen! Denken sie allen Ernstes, dass jemand, der seine Schwester so offensichtlich, vor seine Freunde stellt, absichtlich einen Brand legt, um sie zu töten? Das ist doch Wahnsinn!“ „Überforderte Menschen tun manchmal verrückte Dinge.“ „Er hat Personal das ihm hilft.“ „Dennoch… Kam er dir zu irgendeinem Zeitpunkt überfordert vor?“ „Nein.“, es war eine Lüge. Denn bei ihrem Streit fiel es Tyson zum ersten Mal auf. „Weißt du etwas über das Brandopfer im Hiwatari Anwesen?“ „Was?!“, Tyson blinzelte perplex. „Was denn für ein Brandopfer?“ „Aus den Trümmern wurde die Leiche einer Frau geborgen.“ „Keine Ahnung! Davon höre ich zum ersten Mal. Sie müssen sich irren!“ „Das glaube ich weniger. Übrigens ist dein Großvater auch seit kurzem entschwunden.“ „Nein, ist er nicht.“, Tyson setzte sich kerzengerade auf. Das ernste Gesicht des Inspektors wich einem verdutzten Ausdruck. „Er ist in einem Hotel bei einer Bekannten. Zusammen mit Kais kleiner Schwester!“ „Das Hiwatari Mädchen?“ „Ja! Nach dem Erdbeben sind sie dort untergekommen.“ Die Brauen des Inspektors zogen sich zusammen. Tyson fragte sich, was diesem Mann durch den Kopf ging. Ihm wurde bewusst, dass er sich selbst auch verdächtigt hätte. Das waren wirklich verdammt viele Unfälle und es sah auch für Kai nicht besonders gut aus. Tyson wand sich auf seinem Stuhl und suchte nach den richtigen Worten. „Hören sie, ich weiß, das hier sind Zufälle, die nicht gerade für mich sprechen.“ „Nicht nur du wirst verdächtigt. Auch deine beiden anderen Freunde.“ „Ray und Max? Die haben nichts damit zu tun!“, rief Tyson entsetzt aus. „Das werden wir entscheiden.“ Auf einmal kochte die Wut in ihm hoch, denn das ging ihm nun zu weit. Es war wie eine Sicherung die in ihm durchbrannte. Niemand beschuldigte ungestraft seine Freunde. Er haute mit den Handflächen auf den Tisch und erhob sich so schnell, dass sein Stuhl geräuschvoll nach hinten kippte. „Ich habe echt die Schnauze voll! Sie kennen die beiden nicht! Das sind die anständigsten Menschen auf der Welt! Für die beiden lege ich meine Hand ins Feuer! Sie haben keine Ahnung was wir in den letzten Stunden alles durchmachen mussten!“ „Erklär es mir.“ „Das würden sie mir nie glauben. Lassen sie die beiden einfach in Ruhe! Die haben ihre eigenen Probleme. Rays Frau ist hochschwanger und Max… seine Mutter ist vor kurzem gestorben! Die beiden haben wirklich andere Sorgen, da müssen sie nicht noch mit ihren behämmerten Beschuldigungen daher kommen!“ „So wie ich das sehe, haben wir hier berechtigten Grund zu zweifeln.“ „Mir doch scheiß egal! Wir können nichts dafür, wenn ihnen die Verdächtigen ausgehen!“, brüllte Tyson ihm entgegen. Er stand schnaufend vor dem Inspektor, der sich lediglich grübelnd über das Kinn fuhr. Dieser Mann hatte Nerven aus Stahl, denn er ließ sich kein bisschen provozieren. Man hörte förmlich, wie die kleinen Zahnräder in seinem Kopf auf Hochtouren liefen. Irgendwann begann er wieder in der Mappe zu kramen. „Adresse?“ „Welche Adresse? Geht es genauer?!“, fauchte er unfreundlich über den Tisch hinweg. „Vom Hotel. Wir überprüfen das.“ Tyson taxierte ihn lange. Sein Blick sprühte förmlich vor Gift. Irgendwann setzte er sich grimmig und nannte ihm die Angaben, woraufhin der Stift des Inspektors über das Papier kratzte. Der nickte kurz darauf zur verspiegelten Wand und hob den Zettel in die Höhe. Es dauerte keine Sekunde, da öffnete sich die Tür zum Verhörraum und ein junger, uniformierter Beamter huschte herein. Der schnappte sich den Zettel und verschwand so schnell wie er gekommen war, offenbar genau im Bilde über seine Aufgabe. Gleich danach fuhr der Inspektor fort. „Dein Großvater befand sich in einem recht kritischen Zustand, als er im Krankenhaus eingeliefert wurde.“ „Ja. Aber jetzt ist er wieder putzmunter. Er konnte mir sogar wieder eine Kopfnuss verpassen, als ich ihn gefunden habe. Aber notieren sie sich das bloß nicht! Wir wollen ja nicht, dass er wegen versuchten Mordes weggesperrt wird.“, höhnte er mit überspitzten Humor. Der Inspektor ließ sich nicht ärgern. „Da habe ich wohl einen Nerv getroffen.“ „Haben sie mit etwas anderem gerechnet? Sie beschuldigen Menschen, die mir Nahe stehen und das nur, weil wir zur falschen Zeit, am falschen Ort waren!“ „Das wird sich noch herausstellen. Warum bist du so still geworden, als du das erste Foto gesehen hast?“ „Wer wäre da nicht still? Ich musste erst einmal verdauen, was ich da geboten bekomme.“ „Oder weil du die Frau kennst?“ Tyson schnaubte verärgert. Dann meinte er wahrheitsgetreu: „Ja. Ich kenne sie. Ich bin ihr an diesem Abend zum ersten Mal begegnet, habe aber keine großartigen Worte mit ihr gewechselt.“ „Ein Patient meinte, er hätte in seinem Zimmer gehört, wie sie dir mit Prügeln gedroht hat, wenn du nicht verschwindest.“ Er rollte entnervt mit den Augen. „Sie war unfreundlich! Kai ist verwirrt durch die Gänge geschlichen und anstatt das die dumme Kuh ihre Arbeit macht und mir bei der Suche hilft, pflaumt sie mich auch noch an! Der Junge stand total neben sich und die Alte rührt sich keinen Millimeter von ihrem fetten Arsch!“ „Sie hat dich wütend gemacht.“ „Mir tut es Leid was ihr passiert ist, okay? Das ändert aber nichts daran, dass sie ihren Job scheiße gemacht hat!“ „Ihr habt euch also gestritten?“ „Ja. Aber sonst war da nichts weiter…“ „Aha, also eine weitere Person, mit der du eine deiner harmlosen Diskussionen hattest. Und kurz darauf wird sie zum Pflegefall – genau wie dein Großvater.“ „Sie reimen sich da vielleicht einen Stuss zusammen! Opa wird sie vom Gegenteil überzeugen.“ „Falls er aufzufinden ist.“ „Natürlich ist er das!“ „Waren deine Freunde auch dabei als du mit der Schwester gestritten hast?“ Tyson haute mit der Faust auf den Tisch, dass die Blätter darauf einen kleinen Satz machten. „Nein, verdammt! Und hören sie auf sie zu beschuldigen! Keiner von ihnen war bei mir - ich war vollkommen alleine mit der blöden Schachtel!“ Der Inspektor hob die Braue und dachte lange nach. „Du weißt, es trägt nicht dazu bei, dass du in einem besseren Licht da stehst, wenn du so von ihr redest. Du gestehst außerdem damit ein, dass du eine der letzten Personen warst, die sie noch unversehrt gesehen hat.“ „Wenn es nun einmal die Wahrheit ist! Soll ich etwa lügen?!“ „Nein. Natürlich nicht.“, er klang fast schon versöhnlich. Dann fragte der Inspektor: „Es regt dich auf, wenn man deine Freunde beschuldigt, nicht wahr?“ Tyson starrte ihn bedrohlich an. Dann beugte er sich vor und sprach: „Meine Freunde sind mein Heiligtum. Diese Menschen kenne ich von klein auf. Wer einen von ihnen angreift, der greift auch mich an! Sie sind genauso Teil meiner Familie, wie mein eigener Großvater oder Bruder. Also halten sie sich mit ihren Vorwürfen gefälligst zurück...“ „Ist das eine Drohung?“ „Vielleicht. Legen sie es weiter darauf an und sie sehen was passiert!“ Es wurde still. Tyson starrte in das dunkle Augenpaar vor ihm, während sein eigenes, zu angriffslustig Schlitzen geworden war. Es wäre noch milde gesagt, wenn man behauptet hätte, dass er böse war. Seine Brauen waren tief ins Gesicht gezogen. Der Inspektor begann sich wieder über das Kinn zu fahren, dann blickte er auf die Akte in seinem Schoß und notierte sich etwas anderes. „Was schreiben sie jetzt schon wieder auf?“ „Nichts Besonderes.“ „Ich will das wissen!“, pochte Tyson eisern. Der Inspektor schnalzte, blieb aber ruhig. Dann meinte er: „Ich notiere nur, dass du ungewöhnlich loyal bist. Selbst dann, wenn es dir schadet.“ Darauf blitzte er verdutzt. Tyson wollte schon zu einer Antwort ansetzen, da öffnete sich die Tür erneut und der Kopf einer Beamtin schob sich durch den Spalt. Sie schaute ganz schön eingeschüchtert und besaß eine Stimme, die eher an eine Maus erinnerte. „Inspektor Kato. Würden sie bitte einen Moment mitkommen.“ „Neuigkeiten?“ „Ja. Aber keine sonderlich guten…“ „Wunderbar. Passt zu diesem Tag.“, er nahm seufzend die Mappe vom Tisch. Tyson hoffte inzwischen das die schlechte Nachricht, das Eintreffen seines Anwalts betraf. Da entschuldigte sich der Inspektor und verschwand auch schon aus der Tür, ließ ihn alleine zurück, in seinen düsteren Gedanken vertieft. Tyson wusste beim besten Willen nicht, wie sie aus dieser Sache glimpflich herauskommen sollten. Sein Großvater könnte die Beschuldigungen gegen ihn vielleicht noch entkräften, aber die Sache mit der Krankenschwester – die war dubios. Ihm fiel auf, dass er sich vor allem um Kai sorgte. Wenn die Beamten herausfanden, dass er aus dem Krankenhaus verschwunden war, kurz nachdem die Nachtschwester attackiert wurde, dann wäre die Sache klar. Max und Ray wären dann aus dem Schneider, vielleicht sogar er selbst, aber Kai… Der Brand würde ihn auch nicht in einem guten Licht dastehen lassen. Tyson kaute nervös auf der Unterlippe, dachte an die Leiche im Hiwatari Anwesen und konnte sich partout keinen Reim daraus machen, woher die nun so plötzlich auftauchte. Eine weibliche Leiche… War Kais Mutter im Haus gewesen, als Dranzer das Gebäude in Brand steckte? Das konnte nicht sein. Kai hatte doch erzählt, dass sie abgehauen war. Da zuckte Tyson zusammen, als die donnernde Stimme des Inspektors, von draußen in den Raum schallte. „Was soll das heißen die Leiche ist weg?! Verarscht ihr mich?!“ Er blinzelte perplex auf die geschlossene Tür. Offenbar war der gute Mann ganz schön in Rage. Wen immer er da auf der anderen Seite zusammenfaltete, er wurde übel in die Mangel genommen, denn kurz darauf hörte Tyson auch schon die verzweifelte Rechtfertigung, einer weiteren männlichen Person, womöglich der Partner der Polizistinnen, welche Kato herausgebeten hatte. „Die Pathologin meinte, die Leiche wäre vom Seziertisch aufgesprungen und vor ihren Augen aus dem Raum spaziert!“ „Und ihr glaubt diesen Scheiß?!“ „Natürlich nicht! Aber sie ist noch immer fertig mit den Nerven! Sie ist kreischend aus dem Saal gerannt und spricht davon, dass sie kündigen will.“ „Findet diese verdammte Leiche, bevor unsere Vorgesetzten erfahren, dass sie einfach verbummelt wurde!“ „Ähm… Da gibt es ein klitzekleines Problem. Die verstorbene Reporterin hat davon schon berichtet!“ „Na dann ein Grund mehr die Leiche zu finden! Sonst wird sich unser Revier bis auf die Knochen blamieren, wenn das herauskommt!“ „Aber Inspektor Kato, wir haben eine Videoaufnahme, in der der Körper tatsächlich zu sehen ist. Er läuft wahrhaftig aus der Pathologie heraus, als wäre nichts weiter dabei!“ „Leichen spazieren nicht einfach durch die Gegend, du Esel!“ Nur leider wusste es Tyson besser – und schon ahnte er, woher die Leiche im Hiwatari Anwesen herkam. Sie war Dranzers Hülle gewesen… * Henry Archer war leidenschaftlicher Angler. Er liebte es mit seinem kleinen Motorboot auf den Lake Michigan hinaus zu fahren und auf hoher See, die Füße über den Rand baumeln zu lassen, während er langsam in den Schlaf abdriftete. Wenn ihn dann das Klappern der Spule seiner Angelrute aufweckte, sah er stets voller Freude unter seiner Mütze auf, um sich kurz danach einen weiteren Barsch - an guten Tagen sogar einen Lachs - aus den Fluten herauszuziehen. Da er pensionierter Lehrer war, besaß er genug Zeit für sein Hobby. Der Wind auf dem See war herrlich, die Ruhe auch, vor allem wenn seine Frau mal wieder zänkisch war, ergriff er gerne die Flucht hinaus aufs Wasser. Auch heute war er brummend aus der Haustür gestakt, um ihrem Gekeife zu entrinnen, auch wenn sie berechtigten Grund zum Motzen besaß. „Henry, ich fühle es in meinen alten Knochen. Das Wetter spielt total verrückt. Geh nicht raus auf den See. Fällt es dir so schwer mit deinem Hintern mal zuhause zu bleiben? Du könntest zur Abwechslung mal die Garage aufräumen!“ „Herrje, Lulu, lass es doch gut sein!“ „Das ist nicht sicher! In den Nachrichten bringen die eine Hiobsbotschaft nach der anderen. In Brasilien gab es einen schweren Erdrutsch. Auf den Malediven einen Tsunami. Alles geht den Bach runter! Das ist der Weltuntergang…“ Sie fuchtelte mit ihrer Bibel herum, was ihren Mann nur Grunzen ließ. „Wir sind verdammt! Das ist das Jüngste Gericht.“ „Sei nicht immer so eine Exzentrikerin! Ich habe es außerdem Penny versprochen.“ „Du willst sie doch nicht mitnehmen?“ „Natürlich. Ich könnte ihr das nie abschlagen. Mein kleiner Engel will mit Opa auf den See.“ Seine Frau hatte entsetzt die Hände über den Kopf geschlagen, denn ihrer Meinung nach war ihr Mann ebenso stoisch, wie ein Esel auf dem Acker. Dennoch packte sie irgendwann ihre jüngste Enkelin, in eine dicke Daunenjacke ein und zog ihr die Gummistiefel, mit den hübschen rosa Blümchen über, die Penny so liebte. Die Kleine plapperte aufgeregt davon, wie gerne sie einen Wal fangen wollte, denn vor kurzem war sie mit ihren Eltern in Seaworld gewesen, wo ihr besonders Shamu imponiert hatte. Stolz wie ein Maikäfer tapste das Mädchen schließlich an der Seite ihres Großvaters zum Steg, der an ihrem Haus am See lag, über die Schulter ihre pinke Kinderangel baumelnd, welche mehr zum Schein ins Wasser geworfen wurde, als um wirklich einen Fisch zu fangen. Henry half seinem kleinen Engel in das Boot, wo sie erst einmal ein glückliches „Hui!“ von sich gab, weil die Wellen den Boden so schwanken ließen. Als er den knatternden Motor anschmiss, klatsche Penny begeistert in die Hände und winkte ihrer Oma noch lange hinter her, die nur kopfschüttelnd am Steg stand, die Arme in die Seiten gestemmt, sichtlich besorgt um ihr kleines Engelchen und den alten Esel. Henry störte es schon gar nicht mehr, dass sie ihn mit diesem Spitznamen triezte. Pennys Zöpfe flatterten seitlich an ihrem Kopf wild im Wind. Das ihr Opa absichtlich einige unnötige Kurven hinlegte, brachte sie zum Kichern. Seine Frau hätte sicherlich wieder geschimpft. Sobald er auf die Mitte des Sees zusteuerte, überkam ihn der typische Glücksrauch und Henry ließ den Motor verstummen, damit sie gemächlich auf den Wellen treiben konnten. Um den Lake Michigan herum war noch niemand wach. Die meisten Leute schliefen, doch Penny wollte unbedingt einen Sonnenaufgang über dem See erleben, auch wenn sie zunächst gequengelt hatte, weil er sie so früh weckte. Wenn die hellen Strahlen sich in den Fluten brachen, fühlte man sich wie in einem Meer aus Diamanten. Hier draußen kam Henry sich immer frei vor. Dennoch behielt er seine blondgelockte Enkelin genau im Auge, denn irgendwann schaute die nur noch in die Fluten unter sich und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Er musste glucksen, denn ihre großen Kulleraugen sprühten geradezu vor Euphorie und sie sprach davon, dass sie unter sich einen Meerjungfrauenmann sah. „Ein Meerjungfrauenmann?“ „Ja. Das ist der Mann von der Meerjungfrau.“, erklärte sie arglos. „Nun, dann meinst du einen Meermann. Es sei denn sie hat sich einen Prinzen vom Land geangelt, der von Natur aus keine Flossen hat.“ Ihre großen Augen schauten grübelnd auf. „Okay.“ Den Gesichtsausdruck kannte er. Wenn Penny so schaute, konnte sie ihm nicht mehr folgen. „Opa, da ist ein Meermann.“, erklärte sie noch einmal. „Aber Engelchen, die gibt es doch nicht.“ „Doch Opa. Da unten ist einer. Ich glaube er kommt hoch zu uns.“ Sie beugte sich weiter vor, starrte mit offenem Mund über den Rand und begann zu winken. Während Penny in ihre kindliche Fantasie vertieft war, nahm er seinen Flachmann aus der Innentasche seiner Jacke und gönnte sich einen heimlichen Schluck. „Was hast du da?“ „Nur etwas Fruchtsaft für Große.“ „Oh… Opa der Mann ist gleich da.“ „So so…“ „Doch Opa. Schau mal!“, sie deutete wieder hinab. „Lass Opa noch einen Schluck nehmen. Danach…“ „Aber du musst jetzt schauen.“, pochte sie mit dicken Schmolllippen. Er schnalzte missbilligend, ließ den Blick flüchtig über die Fluten irren und sprach dann in gespieltem Erstaunen: „Na sowas! Ein Meermann. Was sich alles in diesem See herumtreibt.“ „Du hast gar nicht richtig geschaut. Und Opa, er hat gar keine Flossen! Meerjungfrauen haben Flossen.“, beklagte sie sich. Früher hatte sie nie bemerkt, wenn er sie auf den Arm nahm. Doch seit sie in die Vorschule ging, wusste sie, dass Opa ihr nicht einfach die Nase klauen konnte. Kinder wurden schrecklich schnell erwachsen. Henry nahm noch einen weiteren Schluck aus seinem Flachmann, erst dann wandte er sich seinem Angelkasten zu, um sein Equipment aufzustellen, da brachte eine Erschütterung das Boot zum Schwanken. „Was zur Hölle…“ Er packte nach seiner Enkelin, damit es die nicht über den Rand katapultierte. Der fiel nichts Besseres ein, als ihn darüber zu belehren, dass er für seine derbe Wortwahl, einen Dollar in die Fluchkasse werfen sollte. Das Mädchen blieb überraschend ruhig, trotz des Rucks der auf das Boot ausgeübt wurde, während ihr Großvater die altersgezeichneten Finger, fest im Holz verkrallte. Auf einmal schossen zwei Hände aus den Fluten hervor. Es ließ Henry verdattert blinzeln. „Uuuh!“, machte seine Enkelin ehrfürchtig. „Hey, du Hornochse!“, brüllte ihr Großvater jedoch nur los, als er einen dunklen Haarschopf erblickte, der sich über den Rand zog. „Du bringst noch das Boot zum kentern! Zerr nicht so daran herum!“ „Opa, du musst noch einen Dollar in die Fluchkasse legen.“ „Ja, doch Penny! Nun sei doch mal still. Lass Opa einen Moment in Ruhe.“, er schob seine Enkelin beiseite und packte den Mann am Handgelenk, um ihn ins Boot zu hieven, dabei stand er auf und verlagerte sein Gewicht so, um das Gefährt nicht aus der Balance zu bringen. Ihr unerwarteter Gast spie angeekelt Wasser aus und fluchte. Zumindest hörte es sich so an, denn die Sprache kannte er nicht. Nur die Tonlage ließ ihn erkennen, dass er einen Ausländer vor sich hatte. Rein von den Klängen, hätte er auf eine asiatische Sprache gewettet, zumindest klang es wie das Geschwätz der Köche, aus diesem Sushi Restaurant in Chicago, dass seine Frau so sehr liebte. Als er den Mann aus dem See fischte, spreizte der erst einmal schnaufend alle Viere von sich und sah zum Himmel. Es war ein recht junger Bursche – allerdings mit einem fehlenden Arm. Er konnte höchstens Dreißig sein, besaß einen pechschwarzen Haarschopf und ein ebenso dunkles Paar Augen, was im Licht der Sonne einen leichten Braunstich hatte. Etwas verdutzt fragte sich Henry, ob der Kerl tatsächlich Schlitze als Pupillen besaß, wie bei einer Eidechse. Er wurde aber aus seinen Überlegungen gerissen, als der ihn in seiner fremden Zunge ansprach. „Nichts verstehen!“, antwortete er genervt und wurde lauter, bis ihm einfiel, dass er keinen Tauben vor sich hatte, sondern einfach nur einen Ausländer. Schlimm genug, dass alle Taxifahrer einen nicht verstanden, nun musste er sich schon auf seinem hübschen Boot, mit solchen Leuten herumschlagen. Der Mann sah ihn an und sagte wieder etwas. „Pah! Lern meine Sprache.“, bellte Henry verächtlich. „Du bist in meinem Land!“ „Okay, aber dein Land ist es nicht.“ Er stutzte verdattert. „Aha… Sprichst ja doch unsere Sprache.“ „Ich spreche jede Sprache. Mir war nur nicht ganz klar, was in dieser Region angebracht ist.“ Der fremde Mann setzte sich auf, zog seine Schuhe aus und schüttete das Wasser darin heraus. Dabei bemerkte er seine Enkelin zum ersten Mal. Die schaute ihn mit unverhohlener Neugier an. Ihr Mündchen war weit aufgeklappt. Sie starrten sich gegenseitig eine Weile an, bis der Fremde die Hand ausstreckte und ihre Kinnlade hochklappte. „Mach das zu. Der Anblick irritiert mich irgendwie.“, forderte er Penny auf. „Kannst ihr nicht verdenken, wenn sie dumm aus der Wäsche guckt. Man zieht nicht jeden Tag einen Mann, in voller Montur aus dem Wasser.“ „Wirklich nicht?“ Im ersten Moment dachte er, dieser Kerl veralberte ihn nur, doch er schaute genauso erstaunt, wie die Kleine. Was für ein komischer Kautz… Henry ließ den Blick über das Wasser schweifen. Sie waren am tiefsten Punkt des Sees und dieser Typ planschte in seiner Alltagskleidung darin herum, wie Flipper im Meer – zudem noch mit einem Arm. Das Gewicht seiner Kleidung hätte ihn wie einen Stein untergehen lassen müssen. „Sie haben echt Glück dass wir hier unterwegs waren. Sie könnten jetzt tot sein!“ Der Fremde schnaubte ungläubig und zog sich die Schuhe umständlich wieder über. Er schien aber nicht in der Lage, sie zuzubinden, weil er ja nur einen Arm besaß. Etwas hilflos schaute er auf die Schnürsenkel und fragte: „Braucht ihr Menschen die wirklich? Oder kann man auch ohne diese Dinger an den Füßen leben?“ Henry stutzte über seine Wortwahl. Da quiekte Penny auch schon: „Ich kann das! Du musst das Hasenohrreim aufsagen.“ „Was für ein Reim ist das?“ „Guck, ich zeig es dir!“ Ihre kleinen Finger griffen hilfsbereit nach seinen Schnürsenkeln und trugen den Kinderreim auf, den sie von der Vorschule kannte, während sie diesem ausgewachsen Mann die Schuhe zuband. „Ein Hasenohr, noch ein Hasenohr. Kuscheln sich ein, bring einen Knoten hinein.“ Der Fremde starrte mit aufgezogener Braue auf das vollendete Werk, wackelte mit dem Fuß in der Luft herum. Dann strahlte er förmlich, als habe er eine bahnbrechende Entdeckung gemacht und sagte: „Ach, so macht man das! Danke kleines Weibchen.“ Er sprang flink auf die Füße, dass das Boot ins Hopsen geriet. Es ließ Henry mit wehenden Armen auf dem Hintern landen und Penny glücklich Jauchzen. Dann sträubte er sich wie ein Hund, um das überschüssige Wasser loszuwerden. Seine Enkelin gluckste vergnügt und gab ein „Bäh!“ von sich. „Etwas mehr Feingefühl! Hier ist ein Kind an Bord!“ Dabei bemerkte Henry, dass er eine ausgezeichnete Balance besaß. Wie er es vollbracht hatte, mit einem fehlenden Arm hinauf zu schwimmen, war ihm ein absolutes Rätsel. Im Gegensatz zu ihm, kam ihr blinder Passagier kaum ins Straucheln. Der deutete inzwischen auf ihn. „Du, alter Mann! Auf welchem Kontinent befinden wir uns?“ „Ich schmeiß dich gleich hochkant zurück ins Wasser, wenn du mich noch einmal alt nennst!“ „Warum seid ihr Menschen immer so empfindlich, wenn es um euer Alter geht?“, rollte er mit den Augen. „Ich bin Millionen von Jahren alt und mich schert es nicht. Nun sprich schon!“ Der Kerl war doch verrückt… „Du bist hier auf amerikanischem Boden! Wie kann man nicht wissen, auf welchem Kontinent man sich befindet?!“ Anstelle einer Antwort, kratzte sich der Fremde nachdenklich am Kinn. „Und in welcher Richtung liegt der Landstrich, den ihr Japan nennt?“ „Japan?“, wiederholte Henry total konfus. Er dachte fieberhaft nach. Als ehemaliger Erdkundelehrer sollte er das eigentlich wissen, aber diese Frage kam doch recht unerwartet. Jemand anderes hätte nach seinem unfreiwilligen Badeausflug, erst einmal um ein Handy gebeten, um die Rettungskräfte zu verständigen, aber nicht danach gefragt, wo Japan lag. „Im Westen.“ Der Fremde drehte sich in die besagte Richtung. Er zog die Brauen tief ins Gesicht. Henry sah, wie sich seine Nüstern blähten. „Ja. Da ist er. Ich wittere Takao zwar kaum noch, aber wenn man sich anstrengt, spürt man seine Energie. Dieses Portal muss weit weg gewesen sein. Verdammt… Hier fällt wirklich eine Tür nach der anderen zu. Jetzt muss ich den ganzen Weg zurück fliegen. Das wird bestimmt an meiner Kraft zerren…“ „Du kannst auch ein Kanu Richtung Heimat nehmen.“, spottete Henry. „Ich habe schon genug Zeit verplempert. Da greife ich doch nicht auf solche prähistorischen Mittel zurück.“ „Wenn es in Japan so fortschrittlich ist, hält dich niemand in diesem Land.“, empörte er sich. Seine Aussage kränkte ihn in seiner patriotischen Ehre. „Was hast du überhaupt in diesem See gemacht, Junge!“ „Da unten war das einzige freie Portal, was noch in meiner Nähe offen lag. Muss an der Zeitverschiebung der Erde liegen.“ „Aha…“ Nun starrte Henry total verdutzt. Er holte seinen Flachmann wieder hervor und studierte die Rückseite, um sich auch wirklich sicher zu sein, ob nicht irgendwelche bewusstseinsveränderte Inhaltstoffe darin enthalten waren. Vielleicht war das gar nicht seine Enkelin mit ihm an Bord und er hatte einen Baumstumpf eingepackt. „Naja, über verschüttete Milch jammert man nicht. Ich muss mich spurten.“, sprach der Fremde mit einem Schulterzucken. Er hob die verbliebene Hand zum Abschied. „Danke dass ihr mich aus dem See gefischt habt. Es war nicht nötig aber dennoch hilfreich. Einen angenehmen Tag noch. Und passt auf, dass ihr in den nächsten Stunden nicht drauf geht.“ Damit ging er in die Knie und stieß sich plötzlich los. Henry stockte der Atem… Er legte eine solche Kraft in den Sprung, dass es ihr Boot einen Moment tiefer in die Fluten drückte und Wasser über den Rand schwappte. Henry griff nach seiner Enkelin, die einen kleinen Hopser machte und wiedermal heiter dabei gluckste. Danach blickte er aus geweitetem Blick, auf die Flugbahn die der Mann beschritt. Sie reichte weit in den Himmel und machte einen hohen Bogen, bis er zu einem kleinen schwarzen Punkt wurde, der auf dem Festland aufkam. „Uuuh! Opa der Mann kann fliegen!“, strahlte Penny begeistert. Ihre hellen Kinderaugen funkelten förmlich. „Vielleicht war das ein Supermann? Opa, was machst du mit deinem Fruchtsaft?“ Er antwortete nicht mehr. Mit zitternden Fingern drehte Henry den Deckel seines Flachmanns auf und schüttelte den Inhalt ins Wasser. Nach reichlicher Überlegung flog auch das Fläschchen über Bord. Dann lenkte er das Boot eiligst zurück und schwor sich, das nächste Mal auf seine Frau zu hören. ENDE Kapitel 41 Hosted by Animexx e.V. 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