Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 46: ------------ Der Morgen danach kam. Der war für Tyson eigentlich immer heikel gewesen. Er hatte sich dann stets gefragt, wie er seine Verflossene aus dem Haus bekam, ohne dass sie ihm verärgert einen Ziegelstein durch das Küchenfenster warf. Es war eine Kunst für sich, vor allem wenn man den Damen in der Nacht zuvor, noch das Blaue vom Himmel hinunterlog. Meistens wollten sie am Morgen danach weiterhin wie eine Königin umschmeichelt werden, immerhin lobte man sie doch zuvor noch in den höchsten Tönen – auch wenn man es gar nicht so meinte. Doch an diesem Tag erwachte Tyson mit einem ungeahnten Glücksgefühl, einfach weil er Kai noch neben sich spüren konnte. Seine Haut war warm. Er roch gut. Vor allem sein Haar. Tyson hatte mit einem Grinsen sein Gesicht darin vergraben, inhalierte den Duft förmlich ein, während ein müdes Seufzen von Kai kam. Irgendwann mit den ersten Sonnenstrahlen, war er zu ihm unter die Decke gekrochen, in der Gewissheit dass das Schlimmste nun überstanden war. Obwohl Tyson des Nachts bemerkte, dass er ziemlich lange wach blieb, um für ihn die Umgebung im Auge zu behalten. Als er einmal aufwachte, weil ein kalter Luftstrom durch den Raum zog, saß Kai noch neben der Schiebetür. Der Mond schien durch den kleinen Spalt – direkt auf dessen Gestalt. Dieser Anblick kam ihm vertraut vor. Während ihrer zweiten Weltmeisterschaft, als seine Freunde einen ganzen Sommer lang bei ihm verbrachten, war ihm mehrmals aufgefallen, wie Kai sich des nachts neben die Tür setzte und zum Mond hinaufschaute, im Glauben seine Kameraden würden schlafen. Manchmal hatte Tyson sich dann dazugesetzt, auch wenn sie kaum miteinander sprachen. Ray und Max erfuhren nie etwas davon. Er wollte das auch nicht mit ihnen teilen. Es war einfach ihr Ding. Eine der wenigen Sachen die sie damals verband. In dieser Nacht war aber etwas anders an der Szene. Kai saß entblößt vor der Tür, noch vollkommen nackt von dem vorangegangen Liebesspiel. Das silbrige Mondlicht was ihn beschien, ließ ihn so vollkommen wirken. Es brach sich förmlich in dessen Augen. Seine Haut wirkte schneeweiß. Manch anderen Menschen hätte so eine Blässe kränklich wirken lassen. Aber nicht Kai. Es verlieh ihm eher etwas Edles. Erhabenheit… Er war einfach attraktiv. Und irgendwann bemerkte Kai, dass er von Tysons Ecke aus beobachtet wurde. Da erhob er sich langsam, kniete neben seinen Futon nieder und strich mit der Hand über seinen Rücken. „Schlaf weiter. Ruh dich aus…“, bat er leise. Seine Stimme glich einem zärtlichen Flüstern. Darauf folgte ein Kuss der Tysons Wange nur hauchzart berührte. „Du hast es dir verdient, Kinomiya.“ Es ließ ihn ein weiteres Mal lächeln. In der richtigen Tonlage, konnte sein Nachname, sogar aus dem Mund seines früheren Rivalen, wie eine wahrhaftige Liebeserklärung klingen. Kai gab in jener Nacht viele solch schöner Laute von sich. Für Tyson waren sie wie Musik in seinen Ohren. Das beste Schlaflied der Welt… Noch etwas müde, rieb der sich inzwischen über die Augen, blinzelte umher. Es war noch nicht richtig hell draußen. Die wenigen Strahlen welche durch die Fenster fielen, verrieten, dass die Sonne erst aufstieg. Doch es war ohnehin der weniger sehenswertere Anblick an diesem Morgen. Die schlafende Gestalt zu seiner Seite war viel eindrucksvoller. Tyson schaute auf Kai herab, der noch unter seinem Arm lag. Wenn er schlief, sah er so friedlich aus. Fast schon etwas unschuldig… Ein verschmitztes Grinsen huschte über seinen Lippen bei dem Gedanken. Seit letzter Nacht wusste er, dass das nicht der Fall war. Bereits als sie gemeinsam auf die Decke hinab sanken, raunte Kai ihm zwischen sinnlichen Küssen zu, ihn verwöhnen zu wollen. „Es geht heute nur um dich…“, hatte seine heißere Stimme ihm ins Ohr geflüstert. Es folgten so viele schöne Worte darauf, zwischen vielen leidenschaftlichen Berührungen. Jeder Satz aus Kais Mund, erregte Tyson ein wenig mehr. Er sprach davon, ihm etwas zurückgeben zu wollen, ihm all die erfahrene Güte der letzten Jahre, doppelt und dreifach zurückzahlen. Es klang fast zu schön um wahr zu sein. Beinahe hätte er es nicht geglaubt. Und doch war das Bild was er danach abgab einfach göttlich gewesen. Es prägte sich förmlich in Tysons Gehirn ein. Kai hatte seinen Brustkorb zuvor mit sanfter Gewalt langsam in den Futon gedrückt. Dann setzte er sich ebenso vorsichtig auf seinen Unterleib. „Vertrau mir, ja?“ Im Mondlicht konnte er das Lächeln erhaschen. Wie hätte er diese Bitte abschlagen können? Allein wie Kai es sagte… Als ihm klar wurde was der vorhatte, konnte Tyson den Blick nicht mehr von ihm abwenden. Jede Bewegung wurde genau von ihm aufgesogen. Alles an Kai wirkte in jenem Moment so sinnlich. In dem verklärten Augenpaar über ihm, konnte Tyson sehen, wie ernst es ihm war. Nur eine Sekunde verzog Kai das Gesicht. Das war als er sich vollends auf ihn setzte. Er hatte kurz die Augen zusammengekniffen, leise gekeucht vom ungewohnten Schmerz. Das Geräusch erregte Tyson nur umso mehr. Im Nachhinein konnte er sich vorstellen, wie befremdlich dieses Gefühl für ihn gewesen sein musste – ihn selbst hatte es dagegen schier wahnsinnig gemacht. Und Kai beklagte sich auch nicht… Bei diesem Gedanken lehnte sich Tyson ein Stückchen mehr über seinen Liebhaber, fasste vorsichtig nach dessen Hand, zog sie zu sich. Er hauchte einen Kuss auf die Innenfläche, fuhr mit dem Daumen zärtlich darüber. Kai wachte nicht davon auf, gab nur ein weiteres Seufzen von sich. Während Tyson seine Finger betrachtete, schwelgte er förmlich in Erinnerungen. Diese Hände hatten ihm ein echtes Verwöhnprogramm zukommen lassen. Wie Kai auf ihm saß, sich dann und wann vorbeugte, um mit seinen Fingern über Tysons Oberkörper zu streichen. Er knetete förmlich seinen Nacken und sobald ein wohliges Brummen von ihm kam, hatte er zufrieden gelächelt. Kaum zu glauben, dass das sein Kai war. Tyson hätte erwartet, er wäre zu Anfang zurückhaltender, doch offenbar wollte er ihm so gerne eine Freude bereiten, dass er sämtlichen Stolz hinunterschluckte. Noch einmal umarmte Tyson ihn. Er tat einen zufriedenen Atemzug. Bald würde sein Großvater aufstehen, bis dahin mussten sie angezogen sein und sich voneinander lösen. Das wäre ein schmerzlicher Abschied von dieser Nähe. Hoffentlich bekam er heute Nacht eine weitere Dosis. Tyson hätte gerne eine weitere Runde eingefordert, dieses Mal um Kai zu verwöhnen. Nicht eine Klage war über dessen Lippen gekommen, weil er meinte, Tyson sei zu erschöpft. Er solle sich für heute einfach nur gehen lassen. So verhielt sich Kai Hiwatari also wenn er jemanden liebte… Hätte Tyson das früher gewusst, hätte er sich schon eher um ihn bemüht. Allein der Sex wäre ein prima Druckmittel, damit er sich besser beim Training anstellte. Wären sie zu Kais Teamleaderzeiten schon ein Paar gewesen, Tyson hätte ihm zuliebe Klimmzüge zwischen zwei Wolkenkratzern gemacht, Hauptsache er durfte hinterher mit ihm unter die Laken schlüpfen. Er grinste über seine Gedankengänge, vergrub nochmal sein Gesicht in dem Haarschopf vor sich. Ihm fiel auf wie leise Kais Atemzüge waren. Alles schien so perfekt. Das hier könnte wirklich klappen. So berauscht war er schon lange nicht mehr gewesen. Gut, er schlief mit einem Mann, aber der machte ihn glücklich. Bedurfte es mehr? Da rührte sich Kais Kopf, weil er versuchte etwas vor sich zu verscheuchen. Eine von Tysons Strähnen war ihm vors Gesicht geraten. Einen Moment schaute Kai aus müdem Blick zu ihm auf, betrachtete den Mann, der sich über ihn gebeugt hatte. „Morgen…“, flüsterte Tyson ihm zu. Doch Kai blinzelte nur. Es ließ ihn lächeln, denn das erinnerte ihn daran, wie er als kleines Kind in Wolborgs Hütte aufwachte und sich zu ihm an die Feuerstelle setzte. Da hatte Kai genauso geschaut, als würde er gleich wieder im Sitzen einschlafen. „Noch müde, wie?“ Er nickte wortkarg. Seine Augen wurden wieder kleiner. Da strich Tyson ihm über die Wange, bettete dessen Kopf in seine Handfläche. Er küsste Kai, raunte ihm gegen die Lippen einfach weiterzuschlafen. Der quittierte seine Worte mit einem dankbaren Laut. Gleich darauf war er auch schon weggenickt. Tyson wollte es ihm nicht vergönnen. Er war die ganze Nacht wachgeblieben, da sollte auch er nun seinen Schlaf finden. Gerade noch gab er ihm einen letzten Kuss auf die Stirn, bevor er aufstehen wollte, da vernahm Tyson ein Geräusch von der Tür. Sein Kopf schnellte hinauf. Er erwartete seinen Großvater zu sehen. Stattdessen erblickte er zwei große, dunkle Knopfaugen hinter dem Türspalt. Als Jana merkte, dass sie entdeckt wurde, sprang sie von den Knien auf und rannte fort. Ihre polternden Schritte auf der Holzveranda, wurden von lautem Kinderschluchzen begleitet, während er einen dicken Kloß hinunterschluckte. Etwas später schloss Tyson die Tür zum Dojo hinter sich. Er hatte sich seine Sachen von gestern noch einmal übergezogen. Kai selbst deckte er ordentlich zu, für den Fall das wider Erwarten sein Großvater hereinkam und sich fragte, weshalb er nackt auf den Futons lag. Tyson spähte durch den Hof, suchte die Umgebung nach Jana ab. Ihm fiel auf, dass der Regen aufgehört hatte, an vereinzelten Stellen fanden sich aber noch Überreste vom Schnee, in einer undefinierbaren Matschpampe. Obwohl es milder geworden war, stieg sein Atem noch als kleine Wolke auf. Kalt war es immer noch, allerdings passten die Temperaturen nun eher zur Jahreszeit. Tyson lauschte in den Hof, konnte Jana aber nicht entdecken. Also eilte er ins Haupthaus wo er weiter nach ihr Ausschau hielt. Nicht einmal sein Großvater war schon auf den Beinen. Als er die Küche betrat, merkte er auch weshalb. Die Wanduhr über dem Türrahmen zeigte erst kurz vor Fünf an. Offensichtlich war Jana genauso ein Frühaufsteher, wie ihr Bruder – jedenfalls wenn der zuvor keine wilde Nacht gehabt hatte. Etwas Panik kam in Tyson auf. Er wollte nicht dass Jana seinem Großvater davon erzählte, was sie gesehen hatte. Natürlich musste er ihm irgendwann reinen Wein einschenken, doch noch war die Beziehung mit Kai zu frisch. Außerdem hatte er keine Ahnung wie sein alter Herr darauf reagieren würde. Daran wollte er sich vorsichtig herantasten. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn Jana ihm da vorgriff. Als er das Mädchen nicht im Erdgeschoss fand, stieg er langsam die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Im Flur gab er darauf acht keine zu lauten Geräusche zu verursachen, die seinen Großvater wecken könnten. Vor dessen Schlafzimmer, ging er sogar auf Zehenspitzen vorbei, da die Dielen in dem alten Haus gerne knarzten. Die ausgelegte Plane machte es auch nicht einfacher. Da horchte Tyson auf, als er einen Laut hörte. Ein Kinderschluchzen drang an sein Ohr. Er steuerte vorsichtig auf sein eigenes Zimmer zu, öffnete die Tür einen spaltweit. Auf dem zerwühlten Bett sah er niemanden, bis ihm klar wurde, dass die Geräusche aus seinem Wandschrank kommen mussten. Leise trat er in den Raum und näherte sich dem Schluchzen. Als er die Schranktür öffnete, blinzelte ihm Jana mit tränennassen Augen entgegen. Es sah wirklich herzzerreißend aus… „Hey, was hast du denn?“, sprach er sanft auf sie ein. „Nichs. Geh weg!“ Jana vergrub ihre glühenden Hamsterbacken auf den Knien. Gleich darauf wurde sie wieder von einem Schluchzer ergriffen. „Das sieht aber nicht danach aus.“ Tyson setzte sich langsam zu ihr auf den Boden. „Hau ab!“, heulte sie wieder. „Warum? Sind wir keine Freunde mehr?“ „Nein! Du bis doofer Freund!“, sie drehte sich von ihm weg, wippte auf dem Hosenboden vor und zurück. „Doofmann…“ Tyson schaute auf ihren Rücken. Der kleine Körper vor ihm bebte bei jedem stockenden Atemzug. „Habe ich was falsch gemacht?“, fragte er arglos. Doch eigentlich ahnte er, was ihr sauer aufstieß. Es konnte nur damit zusammenhängen, was sie zuvor gesehen hatte. Inzwischen nickte Jana, blieb ihm die Antwort aber schuldig. „Sagst du mir auch was ich falsch gemacht habe?“ Es dauerte bis eine Regung von ihr kam. Dann erklärte sie mit tränenerstickter Stimme: „Du nimms mir Ai weg.“ Sobald die Worte ausgesprochen waren, senkte Jana das Köpfchen wieder auf die Knie. „Wie kommst du darauf?“ „Du has küsst Ai… Hab genau gesehe!“ „Aber deshalb nehme ich ihn dir doch nicht weg.“ „Wenn man küsst dann heiraten.“, sprach Jana bockig, als wäre es doch so selbstverständlich. „Du und Ai heiraten. Dann kein Platz für Jana. Dann keine große Bruder mehr habe. Du gemein! Nimmst mir weg… Such dir andere Bruder, aber nich meine! Hab ihn zuerst gesehe!“ Auf dem Boden des Schranks lag noch sein Blade herum, den er vor ihrem übereilten Aufbruch, aus der Truhe in der hintersten Ecke des Schranks gefischt hatte, noch bevor das ganze Unglück um sie herum, richtig in Fahrt kam. Jana griff danach und warf ihn wütend in Tysons Richtung, der ihn perplex zu fassen bekam. Noch während er nach einer Erwiderung suchte, legte Jana wieder die Stirn auf die Knie und weinte: „Jetzt ich keine Papa, kein Mama un auch kein Kai mehr.“ So war das also… Er starrte erschüttert auf das kleine Mädchen. Ein mitleidiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel Verantwortung auf Kais Schultern lastete. Er war Vater, Mutter und Bruder zugleich. Diesem Kind fehlten zu viele Bezugspersonen. Ein schweres Seufzen kam aus seinem Mund. „Verstehe…“ Er hielt den Blade in seiner Hand, drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern, während er inmitten der aufgehängten Kleidungsstücke hockte. Wenn er es geschafft hatte, ihren Bruder in Kindergestalt zu trösten, müsste dass doch auch bei diesem kleinen Hüpfer möglich sein. Allerdings sah Kai ihn damals nicht als eine potenzielle Bedrohung an, als sie am Lagerfeuer saßen. Jana jetzt aber schon. Er war der böse Mann der ihren Bruder klaute. Den letzten Menschen aus ihrer Familie. „Was glaubst du was passieren wird?“, fragte Tyson sie vorsichtig. „Denkst du wirklich Kai verschwindet, nur weil er jemanden geküsst hat?“ „Ja! Im Fernsehen geschaut. Geküsst, dann heiraten, dann Babys.“ Beinahe wäre ihm ein Lachen entwichen, doch er bemühte sich, ihre Sorgen ernst zu nehmen, mochten sie auch noch so unbegründet sein. „So geht das nicht, Jana.“ „Bei Prinzessinenfilm immer so.“ „Sieht Kai wie eine Prinzessin aus?“ Eine kleine Pause entstand. „Nein…“, kam es nachdenklich. „Da siehst du es.“ Allerdings wirkte Jana nicht überzeugt. Es war ziemlich eng im Schrank. Um besser mit ihr auf Augenhöhe reden zu können, ohne dass ihm ständig ein Ärmel ins Gesicht wedelte, legte er sich auf den Bauch und robbte näher an sie heran. „Weißt du eigentlich wie dein Bruder früher war? Bevor du auf die Welt kamst?“ „Kai war vorher da?“ Anscheinend konnte sie sich nicht vorstellen, dass es ein Leben vor ihr gab. Kindliche Logik eben. In Janas naiver Welt, nahm alles erst mit ihrer Geburt ihren Anfang. „Natürlich! Es gab mal eine Zeit, da warst du noch nicht da.“, begann Tyson ihr zu erklären. „Das war als Kai noch jünger war, ich noch jünger war… Sogar mein Opa hatte noch ein paar schwarze Haare auf dem Kopf. Allerdings war das schon damals die Ausnahme. Und dein großer Bruder, der hatte auch noch einen Opa.“ „Opa?“ Tyson nickte. „Den hast du nicht mehr kennengelernt. Er war schon weg als du geboren wurdest. Kai hat sehr lange bei ihm gelebt. Nur leider war er ein ganz gemeiner Mensch.“ „Oh...“ „Ja. Furchtbar gemein. Und deshalb war Kai manchmal sehr traurig. Er war der traurigste Junge, den ich jemals kennengelernt habe.“, Jana blinzelte ihn an. Noch immer waren ihre Augen gerötet, aber die Schluchzer ließen wenigstens nach. Allerdings zog sie dann und wann geräuschvoll das Näschen hoch. „Jedenfalls, als ich Kai kennengelernt habe, da haben wir uns gar nicht gut verstanden. Wir haben uns immer gestritten.“ „Wieso?“ „Naja, Kleinigkeiten eben. Wir waren noch Kinder. Jeder auf seine Art. Jungs streiten sich besonders gerne.“ „Jungs sin doof. Ziehen an Haaren…“ „Ja. Sind sie.“, gluckste Tyson. „Aber jetzt ihr euch küsst.“, murmelte Jana vorwurfsvoll. „Jah... Das kann man wohl nicht mehr leugnen.“, sprach er peinlich berührt. Es war wohl zwecklos es noch abzustreiten. „Aber das war ein sehr langer Weg bis dahin. Als Kai jünger war, hatte er kein Vertrauen zu mir. Zu niemandem. Manchmal war er zu den Leuten auch gemein.“ Tyson beugte sich mit einem verschwörerischen Ausdruck zu Jana vor. „Er war richtig giftig. Grrr…“, ein schüchternes Glucksen kam von ihr, als er spielerisch seinen Kopf gegen sie stupste. Jana schniefte, hörte ihm aber auch weiterhin zu. Ihre dunklen Knopfaugen blinzelten zu ihm herüber. „Dann kam aber der Tag da ließ das Gift nach. Weil Kai ein Gegenmittel gefunden hatte, dass ihn heilte.“ „Was eins?“ Tyson lächelte sie an. Dann meinte er: „Dich.“ „Häh?“, Jana legte das Köpfchen zur Seite. Sichtlich irritiert. „Du warst das Gegenmittel. Ein richtiger Zaubertrank! Ich weiß noch, wie es war, als wir dich das erste Mal im Krankenhaus besucht haben. Da warst du gerade erst geboren. Ich war auch dabei. Meine Freunde die du gestern kennengelernt hast auch. Du warst so winzig.“ Tyson zeigte ihr mit den Händen wie klein er sie in Erinnerung hatte. Geradezu lebhaft tauchte die Szene von damals vor ihm auf, wie sie in dem kleinen Bettchen lag und ihre Ärmchen in der Luft zappelten. „Uh! Das klein…“ „Ja, sehr klein.“, grinste er. Einfach weil Jana so große Augen machte. „Jedenfalls hat dich Kai angeschaut, wie du in deinem Kinderbett lagst. Und wie das bei ihm immer so war, hat er richtig ernst geschaut. So wie immer.“ Tyson ahmte dessen Gesichtsausdruck von früher nach. Da lachte Jana auch schon hell auf. Sie wippte fröhlich auf dem Hosenboden herum, umfasste dabei ihre Fußknöchel. Ihre Sorgen mussten wohl genauso schnell verfliegen wie sie eintrafen. „Dann kam aber der Moment als er dich anfassen sollte. Jetzt heb sie doch mal hoch – meinte mein Freund Max zu ihm. Kai rümpfte zuerst die Nase. Ich glaube er hatte Angst dich kaputt zu machen. Dann hat er sich aber einen Ruck gegeben. Er tippte vorsichtig mit dem Finger nach dir. Ganz leicht gegen deine winzig kleine Faust hat er gestupst. Und auf einmal hast du zugepackt…“, er tat eine bedeutsame Pause. „Du hast nicht loslassen wollen. In dem Moment, in dem du ihn gehalten hast, da ist das ganze Gift aus Kai herausgewichen. Du hast ihn mit nur einer Berührung geheilt. Er musste lachen, weil du nicht von ihm ablassen wolltest - und wir haben alle gesehen, dass er dich sofort lieb gewonnen hatte. Und in den nächsten Monaten wurde er allmählich netter. Zu kleinen Mädchen muss man schließlich nett sein. Das konnte er ja gut bei dir üben. Ihm ist gar keine andere Wahl geblieben, als endlich freundlicher zu werden. Auch zu uns wurde er anders. Von Tag zu Tag. Wenn er von dir spricht, dann sieht man einfach wie sehr er dich mag.“ Jana fuhr sich mit den Handflächen über die Augen. Danach schaute sie auf ihre von den Tränen nassen Finger. „Du machst ihn glücklich. Deshalb wird er dich niemals verlassen. Glaub mir.“ Sie hob den Blick, blinzelte ihn an. Ihr kleiner Mund stand offen. Tyson war nicht so sicher, ob sie wirklich begriff was er meinte, bis sie fragte: „Ist Kai jetzt lieb geworde?“ „Besser noch… Er kann lieben. Er liebt dich. Das habe ich vom ersten Moment gesehen, als er dich in den Armen hielt. Seine Augen waren früher kalt, aber wann immer er dich anschaut werden sie ganz sanft.“ Sie wurde still. Dabei drehte sie mit der rechten Hand an ihrem linken Zeigefinger. Es erinnere Tyson an den Tick, den ihr Bruder als Kind gehabt hatte. Irgendwo waren sich die beiden Geschwister doch ähnlich, auch wenn es nicht die Äußerlichkeiten betraf. „Tidom?”, seine Braue zuckte verstimmt, weil sie seinen Namen so furchtbar falsch aussprach. Doch ihr bekümmertes Gesicht ließ ihn von irgendwelchen Belehrungen absehen. Dafür würde in Zukunft genug Zeit bleiben. „Was ist?“ „Kai wirklich mich lieb?“ „Natürlich…“ „Aber Jana nix hübsch.“ „Wer sagt das?“ „Mama…“ Tyson verstummte, starrte das kleine, sensible Geschöpf vor sich entsetzt an. Es vergingen einige Sekunden, da fragte er leise: „Was?“ „Mama sage Jana hässlich. Mama sage ich laut und niemand lieb habe mich. Und wenn ich weine, Kai bringe mich in Tierheim sie sage. Und dann hübsche Schwester hole…“ Sein Blick weitete sich. Für einige Sekunden war er unfähig etwas zu sagen. Da wurde der Griff um sein Blade fester. Vor Zorn traten seine Knöchel hervor. Tyson schluckte hart. In ihm flammte ein unsagbarer tiefer Hass auf, der ihn die Kiefer mahlen ließ. Seine Stimme klang beklommen als er antwortete. „Das ist eine furchtbar gemeine Lüge.“ „Kai sage Lüge darf ma nicht.“ „Ja. Da hat er Recht.“, er strich ihr tröstend über den Haarschopf. „Und er würde dich niemals in ein Tierheim stecken. So etwas würde er nicht einmal denken. In ein Tierheim kommen auch keine Kinder hinein…“ „Mama sage ich ausschau wie Sabberhund.“ „Warum sagt sie das?“ „Wege Zunge… Mama sage Jana immer Zunge strecke. Schaut aus wie Hund.“ Sie tippte sich mit einem arglosen Ausdruck auf den Mund. „Deine Mama hat da ganz böse gelogen! So etwas sagt man nicht!“, es war einfach zu viel für Tyson und endlich verstand er auch, weshalb Kai so heftig bei ihrem Streit reagiert hatte. Er fuhr sich seufzend über das Gesicht. Zuerst sagte diese Frau so widerliche Dinge zu ihrem gehandicapten Kind, dann verschwand sie einfach so und Tyson hatte danach nichts Besseres zu tun gehabt, als alle Mongokinder vor Kai zu verspotten. Das musste ihm natürlich sauer aufstoßen. „Das ist einfach nur fies und gemein.“ „Mama gemein?“ „Ja!“, sprach er entschieden. Für einen Moment gingen seine Gedanken auf Wanderschaft. Tyson musste wieder an Janas Geburt denken. Als er Kais Mutter damals zum ersten Mal im Krankenhaus kennenlernte, hatte er heimlich gedacht, sie sei eine verdammt attraktive Frau. Sie besaß ein ebenschönes Gesicht, mit dunklen Augen, die von dichten Wimpern umrahmt lagen. Ihr Mund war perfekt geformt. Sie wirkte wie eine zierliche japanische Porzellanpuppe, selbst in ihrem geschwächten Zustand. Er wusste noch wie sich Max zu ihm beugte und ihm grinsend zuflüsterte, dass jetzt geklärt sei, woher Kai das Näschen her habe. Tyson hatte nur verschwörerisch zurück gezwinkert, denn beide errieten die versauten Gedanken des anderen. Sie waren eben doch nur Männer und damals ohnehin mitten in der Pubertät. Dabei huschte Tysons Blick aber immer wieder heimlich zu Kai, da er die familiären Merkmale im Geiste verglich. Bis auf ihr rundliches Gesicht besaß er sehr viel von ihr. Vor allem die Lippen... Es war das erste Mal gewesen, dass ihm durch den Kopf ging, dass Mutter Natur äußerst gnädig mit Kai umgesprungen war. Er schien ihm die perfekte Kombination aus westlichen und asiatischen Anlagen. Nicht so viel das man ihm die ausländischen Wurzeln hierzulande auf Anhieb ansah, aber genug um noch einmal einen zweiten Blick auf ihn werfen zu wollen – und sich dabei zu denken, dass er wirklich gutaussehend war. Tyson hätte eigentlich damals schon auf die Idee kommen können, dass er mehr von Kai wollte. Allein wie er sein Aussehen geradezu analysierte, war nicht mehr normal gewesen. Zu oft war sein Blick forschend auf ihn gefallen. Man sah seine Freunde nicht so an. Aber vielleicht war er einfach noch nicht soweit gewesen… Im Laufe des Tages kam ihm dafür dessen Mutter umso unsympathischer vor. Kai glänzte bereits mit wenig Interesse an seinen Mitmenschen. Doch sobald er seine Schwester in den Armen hielt, überwog die ehrliche Sorge, ob er sie überhaupt richtig hob, auch wenn er dafür den Spott seiner Freunde ertragen musste. Er hatte nur brummig gemeint, dass er kein Spielzeug in den Händen hielt und Jana nicht wehtun wolle, daraufhin musste selbst die Hebamme grinsen. Doch in all der Zeit, in welcher sie sich im selben Zimmer aufhielten, starrte Kais Mutter nur gedankenversunken aus dem Fenster. Tyson hatte es damals auf die anstrengende Geburt am Tag zuvor geschoben. Als die Hebamme aber nach ihrem Befinden sah, winkte Kais Mutter sie mit dem Zeigefinger näher an ihren Mund heran und wollte leise wissen, wann sie wieder rauchen dürfe. Die resolute Frau erstarrte und zischte gleich ohne Umschweife, dass sie besser nicht stillen sollte, wenn sie so blöde Fragen stellte - sie täte dem Säugling damit keinen Gefallen. Ray und er hatten es als einzige mitbekommen. Sie blickten sich an, beschlossen jedoch in stiller Übereinkunft, dass sie Kai vorerst nichts sagen würden. Er war ohnehin damals mit seiner Schwester beschäftigt gewesen und wollte sie partout nicht Kenny überlassen, da er ihm viel zu tollpatschig sei. Tyson war dagegen an diesem Tag klar geworden, dass Kai bis auf das gute Aussehen nichts von seiner Mutter innehatte. Sie schien ganz glücklich, dass sich die Jugendlichen mit dem Kind beschäftigten. Er konnte sich auch nicht erinnern, Jana jemals auf ihren Armen gesehen zu haben. Das letzte Mal als er sie traf, war sie makellos herausgeputzt gewesen, auch wirklich schön anzusehen, mit ihrer perfekten Figur und dem puppenhaften Gesicht, aber die Aura um sie herum wirkte immerzu frostig. Das sagten manche Leute zwar auch Kai nach - Tyson früher leider mehr als einmal – doch mit den Jahren kannte er den Unterschied. Bei ihm war es eine Distanziertheit die auf Argwohn beruhte. Bei seiner Mutter war es pure Eitelkeit. Womöglich war das der Grund, weshalb sie verschwunden war. Eine Frau die so auf Äußerlichkeiten Acht gab, konnte es vielleicht nicht ertragen, ein Mädchen wie Jana in die Welt gesetzt zu haben. Tyson blinzelte mitleidig auf das zarte Geschöpf vor ihm, überlegte wie er diese Wunde in der kleinen Kinderseele ein wenig heilen könnte. „Jana? Du hast ja schon mitbekommen, dass Kai und ich uns sehr gerne haben.“ Sie senkte traurig den Kopf. Da steckte wohl noch immer die Angst im innern, ihren Bruder teilen zu müssen. „Weißt du, wenn alles gut läuft, werden wir uns in Zukunft viel öfters sehen. Das muss aber nichts schlechtes sein. Wir könnten so viele tolle Sachen zusammen erleben. Aber vor allem wärst du nicht mehr alleine, wenn dein Bruder mal auf der Arbeit ist. Du könntest dann tagsüber hier bleiben. Mit Opa und mir. Er mag dich sehr – und ich auch.“ „Wirklich?“ Er lächelt auf die schüchterne Frage, kniff ihr spielerisch in die volle Backe. „Natürlich… Kleiner Hamster.“ Sie gluckste zaghaft und zog ihr Gesicht weg. Da fuhr Tyson auch schon fort. „Wir schauen Filme, wir gehen Eis essen, auf den Spielplatz – warst du schon einmal im neuen Wasserpark?“ „Was das?“ „Das heißt wohl nein.“, grinste er. „Ich will damit sagen, dass wir Freunde werden könnten. Du teilst vielleicht deinen Bruder, aber du bekommst auch etwas zurück. Einen Opa und… naja, noch einen großen Bruder. Zwei Brüder sind doch besser als einer, denkst du nicht?“ „Mmm…“, sie überlegte. Tyson fasste zaghaft nach ihrer Hand, tätschelte sie aufmunternd. „Wir passen dann auf dich auf. So macht man das in einer Familie.“ „Und Mama?“ „Die vergisst du schnell!“, kam es düster. „Ich will keine Mama bei uns haben, die meiner kleinen Schwester sagt, sie sei hässlich. So eine Mama ist bescheuert.“ „Bescheuert?“ Janas dunkle Knopfaugen blinzelten ihn an. Tyson wusste das er nicht das Recht hatte, um so etwas behaupten zu dürfen, doch nachdem was er gehört hatte, verspürte er den aufrichtigen Wunsch, dieses Kind vor weiteren Gehässigkeiten zu schützen. Und es schien das erste Mal zu sein, dass Jana das Verhalten ihrer Mutter überdachte. Kinder hingen wohl einfach an ihren Eltern, im blinden Vertrauen, sie würden immer die Wahrheit sagen. Jana schien lange nachzudenken, während ihre Finger an ihren Zehen herumspielten. Dabei streckte sie ihre winzige Zunge zwischen den Lippen hervor. „Wir brauchen deine Mama nicht. Kai, Opa und ich machen das schon. Versprochen.“, er hielt ihr den kleinen Finger hin. Zunächst schaute Jana grübelnd darauf. Dann hakte sie ihren auch ein. „Sind wir jetzt wieder Freunde?“ Sie nickte wie wild. „Wunderbar! Jetzt kommst du aber heraus. Deinem neuen Bruder wird es hier so langsam wirklich zu eng.“, schwerfällig und auf allen Vieren, kraxelte Tyson rückwärts aus dem Schrank heraus. Als er sich den Kopf irgendwo anstieß, kicherte Jana, weil er ein böses Wort ausrief. Das war einer dieser Momente, in welchen man sich sogar mit Mitte Zwanzig steinalt vorkam. Sobald das Mädchen herausgekrochen kam, hob er sie auf die Arme. „Tidom… Ich wirklich hässlich?“, wollte sie noch einmal wissen. „Nein, kleiner Hamster.“, seufzte Tyson schwermütig. Er tätschelte ihr aufmunternd über den Rücken, drückte sie tröstend an sich. „Hamster sind süß. Jeder liebt Hamster.“ Sie atmete aus, bettete ihr Köpfchen vertrauensselig auf seine Schulter. Gleich darauf vernahm Tyson ein Magenknurren von ihr. „Jetzt wird erst einmal gefrühstückt.“ „Jana will Eiscreme.“ „Ähm… Wir werden sehen.“ Als Tyson sich umdrehte sah er zu seiner Überraschung Kai am Türrahmen stehen. Mit steinerne Miene starrte der auf seine Schwester. Er konnte einen verbitterten Zug um seine Mundwinkel sehen, seine zitternden Fäuste. Ganz offensichtlich wurde ihm gerade bewusst, was sich alles bei ihm zuhause abgespielt hatte, während er Jana mit seiner Mutter alleine ließ. * „Wer sind die Nächsten auf unserer Liste?“ Cousine Mimi schaute auf ihr kleines Blütenblatt, auf das sie sich ihre Notizen machte. Mit dem winzigen Kreidesplitter, den sie von einer Felswand abgekratzt hatte, tippte sie sich nachdenklich gegen das Kinn, ohne zu merken, dass es weiße Flecken auf ihrem Fell hinterließ. „In unserem Bereich wären das dann Ariel und Gabriel.“ „Ai, ai, ai…“ „Kennst du die beiden? Von denen habe ich noch nie gehört.“ „Das liegt daran, dass sie gerne in luftiger Höhe herumhüpfen. Die kommen selten herunter.“, Allegro deutete auf die Gebirgskette, die sich vor ihnen erhob. Für ein Elite Bit Beast wäre das schon ein schwerer Aufstieg - wenn es nicht zufälligerweise fliegen konnte - für sie beide glich es einer Heraklesaufgabe. „Das sind zwei Steinböcke. Die treiben sich immer auf den Gipfeln herum. Das habe ich in der Mäuseschule gelernt.“ „Oh nein!“, Mimi schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, nein, nein! Ich mache ja vieles mit, aber das geht jetzt wirklich zu weit!“ Sie kreuzte die Ärmchen vor der Brust. „Aber Cousinchen…“, bat er zuckersüß. „Nein, aus die Maus! Ich sehe durchaus ein, wie wichtig unsere Aufgabe ist, aber wie wollen wir da hinauf kommen?“, sie deutete demonstrativ auf den Berg. „Uns bleibt wohl keine andere Wahl, als es zumindest zu versuchen.“ „Du liebe Güte.“, Mimi schüttelte besorgt den Kopf. „Wo soll das nur hinführen?“ „Wenn wir als Blitze hinaufhüpfen wird es leichter.“ „Aber wir müssen sparsam bleiben mit unserer Energie - das waren deine Worte! Brauchen wir die beiden überhaupt?“ „Pah, pah, pah! Was für eine Frage! Selbstverständlich sind sie von Nöten.“, Allegro klopfte mit dem rechten Fuß auf. „In der Natur existiert nichts grundlos. Die beiden werden heute mehr benötigt als jemals zuvor.“ „Wirklich?“, Mimi legte den Kopf in den Nacken und versuchte die Spitze des Berges zu erhaschen. „Was machen die beiden da oben überhaupt?“ „Die erzeugen Luftströme. Der eine erzeugt Warmluft, der andere Kaltluft.“ „Ja aber…“, sie starrte ihn verdattert an. „Dann sind sie doch Luft Bit Beasts! Warum suchen wir die dann überhaupt auf? Ich dachte wir bemühen uns nur um die Elite Bit Beasts die Driger und Draciel unterstellt sind?“ „Cousine, bitte benutz doch deinen Verstand. Die Portale sind zu. Dragoon wird auf der anderen Seite wortwörtlich bald die Luft ausgehen. Wir müssen auch seine Arbeit übernehmen, damit er genug Kraft behält um Dranzer die Stirn bieten zu können, sollte es zum Kampf kommen.“ „Oh…“ „Na siehst du. Nun komm! Wir sollten nicht trödeln.“ „Vier Haselnüsse sind zu wenig für den ganzen Ärger. Ich hätte viel mehr verlangen sollen.“ Allegro seufzte schwer und schon schoss er als Funken empor. Fels um Fels, Meter für Meter, Sprung für Sprung - brachte sie näher an den Gipfel. Doch beschwerlich war es tatsächlich. Der Weg schien ewig und wann immer die beiden Strommäuse inne hielten, um zu rasten, einen sehnsüchtigen Blick zur Spitze warfen, schien das Ende kaum näher zu rücken. Cousine Mimi jammerte oftmals das sie zurück wolle, einmal rollte sie sich auf einem Felsvorsprung zusammen und meinte sie könne nicht mehr. Da bereute Allegro sie nicht am Fuße des Berges zurückgelassen zu haben. So vergingen Stunden bis sie endlich hinaufgelangten. Schnee lag sogar auf dem Gipfel. Es war das erste was Allegro zu fassen bekam, als er sich völlig entkräftet auf einem der höher gelegenen Brocken hinaufzog, zu schwach, um sich noch in einen Blitz zu verwandeln. Sobald er Mimi auch hinauf half, legten sich beide schnaufend in den kühlen Schnee. Da drang auch schon ein lautes Poltern zu ihnen, was ihre Lauscher vor Schreck zucken ließ. Beide drehten sich um und erhaschten zwei Steinböcke, die wie wild umeinander herumrannten und sich aufs gemeinste beschimpften. Einer von ihnen trat mit den Hinterhufen aus und verpasste seinem Nebenmann beinahe einen Tritt gegen Schläfe. „Ich will hier weg…“, kam es prompt von Mimi. „Shh! Ruhe jetzt!“, Allegro hopste auf die Füße. „Schau einfach zu und lerne, liebe Cousine.“ Er tat einen Sprung um vorwärtszukommen, sackte aber tiefer in den Schnee hinein, dass nicht einmal mehr seine Ohren zu sehen waren. „Hmm…“, machte Mimi. Offenbar bezweifelte sie von dieser Aktion etwas lernen zu können. Allegro zog sich keuchend aus dem Schneeloch hervor und klopfte sich das weiße Pulver von den Knien. „Pardon.“, kam es leicht verlegen. Er räusperte sich und tastete sich vorsichtiger voran. Die beiden Steinböcke schimpften inzwischen weiter. Einer besaß ein perlweißes Fell. Der andere war fast schon rabenschwarz. Doch beide trugen sie einen Schulterpanzer. Allegro kam gerade dazu, als sie aufeinander zu rannten, um ihre Hauer mit dem Kopf voraus, gegeneinander zu schlagen. Die langen Hörner verhakten sich dabei ineinander. „Lässt du wohl los!“ „Lass du doch los!“ „Ich war zuerst da, du Aas!“ „Selber Aas, du Rindvieh!“ „Wag es! Mein Hintern ist durchtrainierter als der eines Bullen!“ „Bulle?! Bestenfalls einer alten Milchkuh!“ „Eines Tages bring ich dich noch um!“ „Glaub mir! Ich halte das auch nicht mehr länger mit dir aus!“ Das Luft Bit Beast immer so streitsüchtig sein mussten… Einen Moment dachte Allegro an Dragoon. Es war wohl viel Wahres dran, dass zu viel Sturm in solchen Seelen hauste, das gehörte wohl einfach zu deren Natur. „Verzeihung die Herren, könnten sie mir ein Ohr leihen?“ Anstatt ihn zu bemerken, rammten die beiden Böcke nur die Hörner fester gegeneinander. Der eine sturer als der andere. Der Pulverschnee sprühte geradezu in der Luft, sobald sie mit den Hufen aufkamen. Allegro versuchte sich lauter Gehör zu verschaffen. „HALLO!“ „Was war das?“, fragte einer von ihnen prompt. „Wahrscheinlich dein Erbsenhirn was sich zu Wort meldet!“ „Leck mich doch du aufgepumpter, kleiner Ar-…“ „Hallo! Hier unten die Herren!“ Beide hielten inne. Allegro konnte sehen wie ihre Ohren zuckten. Dann tippelten sie im Kreis, offenbar nicht willens voneinander abzulassen, aber auch zu neugierig darauf, wer da sprach. Beinahe hätten ihre gespaltenen Hufe ihn erwischt, doch er brachte sich noch schnell in Sicherheit. „Was ist das?“ „Woher soll ich das wissen?!“ „Mann, mach mich nicht dumm an, Alter!“ „Dann stell nicht so saudumme Fragen!“ „Wenn du mich endlich loslässt, könnte ich nachsehen, du Ochse!“ „Hättest du wohl gerne! Ich weiche keinen Millimeter! Ich bin heute dran mit der Warmfront!“ „Ich lege stinkende Haufen auf deine Warmfront!“ „Ich auf deine Kaltfront!“ Dann entstanden Luftströme also wenn sich diese beiden Streithähne in der Wolle lagen. Dadurch das Kalt und Wärmefront aufeinanderprallten. Das empfand Allegro doch als hochinteressant. Er überlegte ob er irgendwann auch darüber eine Studie verfassen sollte. „Ich mach dich fertig!“ „Träum weiter!“ Und schon ging das Gezanke in die nächste Runde. Allegro schnaufte genervt. Dann suchte er sich etwas Schnee zusammen, um ihn zu einem Ball zu formen. Er war nicht sonderlich groß, doch zumindest würde er sich bemerkbar machen können. Also warf er den Schneeball mit aller Kraft gegen einen der beiden Böcke. Der blinzelte irritiert als ihn das erbsengroße Geschoss im Gesicht traf und zuckte zurück. „Hah! Du hast losgelassen! Hab gewonnen!“, frohlockte der andere. „Das zählt nicht!“ „Doch! Ätsch!“ „Meine Herren, ich bitte um mehr Ruhe!“, Allegro sprang zwischen den Köpfen der beiden Böcke hoch. Endlich bemerkten sie ihn. Irritiert beobachteten sie seine Flugbahn, bis er auf dem Schnee aufkam und erneut einbrach, während sein erhobener Zeigefinger nur noch herausschaute. „Hmpf Hmpf!“ „Was sagt es?“ „Keine Ahnung. Was war das überhaupt?“ „Sah wie… eine Strommaus aus?“ „Die kommen nicht so hoch, du Esel!“ „Selber Esel!“ Bevor die Streitereien weitergingen, kletterte Allegro hastig aus seinem Loch hervor. „Halt! Nicht wieder zanken! Ich bin wirklich eine Strommaus!“, rief er aus. „Ich habe wichtige Nachrichten von eurem Arbeitgeber!“ „Arbeitgeber?“ „Dragoon!“ „Was… Du?“ Zunächst blinzelten sie ihn an. Dann gackerten sie los. Zum ersten Mal schienen sich die Streithähne einig zu sein. Einer von ihnen stieß ihn sogar unwirsch mit der haarigen Schnauze an, allerdings hatte Allegro solche Schwierigkeiten, die beiden auseinander zu halten, dass er den Übeltäter nicht beim Namen nennen konnte. Ihn beschlich die Vermutung das Luft Bit Beasts auch nur Luft im Kopf hatten. „Pardon?! Nicht so viel Körpereinsatz, wenn ich bitten darf!“ „Sieh dir den Winzling mal an. Wie er da steht und mit den Ärmchen gestikuliert!“ „Dieser Winzling soll euch von Dragoon ausrichten, was ihr in den nächsten Stunden zu tun habt!“, protestierte Allegro. „Du Pimpf? Na das wollen wir mal sehen…“ „Der Befehl kam von ihm höchstpersönlich!“, stampfte Allegro erbost auf. Allerdings rutschte er dadurch wieder knietief in den Schnee. „Vermaledeit aber auch!“ „Das kann jeder Dahergelaufene behaupten.“ „Es ist aber so! Ihr seid ihm unterstellt also müsst ihr seinen Worten gehorchen!“ „Hörst du dass Gabriel? Der Big Boss persönlich.“, äffte der eine ihn nach. „Ja, der allmächtige Kaiser! Mir schlackern die Hufe!“, kam es in einem theatralischen Tonfall zurück. Dann war der weiße Bock also Gabriel. Der andere musste dann Ariel sein. Ersterer fragte unbeeindruckt: „Warum bewegt Dragoon seinen feinen Hintern nicht selbst hoch, um uns das persönlich zu sagen?“ „Er ist okkupiert.“ Zwei dümmliche Augenpaare blinzelten ihn an. Na wunderbar. Intelligent waren die beiden Böcke also auch nicht. Musste wohl daran liegen, dass sie den ganzen Tag ihre Gehirnzellen zu Püree verarbeiteten. „Er ist indisponiert.“ Wieder nur verständnislose Blicke. „Er ist beschäftigtet!“, erklärte Allegro gereizt. „Aha… Der Winzling nervt mich. Drückt sich viel zu komisch aus.“, brummte Ariel seinem Kollegen aus den Mundwinkeln heraus zu. „Das habe ich gehört! Und jetzt gut die Lauscher gespitzt! Sind sich die Herren im Klaren, dass ihre Streitereien schwere Unwetterturbulenzen in der Menschenwelt auslösen? Und das an Orten wo sie überhaupt nicht hingehören?“ „Klar.“ „Türlich…“ „Was?!“, Allegro hielt geschockt inne. Er hatte vermutet dass sie sich dessen eben nicht bewussten waren. Seine Frage war eigentlich rhetorischer Natur gewesen. „Ja aber… Wieso bewegt ihr eure Kraft dann nicht dorthin wo sie hingehört?!“ „Kein Bock.“, kam es unisono. „Ja verdammt noch eins, dann strengt euch gefälligst mehr an! Ihr könntet durch das Wirrwarr was ihr verursacht ein Flugzeug zum Absturz bringen!“ „Wäre nicht das erste Mal…“, sprach Gabriel gelangweilt. Er tippelte gemächlich davon. „Hiergeblieben! Wo willst du hin?“ Allegro hopste ihm in den Weg, wurde aber unachtsam zur Seite geworfen. Für den Steinbock mochte es ein kleiner Stups mit dem Huf sein, doch es haute ihn einen gefühlten Meter weg. „Platz da, Ungeziefer! Ich habe meinen Kampf gewonnen. Also schicke ich eine richtig heftige Kaltfront Richtung Schweiz. Die werden dieses Jahr einen verdammt kalten Herbst haben. Hö hö!“ „Moment! Wer sagt das du gewonnen hast?!“, bockte Ariel prompt. „Ist doch egal wer gewonnen hat! Ihr müsst euch auf das Wesentliche konzentrieren!“, raufte sich Allegro das Fell um den Kopf, sobald er wieder auf den Beinen stand „Wir haben eine ernste Krise in beiden Welten! Habt ihr das gar nicht mitbekommen?“ „Doch.“ „Geht uns nur am Arschfell vorbei.“ So viel Ignoranz war zu viel. Dabei dachte er Dragoon könnte niemand übertreffen. „Das sollte es aber nicht! Ihr seid auch davon betroffen, wenn nicht alle Bit Beast zusammenhalten. Jeder muss jetzt seinen Teil beitragen!“ „Sagt wer?“, Gabriel stolzierte provokativ mit erhobenem Haupt weiter. Um nicht den Anschluss zu verlieren versuchte Allegro ihm vorsichtig auf dem Schnee nachzulaufen, ohne wieder einzubrechen. „Dragoon!“ „Den kann ich gar nicht ab. Bäääh!“, meckerte der Bock. „Ständig lässt er die Muskeln spielen und seid er seinen Titel hat, hält er sich für was ganz Besonderes.“ „Oh! Oh! Erinnerst du dich was er letztes Mal gesagt hat?“, fragte Ariel aufgeregt. „Komm, mach es mal nach! Das kann er echt gut.“ „Soll ich?“ „Ja los! Fang endlich an!“ Gabriel reckte die Brust und äffte Dragoon nach. „Ihr beiden seid ein Witz! Es ist schon wieder ein Flieger wegen euch abgestürzt! Wenn ich jedes Mal hier herauf kommen muss, um eure Luftströme auf die rechte Bahn zu führen, kann ich den Job gleich selber machen!“ Erstaunlicherweise konnte er sogar dessen Stimme haargenau in der gleichen Tonart imitieren. Es klang als stünde Dragoon wahrhaftig vor ihm. Die beiden Böcke gackerten boshaft los. Zum ersten Mal empfand Allegro etwas Mitleid für den Drachen. Es musste wirklich frustrierend sein, mit diesen beiden Trotteln zusammenzuarbeiten. Sein Verdacht bestätigte sich, als Ariel ein äußerst kindisches „Bäh Bäh Bäh!“ hinterhersetzte. Allegro stemmte die Ärmchen in die Seiten, schaute beide streng an. Dann sprach er geradezu herausfordernd: „Ich frage mich ob ihr auch so eine große Klappe hättet, wenn Dragoon jetzt direkt vor euch stehen würde! Ihr kommt euch doch nur so mutig vor, weil eine Maus euch die Botschaft überbringt!“ „Ähh…“, eine ziemlich ertappte Pause entstand. Plötzlich stampfte Gabriel mit dem Huf auf. „Der nervt mich jetzt aber wirklich! Hau ab, du Schmeißfliege!“ Er präsentierte ihm die Hörner und scharrte mit dem rechten Huf. „Meine Herren, nun bleiben wir doch für einen Moment sachlich.“, hob Allegro beschwichtigend die Arme. „Wir wollen doch alle dasselbe. Eine ruhige Welt - ohne Turbulenzen.“ „Treib ihn den Berg hinab, sonst mache ich es!“, forderte Ariel, dabei hopste er aufgeregt auf der Stelle. Mit seinem Vorwurf hatte Allegro wohl einen wunden Punkt getroffen. Er wollte gerade wegrennen, sackte aber durch die hektische Bewegung wieder etwas tiefer ein. Gerade als er den rechten Fuß herausbekam, spürte er einen Schädel, der ihn langsam aus dem Schnee hob. Es war wie auf einem Katapult. Er wurde hinaufgestoßen in die Luft, so plötzlich, dass ihm der Atemzug im Hals stecken blieb. Hinter sich vernahm er das amüsierte Meckern der beiden Böcke, unter sich sah er Mimi, die von ihrem Versteck aus die Hände auf die Ohren legte. Ihre Lippen bildeten einen Satz, der höchstwahrscheinlich wieder ein „Du liebe Güte!“ beinhaltete. Gleich danach sauste Allegro den Berg hinab, schnurstracks Richtung Wald. Die Baumkronen rasten auf ihn zu. Er hoffte inständig nicht gegen einen Ast zu prallen. Und er hatte Glück… Gerade als er durch das Blätterdach brach, kam er auf einem Blatt zu fallen, rutschte daran entlang. Blatt für Blatt milderte seinen Aufprall, bis er endlich so wenig Geschwindigkeit drauf hatte, um sich an einem kleinen Zweig festzukrallen. Das war wohl einfach nicht sein Tag. Ständig machte ihm die Elite Ärger. Zwar waren viele vernünftig, aber doppelt so viele auch nicht. Allegro seufzte betrübt. Was das anging, schien ihm seine Statur wohl einfach einen Strich durch die Rechnung zu machen. Dadurch dass der Boss nicht persönlich auftauchte, nahm ihn niemand ernst. Dabei wären gerade Ariel und Gabriel eine große Bereicherung gewesen. Zwar war er sicherlich nicht Dragoons Kumpan, doch sollte dieser eingebildete Drache zurückkommen, würde er ihm ganz beiläufig erzählen, was für gehässige Dinge seine Untergebenen über ihn gesagt hatten. Mit etwas Glück, durfte er mitverfolgen, wie sie dann selbst im hohen Bogen vom Berg hinuntersausten. Allegro zog sich den Ast hinauf, pickte sich eines der größten und kräftigsten Blätter heraus und packte die Enden fest an. Dann ließ er sich wie mit einem kleinen Fallschirm zu Boden gleiten. Gerade als er endlich wieder moosigen Untergrund unter seinen Zehen spürte, hörte er einen spitzen Schrei. Er spähte durch das Blätterdach, erhaschte eine Stelle die etwas Himmel durchließ, wo er Cousine Mimi auch schon vorbeisausen sah. Offenbar hatten diese rüpelhaften Steinböcke sie nun auch erwischt. Mit bangem Blick verfolgte er ihre Flugbahn. Er hatte den Eindruck, als würde er ihr nun wirklich mehr, als vier Haselnüsse schulden. * Kai strich nachdenklich mit den Fingern über den Rand seiner Kaffeetasse. Er hatte keinerlei Appetit, beschränkte sich nur auf das Getränk. Seine Schwester saß inzwischen im Wohnzimmer, wo sie das morgendliche Kinderprogramm im Fernsehen verfolgte, während sie ihr Frühstück aß. Zwischendrin vernahm man immer mal wieder ihr Plappern, weil sie wie ein kleiner Papagei nachahmte, was in der Serie gesprochen wurde. Kai wusste nicht, wie viel er von dem Gespräch zwischen Jana und Tyson verpasst hatte, doch was er aus ihrem Mund hörte, stieß ihm übel auf. Er war sehr bedrückt danach, machte sich Vorwürfe, dass er seine Mutter so verboten falsch eingeschätzt hatte. Er schenkte wahrhaftig immer den falschen Leuten sein Vertrauen, hielt an seiner Familie fest, weil er glaubte, Blut sei dicker als Wasser. Es gab aber wohl keine Garantie dafür. Umso faszinierter war Kai, wie schnell Tyson einen Draht zu seiner Schwester aufgebaut hatte. Sie wollte danach gar nicht mehr auf Kais Arm, sondern bei ihrem neuen Bruder bleiben. Da wurde er fast etwas eifersüchtig… Kai musste sanft lächeln, als im Vorschulprogramm ein Lied eingestimmt wurde und Jana geradezu inbrünstig mitsang. Sie traf keinen einzigen Ton, aber gerade das machte es so reizend. Bei ihnen daheim, durfte sie so früh am Morgen nicht vor den Fernseher und erst recht nicht auf der Couch frühstücken. Doch weil Tyson und er noch so viel bereden wollten, bevor Mr. Kinomiya aufstand, machte er eine Ausnahme. Der saß dicht neben ihm am Küchentisch. In seiner Hand hielt er seinen alten Blade, den er wohl zusammen mit Jana im Schrank hervorgeholt hatte. Er tippte immer mal wieder nachdenklich dagegen. Dragoons Emblem war noch nicht darauf zurückgekehrt. Allerdings vermuteten beide es läge daran, dass Tyson ihm befohlen hatte zu verschwinden. „Eigenartig. Ich fühle mich diesem Ding gar nicht mehr verbunden.“, hatte er irgendwann geistesabwesend gemummelt. „Es ist nur noch ein Spielzeug für mich. Bestenfalls eine Erinnerung aus Kindertagen.“ Das verstand Kai sogar. Er hatte wissend die Lider gesenkt. Tyson war wohl endlich erwachsen geworden. In seinem Blick steckte viel Erfahrung. Er wusste jetzt wie es war, um sein Überleben zu kämpfen. Etwas was Kai in der Abtei gelernt hatte. Er kam sich deshalb seinen Freunden stets überlegen vor. Nun hatten sie ihn wohl eingeholt… Ihm fiel auf dass Tyson nichts zum Frühstück zu sich nahm. Sonst war es das Erste was er tat, wenn er aufstand. Er hatte dann immer gestrahlt, einfach weil ihm eine gute Mahlzeit Freude bereitete. Nun wirkte er aber so viel nachdenklicher als früher. Ihm schienen tausend Dinge durch den Kopf zu jagen. Nur bei einem Gesprächsthema erblickte Kai den alten Schalk in dessen Augen - als sie über ihre gemeinsame Nacht von gestern sprachen. Da lag schon das Verlangen nach mehr in seinem Blick. Kai war etwas unbeholfen geworden, denn das Lächeln seines Gegenübers verriet ihm, wie sehr er die vorherige Nacht genossen hatte. Gleich darauf strich er ihm liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht, betrachtete ihn eingehend. „Sieht toll aus es wenn du rot wirst.“ Es ließ Kai die Augen schließen. Er hatte sich gestern wirklich hinreißen lassen, Dinge gesagt, die für ihn sonst unvorstellbar waren. Eigentlich gab er in jeder Lebenslage genau darauf acht was aus seinem Mund kam. Jedes gesprochene Wort konnte gegen einen selbst verwendet werden. Deshalb wäre ihm sein gestriges Verhalten früher sauer aufgestoßen. Er hätte hinterher Angst gehabt, dass jemand etwas davon erfuhr, ihm damit einen Dolch in den Rücken rammte, gerade wenn er es am wenigstens erwartete. Diese Zweifel blieben aber heute aus… Als er nach dem Sex auf blieb um wache zu halten, war ihm eingefallen, dass er sich bei niemandem zuvor so fallen gelassen hatte, wie bei Tyson. Mit ihm war es so einfach gewesen. Er vertraute ihm bedingslos. Auch wenn der es heute Morgen nicht unterlassen konnte, ihn ein wenig aufzuziehen. Kai war nach dem Vorfall mit Jana an der Spüle gestanden, um das Besteck zu säubern, was er für ihr Frühstück gebraucht hatte, da umschlang Tyson ihn ganz unerwartet von hinten. Er hatte gar nicht bemerkt, dass der wieder aus dem Badezimmer zurück war. Seine Finger fuhren an seinem Körper entlang und schon raunte er ihm dicht ans Ohr, dass man Kai seine hemmungslose Art kaum ansehe. „Wie du da so stehst, siehst du aus, als könntest du kein Wässerchen trüben.“ Er hatte Tyson zu gemurrt die Klappe zu halten. Doch der gluckste nur, fuhr mit seinen Fingern an seinen Hintern und fragte ganz ungeniert, ob ihm vom gestrigen Ritt nicht etwas wehtäte. Das war dann doch zu viel. Kai war hochrot geworden und gab ihm einen kräftigen Ellbogenhieb, dass sein Hintermann nach Luft japste. „Dir sieht man deine Perversionen auch nicht gerade an, Kinomiya!“ „Ich weiß! Deshalb habe ich den Überraschungsmoment immer auf meiner Seite.“ Er frohlockte regelrecht, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und pfiff vergnüglich vor sich her. Scheinbar war Tyson was das betraf etwas offener als er. Der nahm allerdings auch an, dass Kai entsetzt darüber wäre, das seine Schwester nun von ihrer Affäre wusste. Zugegeben, es passte Kai nicht sonderlich - aber nur weil sie ihm zu jung für dieses Themen schien. Nicht weil er sich dafür schämte einen Mann zu lieben. Während er ihr das Frühstück richtete, sprach er noch einmal mit ihr darüber - unter vier Augen. Das war wirklich unangenehm für ihn gewesen. Noch nie hatte er Jana eine seiner Verflossenen vorgestellt. „Warum du keine Pyjama an gehabt?“, wollte sie arglos wissen. Etwas verzweifelt wechselte er das Thema, doch Jana ließ nicht ab, fragte ihm stattdessen neue Löcher in den Bauch. „Du und Tidom knutschen? Mache ihr so?“ Sie tat als wären ihre beiden Zeigefinger zwei Männchen, lehnte die Spitzen aneinander, als seien es zwei Gesichter die sich zum Küssen vorbeugten, gab dabei die ganze Zeit ein „Ma, ma, ma, maaa!“ von sich. Als sie Kais starren Ausdruck sah, begann sie frech zu glucksen. Ihre kleine Zahnlücke kam dabei zum Vorschein. Sie zog ihn auf und das schon in dem Alter. Er rollte mit den Augen und bat seine Schwester so vorsichtig wie möglich, was sie gesehen habe, für sich zu behalten. „Wieso?“ „Weil es unser Geheimnis ist. Und weil ich dir ein Spielzeug kaufe, wenn du es wirklich tust.“ „Uh!“, sie machte große Augen. „Okay.“ Und schon hatten sie einen Deal… Hinterher fiel ihm auf, dass sie mit keinem Wort darüber sprach, wie eigenartig es war, dass ihr großer Bruder einen Mann küsste. Entweder waren die heutigen Kinder weiter als zu seiner Zeit, oder sie verstand einfach nicht, dass gerade das ihr zu denken geben sollte. „Ich glaube es ist letzteres.“, meinte Tyson, als er ihm nun davon berichtete. „In ihrer unschuldigen Welt gibt es wohl solche Grenzen nicht. Liebe ist einfach Liebe.“ „Wahrscheinlich.“, seufzte Kai traurig, schaute in den Inhalt seiner Tasse. „Das würde erklären weshalb sie auch immer noch an unserer Mutter hängt. Ich habe das nie wirklich verstanden...“ Es wurde still zwischen ihnen. Als er den Blick fragend hob, fiel ihm auf, wie ernst Tyson ihn bedachte. Etwas lag ihm auf der Zunge. „Was?“ „Kai, ich will dir nicht zu nahe treten, aber dasselbe habe ich auch ständig bei dir gedacht.“ „Bei mir?“, blinzelte er überrascht. „Nach dem was passiert ist, würde ich meine Mutter hochkant aus dem Haus jagen, wenn sie es wagen sollte erneut aufzutauchen.“ „Aber zuvor hast du sie aufgenommen. Sie glänzte jahrelang mit Abwesenheit, trotzdem hast du sie in dein Haus gelassen. Es war dein Erbe – nicht ihres. Und es ist nicht nur sie.“, sprach Tyson eindringlich. „Diese Frage habe ich mir auch bei deinem Großvater gestellt. Ich weiß nicht genau, woran du dich alles erinnerst, aber gestern Abend wusstest du zumindest wieder, was für ein Ekel er war. Ich könnte dir duzende Momente aufzählen, in denen ich dir angeboten habe, bei mir zu wohnen, aber du hast ständig abgelehnt.“ Kai schaute auf seine Finger. Der Griff um die Tasse begann zu zittern. Er wusste den Grund und jetzt wäre die Gelegenheit, Tyson davon zu erzählen. Doch etwas in ihm sträubte sich. Eine Parole aus der Abtei schoss ihm durch den Sinn. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Diesen Satz hatte er dort so oft vernommen. Es wurde ihnen wortwörtlich eingebläut. Ihm war klar dass Tyson eine Antwort erwartete. Er spürte seinen Blick auf sich ruhen. „Warst du schon einmal im örtlichen Tierheim?“, fragte Kai. Sein Gegenüber blinzelte perplex, verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel. „Nein.“ „Ich aber. Ich erinnere mich daran, einmal einen Streuner dorthin gebracht zu haben. Es war ein Kater. Die Pflegemutter meinte, dass der Kleine ganz offensichtlich gefallen an mir gefunden habe – aber ich konnte ihn wegen meinem Großvater nicht behalten. Sie versuchte mich trotzdem zu überreden ihn zu behalten. Ein Satz blieb mir damals besonders im Kopf hängen. Tiere die aus dem Elend herausgeholt werden, sind die dankbarsten Gefährten.“ „Warum erzählst du mir das?“ „Ich denke einfach so war das mit Großvater und mir.“ „Wegen deinen Eltern oder der Abtei?“, hob Tyson fragend die Braue. Kai könnte es zugeben. Das er endlich wieder wusste, wie die Tage dort waren. Weshalb er seinem Großvater so lange loyal blieb. Wie dankbar man einem Menschen war, wenn er einen aus diesem Tierheim herausholte. Sein Großvater hatte ihm gesagt, er hätte nichts von den Zuständen dort gewusst. Kai glaubte ihm. Es blieb ihm auch keine andere Wahl. Wo hätte er auch hingehen sollen. Er war immerhin noch ein kleines Kind gewesen… Seine Auswahl an Rückzugsorten war damals mehr als begrenzt. Er hätte diesen Gefühlen gerne Ausdruck verliehen. Sie in Worte gefasst. Doch es fühlte sich wie eine unüberwindbare Barrikade an. „Ich weiß nicht genau… Vielleicht beides. Es ging mir einfach nur durch den Sinn.“, Kai fuhr sich gequält über die Stirn. „Ich weiß gar nicht warum ich damit angefangen habe.“ Janas Gesang ließ beide plötzlich hochfahren. An einer Stelle traf sie den Ton so unfassbar schrill, dass sie kurz darauf auflachen mussten. Singen war angeblich eine Kunst, aber es schien viel anstrengender zu sein, so falsch zu singen. „Liegt wohl an ihren dicken Hamsterbacken.“ „Vielleicht. Du hast ihr also schon einen Spitznamen gegeben?“ „Kleiner Hamster finde ich einfach passend.“ „Ja, irgendwie… Ich wünschte manchmal sie könnte so bleiben.“, sprach Kai lächelnd. Doch eigentlich bemühte er sich nur vom vorherigen Thema wegzukommen. „Sie ist so unglaublich naiv. Wenn ich daheim war, wirkte sie auch so unbeschwert. Wie sie sich da oben bei dir im Zimmer gegeben hat, liegt zumindest nicht bei uns an der Tagesordnung. Tut mir Leid dafür.“ „Schon okay. Wir werden auskommen.“, grinste Tyson. „Und sie scheint sich wohl zu fühlen.“ „Ja. Sie mag dich.“, Kai nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Dabei dachte er über sein jetziges Verhalten nach. Die Mauer überwinden… „Vielleicht habe ich sie auch zu sehr eingesperrt. Sie geht noch nicht einmal zur Vorschule. Eigentlich ist sie seit einem Jahr überfällig, aber ich habe sie lieber daheim gelassen. Die Welt kann einfach so grausam sein und ich will sie nicht in eine spezielle Schule schicken.“ „Du willst sie beschützen. Das kann ich verstehen, aber wird es nicht Zeit dein Küken fliegen zu lassen? Wenigstens so dass sie neue Leute kennenlernt. Vielleicht sogar ein paar Freunde findet?“ Kai musste über den Vergleich nachdenken. Sein Küken… Dranzer hatte ihn auch als so etwas gesehen. Geradezu zärtlich sprach sie ihn so an. Das ließ ihn einen Moment schlucken. „Womöglich…“ Auch Tyson gaben seine eigenen Worte zu denken, schien die Parallelen zu bemerken. Er schaute auf seinen Blade herab. „Eigentlich sollte ich heute einiges erledigen.“ „Das habe ich mir gedacht.“ „Ich kann aber nicht gehen. Immerhin…“ Er ließ den Satz unvollendet, hielt ihm stattdessen den Blade vor das Gesicht. Dabei tippte er auf das leere Emblem. Kai betrachtete es eingehend, schüttelte dann aber den Kopf. „Es wird nichts mehr passieren. Der neue Tag ist seit einigen Stunden angebrochen und das überall auf der Welt. Du weißt wie Galux es uns erklärt hat. Die Portale sollten überall geschlossen sein.“ „Ray hat noch nicht angerufen…“ „Er wird sich um die Scheidungspapiere kümmern – oder noch unterwegs sein. Die beiden wollten immerhin mit dem Zug weiter.“, Kais Augen huschten zur Uhr. „Und Max dürfte noch nicht einmal gelandet sein. Gib den beiden Zeit sich von der Reise zu erholen. Es ist noch sehr früh. Er wird einen Jetlag haben.“ Tyson brummte verstimmt. Womöglich weil er in seiner Ungeduld dachte, dass eine kleine Nachricht nicht zu viel verlangt gewesen wäre. „Du solltest dich jetzt ohnehin bald zum Präsidium aufmachen. Die ganze Nacht über ist nichts passiert, jetzt musst du dich um deinen Bruder kümmern.“, er dachte nach. „Könnt ihr euch einen Anwalt leisten?“ Er sah Tysons Blick zur Seite huschen. „Sicher.“ „Falls es nicht reicht, würde ich gerne…“ „Danke, aber erst einmal versuchen wir so klar zu kommen.“, das Thema Geld schien doch an seinem Stolz zu kratzen. Aber irgendwann grinste Tyson. „Du konntest ihn eigentlich nie leiden…“ „Das spielt keine Rolle. Er ist Teil deiner Familie.“, Kai wandte den Blick ab, sprach dabei leise weiter. „Wenn du dich um Jana bemühst, kann ich das auch bei Hiro. Wir müssen uns nur verstehen. Nicht in den Armen liegen.“ Tysons Ausdruck wurde zärtlich. Er beugte sich zu ihm vor, ergriff Kais Hand und küsste sie. Anschließend betrachtete er seine Finger. Kai fiel auf wie oft er das tat. Etwas schien ihm dabei durch den Sinn zu gehen. Er fühlte wie Tysons Daumen ihm über den Handrücken fuhr, dabei schien er in Erinnerungen zu schwelgen. „Kaum zu glauben wie lange wir gebraucht haben…“ „Findest du?“ „Zehn Jahre, Kai. Das ist doch eine beachtliche Zeitspanne, dafür, das wir regelmäßig Kontakt hatten.“, er schmunzelte wieder. „Hätte mir das zu unseren Anfängen jemand vorhergesagt, hätte ich ihm den Weg zur nächsten Irrenanstalt erklärt.“ Er könnte beleidigt sein, aber in Anbetracht ihrer ständigen Zankereien war diese Äußerung nur legitim. Ein ähnlicher Vorschlag wäre auch aus seinem Mund gekommen. „Nicht nur du. Aber wir waren auch noch Kinder…“ „Die Hälfte dieser Zeit. Während der anderen Hälfte hätte ich es merken müssen.“ „Wo wir bei dem Thema sind – wann ist es dir klar geworden?“ Tyson zog nachdenklich die Brauen zusammen. Kai sah wie sich seine Augen kurz zur Decke richteten, während er eindeutig nach einem Anhaltspunkt suchte. „Die Zeichen waren wohl schon vorher da. Aber so richtig klar geworden, ist mir das erst als Dranzer…“, er hielt inne. Sein Blick huschte für eine winzige Sekunde zu Kai. Dann schien er seine Antwort zu ändern. „Als wir in der Irrlichterwelt waren.“ „Wolltest du nicht etwas über Dranzer sagen?“ „Nein.“ „Du verheimlichst mir doch was.“ Er ließ von ihm ab. „Ich erklär es dir ein anderes Mal.“ „Sag mir die Wahrheit!“, Kai beugte sich vor, sah ihn fordernd an. Lange Zeit starrten sich beide einfach nur in die Augen. Kein Wort kam aus ihrem Mund, nur das Ticken der Uhr schallte durch die Küche. Irgendwann zischte Tyson verstimmt. „Das du es nie auf etwas beruhen lassen kannst…“, er lehnte sich im Stuhl zurück. Nach einer kurzen Pause erklärte er: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendwas davon noch weißt, aber als wir in der Irrlichterwelt gestrandet sind, hatte Dranzer zuvor Besitz von dir ergriffen.“ „Was?“, er starrte ihn verdattert an. „War das vor oder während dem Brand?“ „Danach…“ Kais Mund klappte fassungslos auf. Dann lehnte auch er sich zurück. Er schaute aus dem Fenster und sah es doch nicht so wirklich, denn sofort begann sein Verstand zu kombinieren. Ihm ging der Blackout durch den Sinn. All die Dinge die Kato ihm beim Verhör vorwarf. Kai hatte es geahnt. Etwas war faul am Angriff auf die Krankenschwester und das er rein gar nichts mehr von dieser Nacht wusste. „Dein Großvater hat gelogen?“, fragte er aus großen Augen. Doch Tyson antwortete nicht. Er schaute ihn einfach nur an, aber sein Blick war anders als sonst. Da lag kein Bedauern, keine Reue darin. „Dann war ich es also doch der sie so zugerichtet hat?“ „Warst du es?“, stellte Tyson die Gegenfrage. „Denn das weiß doch eigentlich keiner so genau. Alles was wir gehört haben sind Vermutungen.“ „Es kann gar nicht anders gewesen sein!“ „Und selbst wenn, ich finde nicht das es dich schuldig macht. Du selbst hättest nie so gehandelt. Es war nur dein Körper der sich bewegt hat, mit einem fremden Geist, der ihn gesteuert hat. Ich kann nicht erkennen, dass du absichtlich so gehandelt hättest, wenn du bei Verstand gewesen wärst.“ „Natürlich nicht. Ich kannte diese Frau ja gar nicht…“ „Na also! Ende der Geschichte.“ „Aber…“ „Kai, schau mich an!“, Tyson packte erneut seine Hand. Dieses Mal lag da etwas Strenges in seinem Blick. „Ich weiß dass du das nicht wolltest.“ „Warum habt ihr es dann verschwiegen? Du und dein Großvater...“ „Weil ich dich kenne! Ich wollte nicht dass du dir die Schuld dafür gibst, wie damals bei deinem Schulkameraden Wyatt - als dieser Trottel mit seinem Bit Beasts überfordert war! Niemand hatte ihm gesagt, sich mit einer dubiosen Organisation einzulassen, aber du hast dir die Schuld dafür gegeben, nur weil du ihn abgewiesen hast. Du nimmst solche Dinge viel persönlicher als du solltest! Das musst du aber nicht.“ „Sie war mein Bit Beast… Ich hätte sie kontrollieren müssen!“ „Diese Wesen kann man nicht kontrollieren, Kai! Das sollten wir beide doch so langsam wissen! Du kannst einem Sturm auch nicht sagen, er soll aufhören zu wüten. Es gab nichts was du gegen dein Bit Beast hättest tun können.“, er packte sein Handgelenk noch fester. „Genau deshalb haben wir gelogen. Weil ich genau wusste, dass diese Zweifel irgendwann von dir kommen. Aber das ist unfair. Du kannst dir doch dafür nicht die Schuld geben!“ „Ich hätte mich mehr wehren müssen…“ „Wie viele Leute werden auf Bewährung freigelassen, weil sie unter Alkoholkonsum irgendwelchen Mist verzapfen! Wie viele Leute werden wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen, obwohl jemand drauf gegangen ist! Keiner von uns weiß was passiert ist. Keiner! Das alles sind nur Vermutungen.“ „Du redest es dir schön.“ „Vielleicht tue ich das. Aber hey, wir können nichts mehr für diese Frau tun!“ Kai starrte ihn an. Er fragte sich, ob das wirklich Tyson vor ihm war. „Bereust du es denn kein bisschen? Diese Frau ist den Rest ihres Lebens entstellt.“ „Was mit ihr passiert ist, ist verdammt scheiße! Das tut mir auch Leid. Hätte ich ihr helfen können, dann hätte ich es getan, egal wie biestig sie zu mir war. Aber indem du für diese Sache ins Gefängnis gehst, ist doch rein gar niemandem geholfen! Also wenn du wissen willst, ob es mir Leid tut das ich gelogen habe, dann sage ich eindeutig nein. Es tut mir nicht leid!“, sprach Tyson geradeheraus. „Ich liebe dich – und ich würde alles tun um dich zu schützen. Dafür schäme ich mich nicht. Die hätten dich weggesperrt und das obwohl du genauso ein Opfer von Dranzer warst! Das konnte ich nicht zulassen.“ Kai atmete tief aus, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich habe jemanden beschützt, der mir etwas bedeutet.“, rechtfertigte Tyson sich inzwischen weiter. „So bin ich nun einmal. Wenn ich die Wahl habe, wem ich zuerst helfen soll, werde ich zuerst meine Familie wählen. Das schließt dich und die anderen mit ein.“ Kai wusste nicht, was er davon halten sollte. Auf der einen Seite war er irgendwie gerührt und doch war da auch das Gefühl, Tyson hätte ihm die freie Entscheidung auf Wiedergutmachung geraubt. Er hatte über seinen Kopf hinweg einen Entschluss für ihn gefasst, ohne ihm die Wahl zu lassen. Nun musste Kai mit dieser Last auf seinem Gewissen leben. Er war alles andere als ein Engel, doch es ging einfach um seine Ehre. „Wissen Max und Ray es auch?“ „Sie werden sich gedacht haben was passiert ist. Wir haben auch nicht mehr darüber gesprochen. Die beiden haben ihre Probleme und ich muss mich um die Baustellen kümmern, die gerade vor mir liegen.“ „Früher wolltest du alles und jeden retten…“ „Nein!“, Tyson hob den Zeigefinger. „Genau in dieser Sache hast du mich immer falsch verstanden! Du hast mir früher ständig vorgeworfen, dass ich bei jeder Gelegenheit den Helden spielen muss. Die Wahrheit ist aber, dass zu aller erst meine Leute kommen – für die würde ich mein Leben geben. Und erst danach kümmere ich mich um die anderen! Was ihr passiert ist, lässt sich sowieso nicht mehr ändern, also hast du bei mir Vorrang!“ „Dass du so sein kannst wusste ich nicht…“ Einen Moment schloss Tyson seufzend die Augen. „Dann ist das wohl der Drache in mir. Er bleibt auf seinem Goldschatz hocken und reißt jeden in Fetzen, der ihn anrühren möchte. Dieses Mal musste eben diese Krankenschwester dran glauben…“ Kai dachte darüber nach. Es erinnerte ihn an die alten Sagen in Europa, wo man Drachen mehr als Dämonen sah, statt als Glücksbringer wie hier zu Lande. In Russland waren diese Legenden ebenfalls geläufiger. Er hätte nicht erwartet, dass Tyson die westliche Anschauung kannte. Und noch weniger hätte Kai sein Verhalten so interpretiert… Der Drache der auf seinem Schatz sitzt. Dann waren wohl alle Menschen die Tyson am Herzen lagen eine weitere Goldmünze. Wenn man eine davon wegnehmen wollte, wurde der Drache böse. Als Kai zu ihm aufsah, konnte er einen traurigen Blick erhaschen. Er hatte versprochen Tyson zu lieben. Auch seine finsteren Seiten. Hier war wohl eine davon zum Vorschein gekommen. Sein Schock ließ ein wenig nach. Kai rief sich in Erinnerung, wen Tyson hier eigentlich schützen wollte. Es war unrecht. Beide wussten es. Doch Tyson stellte sein Wohl über das eines anderen Menschen – einfach weil er ihn liebte. Sollte Kai eine solche Loyalität nicht schätzen? Wie hätte er an seiner Stelle gehandelt? Kai umgriff die Tasse vor sich fester. Die Antwort war doch eigentlich so klar… „Wir alle haben unsere Tiefpunkte.“, entschied er leise. „Ja, leider.“, kam es nachdenklich zurück. Für eine Sekunde kehrte andächtiges Schweigen ein. Kai dachte an die Frau, deren Leben er zerstört hatte, fragte sich ob sie Familie besaß, vielleicht sogar Kinder - doch vor allem daran, wie viele Geheimnisse er mit seinen Freunden nun teilte. Tyson drehte den Blade immer wieder vor sich auf der Tischplatte. Sein Ausdruck war geistesabwesend. Er war kein Unmensch. Es tat ihm genauso Leid wie Kai, doch er hatte seine Entscheidung gefällt. Damit trug er auch seine Bürde. Irgendwann seufzte er und fragte: „Was sind deine dunkelsten Momente gewesen?“ Es klang als würde er nur nach einem anderen Gesprächsthema suchen. Kai hob langsam den Blick. Vor ihm war ein Mensch, der seine düsteren Seiten offenlegte. Das sollte er auch endlich tun. „Die aus der Abtei…“, antwortete Kai wahrheitsgetreu. Es wurde wieder still. Tyson blinzelte ihn verdutzt an. Erst jetzt schien ihm klar zu werden, dass seine vorherige Frage eigentlich dumm gewesen war. Kai wusste noch nicht viel aus seinem alten Leben – zumindest dachte Tyson das. „Du erinnerst dich wieder daran?“ Sein Rücken straffte sich. Er beäugte Kai geradezu aufgeregt. Seine Reaktion ließ ihn nur ein weiteres Mal begreifen, wie sehr sich seine Freunde mehr Informationen über diese Zeit wünschten. Wenn er an diesen Lebensabschnitt zurückdachte war es auch nur verständlich. Es erklärte so vieles. Und doch schaute Kai jetzt anders darauf zurück, weil er wenigstens für ein paar Tage erfahren hatte, wie es sich anfühlte, als Kind umsorgt zu werden. In der Geborgenheit einer Gruppe zu leben… „Erzählst du mir davon?“, fragte Tyson. „Wolltest du nicht zu deinem Bruder?“ „Um halb sieben? Kato meinte ich soll mich vor neun Uhr nicht blicken lassen.“ „Hmm…“, Kai schaute einmal mehr auf den Inhalt seiner Tasse. Sie war mittlerweile kalt. Er horchte in sich hinein, ob er wirklich bereit dazu war. Da waren so viele Erinnerungen, die er vehement verdrängt hielt. Doch zum ersten Mal in seinem Leben, war da das Gefühl, darüber sprechen zu wollen. „Es ist eine sehr lange Geschichte. Oder besser gesagt eine Aneinanderreihung von vielen kleinen Geschichten…“ „Wir haben doch Zeit.“ „Ich bin nicht sicher ob mir alles einfallen wird. Vielleicht erinnere ich mich noch gar nicht an alles. Und es gibt so vieles zu erzählen. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll…“ „Dann gibst du mir jetzt eine grobe Zusammenfassung.“, Tyson lächelte ihn auffordernd an. „Und wenn wir abends alleine sind, kannst du mir alles erzählen, was dir noch im Nachhinein einfällt. Das ist wie bei einem Puzzle! Du erkennst das Motiv, aber bist erst fertig, wenn das letzte Teil an seinem Fleck liegt.“ Über diesen Vergleich musste er schmunzeln. Wie ein Puzzle… Das hatte Kai doch schon einmal gehört. Er schloss einen Moment die Augen. „Okay. Ich erzähle dir davon.“, dann huschte sein Blick etwas beklommen zur Seite. „Auch wenn ich etwas Angst davor habe, wie du mich danach sehen könntest.“ „Es wird sich nichts ändern.“ „Das weißt du noch nicht.“ „Doch, das tue ich. Dafür bedeutest du mir einfach zu viel…“ Es vergingen fast zwei Stunden, bis Tyson nach seiner Erzählung aufbrach, um sich wieder zum Präsidium aufzumachen. Kurz zuvor war dessen Großvater heruntergekommen und sie frühstückten alle gemeinsam. Als sie aßen war Tyson sehr schweigsam. Er stocherte in seinem Essen herum, noch im Gedanken bei dem eben gehörten. Kai sah dass es ihn beschäftigte. Er wirkte sehr bedrückt. Mit seinem Großvater sprach er nur wenig, sie beredeten lediglich ihr weiteres Vorgehen was Hiro betraf. Für einen kurzen Moment bereute Kai, ihm von der Abtei erzählt zu haben. Doch irgendwann standen sowohl Mr. Kinomiya, als auch Tyson vom Tisch auf. Der eine begab sich ins Badezimmer, der andere räumte die Teller ab. Kai blieb dagegen sitzen, dachte daran, wie Leid es ihm tat, Tyson mit dieser düsteren Erinnerungen den Morgen verdorben zu haben, als er zwei Hände spürte, die seine Schulter hinabfuhren. Kurz darauf wurde er von hinten umarmt. Er fühlte Tysons Gesicht was sich warm und zärtlich an seines schmiegte. „Danke dass du es mir erzählt hast.“, raunte er ihm ins Ohr. „Ich verstehe es endlich.“ Ein Kuss traf seine Schläfe. Eine Weile verharrten beide wie sie waren. Kai hielt die Lider gesenkt, atmete ruhig aus. Er konnte Tyson hinter sich fühlen, hörte, wie er ihm zuflüsterte, niemals mehr etwas Derartiges an ihn herankommen zu lassen. Es ließ eine warme Woge in seinem Körper aufkommen und schon waren seine Zweifel von zuvor dahin. All diese Dinge ausgesprochen zu haben - es war wie eine Last die von seiner Seele fiel. Kai konnte endlich akzeptieren was passiert war. Das es zu seiner Vergangenheit gehörte. Es hatte ihn geprägt, seine Spuren hinterlassen, auch wenn er das bis ins Erwachsenalter leugnete. Er hatte das getan was Abteikinder für gewöhnlich nicht taten. Er sprach darüber… Und als Tyson kurz darauf das Haus verließ, begleitete Kai ihn bis zum Wagen. Beide mussten schmunzeln als sie das lädierte Auto sahen, mit der klaffenden Wunde auf einer Seite, dort wo einmal eine Tür war. Kai prophezeite seinem Liebhaber, dass er bestimmt bald wieder von der Polizei aufgegriffen wurde, doch Tyson zwinkerte ihm beim Einsteigen zu und meinte, dass er noch drei andere Türen besaß, da wäre eine weitere doch ein unnötiges Luxusproblem. Es war immer wieder erstaunlich, wie einfach er die Dinge sah. Gleich darauf kurbelte er das Fenster herunter. „Viel wichtiger ist ob ich noch einen Abschiedskuss bekomme?“ Kai hatte auf ihn herabgeschaut, wie Tyson dort im Wagen saß und ihn ganz erwartungsvoll angrinste. Dieser liebenswerte Idiot… Er warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter, um sicherzustellen, dass niemand vom Haus aus etwas mitbekam. Erst dann beugte Kai sich herab, um einen innigen Kuss mit Tyson auszutauschen und sah ihm anschließend bis zum Schluss nach, wie er vom Hof fuhr. Was Kai allerdings nicht mitbekam, war, was sich ein paar Sekunden darauf im Inneren des Wagens abspielte, nämlich zu jenem Zeitpunkt, als Tyson kurz das Radio aufdrehte. Die Nachrichten liefen. Der Sprecher leierte wie ein Wasserfall die aktuellen Themen des Tages herunter. Eine davon handelte von einer Krankenschwester, die nach einem Angriff in der letzten Halloweennacht, heute Morgen ihren Verletzungen erlag. Einen Moment hielt Tyson länger an der nächsten Kreuzung als nötig. Er fühlte so viel Bedauern für diese Frau – aber keine Schuld. Er liebte Kai. Niemand durfte ihm noch einmal schaden. Einfach weil er der festen Überzeugung war, dass seine Kindheit schon genug versaut worden war, da sollte ihm nicht noch seine Zukunft geraubt werden. Mit diesem Entschluss drehte er das Radio ab. Die ganze Sache blieb für ihn ein tragischer Zwischenfall. * Dragoon war noch nie so lange in der Menschenwelt ohne einen Energiespender und zum ersten Mal, machte sich das auch deutlich bemerkbar. Er fuhr sich über die Stirn. Sie war eiskalt. Seine Hülle kam ihm wie eine Last vor. Es fiel ihm unglaublich schwer jeden Muskel darin zu bewegen und dabei waren es auch noch so viele. Etwas Unkomplizierteres empfand er gerade als weitaus wünschenswerter. Allerdings war es auch faszinierend, wie sein Körper auf den Energieschwund reagierte. Die Leichenstarre schien noch einmal einzusetzen. Seine Glieder drohten zu versteifen. Diese Hülle starb also ein weiteres Mal vor sich hin. Er musste sich wirklich anstrengen um dem entgegenzuwirken. Dabei erkannte er wie komplex ein menschlicher Körper überhaupt war. So viele Muskeln, Fasern, Gehirnzellen und Nervenbahnen die angetrieben werden mussten. Ein kleines Wunder der Natur… Über diesen Gedanken musste Dragoon traurig Lächeln. Er lehnte sich gegen eine Straßenlaterne, schnaufte schwer. Er bekam kaum noch Luft. Was für eine Ironie! Das Bit Beast was sämtlichen Lebewesen den Atem spendete, geriet ins Keuchen wie ein hechelnder Köter. Dragoon stemmte den Arm gegen das kalte Metall. Einmal mehr schloss er die Augen, versuchte eine Verbindung zu Takao aufzubauen. Doch wie die letzten Stunden blieb ihm die Energie seines Menschenkindes versagt. Nicht einmal orten konnte er den Jungen noch, dabei war diese Stadt eine einzig laute Katastrophe. Früher hatte Dragoon seinem inneren Kompass getraut. Durch dieses Wirrwarr aus Lärm, Stimmen und hektischen Bewegungen, konnte er ohne viel nachzudenken hindurch sausen. Takaos Energie war wie ein Leuchtturm, auf den er zielgenau zusteuern konnte, ohne sich um die Belange seiner Umgebung kümmern zu müssen. Jetzt war es anders… Alles schien ihm zu viel. Die Geräuschkulisse, die Menschenmassen, selbst das Wetter! Er wollte wieder in seinen Blade zurück, einfach kurz ruhen, aber fand einfach nicht mehr den Weg nachhause. Doch es half nichts, er musste Dranzers Jungen finden. Dragoon stieß sich ab, schwankte durch die Straßen vorwärts. Ein Passant rempelte ihn an, schimpfte über ihn, doch er fand nicht die Kraft, ihm etwas Gehässiges zu entgegnen. Die ganze Nacht hatte sich Dragoon so durch die Gassen geschleppt. Ihm liefen einige von Dranzers Marionetten über den Weg. Denen hatte er Einhalt gebieten müssen, weil sie ständig überraschte Menschen angriffen. Allein das Chaos am Flughafen war mehr gewesen, als er momentan verkraftete. Gerade dort spitzte sich die Situation besonders zu, gleich nachdem ihn Takao zurücklies. Dragoon knurrte kurz. Undankbares Balg… Der Junge hatte ihn einfach im Stich gelassen. Er hätte auch einfach gehen sollen. Dann wäre Dragoon nun nicht so ausgelaugt. Es hatte ewig gebraucht, Dranzers hirnlose Diener in die Schranken zu weisen. In einer weiteren Gasse hielt er wieder inne. Ratlos schaute Dragoon sich um. Einfach nichts kam ihm noch bekannt vor, womöglich weil ihm allmählich der Blick verschwamm. Die Menschen nannten es einen Tunnelblick. Ja, das was er sah, hatte tatsächlich etwas davon. Wie präzise sie doch mit ihren Wörtern solche Dinge umschreiben konnten. Dragoon versuchte in der Luft nach einem Anhaltspunkt zu wittern, irgendwas das ihm weiterhelfen konnte, einen Weg aus diesem Irrgang aus Häusern zu finden. Doch alles was er roch, war der eklige Gestank der Mullcontainer, die an einer der Wände lehnte. Seine Sinne stumpften immer weiter ab. Von dem Jungen war nichts zu riechen. Er fragte sich wie Menschen nur so leben konnten. Die Gegend wo Takao hauste schien ihm so viel friedlicher. Er schüttelte den Kopf und rief sich in Erinnerung sich zusammenzureißen. Er durfte sich nicht von derlei Kleinigkeiten aus der Konzentration reißen lassen und schon gar nicht versagen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Dragoon schritt schwer atmend an den Containern vorbei. Es wurde heller desto mehr er sich dem Ende der Gasse näherte. Ihm fielen Silhouetten auf, deren Schatten sich durch das trübe Licht am Ausgang, zwischen den Häuserwänden in die Länge streckten. „Wen haben wir denn hier?“ Er hielt inne. Sein Blick schnellte vom Boden auf. Zuerst dachte er diese bekannte Stimme von vorne zu vernehmen. Als Dragoon zu den Passanten am Ausgang blickte, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sie geradezu reglos verharrten. Alle ließen sie die Arme schlaff neben ihrem Körper baumeln, den Kopf nach unten gesenkt. Seine Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. Die drachenhaften Pupillen huschten zu jedem Flecken Haut, den er vor sich erhaschen konnte. Er roch Tod. Von den blassen Körper ging keine Energie mehr aus. Jede Sehne, jedes Blutäderchen, trat deutlich unter der milchigen Haut hervor. Dragoon vernahm ein Kichern. Dieses Mal wusste er woher es stammte. Sein Kopf hob sich allmählich. Dann huschte ein Schmunzeln über sein Gesicht. „Ist das Vögelchen endlich aus seiner Asche emporgestiegen?“ „Schon längst... Und erstarkt ist es auch. Ganz im Gegensatz zu dir.“ Die Schadenfreude war nicht zu überhören. Er konnte Dranzer kaum erkennen. Sie saß im Zwielicht, auf dem Geländer einer Feuerleiter, weit oben in einer der höheren Etagen. Das Einzige was das trübe Licht hier erreichte waren ihre Füße. Ihrem menschlichen Leib fehlten die Schuhe, womöglich weil sie sich damit genauso unwohl fühlte wie Dragoon. Er konnte kleine Zehen ausmachen. Dranzers Gesicht lag dafür umso mehr im Verborgenen, umhüllt von den Schatten der Backsteinwände. Nur eines war genau zu erhaschen. Ihre Augen… Das stechende Leuchten ihrer in Flammen stehenden Pupillen, ließ erkennen, dass er genau beobachtet wurde. Es erinnerte ihn an zwei glühende Kohlestückchen, die zwischen schwarzer Asche vor sich her glommen. „Eine neue Hülle?“ „Ich hatte einige Anproben in den letzten Stunden…“ „Wie schmeichelhaft. Das alles nur um für mich hübsch auszusehen?“ Sie schnaubte. Selbst aus ihrer dunklen Ecke konnte er sehen, wie Dranzer schnippisch den Kopf abwandte. Für eine Sekunde schlossen sich auch die Lider über den Augen. Ihr Licht entschwand. „Kennt deine Eitelkeit keine Grenzen?“ „Eitelkeit ist mein zweiter Name. Das solltest du doch wirklich wissen, Liebes.“ „In der Tat.“, ihre Finger huschten aus der Finsternis hervor. Dranzer hielt sie sich vor das Gesicht, offenbar um sie gelangweilt zu mustern. „Ich bin nicht überrascht dich hier anzutreffen.“ „Dann kannst du dir wohl auch denken warum ich gekommen bin.“ „Das kann ich.“ „Aber vermutlich wirst du nicht ohne Widerworte mitkommen.“ „Auch das ist richtig.“ „Dranzer, das alles hat doch keinen Sinn mehr. Komm mit mir Heim.“ „Das du überhaupt die Frechheit besitzt, mir nach allem was passiert ist, noch Befehle erteilen zu wollen!“, herrschte sie ihn auch schon an. Ihre Launen konnten sehr wankelmütig sein. Dragoon hatte ihr einmal gesagt, dass sie deshalb umso besser zu einem weiblichen Menschen passte. „Du hast mich verschluckt… Mich!“ „Aber nicht verdaut. Das ist ein Unterschied. Deine Seele war ja ohnehin schon im Jungen untergebracht.“ „Weil ich dir misstraut habe - zu Recht!“ „Es hätte dich nicht getötet. Darauf habe ich geachtet…“ „Du hattest mir geschworen niemals ein Leid über mich kommen zu lassen!“ „Dann war das also ein Test? Um zu prüfen wie weit ich gehe?“ „Richtig… Und du hast versagt!“ „Es war die einzige Möglichkeit dir noch Einhalt zu gebieten. Und auch dein jetziges Verhalten lässt an Einsicht mangeln.“ „Dennoch hättest du dich heraus halten müssen. Er ist mein Menschenkind. Wie ich ihn erziehe, ist alleine meine Angelegenheit. Ich mische mich auch nicht in eure Angelegenheiten ein!“ Dragoon schnaufte schwer. Momentan sah er sich kaum in der Verfassung, mit ihr vernünftig zu diskutieren. Selbst das raubte ihm zu viel Kraft. „Lass uns zuhause darüber reden…“ „Ich komme nicht mit!“, fauchte sie. „Liebes, hör mich doch an…“, bat er. Die Sanftheit mit der Dragoon seine Worte sprach, ließ sie den Kopf neigen. „Wir haben daheim einen ernsten Notstand. Etwas Derartiges gab es noch nie.“ „So?“, kam es argwöhnisch. „Hast du es noch nicht gehört? Driger und Draciel sind tot.“ Dieses Mal kam kein Spott, keine Gehässigkeit, kein Groll… Es wurde einfach nur ruhig. Er hätte schwören können, keinen Mucks von ihr zu vernehmen. Als sie endlich antwortete, war alles was sie sagte: „Lüge...“ Es war nicht mehr als ein böses Zischeln. „Ist es nicht. Es ist eine traurige Tatsache.“ „Das ist nicht wahr!“, kam es eisern. „Sieh dich um Dranzer! Spürst du es denn nicht? Die Veränderungen um dich herum, das wankelmütige Wetter, die Katastrophen überall – das ist kein Zufall!“ „Sowas gab es schon immer…“ „Aber nicht in diesem Ausmaß!“ „Ihr habt einfach eure Pflichten vernachlässigt. Strengt euch mehr an!“ „Die beiden können ihren Pflichten gar nicht mehr nachkommen!“ „Nein! Lüge! Du versuchst mich auszutricksen damit ich Heim komme! Mein Driger könnte niemals getötet werden. Nicht er! Er ist viel zu stark dafür – und auch die alte Schildkröte ist von niemandem zu besiegen. Was kann denn schon durch ihren Knochenpanzer dringen?“, die stechenden Augen beugten sich vor. Er konnte sehen, wie sie zu Schlitzen wurden. „Du bist einfach nur heimtückisch bis ins Mark. Das warst du schon immer! Wenn ich mit dir nachhause komme, hocken die beiden sicherlich am Wurzelthron, während du dich darüber amüsierst, wie einfältig ich war… Es gibt keine Kraft, die einen Uralten vernichten kann!“ „Es sei denn ein anderer Uralter tötet sie.“ Er hörte sie keuchen. Dranzer begriff schnell: „Was hast du getan?!“ Ihre Stimme bebte vor Fassungslosigkeit. Dragoon sah die Pupillen vor sich heller entflammen. Sie breiteten sich über die gesamte Augenhöhle aus, züngelten förmlich zu den Brauen herauf. Es erhellte ihr Gesicht ein wenig, lies vage Konturen erahnen. Ein tiefer Atemzug entrang sich seiner Brust. Dann gestand er ein was nicht zu leugnen war. „Ich habe es zu weit getrieben…“ „Du Verräter!“ „Es war falsch! Ich weiß es! Und deshalb brauche ich dich umso mehr daheim! Um unserer Welten willen, müssen wir den Groll nun beiseitelegen!“ „Niemals!“, sie erhob sich. Dranzer steckte in einem zierlichen, kleinen Frauenleib, der nun barfüßig auf dem Geländer balancierte, ohne ins Schwanken zu geraten. „Ich durschaue deinen Plan! Du hast die beiden geopfert um meine Zusammenarbeit zu erzwingen. Und nun stellst du dich hier hin und versuchst an mein Pflichtbewusstsein zu appellieren!“ „Wer ist nun eitel?“, knurrte Dragoon düster. „Versuch meine Zweifel nicht ins Lächerliche zu ziehen! Schon einmal musste ich erleben, wie du jemanden dem mein Herz gehört hat, von mir gerissen hast, einfach so um mir weh zu tun! Doch diese Skrupellosigkeit – die hätte ich selbst dir nicht zugetraut. Ich hätte gedacht sie bedeuten dir etwas.“ „Das haben sie!“ „Deine Taten sprechen nicht für sich… Driger war dir stets ein guter Berater und was konnte die alte Schildkröte schon getan haben, um deinen Zorn zu verdienen? Sie hat sich von dir immer einlullen lassen. Wie verdorben muss ein Wesen sein, dass es die eigenen Kameraden opfert?“ Dragoon fühlte einen tiefen Stich in seiner Brust. Gerade von jenem Wesen, was er so liebte, solch harte Worte zu hören, tat unsagbar weh. Er sehnte sich noch immer nach ihrem Herz, nicht nach ihrer Verachtung. Dranzer ahnte nicht einmal, dass er alles dafür getan hätte, um noch einmal jene Zuneigung von ihr zu erfahren, die sie ihm als Küken geschenkt hatte. Einen Moment schloss Dragoon die Augen. „Da hast du leider Recht.“ Es ließ sie verstummen. Dabei hätte er schwören können, dass Dranzer ihm noch einige Gehässigkeiten an den Kopf werfen wollte. Dragoon nutzte ihr Schweigen. „Es war ein unverzeihlicher Fehler. Ich habe in meinem Zorn nicht die Konsequenzen bedacht.“, erklärte er, dabei um innere Ruhe bemüht, mochten ihre Vorwürfe ihn noch so sehr kränken. „Mein Zorn hat mich blind gemacht. Doch jetzt sehe ich endlich klar. Ich will gut machen, was ich noch gut machen kann. Aber das schaffe ich nicht alleine. Deshalb bitte ich dich, Liebes… Komm mit mir Heim! Wir beide gemeinsam könnten all dieses Unheil abwenden. Doch dafür brauche ich dich an meiner Seite!“ Er schaute voller Erwartung zu ihr auf. Sein Blick unnachgiebig auf die lodernden Pupillen gerichtet. Er sah wie sich die Lider darüber immer wieder senkten – doch lange Zeit regte sich sonst nichts. Irgendwann glitt Dranzer wieder langsam auf das Geländer hinab. „Wie interessant… Du bittest um etwas?“ „Ja. Denn von dir hängt nun alles ab.“ „Von mir?“ „Wenn du nicht mit mir zusammenarbeitest – dann ist es das Ende für die Menschen. Was rede ich da, sogar aller Lebewesen! Jede Sekunde die wir hier vergeuden, macht die Situation schlimmer. Wir müssen zurück zum Wurzelpfad. Ich konnte die letzten Stunden vieles in Erfahrung bringen, das mir gar nicht so richtig klar war. Du hast keine Vorstellung wie schlimm die Lage ist. Aber um dir das alles zu erklären, fehlt mir die Zeit.“ „Das Ende der Menschen?“ „Vielleicht sogar das Ende des Planeten! Oder von uns Bit Beasts... Die Folgen könnten schlimmer sein, als nach unserem Kampf um den Thron. Erinnerst du dich wie der Planet danach aussah? Wie die Wesen darauf zu Grunde gingen? Es brauchte unendlich lange, bis die Trümmer beseitigt waren – bis überhaupt wieder Leben einzog. Dieses Mal könnten wir uns aber nie mehr von diesem Schlag erholen!“ Einmal mehr verharrte sie schweigend. Ihr Blick schweifte von ihm weg. Im Gedanken versunken, verweilten ihre Augen auf der gegenüberliegenden Häuserwand. „Wie eigenartig dass du gerade jetzt auf diesen Kampf zu sprechen kommst - wo du danach doch kein Wort mehr darüber von mir hören wolltest.“ „Dranzer… Nicht jetzt. Es ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt hierfür!“ „Sieh dich an! Wie du betteln kannst wenn du nur willst... Wenn dein eigenes Dasein davon abhängt!“, Dragoon sah, wie sich die zierlichen Finger fester um das Metall verkrallten. „Es gab einen Tag, da habe ich dich angefleht, mir einen einzigen Herzenswusch zu erfüllen. Erinnerst du dich? Wie ich hinter dir herflog und dich unter Tränen darum bat, mir meine einzige Schwester zu lassen?“ „Liebes…“ „Nenn mich nicht so! Um mich so nennen zu dürfen, müsstest du einen Funken Güte für mich im Leib haben. Doch alles was ich in den letzten Jahrtausenden von dir erfahren habe, waren Grausamkeit und Schmerz! Du hast mir grundlos wehgetan, einfach weil du deine Freude daran hattest!“ „Es hat mir nie Freude bereitet!“ „Oh, bitte!“, lachte sie freudlos auf. „Wen willst du veralbern? Du kamst dir mächtig vor, so lange ich leide… Und nun stellst du dich hier vor mir auf und nennst mich Liebes? Du bittest um meine Hilfe, wo dich nicht einmal mein Flehen damals erweicht hat?“ „Ich dachte ich tue dir etwas Gutes!“, versuchte er sich zu rechtfertigen. „Ich sah wie dich Wolborg manipuliert hatte und bekam Angst, dass du niemals von ihr frei kommst!“ „Lüge! Du wolltest mir wehtun! Weil du nicht verstehen kannst, wie schmerzhaft es sein kann, etwas zu verlieren, was man vom ganzen Herzen lieb gewonnen hat!“ „Und ob ich es verstehe!“, wehrte er sich. „Du?!“, fauchte sie boshaft. „Du, der du dieses Gefühl untersagt hast? Wie kannst du es wagen… Du wärst nicht einmal in der Lage es zu verstehen, wenn du tatsächlich ein Herz hättest! Du bist ein emotionsloser Krüppel!“ „Du willst also unbedingt darüber reden?!“, grollte Dragoon aufgebracht. Es war vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Diese Unterstellung war zu viel für ihn. „Gut, wie du willst! Hier ist die Wahrheit! Ich habe dich geliebt! Das tue ich noch immer!“, schrie er zu ihr auf. Er sah Dranzers Augen vor Überraschung weiter werden und brüllte zornig hervor, was schon so lange aus ihm herausbrechen wollte. „Vom ersten Moment als ich dich sah, war es um mich geschehen! Dein Anblick, dein Duft, deine Stimme – es hat mich in den Wahnsinn getrieben! Ich wollte mehr von dir wissen. Ich wollte dich kennenlernen. Warum glaubst du bot ich mich als dein Fluglehrer an? Etwa aus purer Nächstenliebe?! Nein… Ich wollte mehr von dem Geschöpf haben, was mir so den Kopf verdrehen konnte! Aber du warst ja zu blind dafür, du einfältiges Stück!“ Er schnaubte verächtlich, sah verbittert zur Seite. „Du fragst mich, wie ich es wagen kann… Wie kannst du es wagen! Du hockst da oben und machst mir Vorwürfe! Was ist mit der Schuldigkeit die du nie eingehalten hast?!“ „Schuldigkeit?“, wiederholte Dranzer. „Frag nicht so dumm! Es gab einen Grund weshalb ich dich zur Partnerin wollte! Weshalb ich so hartnäckig auf dein Versprechen gepocht habe… Das du mir freiwillig gegeben hast wohlgemerkt!“, warf er ihr zornig vor. Mit erhobenem Zeigefinger klagte Dragoon sie an, deutete zu Dranzer hinauf. „Du hattest versprochen, dass du mir alleine gehörst! Hast du das etwa vergessen?! Zu diesem Pakt habe dich nie gezwungen und du hast bereitwillig zugesagt! Aber sobald wir von unserer Reise zurück waren, da bist du deiner verdammten Wolfsschwester hinterhergerannt, wie eine gehorsame Hündin! Zuvor war alles bestens zwischen uns! Du hast gar nicht gemerkt wie sie mit dir gespielt hat, so dämlich warst du! Und als ich sie weggeschafft habe, ist es allein wegen dir passiert, weil du mich dazu getrieben hattest! Hättest du dein Versprechen gehalten wäre es nie so weit gekommen. Es ist deine schuld! Deine ganz alleine!“ „Eifersucht…“ „Natürlich war es das!“, spie er in Raserei aus. „Und soll ich dir etwas sagen – ich bereue es nicht! Wolborg verdiente was sie bekommen hatte! Ich lasse mir nicht wegnehmen, was mir rechtmäßig zusteht! Von niemandem! Was mir gehört verteidige ich und wenn ich jeden zerfleischen muss, der sich meiner Beute nähert! Das liegt in der Natur eines Drachen – und auch das hätte dir klar sein sollen, als du mir dein Versprechen gabst!“ Seine Drachenschuppen pressten sich gegen seine untere Hautschicht. Nur mit viel Mühe gelang es ihm sich zu zügeln. Erst als er fühlte, wie sich sein gigantisches Gebiss förmlich aus dem Kiefer schieben wollte um zuzuschlagen, begriff er, dass sein Zorn wieder unkontrolliert aufwallte. Das Biest in ihm wollte heraus. Genau das, was er nicht zulassen konnte. Wenn Dragoon seine restlichen Reserven nun dafür vergeudete, würde er hinterher elendig an Energiearmut krepieren. Er schnaufte schwer, kniff die Augen zusammen, versuchte wieder seine Mitte zu finden. Dabei fühlte er wie Dranzers Blick auf ihm ruhte. Und irgendwann drang ein Kichern an sein Ohr… Er knurrte erbost und schaute auf. Da lachte ihm das freche Stück tatsächlich entgegen. Geradezu ausgelassen, ungeniert, warf sie den Kopf in den Nacken, ihr kaltes Lachen, schallte durch die Enge der Gasse. „Du findest das witzig?“ Dranzer kicherte weiter, auch wenn sie leiser wurde. Es war kein freundliches Lachen. Er kannte sie lange genug um die Boshaftigkeit in ihrer Stimme zu erhaschen. „Wie amüsant…“, kam es irgendwann. „All die Jahre habe ich über einen Weg nachgedacht dich zu verletzen – und nun servierst du ihn mir auf dem Silbertablett.“ Mit einem zufriedenen Seufzen, schlug Dranzer die Beine übereinander, stützte sich an einer Hand ab. Ihre Bewegungen waren wie immer fließend, geradezu grazil. „Der große Dragoon, der allmächtige Drache… hat sich unglücklich verliebt und platzt vor Eifersucht. Und all die Jahre habe ich es nicht bemerkt. Das ist doch wirklich witzig, findest du nicht?“ Er konnte sehen, wie sich ihr Kopf im Halbdunkeln neigte, ihre Augen ihn mit einem süffisanten Ausdruck musterten. Ihre Stimme triefte förmlich vor Hohn. „Du bist so ehrlich mit deinen Empfindungen. Das bewundere ich, ehrlich. Deshalb lass mich nun auch ehrlich zu dir sein… Ich verachte dich! Mit jeder Faser meines Herzens wünsche ich dir den Tod. Du könntest bis in die Ewigkeit um meine Gunst buhlen, ich werde dich immer hassen!“ Ihre Augen glühten weiter auf. Sie wollte ihn verletzen – so wie er sie verletzt hatte. Er konnte sehen, wie sich die zierlichen Finger wieder fester um das Geländer legten, dieses Mal in freudiger Erregung. „Sperr mich doch weg. Zerreiß jeden der mir zu nahe kommt. Mich schert es nicht, denn jetzt habe ich endlich meine Genugtuung! Ich werde dich niemals lieben! Du bist ein widerwärtiges Monstrum und verdienst es nicht geliebt zu werden!“ Dragoon schluckte hart. Er schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug. In seinem Leben hatte er viele Kämpfe bestritten, doch kein Schlag, Tritt oder Biss, tat so weh, wie diese Worte zu hören. „Wenn du meinst…“, bemühte er sich um Fassung. „Oh weh! Was höre ich denn da? Ist es Trauer? Tut es weh?“, bohrte sie voller Eifer in der Wunde. „Hast du jetzt endlich eine Ahnung wie schmerzhaft so etwas ist? Von jemandem enttäuscht zu werden, von dem man dachte, er wäre dein Freund? Ich hoffe du leidest. Ich wünsche es dir so sehr. Leb damit – genau wie ich es tun musste! Dein Schmerz ist nur ein Fingerhut dessen, wie enttäuscht ich von dir war, als du mich einfach so verraten hast!“ „Ich werde dir das durchgehen lassen, weil du blind vor Hass bist und wir wichtigeres zu erledigen haben. Nun komm herunter! Du hattest deinen Spaß! Wir müssen jetzt wirklich Heim – und verdammt nochmal diese Welt retten!“ Er konnte den Groll nicht aus der Stimme verbannen. „Diese Welt wird nicht eher Ruhe finden bis du ihr Antlitz verlässt!“ Ein Fingerschnippen erklang und auf einmal kam Bewegung in Dranzers Handlanger. Wie auf Kommando hoben sie ihre bleichen Köpfe, starrten aus trüben Blick zu ihm herüber. „Und zu meinem Glück, habe ich fleißige Bienen, die gewillt sind ihre Königin um jeden Preis mit Energie zu versorgen. Etwas was du offensichtlich nicht hast.“ „Ich könnte es – aber soweit gehe ich nicht.“ „Oh, das solltest du aber… Denn wie es den Anschein hat, gehst du gerade auf Sparflamme. Ich dagegen erfreue mich bester Gesundheit. Meine Sinne funktionieren noch. Ich kann Kai genau wittern, obwohl er die Verbindung zu mir gekappt hat. Du dagegen siehst ganz furchtbar aus, wenn ich das so sagen darf. Der Bruch mit deinem Menschenkind bekommt dir scheinbar nicht sonderlich gut.“, ein weiteres Kichern erklang. „Hat dir dein unartiger Junge den Energiefluss abgeschnürt? Nun, das war mein Vorteil, als ich hier geschlüpft bin. Ich habe sofort gespürt, dass meine Verbindung zu Kai zerrüttet ist und konnte noch rechtzeitig einen Plan aushecken, bevor die Portale zufallen und ich verdurste. Meine Bienen verteilen sich überall in der Stadt, decken mich reich ein, mit allem was ich brauche.“ „Das kann nicht gut gehen, Dranzer!“, schrie er ihr entgegen. „Du gehörst nicht hier her und das hat einen Grund! Lass doch endlich deinen Zorn beiseite und benutz deinen Kopf! Du bist eine Uralte – dein Energiebedarf ist viel zu groß! Es werden zu viele Menschen deinetwegen drauf gehen!“ „Sollen sie doch…“ „Gibst du erst Ruhe wenn alles kahl gefressen ist? Willst du das es keinen einzigen lebenden Menschen mehr in dieser Stadt gibt?“ „Oh, es wird noch lebende Menschen geben - zumindest einen.“ Er begriff sofort die Anspielung. „Das willst du deinem Jungen antun? Ihn inmitten dieser Gestalten weiterleben lassen?!“, rief Dragoon aus und deutete auf die schwankenden Hüllen, die sich ihm schleichend näherten. Er wich zurück, als einer von ihnen nach ihm packen wollte. Dem Nächsten verpasste er gleich darauf einen heftigen Tritt, dass er in die restliche Meute flog und sie wie Kegel umstürzten. „Ein ganz schön bitteres Los, wenn du mich fragst.“ „Dich fragt aber keiner! Und ich schlage damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Kai muss für seine Gleichgültigkeit mir gegenüber bestraft werden – aber beschützen muss ich ihn dennoch. Ich bin wie die Mutter die Härte zeigt, um ihr Kind auf den richtigen Weg zu führen!“ „Du bist aber nicht seine Mutter!“, zischte Dragoon zwischen gefletschten Zähnen hervor. „Du bist ein Bit Beast! Ein verdammtes Bit Beast! Besinn dich wieder auf diene Aufgaben!“ „Oh, das tue ich! Ich bin seine Beschützerin! Das ist auch Teil meiner Aufgaben. Und es waren Menschen die ihn unglücklich gemacht haben. Also müssen Menschen dafür bezahlen!“ „Und wie soll es dann weitergehen? Irgendwann hast du jeden Menschen ausgeschröpft, der in Japan lebt! Wie willst du dann noch hier überleben?“ „Es gibt noch so viele Länder hinter dem Horizont…“, kam es geradezu boshaft. „Und alle warten sie auf meine Ankunft.“ Dragoon zuckte entsetzt zurück. „Das kann unmöglich dein Ernst sein… Du zerstörst alles wofür wir gearbeitet haben!“ „Das hast du doch auch einmal. Erinnerst du dich? Deine echsenartigen Ebenbilder die du geopfert hast, nur um den Thron zu bekommen. Warum soll ich also anders handeln?“ „Bist du erst wieder glücklich wenn die ganze Welt abgenagt ist?“ „Es wäre ein Anfang.“ Sie war wahnsinnig… Die Erkenntnis schoss ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Seine hübsche, kleine Phönixdame, war wahnsinnig geworden. All die Jahrhunderte, in jenen sie ihrem liebevollen Nährboden beraubt worden war, hatten sie vollkommen fehlgeleitet. Mit bangem Blick fragte sich Dragoon, ob es nicht sogar schon zu spät für Dranzer war. Wenn der Hass in ihr wie eine Krankheit war, konnte man ihn womöglich ab einem fortgeschritten Stadium nicht mehr heilen. Das machte ihm Angst. Er wollte sie nicht verlieren. Nicht nur weil er Dranzer brauchte, sondern weil er immer noch etwas Liebe für sie empfand. Sie dagegen klammerte sich an dem einzigen Lebewesen fest, was sie noch etwas fühlen lassen konnte. Jeder andere Fleck in ihrem Herzen, war nur noch von purem Zorn geschwärzt. Dragoon starrte sie mit steinernem Ausdruck an, blickte in die Pupillen, die nichts mehr von dem früheren Liebreiz besaßen, den er so vergöttert hatte. Hatte er das verbrochen? War er Schuld an ihrem Zustand? War sein Kleines eine Blume die er verkehrt gepflegt hatte? „Ich habe wahrhaftig ein Monster erschaffen.“, sprach er voller Bedauern. „Ich, ein Monster?“, lachte Dranzer ungläubig auf. „Schau in einen Spiegel! Dort siehst du die wahre Bestie stehen.“ „Hör mich an, Liebes! Du machst das Gleiche durch wie ich! Als ich mich von dir verraten fühlte, hat mir das den Kopf vernebelt!“, der nächste Handlanger grapschte nach Dragoon. Er stieß ihn fort, doch es drängten sich nur weitere Gestalten in den engen Gang. Sie liefen achtlos über jenen Menschen hinweg, den er zu Boden gestoßen hatte, trampelten über ihn hinweg. Sollte er Dranzer nicht endlich zur Vernunft bringen, hätte er gleich ein Problem. „Ich weiß wie du dich fühlst. In meinem Groll gegen dich, habe ich auch nicht richtig nachgedacht. Ich war aber auch unfähig zu begreifen, was mich so handeln ließ! Ich war einfach nur unzufrieden! Es war wie ein furchtbarer Sturm in meinem Inneren, den ich nicht herauslassen durfte. Ich habe nicht ausgesprochen, was mich so beschäftigt hat, stattdessen habe ich den Zorn in mich hineingefressen – oder ihn an dir ausgelassen! Du magst Recht haben, dass ich dich nicht fair behandelt habe. Womöglich war ich sogar ein Tyrann… Doch jetzt bist du im Begriff meine Fehler zu wiederholen! Dabei kannst du noch daraus lernen!“ „Ich bin nicht wie du - ich bin tausendfach besser!“, schrie sie ihm entgegen. „Dann komm mit mir, Dranzer! Beweise es! Mach es besser als ich! Lass uns von neuem beginnen und ich verspreche dir, ich werde dir ein besserer Partner sein, als jemals zuvor!“ „Es wird kein wir mehr geben! Am besten ist diesem Planeten geholfen, wenn ich ihn alleine regiere. Deine Qualitäten als Herrscher sind mangelhaft und einem Uralten unwürdig!“, sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn wie eine Richterin. Sie hatte ihr Urteil gefällt. „Heute werde ich den Kaiser entthronen! Und genauso wie die Menschen es gerne handhaben, wird mein Vorgänger seinem Henker zugeführt.“ Die torkelnden Gestalten rückten näher an Dragoon heran. Er hopste einige gewaltige Schritte zurück, um noch einmal Abstand zu gewinnen. Ihm wurde klar wie viele Gegner es waren – und das er eigentlich nicht die Kraft besaß, um erneut einen solchen Kampf auszutragen, wie am Airport. Das würde seine Reserven ganz schon angreifen. Dennoch machte er sich bereit. Dragoon sammelte seine verbliebene Energie, rammte die Füße fest in den Untergrund. Den einzelnen Arm hielt er in Kampfposition. Seine reptilienhaften Pupillen schmälerten sich, huschten von Angreifer zu Angreifer, visierten die Schwachstellen an. Inzwischen schwebte Dranzer von ihrem Ausguck herab. Ihre Bienen bildeten eine Gasse um die Königin ungehindert passieren zu lassen. Das blendende Licht der Morgensonne prallte auf ihren Rücken, tauchte die vordere Seite erneut in Schatten. „Sag Hallo zu deinen Henkern, Dragoon. Sie sind zahlreich erschienen.“ Damit wandte sie sich ab, folgte der Fährte ihres Menschenkindes, während sich die Gasse hinter ihr wieder schloss. Ihm wurde klar, dass dies von Anfang an ihr Plan gewesen war. Sie hatte abgewartet, bis die Portale geschlossen waren, damit er ihr keine Gefahr mehr werden konnte. Jetzt war sie die Stärkere. Dragoon war nur ein Durstender in einer Wüste, dessen Sinne immer weiter verkümmerten. Er sah die Hüllen auf sich zu torkeln. Trübe Blicke, blaue Lippen, blasse Gesichter und geäderte Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Dragoon ging etwas in die Knie, machte sich zum Gegenschlag bereit. „Wir werden sehen, Liebes.“, flüsterte er, sein entschlossener Blick nach vorne gerichtet. Dann preschte Dragoon mit einem Kampfschrei vorwärts. Denn Angriff war für ihn noch immer die beste Verteidigung… * Die Innenstadt war heute verdammt unheimlich. Tyson hatte zwar noch im Radio davon gehört, dass es über die Nacht hinweg Ausschreitungen gab, doch so etwas wie hier, in Kennys Wohnviertel, war ihm noch nie untergekommen. Alles war menschenleer. Umgekippte Müllcontainer am Straßenrand, eine Polizeiblockade mit leerstehenden Autos in einer Straße und von den Beamten aus den Kastenwägen keine Spur. Die Rollläden waren bei den meisten Häusern hinuntergezogen. Papier und Plastikmüll wurde vom Wind über den Gehweg getrieben. Als Tyson mit seinem Wagen vor dem Nudelsuppenladen von Kennys Eltern hielt, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Die Scheibe war dort eingeschlagen. Zunächst starrte er mit aschfahlem Gesicht auf dieses Szenario. Auch hier hatte man versucht die Rollläden herunterzulassen, allerdings schien es die Demonstranten nicht davon abgehalten zu haben, in den Raum dahinter zu gelangen. Durch die zerbrochenen Lamellen erhaschte Tyson die umgekippten Stühle im Laden, die ramponierten Tische. Selbst die Suppenschüsseln lagen verstreut auf dem Boden als zerbrochener Porzellanhaufen. Tyson wusste das im Laden eine Treppe hinauf in den Wohnbereich führte. Also stieg er aus dem Auto, um vorsichtig zwischen den kaputten Lamellen in das Haus zu klettern. Ihm wurde flau im Magen, als er die Zerstörungswut nun auch von innen betrachtete. Es war wirklich übel. Er hoffte inständig Kennys Familie mochte gut versichert sein. Eine tiefe Schuld kam wieder in ihm hoch. Der Chef war momentan wirklich vom Pech verfolgt – und alles musste er ohne seine Dizzy durchmachen. Eine Sekunde war sich Tyson nicht so sicher, ob sein Freund ihn wirklich sehen wollte. Dennoch stieg er die knarzende Treppe Stufe für Stufe hoch. Er machte sich einfach Sorgen und wollte wissen, ob Kenny Hilfe brauchte. Sie waren Freunde und er empfand es als seine Pflicht ihm beizustehen. Wenn die Wohnung auch so verwüstet war, könnte er Kenny anbieten, dass seine Familie im Dojo unterkam. Das würde vielleicht seine frühere Ignoranz gut machen. Doch oben angekommen, bemerkte Tyson nur, dass die Tür verschlossen war. Er rüttelte an dem Knauf aber es tat sich nichts. Nach mehrmaligem Klopfen, lehnte er sein Ohr an die Stahltür. Vor längerer Zeit war schon einmal im Laden eingebrochen worden, weshalb sich Kennys Eltern zu dieser Sicherheitsmaßnahme entschlossen hatten. Die massive Tür verfehlte auch nicht ihren Zweck, denn es war kaum etwas von der Wohnung dahinter zu hören. Da es hier keine Klingel gab, stapfte Tyson wieder hinunter, um es beim Haupteingang zu versuchen. Der befand sich auf der Rückseite des Gebäudes, auch wenn er diesen Weg nur selten benutzt hatte. Wenn er zu Kenny hoch wollte, war Tyson immer durch den Laden gelaufen. Er stieg erneut über die Überbleibsel des zerstörten Rollladens hinweg, dabei vorsichtig darauf aus, nicht an die scharfen Glaskanten zu geraten. Draußen angelangt, bog Tyson um die Ecke, um in den hinteren Bereich zu gelangen. Gerade als er den Hof erreichte, hörte er, wie im Nachbarsgebäude das Fenster aufgerissen wurde. „Geh da bloß nicht hinein!“ Tyson wandte sich prompt zum Ursprung um. Sein Blick wanderte die Häuserwand hinauf. Im dritten Stock stand eine junge Frau am Fenster und schaute ihn warnend an. Sie besaß dunkle Augenringe, offenbar weil sie diese Nacht wenig geschlafen hatte. Tyson kannte diese Nachbarin - wenn auch nicht beim Namen. Kennys Mutter hatte ihren Sohn letztes Jahr dazu verdonnert, ihr beim Einzug zu helfen. Es sollte wohl eine Verkupplungsaktion werden, um den schüchternen Junggesellen endlich aus dem Haus zu bekommen und weil Tyson gerade auch zufällig anwesend war, hatte er auch anpacken müssen. Allerdings stellte sich der Chef damals wieder so bescheuert an, dass das Mädchen letztendlich mehr Interesse an ihm zeigte, als an Kenny. Tyson hatte sich jaulend an die Stirn gefasst, als der Chef sichtlich schwitzend meinte, dass er dieselben Eierwärmer wie ihre, seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt habe. Wahrscheinlich war es die erste und letzte Unterhaltung der beiden gewesen, denn so peinlich wie Kenny dieser armselige Flirtversuch war, ging er dem Mädchen wohl aus dem Weg. Inzwischen spähte Tyson zu ihr hinauf. „Warum nicht?“, fragte er auf ihre vorangegangene Warnung. „Da drüben war gestern die Hölle los!“ Er schluckte hart, schaute mit bangem Blick zum Eingang. „Was ist passiert?“ „Ich habe keine Ahnung!“, sie beugte sich über die Fensterbank. „Aber was immer es war, die sind mitten in der Nacht in den Wagen gestiegen und davon gefahren. Ich denke auch nicht dass sie zurück sind. Zumindest ist das Auto weg.“ „War Kenny auch dabei?“ „Ja. Aber ich hätte mich das nicht getraut! Hier ging es gestern ab wie im Bürgerkrieg! Überall Polizisten und wir wurden aufgefordert, unsere Wohnungen nicht mehr zu verlassen. Das Dumme war nur, dass die Demonstranten bei denen dort drüben, auch noch in den Laden eingebrochen sind.“ „Die Tür nach oben ist aber verriegelt.“ „Kann ja auch abgeschlossen worden sein, nachdem diese Spinner schon in der Wohnung waren! Vielleicht ist sie auch zugefallen und jetzt hocken die dort drinnen. Keine Ahnung… Auf jeden Fall habe ich die Nachbarn noch schreiend zum Wagen rennen sehen. Sind mit Vollgas aus der Einfahrt und hinaus in die Nacht. Und gleich dahinter diese komischen Typen! Herumgetorkelt wie auf Drogen! Die Polizei hat einige von ihnen geschnappt, aber die sind auch auf die los. Und dann haben einige von den Beamten auch plötzlich randaliert! Sind ebenfalls durchgedreht. Ich weiß nicht was das sollte – es war absolut verrückt!“ „Scheiße…“, spie Tyson aus. Sein Blick huschte ein weiteres Mal zum Eingang. Da kniff er die Augen angestrengt zusammen. Hinter den Gardinen im oberen Stock schien sich etwas zu bewegen. Zunächst dachte er an Kenny. „Da ist doch noch jemand drinnen!“ „Genau deshalb sollst du nicht hinein!“, kam es aufgeregt von oben. „Pass lieber auf, dass die nicht herauskommen. Ich glaube da sitzen noch einige von denen drinnen. Die ganze Nacht hat man das Gejaule gehört.“ Sie war sichtlich wütend und plötzlich rief sie hinüber: „Ihr blöden Freaks! Das hat doch nichts mehr mit einer Demo zu tun – ihr gehört alle in den Knast, ihr miesen Schweine! Hier hat euch niemand was getan und ihr macht alles kaputt!“ Sie schnaufte verärgert. Offenbar war es ihr ein Bedürfnis gewesen, sich das von der Seele zu schreien, da vernahm man von weiter oberhalb ein Zischen. „Sei ruhig da unten! Provozier die Typen nicht!“ „Halt die Klappe, ich sage was ich will und wem ich es will, du blödes Weichei!“ Tysons linke Braue zuckte hoch. Er hatte nicht den Eindruck dass dieser Besen etwas für Kenny gewesen wäre. Die hätte ihn nur wieder untergebuttert. Sie beugte sich mittlerweile herab und deutete auf die untere Etage. Ihr schwarzer Pferdeschwanz fiel dabei über den Nacken. „Bei denen wollten sie auch einsteigen! Haben alles verbarrikadiert. Wir waren die ganze Nacht damit beschäftigt die Eingangstür und Fenster zu sichern, damit keiner in das Gebäude kommt. Siehst du?“ Offenbar hatten die Nachbarn im Erdgeschoss einen Schrank vor ein kaputtes Fenster geschoben. Da kam ein trauriges Seufzen von oberhalb. „Ich habe so furchtbare Angst – und ich als arme Singlefrau bin auch noch ganz alleine!“, kam es theatralisch von oben. Tyson verdrehte die Augen, da lamentierte sie auch schon weiter. „Was soll ich bloß machen? Ganz auf mich gestellt… Schwach und so bedürftig. Nicht einmal einen Hammer kann ich alleine heben, geschweige denn ein Gurkenglas öffnen!“ „Aha…“ „Ja. Hätte ich doch nur einen Mann an meiner Seite. Jemand der wenigstens stark genug ist, um bei einem Umzug ein mickriges Bett hochzutragen. Die meisten Männer sind heutzutage ganz furchtbare Waschlappen.“, ihr Blick huschte arglos zum Himmel. „Wenn es doch nur so einen Mann in meinem Leben gebe. Dem wurde ich prompt ein paar Bettlaken zusammenknoten und ihn herauf lassen.“ Tyson schaute seufzend zur Seite. Irgendwas stimmte mit den Frauen heutzutage nicht… „Naja, wenn du dich dann sicherer fühlst, kannst du mit mir nachhause kommen.“, bot er an. „Wirklich?“, kam es ganz aufgeregt zurück. „Klar. Ach, da fällt mir ein… Du hast doch nichts dagegen, dass mein Lebensgefährte mit seiner kleinen Schwester auch dort wohnt?“ Es wurde still. Ziemlich lange still… „Oh.“, es klang angepisst. „Ach weißt du, ich komme schon klar. Danke für das Angebot.“ „Wie du willst.“, hob er hilflos die Hände. „Pass aber auf dich auf.“ „Ja, ja… Was auch immer.“, schon schlug das Fenster hinter ihr zu und fort war die Jungfer in Nöten. Tyson schüttelte grinsend den Kopf. Erst dann drehte er sich wieder zum Eingangsbereich von Kennys Familie um. Er musterte nachdenklich das Gebäude, dabei fragte er sich, wo er nun suchen sollte. An sein Handy ging der Chef schon mal nicht. Irgendwann erhaschte Tyson einen Blick auf die Person, welche sich in der Wohnung befand. Der Fremde trat langsam ans Fenster. Ein leichenblasses Gesicht starrte Tyson entgegen, mit einem verblassten Augenpaar. Dieses Bild jagte ihm irgendwie eine Gänsehaut über den Rücken, ließ ihn wie angewurzelt verharren. So starrten sich beide Männer eine Weile lang an. Sein Gegenüber musste Mitte fünfzig sein. Jedenfalls älter als er. Irgendwann lehnte der Eindringling seine Stirn gegen die Scheibe. Noch bevor Tyson sich fragte, was er da tat, begann er den Kopf dagegen zu hauen. Irritiert musste er beobachten, wie der Fremde immer wieder ausholte, um seine Stirn gegen die Scheibe zu schlagen, ohne dabei das milchige Augenpaar von Tyson zu wenden. Es schien als würde der Mann sich nur noch auf ihn fokussieren. „Bekloppter Spinner…“, murmelte Tyson vor sich her. Er rief sich in Erinnerung dass er weiter musste. Ihn überkam ein ungutes Gefühl, wenn er an Kenny dachte, also tat Tyson einige Schritte zurück, immer die Augen argwöhnisch auf den Mann hinter der Scheibe gerichtet. Der verstärkte sein Bemühen. Das Klopfen wurde lauter. Es erinnerte Tyson an eine Biene, die nicht begriff, dass sie sich hinter einem Fenster befand, aber dennoch durch die Scheibe wollte. Der lauernde Blick des Mannes verfolgte ihn förmlich. Da machte Tyson auch schon auf dem Absatz kehrt. Noch den ganzen Weg zum Wagen hörte er das dumpfe Pochen hinter sich. Das merkwürdige Bild verfolgte ihn auch dann noch, als er den Motor aufheulen ließ und an der nächsten Kreuzung links abbog. Wäre Tyson nicht so sehr in seine mulmigen Gedanken versunken gewesen, hätte er zur rechten Seite der Kreuzung, sicherlich den alten Mazda von Kennys Eltern entdeckt. Der lag dort inmitten des restlichen Chaos, mit aufgebrochenen Scheiben, die Türen sperrangelweit aufgerissen – von seinen Insassen keine Spur. * Ihre Energiesammler hatten ordentlich gewütet. Im Bezirk den Dranzer hinter sich ließ, waren viele Menschen direkt in ihre Falle gelaufen. Es war fast bedauerlich, wie arglos viele von ihnen reagierten. Einige Passanten denen sie entgegenkamen, blieben manchmal sogar stehen, blinzelten neugierig auf die Meute welche sich näherte, bis sie bereits umzingelt wurden. Die meisten konnten sich wohl einfach nicht vorstellen, dass jemand Fremdes ihnen grundlos etwas antun wollte. Dabei war das in der Natur nichts Absonderliches. Jagte ein Räuber seine Beute, tat er das auch nicht aus einem persönlichen Groll heraus, sondern um seinen Hunger zu stillen. Dranzer empfand es schon immer als eigenartig, wie viele Instinkte der Menschheit mit den Jahren abhandengekommen waren. Ein Tier hätte misstrauischer reagiert. Es würde jeden der sich näherte erst genau beäugen. Das hatte Dranzer stets an Kai begrüßt. Er wusste dass die Welt voller Grauen steckte und man sich nicht blind auf jemand anderen verlassen sollte. Zumindest dachte er bis vor kurzem noch so… Denn als der Junge wieder seinen ersten Schritt in die Menschenwelt machte, spürte Dranzer, dass ihre Verbindung zerrüttet war. Bit Beast und Kind mussten eigentlich immer in ihrer Seele identisch bleiben, um auf demselben Level zu agieren. Doch mit Kai war etwas geschehen, was ihr untersagte an seine Energie noch heran zu kommen. Driger hatte ihr das einmal anhand einer Waagschale erklärt. Er sprach davon, dass man sich vorstellen müsse, dass auf den beiden Schalen keine Gewichte lagen, sondern kleine Männchen hockten, die gerne miteinander plauderten wollten, aber es nicht konnten, so lange sie nicht auf Augenhöhe waren. „Sie müssen gleich viel wiegen, gleich viel zu sich nehmen und jede Bewegung genau aufeinander abstimmen, damit sie auf derselben Ebene bleiben. Ansonsten gelangen sie in Schräglage und können nur mühselig miteinander kommunizieren.“ Driger konnte so vieles erklären, sodass es ihr schnell im Gedächtnis blieb und dabei besaß er immer diese Geduld. Dass ihr Lehrmeister nicht mehr da sein sollte war für sie unvorstellbar. Etwas weigerte sich noch immer daran zu glauben. Doch sobald Dranzer den Blick schweifen ließ, für einige Minuten ihre Gedankengänge aus den Rachegelüsten herausfanden, hatte ihre Umgebung ihr die Antwort geliefert. Es lief zu vieles schief um sie herum. Schmerzliche Trauer wallte in ihr auf. Ein ersticktes Schluchzen wäre ihr beinahe entwichen. Für einen Moment wollte sie weinen, doch auch das war einer Uralten untersagt. Ihr Lehrmeister hatte ihr erklärt, dass es sich nicht schickte, für ein Bit Beast ihres Ranges, sich solchen Gefühlsausbrüchen hinzugeben. Wenn sie es doch tat, wurde sie als Küken stets von Driger ausgeschimpft. Dranzer erinnerte sich, wie sie sich jedes Mal verkroch, wenn der Kummer um ihre Schwester sie einzuholen drohte. Nach dieser furchtbaren Geschichte, dauerte es lange, bis sie den Tränen Einhalt gebieten konnte. Einmal hatte die Schildkröte sie dabei ertappt. Es war in der Nähe ihrer Lieblingsküste gewesen. Dranzer hatte dort gerade die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont hervorgelockt. Der Anblick erinnerte sie daran, wie sehr ihre Schwester sie für dieses Naturspektakel lobte. „Du malst wunderschöne Farben an den Himmel. Selbst ich könnte es nicht besser.“ Vertieft in ihre Erinnerung war auch schon die erste Träne hervorgekommen und als Dranzer an einem der kargen Felsen der Küste Rast machte, um sich von ihrer Trauer zu erholen, erschien Draciels Kopf aus den Fluten. Die Knopfaugen hatten sie lange angestarrt. Ohne ein Wort zu sagen. Stattdessen öffnete es irgendwann den Mund, um ein paar Blubberblasen in ihre Richtung zu senden. Draciel hatte Fontänen erzeugt wie ein Springbrunnen. Die Wassermassen schienen vor Dranzers Augen ein graziöses Ballett zu vollführen. Alles kräuselte und drehte sich, in abgestimmten Richtungen. Eigentlich konnte Dranzer Wasser nicht viel Gutes abgewinnen. Doch in jenem Moment erfreute es ihr Herz. Es lenkte sie ab von ihrem Kummer. Ein weiteres Mal hielt Dranzer inne – mit ihr ihre Gefolgschaft. Sie schielte zu der Meute an ihrer Seite, diesen leeren Gestalten die ihr hinterhertorkelten. Stumpfe Blicke, seelenlose Körper, geistlose Köpfe. Von diesen Wesen konnte sie ein solches Mitgefühl kaum erwarten. Inmitten dieser Erkenntnis umschlang Dranzer einen Moment ihren Leib. Sie kam sich einsamer vor als jemals zuvor. Wie konnte Dragoon nur ihre Kameraden vernichten – waren sie nicht auch seine Familie gewesen? Dranzer kniff die Augen zusammen. Jetzt hätte sie sich eine tröstende Umarmung gewünscht. Doch von diesen dummen Hüllen, konnte sie so etwas nicht erwarten. Ihre Finger verkrallten sich fester um ihren Körper. Irgendwann fletschte sie die Zähne. Ihre Lider öffneten sich - ein zorniger Blick erschien darunter. Dragoon dürfte nun aus dem Weg sein. Und so war es auch gut… Nicht eine Sekunde bereute Dranzer ihre Entscheidung, selbst wenn es bedeutete, die Welt in arges Ungleichgewicht zu stürzen. Irgendwie würde sie es auch ohne ihn schaffen. Seine jüngsten Handlungen waren zu viel des Übels. Dranzer hatte es satt gehabt. Seine ständigen Fehltritte. Sein eingebildetes Gehabe. Diese andauernden Enttäuschungen! Jemanden wie ihn hatte sie einfach nicht mehr an ihrer Seite ertragen können. Dranzer wollte niemanden mehr um sich haben, der ihr wehtun konnte. Von nun an würde sie die Welt alleine regieren. Nun, fast alleine… Da gab es jemanden dem sie gleich ihre Aufwartung machen würde. Es kam wieder Bewegung in sie. Doch dieses Mal blieb die Menge zurück. Es bedurfte Dranzer nicht viel, um diese Wesen zu steuern. Kein Wort war von Nöten. Allein der Gedanke zählte. So schritt Dranzer bis zu dem hölzernen Tor, was zwischen ihr und ihrem Menschenkind stand. Ihre schmalen Finger legten sich auf das Holz. Noch einmal schloss Dranzer die Augen. Endlich war es soweit. Sie konnte zu Ende bringen, was sie angefangen hatte. Danach könnte sie mit Kai ein neues zuhause erbauen, ohne all die Verderbtheit dieses Planeten. Seine Anwesenheit wäre zumindest ein kleiner Trost für den Verlust ihrer Kameraden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in dieser finsteren Einsamkeit die sie am Wurzelthron erwartete. Ein Kinderlachen erklang an ihr Ohr. Es ließ Dranzer die Augen aufschlagen. Das Mädchen was ihr ihren Jungen abspenstig machte, lauerte also auch hinter diesem Tor. Sie hörte wie die beiden Geschwister sich unterhielten. Das unvollkommene Geschöpf erzählte lächerliche Geschichten. Erklärte ihrem Bruder, dass die Bonsaibäume im Hof, wie eine Treppe aussahen, weil die buschigen Äste sich stufenförmig hinaufbewegten. Geradezu einfältig kam die Frage aus ihrem Mund, ob es einen Bonsai gab, der bis zum Himmel hinaufführte. Es ließ Kai leise lachen. Er lachte… Über diese törichte Frage! Hätte er früher nicht verächtlich über derlei dummes Geschwätz geschnaubt? Und doch saß er da, auf der anderen Seite der Mauer und erklärte seiner Schwester mit einer Engelszunge, wie es sich um die Bäume verhielt. Er wurde weich. Das Kind hatte ihn mürbe gemacht. Seine Instinkte waren abgestumpft, anders konnte es nicht sein, sonst hätte er sich von diesem Ballast schon längst losgesagt. Er machte sich das Leben freiwillig schwer mit diesem kranken Geschöpf. Ein Tier hätte nicht so gehandelt. Es würde ohne mit der Wimper zu zucken den Ballast abwerfen. Doch das Raubtier auf der anderen Seite der Tür, hatte stumpfe Zähne bekommen. Dranzers Finger verkrallten sich auf dem Holz. Sie würde Kai zu alter Stärke verhelfen. Seine Zähne wieder schärfen. Er musste wieder zurück zu sich selbst finden, andernfalls fürchtete sie um sein Überleben. Die Welt war grausam. Die Natur war grausam. Das wusste Dranzer nur allzu gut. Sie hatte es so oft am eigenen Leib erfahren. Sobald er einen Fuß in die Irrlichterwelt setzte, würde Dranzer dem Jungen diese Erinnerungen austreiben. Er sollte als Kind bei ihr aufwachsen. Sie würde ihm ihre Lehren weitergeben. Dann würden sie auch endlich wieder eine Verbindung zueinander aufbauen können. Es musste diese neugewonnene Weichheit sein, die ihr Verhältnis trübte. Mit diesem Gedanken schickte Dranzer ihre Bienen fort. Sie brauchte Energie und in ihrem Zustand, musste sie äußerst bedacht mit ihren Ressourcen haushalten. Es würde sie Kraft kosten, den Jungen wieder in die Irrlichterwelt zu schaffen. Ihre Diener huschten davon. Sie verbreiteten sich auf die umliegenden Gassen, hielten Ausschau nach allem, was ihrer Königin Energie beschaffen konnte. Auch wenn sie diesen Wesen keine Sympathie abgewinnen konnte, waren sie Dranzer doch von Nutzen. Hätte sie nicht ihre Bienen, wären ihre Sinne genauso am Verkümmern, wie bei Dragoon. So konnte sie aber Kais Fährte aufnehmen. Dranzer war jeder Spur gefolgt, an der sein Duft hing, kreiste damit immer weiter den Suchradius ein. Die Stimmen auf der anderen Seite wurden leiser, womöglich weil die Geschwister im Haus verschwunden waren. Dranzer versuchte auszuhorchen, ob Dragoons Bengel sich auch in dem Gebäude befand, doch zu ihrer Enttäuschung, war er nicht anwesend. Es hätte ihr eine solche Freude bereitet, ihm das freche Maul zu stopfen, zumal er gemeinsam mit den anderen lästigen Maden, ihr Menschenkind geraubt hatte. Der Vorfall in der Irrlichterwelt war für sie keineswegs vergessen. Dieser Lümmel hatte ihr gegen den Schnabel getreten. Eine bodenlose Unverschämtheit! Dranzer schnalzte verächtlich. Dann trat ein kaltes Lächeln auf ihren Mund. Ihre Bienen hatten sich inzwischen um das Gebäude verteilt. Sie wusste wie flink Kai war und wollte vermeiden, dass er ihr wieder durch die Krallen entwischte. Vor allem dieses Gör musste sie ausmerzen - das Unkraut vernichten was das Herz ihres Jungen befiel. Nach einem tiefen Atemzug öffnete Dranzer das Tor. Sie fand einen geschwungenen Pfad vor, erinnerte sich daran, dass ihr Menschenkind einmal mehrere Sommermonate hier verbracht hatte. Damals steckte sie noch im Blade des Jungen. Dranzers Blick huschte zu ihrer Seite, wo sie eine im Boden eingelassene Arena erhaschte. Kai war hier mehrere Male gegen Dragoons Kind angetreten. Für eine kurze Sekunde erinnerte sich Dranzer, dass auch sie bei diesem freundschaftlichen Wettstreit, für einen Moment ihren Groll vergaß. Es war eine der wenigen Erinnerungen, in jenen sie nicht mit Argwohn an Dragoon zurückdachte. Er hatte sie gerne bei ihren Kämpfen geneckt. Ihre Menschenkinder hatten es wohl nie vernommen, doch wann immer sich die Blades umeinander drehten, war eine hitzige Diskussion zwischen ihnen entstanden. Dragoon wollte sie immer dazu überreden, dass der Verliere des Matchs, dem anderen einen Gefallen schuldete. Wenn Dranzer verlor wollte er stets ein Lied von ihr hören, oder eine Feder von ihr haben. Phönixfedern waren wie der Sonnenaufgang. Am Ende des Tages erloschen sie, also forderte er oft eine von ihr ein. Dranzer hatte nie verstanden, was er damit wollte. Nun wusste sie es… Für einen Moment verweilte ihr Blick starr auf der Arena. Dann kniff sie entschieden die Augen zusammen, um sich vor dieser längst vergangenen Szene zu schützen. Dragoon war fort. Er hatte bekommen was er verdiente. Mit diesem Gedanken schloss sie diese Erinnerung weg, in den finstersten Winkel ihres Herzens, wie so oft, wenn ein Wort von ihm drohte sie mürbe zu machen. Irgendwo in ihrem Inneren gab es eine Ecke, wo sie all diese Momente mit ihm verstaute, sie geradezu eisern wegsperrte. Das hatte Dranzer tun müssen. Damit sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlor. Auf diesem Weg hatte sie niemals vergessen, dass sie Dragoon ewige Rache geschworen hatte. Sie richtete den Blick geradeaus, untersagte sich jede weitere Erinnerung. Der Kies unter ihren bloßen Füßen war nass. Die spitzen Steinchen stachen ihr ins Fleisch, doch glücklicherweise fühlte sie nichts in dem toten Leib. Dranzer folgte Schritt um Schritt, der kleinen hölzernen Treppe, die Veranda hinauf, steuerte auf den Eingang zu. An der Tür angekommen, klopfte sie gegen das geschnitzte Holz. Die gebrechliche Stimme eines alten Mannes klang heraus, bat sie um Geduld. Dranzer erkannte ihn. Es konnte nur der Großvater von Dragoons Jungen sein. Sie hatte so oft dessen gebieterische Stimme während eines Übungsmatches im Hintergrund gehört. Schritte drangen an ihr Ohr. In der Tür waren trübe Glasscheiben eingelassen, die erahnen ließen, dass sich jemand näherte. Ein Schatten huschte auf der anderen Seite näher heran. Dann wurde die Tür endlich aufgezogen. „Hallo? Wer ist da?“ Das Gesicht vor ihr war noch älter geworden, als sie es in Erinnerung hatte. Das Augenpaar schaute fragend hinter der Tür hervor. Dann erhellte es sich auf einmal. „Ja Donner noch eins! Eine Sorge weniger… Ich habe mich schon gefragt wo du abgeblieben bist!“, der alte Mann trat zur Seite, tat eine einladende Bewegung in den Raum. „Hättest ruhig mal anrufen können! Jetzt komm aber erst einmal herein, Mädchen. Es gibt so einiges zu erzählen.“ Dranzer lächelte dankbar. Zu den wenigen Dingen, die sie liebte, gehörte, wenn ein Plan aufging. * Im nächsten Viertel wurde es endlich lebendiger. Dort waren viele Einwohner geradezu hektisch damit beschäftigt, ihre notwendigsten Habseligkeiten ins Auto zu verfrachten, offenbar weil einem die Vorgänge in der Stadt nicht mehr sicher geheuer waren. Auf dem Weg zum Revier beobachtete Tyson mehrmals mit erhobener Braue, wie die Menschen aus ihren Häusern hinausrannten, bepackt mit haufenweise Sachen, die er persönlich als unwichtig erachtete, doch die Angst vor einer Plünderung schien die Leute dumm zu machen. Manche hatten ihre Konsolen auf das Dach des Wagens geschnallt. So etwas albernes… Da er das Gefühl nicht loswurde, über Nacht einiges verpasst zu haben, drehte Tyson wieder das Radio auf. Was er hörte klang als wäre der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Der Stadtteil Shibuya, zu dem auch Kennys Wohnviertel gehörte, war gestern wegen den Ausschreitungen komplett evakuiert worden. Deshalb wohl die Panik. Ein Sondereinsatzteam war auf dem Weg dorthin, um die restlichen Einwohner aus dem Viertel zu holen. Die Demonstranten schienen sich weiterhin zu verteilen und zur Überraschung aller, hatten sich auch einige Polizisten ihnen angeschlossen. Dies wurde vom Präsidium allerdings noch nicht bestätigt, wahrscheinlich weil man dort nicht fassen konnte, dass es Verräter innerhalb der eigenen Reihen gab. Bei all dem Chaos wunderte sich Tyson nicht, dass er den Chef nicht erreichen konnte. Was ihn aber noch mehr schockierte, war, dass auch das Polizeirevier im hiesigen Bezirk von den Demonstranten gestürmt wurde. Das ließ ihn verdutzt aufhorchen, immerhin war er dort erst gestern mit Inspektor Kato aneinandergeraten. Tyson konnte von Glück reden, dass er ziemlich außerhalb wohnte, denn die Innenstadt schien den Leuten nicht mehr sicher genug. Viele Straßen waren vollgestopft, der Verkehr wurde von keinerlei Polizisten geregelt. Sobald Tyson aus einem Stau herauskam, geriet er schon in den nächsten. So würde er es niemals bis zum Revier schaffen indem Hiro in Untersuchungshaft saß. Tyson hatte das Gefühl kaum von der Stelle zu kommen. Er bog gerade in eine neue Kreuzung und steckte prompt wieder fest. Am liebsten hätte er vor Verzweiflung den Kopf gegen das Lenkrad gehauen. Wahrscheinlich hatte der Freak von zuvor, gerade die Nachrichten geschaut und deshalb das Bedürfnis verspürt, sich die Schädeldecke an der Fensterscheibe zu spalten. Was war das nur für ein verdammtes Chaos? Irgendwann kam Tysons Wagen wieder zum Erliegen, direkt neben einem Elektronikshop. Dort flimmerten die Nachrichten über die Monitore der aufgereihten Plasmafernseher. Einige Passanten hielten immer Mal wieder davor inne, schüttelten den Kopf und unterhielten sich mit ihrem ebenso fassungslosen Nebenmann über das Gesehene. Da er ohnehin wieder nicht von der Stelle kam, zog Tyson sein Handy hervor und wählte noch einmal Kennys Kontakt. Es sprang aber nur wieder die Mailbox an. Also hinterließ er ihm eine Nachricht, mit der Frage, ob er und seine Familie wohlauf seien und der Bitte sich doch bei ihm zu melden. Dann legte er seufzend auf. Tyson fragte sich ob Kenny absichtlich nicht ans Telefon ging, weil er noch wütend auf ihn war. Nach einem Blick auf die Uhr wurde ihm klar, dass Max auch seit einer Stunde wieder auf heimischen Boden gelandet sein müsste. Er suchte dessen Nummer heraus, schnaufte aber enttäuscht, als sich auch dort niemand zu Wort meldete. Tyson redete sich ein, dass es vielleicht bei der Zwischenlandung zu einer Verzögerung kam oder Max einfach vergessen hatte, den Flugmodus aus seinem Handy zu nehmen - auch wenn das mulmige Gefühl blieb. Ziemlich ratlos schaute er geradeaus. Sicherlich hing ihm die Irrlichterwelt einfach noch nach. Die letzten Tage der ständigen Alarmbereitschaft mussten ja irgendwie ihre Spuren hinterlassen. Dennoch war da dieser Wunsch es auch mal bei Ray zu versuchen. Ihm machte er insgeheim am meisten Vorwürfe, dass er sich noch nicht gemeldet hatte. Kenny musste andere Sorgen haben, war wahrscheinlich auch sauer und mied den Kontakt zu ihm. Max saß vielleicht noch im Flieger. Doch Rays Strecke war nicht so lang. Soviel Tyson noch wusste, brauchte man von Tokyo nach Kunming circa fünf Stunden und das war noch großzügig gerechnet. Er hätte ruhig mal von sich hören lassen können, selbst wenn es nur ein Zweizeiler im Chat war. Also wählte Tyson auch Rays Kontakt an. Zumindest klingelte es. Doch auch hier ging wieder niemand dran… Er schnalzte erbost und warf das Handy achtlos auf den Beifahrersitz. Ziemlich eingeschnappt ließ er sich zurück fallen, verschränkte seine Arme hinterm Kopf und starrte finster auf den Stau vor sich. Sobald sich einer von seinen Freunden meldete, würden sie von ihm etwas zu hören bekommen. Im Radio kam nur eine Hiobsbotschaft nach der anderen, also schaltete er es irgendwann genervt ab. Er ließ den Blick gelangweilt über die Umgebung schweifen, sah die aufgetürmten Fernseher zu seiner Seite, wo auch nur eine düstere Eilmeldung nach der anderen kam. Dort wurde von einem Zug berichtet. Anscheinend waren bei einem Erdbeben die Gleise verformt worden und er entgleiste kurz vor einem Tunnel. Der rote Banner welcher unten eingeblendet wurde, sprach von hundertsechzig Toten. Tendenz steigend. Das war so frustrierend. Tyson wollte seinen Blick wieder davon abwenden, als auch der Name der Region unten eingeblendet wurde. Er meinte etwas von China zu lesen. Seine Augen hefteten sich wieder auf den Banner. Da war die Nachricht auch schon über den Bildschirm weitergerannt. Ihm ging durch den Kopf was Kai zu ihm gesagt hatte - das Ray und Mariah noch den Zug nehmen mussten. Doch dann grinste er und schüttelte den Kopf über sich selbst amüsiert. Das wäre schon ein gewaltiger Zufall. Er machte sich doch nur verrückt. Tyson versuchte den Banner zu ignorieren, aber sein Blick huschte irgendwann doch wieder hinüber. Er wollte nur wissen welche Region es betraf. Mehr nicht… Danach würde er seine Paranoia endlich ruhen lassen. Er verfolgte den kleinen Text. Nachricht für Nachricht huschte über den unteren Bildschirmrand. Die Anzahl der vermuteten Toten flimmerte wieder vorbei. Ein Zitat eines Pressesprechers, der von höherer und vor allem grausamer Naturgewalt sprach. Danach folgte endlich wieder der Ort. China. Kunming… Tysons dunkle Pupillen verfolgten diesen einen Namen. Wie das Wort von links nach rechts wanderte und einfach so im Bildschirmrand verschwand. Er blieb starr. Rührte sich nicht. Bemerkte nicht einmal, dass sein Atem stockte. Aufnahmen vom Unfallort wurden wieder eingespielt. Zwei Wagons lagen wild aufeinander geworfen, kurz vor dem Tunnel. Die Wände davon hatten beim Aufprall einiges abbekommen. Die Decke des Tunnels war herabgestürzt. Irgendwann tasteten Tysons Finger wieder nach seinem Smartphone. Er überprüfte im Chat wann Ray das letzte Mal online war. Gestern… Er dachte nach. Ihm fiel ein, dass sein Freund im Wagen nach seinem Handy gesucht hatte, weil er für einen Moment dachte, es wieder im Hotel vergessen zu haben. Doch irgendwann atmete Ray erleichtert auf dem Rücksitz aus, als er es in seinem Beutel fand. Womöglich hatte er gleich darauf seine Nachrichten überprüft. Von der Uhrzeit im Chat passte es sogar. Tyson tat einen tiefen Atemzug. Er würde jetzt erst einmal ruhig bleiben. Ganz tief durchatmen… Ray hatte gemeint dass Kunming kein Kuhdorf war. Es handelte sich dabei schließlich um eine der größten Städte in der Region Yunnan, wie er behauptet hatte. Also gingen vom dortigen Bahnhof wohl viele Züge aus weg. Er spähte wieder auf die Monitore, verfolgte ein weiteres Mal die eingeblendeten Informationen. Da stellte sich ein Passant vor den Laden. Tyson fauchte genervt, blickte auf den Stau vor sich. Da gab es ohnehin kein vorankommen. Er stieg aus, fühlte die kalte Herbstluft um seine Ohren rauschen und schob sich zwischen den Passanten hindurch, auch wenn einige ihn dafür von der Seite dumm anquatschten. Ein weiteres Mal las er den eingeblendeten Text. Die Stimme der Nachrichtensprecherin klang nur dumpf hinter der Scheibe heraus. Ihm fiel auf das die Route des Zuges ebenfalls passen könnte. Tyson wusste es noch, weil sie alle bei Rays Hochzeit auch so weitergefahren waren. Kai und er hatten am Bahnhof diskutiert, welcher Zug der Richtige sei, was Max und Kenny nur genervte Blicke tauschen ließ, bis letzter meinte, dass sie wirklich wie ein altes Ehepaar zankten. Das hier konnte doch aber nicht derselbe Zug sein – oder etwa doch? Er wählte wieder den Kontakt auf dem Handy. Es klingelte. Mehr aber nicht. Also sendete er Ray ebenfalls eine Nachricht ein. „Ruf mich bitte zurück. Es ist wichtig.“ Doch irgendwie war ihm das nicht genug. Die Ungewissheit machte ihn rastlos. Auf einmal hatte Tyson einen Geistesblitz. Er öffnete seine Kontakte auf dem Smartphone und suchte nach der Nummer von Lee. Auf Rays Hochzeit hatten Tyson und er sich so gut verstanden, dass sie die Handynummern austauschten. Mariahs Bruder rief auch öfters Mal an, wenn er von ihm einen Rat brauchte, was Autos betraf. Lee bastelte ebenfalls gerne an Motoren herum und wenn er ein Ersatzteil aus dem Internet herausgesucht hatte, machte er immer zuerst ein Screenshot davon, um Tysons Meinung darüber einzuholen. Der sagte ihm dann, ob es das Geld wert war oder er sogar etwas Besseres zur Hand habe. So war der Kontakt zwischen ihnen zwar sporadisch, aber immerhin noch da. Tyson entfernte sich vom Laden, da ihm der Tumult vor dem Shop zu viel wurde. Sobald er gewählt hatte, hielt er sich das Smartphone ans Ohr. Die Sekunden in welchen es klingelte kamen ihm unendlich lang vor. Er hatte schon Angst wieder niemanden zu erreichen, als sich endlich jemand auf der anderen Seite meldete. „Lee?“ Doch die Stimme die redete war eindeutig nicht er, denn dazu klang sie viel zu weiblich. Und sie sprach auch noch Chinesisch. Wahrscheinlich war es dessen Frau. Tyson versuchte sich verständlich zu machen, wiederholte immer wieder den Namen der Person, die er sprechen wollte und endlich wurde der Hörer weitergereicht. „Hallo?“ „Lee, bist du das?“ „Ja.“ „Oh gut! Lange nichts gehört.“ „Ja... Ich weiß.“ „Störe ich gerade?“ „Es... Es ist etwas ungünstig.“ Tyson fragte sich ob es an der Verbindung lag, doch Lee klang ziemlich abgehakt. „Das tut mir Leid. Ich will eigentlich auch nicht lange stören, aber das lässt mir gerade keine Ruhe.“, begann er zu erklären. „Ich habe Ray und Mariah gestern Nacht an den Flughafen gefahren. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört.“ Lee schnaufte auf der anderen Seite. „Haben sie sich bei dir vielleicht gemeldet?“ „Ja.“ „Gut! Wenigstens einer der was von ihnen gehört hat. Beide wollten nach ihrer Landung mit dem Zug fahren und jetzt läuft da in den Nachrichten dieser bescheuerte Bericht…“ „Ich weiß. Ich sollte sie hier vom Bahnhof abholen.“ Tyson hielt inne. „Oh… Okay.“, ihm wurde übel. Die Kinnlade klappte ihm langsam auf. Es war die Art wie Lee es sagte, die ihm von einer Sekunde auf den anderen den Magen umkrempelte. Er schluckte hart, dennoch fragte Tyson hoffnungsvoll. „Und, wie geht es ihnen?“ Seine Stimme war leiser geworden. „Das weiß ich nicht.“, sprach Lee. Allmählich ahnte Tyson weshalb er so kurz angebunden war. Was er da hörte klang nach Entsetzen. Nach Schock. Dann wiederholte Lee: „Ich weiß es nicht.“ Auf einmal kam Tyson jeder Atemzug so unendlich schwer vor. Da lag ein Druck auf seiner Lunge. Er trat wieder an sein Auto, hielt sich am Rahmen fest. „Waren sie im Zug?“, stellte er die finale Frage. Es wurde längere Zeit still. Tyson hörte ein Kinderschluchzen von der anderen Leitung heraus. Er wusste nicht mehr genau, ob Lee einen Jungen oder ein Mädchen hatte, nur das er Vater war. „Ja.“ Tyson schloss die Augen einen Moment. Er versuchte klar zu denken. Sie könnten auch nicht unter den Toten sein. Es gab doch auch bestimmt Überlebende. „Weiß man schon ob…“ „Die Behörden haben mir gesagt, dass wir mit allem rechnen müssen.“, unterbrach ihn Lee. „Wir sollen uns auf das Schlimmste gefasst machen.“ „Du verarscht mich doch, oder?!“ „Natürlich nicht! Glaubst du allen Ernstes ich mache mit so etwas Witze?! Scheiße Junge, meine schwangere Schwester war in dem Zug!“ Offenbar lagen auch bei Lee die Nerven blank, denn er klang jetzt ziemlich ungehalten. Doch so oder so, verstand Tyson von seinem Ausbruch wenig. Ihm war als würden seine Ohren zufallen. Lees Stimme schien weit entfernt. Nur noch dumpf hörte er dessen Worte, wie die Trauer um seine Schwester und den Schwager ihn mit den Zornestränen kämpfen ließ, dass Plappern der Menschen die ihn umgaben, nicht einmal mehr die Geräusche der Stadt drangen zu ihm durch. Tyson bemerkte gar nicht das er das Smartphone vom Gesicht nahm. Dafür aber wie ihm das Blut schmerzhaft gegen die Schläfe pochte, obwohl es aus den Wangen zu schwinden schien. Ihm wurde übel. Er kam sich eingezwängt vor. Es fühlte sich an, als würde er wieder in einem finsteren, einengenden Stollen wandern, wie damals auf dem Wurzelpfad. Da schoss ihm auch schon etwas durch den Kopf, was er beinahe vergessen hätte. Der merkwürdige Traum… Irgendwann drang wieder die Stimme von Lee zu seinem Geist durch. Er hielt sich das Smartphone ans Ohr, wo Mariahs Bruder irritiert nach ihm fragte. Tyson wollte gerade antworten das er noch dran sei, als ein Schrei ihn aus seiner Starre löste. Auf einmal ging es rasant schnell. Tyson hatte gar keine Zeit zu reagieren, noch viel zu entsetzt von der Botschaft die ihn ereilte, da rempelte ihn jemand auch schon an. Sein Smartphone landete in einer Pfütze an der Straßenrinne. Er wollte noch danach greifen, da krachte jedoch eine Schuhsohle auf das Display drauf. Der panische Passant bemerkte nicht einmal, dass er sein Handy zerstört hatte, rannte nur weiter davon. Tyson starrte auf das zerbrochene Display. Es erinnerte ihn nur ein weiteres Mal an seinen Traum. Wie das eingerahmte Foto von seinen Freunden in seiner Hand lag und das Glas über jedem Gesicht einen Sprung bekam. Er schaute dem Übeltäter nach, der zusammen mit den anderen Flüchtenden in dieselbe Richtung verschwunden war. Plötzlich ließen alle ihre Sachen stehen und liegen. Was immer man trug, wurde fallen gelassen und jene Fahrer, die wegen dem Stau im Wagen ausharren mussten, sprangen heraus, ihre Mitreisenden im Schlepptau. Es war das reinste Chaos und erinnerte Tyson an den Tumult am Flughafen. Plötzlich wurde er am Hals gepackt. Ein geschocktes Keuchen kam aus seiner Kehle. Es war nicht der Griff der ihn erschreckte, sondern wie eisigkalt die Finger waren. Sie fühlten sich wie Eiswürfel an die auf seine bloße Haut trafen. Doch irgendwie ließ es Tyson auch zu Sinnen kommen. Sein Überlebensinstinkt erwachte wieder. Er bäumte sich mit einem Schrei auf, holte mit dem Kopf aus und traf seinen Angreifer mitten ins Gesicht. Tyson vernahm wie jemand hinter ihm wie ein Raubtier fauchte, da drehte er sich auch schon um. Er holte mit der Faust aus und schon taumelte der Mann zurück. Tyson ließ sein Handy wo es war, erhob sich aus der Hocke und musste feststellen, dass es mit diesem einen Angreifer nicht getan war. Er hörte das Schreien einer alten Frau, die von mehreren Leuten in eine Gasse gezerrt wurde. Sie war nicht die Einzige. Wo immer Tysons Blick sich hin verirrte, sah er Menschen die sich verzweifelt zur Wehr setzten. Wem sollte er denn bloß zuerst helfen? Die Wahl fiel auf die nächstgelegene Gruppe in seiner Umgebung. Es waren zwei kleine Mädchen, die sich schreiend in eine Ecke kauerten, während ihre Mutter schützend die Arme um sie legte. Sie starrten alle in blanker Panik auf die Angreifer, die wohl ihren Vater zu Boden drückten. Tyson packte den ersten am Kragen und riss ihn mit Schwung vom Mann. Er krachte in die Motorhaube seines Wagens und rollte darüber hinweg. Dem nächsten verpasste er einen Fausthieb gegen das Kinn. Noch bevor er zurücktorkeln konnte, packte Tyson ihn am Kragen und schlug immer wieder zu. Womöglich war es der Schock der Nachricht. Oder vielleicht weil er sich von der Welt so verraten vorkam. uf jeden Fall hieb Tyson immer wieder auf ihn ein, bis der Mann schlaff in seinem Griff baumelte. Er stieß ihn von sich weg, drehte sich um. Doch bei dem dritten Angreifer hielt er inne… Es war eine Jugendliche. Eine Schülerin um genau zu sein. Sie trug noch ihre Uniform. Es war dieselbe Schule die auch Tyson besucht hatte, als er einen der höheren Jahrgänge erreichte. Sie starrte ihn aus leeren Augen entgegen. Ihre Lippen waren blau. Dann streckte sie ihre zierlichen Hände nach ihm aus. Ihm fiel auf wie dunkel die Äderchen auf der blassen Haut hervorstachen. Doch ihre Fingerkuppen waren rabenschwarz, als wären sie völlig verfroren. Tyson trat einen Schritt zurück. Er konnte doch keine Frau verprügeln... Da wurde ihm die Entscheidung aber auch schon abgenommen. Das junge Ding bekam einen solchen Tritt in die Seite, das sie pfeilschnell durch die Scheibe des Elektronikmarktes flog. Ein ohrenbetäubender Lärm entstand, als sie durch die aufgestellten Fernseher krachte. Die beiden Mädchen schrien gemeinsam mit ihrer Mutter auf, weil das klirrende Glas auf sie herabregnete. Dann kauerte sich die Frau zu ihrem Gatten herab, der noch immer reglos liegen blieb. Sofort als die Scheibe zerbarst, erschallten die Stimmen der Nachrichtensprecher dahinter, aus den verbliebenen Fernsehern lauter heraus. Die meisten waren kaputt. Nur wenige liefen noch fehlerfrei. Tyson sah inzwischen auf das Bündel, was früher Mal einmal eine Schülerin gewesen war und nun unter einem Haufen funkensprühender Elektronikgeräten begraben lag. Ein Bein schaute merkwürdig verdreht heraus. Der Schuh war einem ihrer Füße entglitten. Erst eine bekannte Stimme ließ ihn den Blick von dieser surrealen Szene wenden. Tyson sah in das Gesicht und konnte gar nicht schnell genug reagieren, als er selbst schon am Kragen gepackt und gegen das Gemäuer des Ladens gepresst wurde. „Kein Mucks mehr! Dieses Mal bleibst du gefälligst hier, Freundchen!“ Zunächst war Tyson noch zu geschockt um etwas zu sagen. Die Sorge um Ray, der Aufstand in den Straßen und jetzt noch dieses furchtbar bizarre Bild, waren mehr, als er momentan aufnehmen konnte. Doch es war der Gedanke an Ray, der seine alte Wut wieder aufleben ließ. Seine Brauen zogen sich tief zusammen. Tyson starrte zornig zu Dragoon, der ebenso wenig erfreut wirkte, was ihm persönlich aber herzlich egal war. Viel schlimmer war das dieser Mistkerl selbst mit einer Hand stark genug war, um Tyson ohne Probleme festzuhalten. „Siehst du endlich wohin uns deine Engstirnigkeit geführt hat?!“, brüllte Dragoon ihn an. „Was hab ich damit zu tun?“, schrie Tyson ebenso zornig zurück. „Du hast mich nicht zu Dranzers Jungen geführt, als ich noch genug Kraft hatte, um gegen sie anzukommen! Jetzt ist sie komplett außer Kontrolle geraten - und ihre Diener auch!“ Um ehrlich zu sein verstand Tyson gerade nur Bahnhof. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Griff um seinen Kragen zu lockern, nestelte an Dragoons Faust herum, um endlich etwas mehr Abstand zu gewinnen. „Deine Probleme interessieren mich nicht – wir sind geschiedene Leute!“ „Was unser Band betrifft magst du Recht haben. Doch meine Probleme sind auch deine! Sieh dich nur um oder willst du behaupten, du hättest das Chaos nicht bemerkt!“ „Natürlich habe ich das! Ist ja wohl nicht zu übersehen…“ „Dann komm endlich zur Vernunft und bring mich sofort zu Kai!“ „Leck mich, du Arschloch!“ Dragoon knurrte erbost. Tyson konnte seine Pupillen erhaschen, wie die echsenhaften Schlitze darin noch schmaler wurden. Dennoch rief er vollkommen unbeeindruckt: „Du bringst nur Unglück! Ich lasse dich nicht in seine Nähe!“ „Das ist nicht wahr! Ich will Unglück verhindern!“ „Und was ist dann mit Ray passiert?!“, fauchte Tyson ihm entgegen. „Was soll mit ihm sein?“ „Nur weil du Driger getötet hast, ist in China ein Zug verunglückt! Was ist das für eine Gottheit die so etwas zulässt?!“ „Glaubst du etwa es war meine Absicht, dass die Welt in solches Chaos hinabrutscht?!“ „Du hast das alles doch losgetreten! Du hast einen Uralten nach dem anderen vernichtet!“ „Takao, komm zu Sinnen! Wir steuern hier auf eine Katastrophe zu, die uns alle vernichten könnte! Auch dich und deine Freunde!“ Der nächste Satz kam geradezu gequält aus seinem Mund. Es kostete Tyson unglaublich viel Überwindung die Zornestränen zurückzuhalten. „Du hast mir doch schon einen Freund genommen…“ Es tat unglaublich weh diesen Satz auszusprechen, weil es sich anfühlte, als habe er mit Ray abgeschlossen. Denn da war nach wie vor die Hoffnung, Lee möge sich irren. Irgendwie konnte Tyson das einfach nicht akzeptieren. Seine Freunde und er hatten so viel durchgestanden und es war irgendwie immer alles gut ausgegangen. Er wollte sich partout nicht eingestehen, dass ihr Glück gerade heute ein Ende finden sollte. Solche Dinge passierten anderen, aber nicht ihnen. Das durfte einfach nicht sein… Dragoon schaute ihn lange an, sein zorniger Blick wich allmählich. Dann huschten seine Pupillen zu den knisternden Trümmern der Fernseher. So ziemlich jeder hatte seine Schrammen abbekommen. Einige sprühten Funken. Doch ein einzelner berichtete wacker von den Katastrophen der letzten Stunden. Noch immer flackerten die Bilder des Tunneleinbruchs über dessen Monitor. Dragoons Augen verharrten darauf. Er schloss mit einem wissenden Seufzen die Lider. „Du denkst dein Freund war da drinnen?“ „War er es?“, kam die hoffnungsvolle Frage. „Das weiß ich nicht. Er ist nicht mein Menschenkind. Driger hätte ihn vielleicht orten können, doch mein Schwur gilt dir… Nicht Ray.“ Tyson riss sich mit einem Fauchen los. „Du bist ein Witz von einer Gottheit!“ „Ich bin ein Bit Beast! Ich habe nie behauptet etwas wie ein Gott zu sein! Um Menschen beobachten zu können, muss ich mich beim Wurzelthron befinden!“ „Ist doch egal wie du es nennst! Wenn Ray und seiner Frau wirklich etwas passiert ist, bist allein du schuld daran! Mao ist schwanger! Er hat sich so auf sein Mädchen gefreut!“ „Du richtest zu voreilig…“ „Warum auch nicht?! Hättet ihr eure Arbeit richtig gemacht, anstatt euch auf eure scheiß Rache zu fokussieren, wäre es niemals so weit gekommen!“ „Das sehe ich nun auch ein! Aber wenn du mir nicht endlich zuhörst, wird es nur noch schlimmer!“, Dragoon deutete auf den Familienvater zu ihren Füßen. Bei all den Zankereien war Tyson entgangen, dass er noch immer nicht auf die Beine gekommen war und das obwohl seine Frau versuchte ihn wachzurütteln. Die beiden Mädchen kauerten weiterhin wimmernd am Boden, riefen nach ihrem Papa. Ihr Geschrei überschallte selbst den Nachrichtensprecher aus dem Ladeninneren. „Dranzer hat es vollbracht eine Möglichkeit zu finden, um sich weiterhin mit Energie zu versorgen - auch ohne die Hilfe ihres Jungen. Allerdings hat das fatale Konsequenzen. Das Ergebnis siehst du hier vor uns!“ Tyson schielte auf den Mann zu seinen Füßen. Er fragte sich was die Demonstranten mit ihm angestellt hatten, dass ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie die rosige Haut immer fahler wurde. Er hörte noch immer die Schreie um sich herum. Doch Tyson war zu sehr mit seinem Groll beschäftigt, noch viel zu zornig auf Dragoon – und so fiel seine Antwort dementsprechend ungnädig aus. „Dranzer ist dein Problem nicht meines…“ „Nein, ist sie nicht! Das hier geht uns jetzt beide etwas an! Schau hin was mit ihm passiert!“, er wurde am Nacken gepackt, wie ein ungezogener Bengel, dem man die Leviten las. Dragoon zwang ihn den Blick auf den Mann zu richten. Dessen Frau bemerkte nun auch, dass etwas nicht stimmte. Sie schaute ihren Gatten aschfahl an. Erst nachdem Tyson genauer hinsah, begriff er, was sie so irritierte. Er hatte die Augen endlich aufgeschlagen. Darunter kamen milchige Pupillen zum Vorschein. Es war das zweite Mal das Tyson heute etwas Derartiges erblickte. Dieser Zufall kam ihm doch irgendwie sonderbar vor. Der Frau des Mannes war der plötzliche Wechsel seiner Augenfarbe wohl ebenfalls nicht geheuer, denn sie erhob sich vorsichtig. Da ging ein Schrei durch die Mädchen, als ihr Vater nach dem Hals ihrer Mutter packte. Tyson wollte sofort reagieren, doch wurde zurückgehalten. „Schau genau hin!“, schallte Dragoons schneidende Stimme durch seinen Kopf. Der Befehl ließ ihn in seinem Vorhaben inne halten, denn eigentlich wollte Tyson nach dem Arm in seinem Nacken greifen, um sich los zu bekommen. Doch er konnte gar nicht anders, als die Szene zu beobachten, obwohl er doch eigentlich einschreiten sollte. Da erklärte Dragoon: „Das ist was von Dranzers Opfern übrig bleibt! Leblose, erkaltete Leichen die durch die Straßen irren, um ihrer Herrin noch mehr Energie zu bringen! Sie werden förmlich ausgesaugt, jeglicher Wärme beraubt. Das war es was ich dir schon bei unserem ersten Treffen hier klar machen wollte, doch du wolltest nicht hören!“ Das Röcheln der Frau war zu vernehmen. Eines der Mädchen lies von ihrer Schwester ab, stürmte auf ihren Vater zu und versuchte die verkrampften Finger vom Hals ihrer Mutter zu lösen. „Unternimm etwas!“, schrie Tyson auf. „Genau das ist es was ich die ganze Zeit schon tue!“ Endlich stieß Dragoon ihn weg. Tyson stolperte gegen das Gemäuer hinter sich. Kurz darauf stapfte sein Bit Beast gezielt auf den Mann zu und verpasste dem am Boden liegenden einen solchen Tritt gegen das Kinn, das man förmlich hören konnte, wie dessen Kiefer dabei brach. Sein Oberkörper klappte ruckartig zurück, der Hinterkopf prallte auf den Asphalt, während die Frau laut nach Luft japste und auf allen Vieren von ihrem Mann davonkrabbelte. „Kalt…“ Es war alles was Tyson aus ihrem Mund verstand. Das kleinere der Mädchen begann haltlos zu weinen, rief nach ihrem Papa, während ihre Schwester sich zu der Mutter beugte. „Nimm deine Kinder und verschwinde von ihr!“ „Mein Mann…“ Sie war wohl Ausländerin. Ihr japanisch war ziemlich gebrochen und auch die Kinder konnte man kaum verstehen. Tyson hatte geglaubt es läge an deren aufgeheizten Gemütern, dass er nicht begriff, was sie von sich gaben, aber ehrlich gesagt, war er im ersten Moment auch zu sehr damit beschäftigt, die Angreifer von dem Mann zu zerren. Unter dessen Hinterkopf bildete sich mittlerweile eine Blutlache. Dragoons Tritt musste ihm die Schädeldecke zertrümmert haben. Tyson schluckte hart, als er diesen Anblick sah. Ihm wurde klar dass die Mädchen alles mitbekommen hatten. Wie furchtbar musste das für beiden sein? Mittlerweile begann sein Bit Beast mit der Frau zu sprechen. Er zog sie unwirsch auf die Beine, während sie völlig außer sich kreischte. Ihr musste klar geworden sein, dass ihr Mann sich davon nicht erholen würde. Sobald Dragoon die fremde Zunge erkannte, hielt er ihr grob den Mund zu und fuhr zu Tysons Überraschung in ihrer Sprache fort. An der Ernsthaftigkeit seiner Stimme, hörte man deutlich heraus, dass seine Worte mehr einem Befehl glichen. Irgendwann nickte die Frau aus wässrigen Augen, ergriff ihre verängstigten Mädchen bei den Händen und lief eiligst die Straße hinunter. „Du willst sie alleine losziehen lassen?!“, spie Tyson aus. „Sie müssen klar kommen.“ „Spinnst du?! Diese Mädchen haben gerade ihren Vater verloren!“ „Ich kann nicht jedem helfen, Takao!“, fauchte Dragoon zurück. „Wenn sie Glück haben, schaffen sie es in einen sicheren Teil der Stadt.“ „Oh, sehr aufmunternd! Dann werden alle anderen Menschen also von dir wieder geopfert!“ Tyson tat eine ausladende Bewegung auf das umliegende Areal. Überall herrschte Chaos. Viele Menschen kämpften gegen Dranzers Diener an. „Hast du mich nicht verstanden?!“, rief Dragoon aus. „Ich habe nicht genug Energie dafür!“ „Du bist ein Feigling!“ Sein Bit Beast drehte sich ruckartig um und schaute ihn zornig an, mit gefletschten Zähnen. Er konnte förmlich hören, wie Dragoons Kiefer mahlte. Beide sahen sich eine Weile lang herausfordernd an. Dann, nach mehreren tiefen Atemzügen, schloss sein Gegenüber die Lider. Schließlich sprach Dragoon: „Ihr Menschen seid so verweichlicht. Durch den Fortschritt und euren Komfort, habt ihr vergessen, dass der Kampf ums Überleben schon immer zur Natur gehört hat.“ „Das ist deine Rechtfertigung?“, fragte Tyson mit geballten Fäusten. „Jämmerlich!“ „Ich bin mir sehr wohl meiner Verantwortung bewusst!“, wehrte sich Dragoon. „Aber die traurige Wahrheit ist, dass auch meine Kräfte begrenzt sind! Ich kann nicht mit einem Fingerschnippen alles wieder ins Gleichgewicht bringen. Momentan sind meine Mittel mehr als dürftig!“ Dragoon schaute von ihm weg. Einige der Angreifer hatten sich Eintritt in die umliegenden Läden verschafft. Ein weiter torkelte auf sie zu, wurde aber abgelenkt, als ein Jugendlicher knapp vor ihm, in eine Gasse verschwand. Da sprach Dragoon auch schon weiter. „Was ich aber tun kann ist das Übel an der Wurzel zu packen. Damit würde ich viel mehr Menschen helfen. In meiner Position muss man manchmal unbequeme Entscheidungen treffen.“ „Alles nur Ausreden…“ „Was willst du noch von mir hören?“, knurrte Dragoon. „Ich verstehe dass du zornig bist. Womöglich war ich die letzten Tage auch tatsächlich zu… egoistisch. Aber willst du nicht genauso wie ich, dass dieses Chaos ein Ende hat?“ „Natürlich will ich das!“ „Dann lass uns ein letztes Mal zusammenarbeiten. Danach können wir getrennte Wege gehen.“ Etwas in seinem Inneren sträubte sich geradezu dagegen. „Wofür brauchst du mich? Ich bin doch nur ein mickriger Wurm. Deine Worte, nicht meine!“ Tysons Stimme triefte vor Häme, während er anklagend auf ihn deutete. „Willst du mir etwa erzählen, dass der große Dragoon, ohne einen armseligen Menschen nichts auf die Reihe bekommt?“ „Ich brauche Energie.“ „Na und?“ „Verstehst du es nicht? Du warst all die Jahre meine Energiequelle hier. Durch unseren Streit muss unsere Verbindung jedoch gestört worden sein. Unsere Seelen sind nicht mehr kompatibel.“ Allegros Worte gingen Tyson einen Moment durch den Sinn. Obwohl sie ihm Kenny als Menschenkind anboten, hatte er damals abgelehnt. Weil die Seelen identisch sein mussten… „Und was soll ich jetzt machen - mir eine Steckdose einbauen?“ „Dein Spott ist gerade fehl am Platz! Wir müssen wieder auf einen gemeinsamen Nenner kommen! Das wird aber nicht funktionieren, wenn du nicht endlich über deinen Schatten springst.“ „Wer sagt dass ich das will?“ „Dass du es nicht willst sehe ich selbst! Aber du solltest wenigstens so schlau sein und aus meinen Fehlern lernen.“, Dragoon beugte das Gesicht bedrohlich vor, nahm ihn genau ins Visier. „Du hast mir vorgeworfen, ich hätte meine Rachegelüste vor meine Pflichten gestellt. In dieser Sache magst du leider Recht haben. Doch nun sieh dich an… Wie du hier stehst, mir Vorwürfe machst, dich bockig stellst wie ein trotziger Bengel - anstatt deinen Groll hinunterzuschlucken und dich auf das Wesentliche zu konzentrieren!“ „Das ich nicht gut auf dich zu sprechen bin, ist ja wohl kaum verwunderlich!“, fauchte Tyson. „Also legst du die Hände in den Schoß und wartest ab, bis irgendeine Gottheit die Arbeit erledigt?“, höhnte Dragoon. „Das ist so menschlich! Sonst brüstet ihr euch immer damit, dass ihr so fortschrittlich und überlegen seid, aber wenn ihr nicht weiterkommt, verflucht ihr jede höhere Macht die euch einfällt! Du kannst jetzt nicht auf ein Wunder hoffen, Junge! Jetzt bist du genauso gefragt! Dranzer ist auf dem Vormarsch. Und sie wird sich nach und nach holen, was du am meisten liebst. Sie muss wieder zur Vernunft gebracht werden, um mit mir weitere Katastrophen abzuhalten. Zur Not werde ich sie mit Gewalt nachhause schaffen!“ Einen Moment schaute Tyson ihn an, forschte in Dragoons Gesicht, nach einem Anhaltspunkt, ob er log. Wirklich vertrauen konnte er ihm einfach nicht mehr. Irgendwann hob sich dennoch seine Braue und er fragte voller Argwohn: „Was ist eigentlich zwischen euch vorgefallen, dass ihr so schlecht aufeinander zu sprechen seid? Hat es etwas mit Wolborg zu tun?“ Zum ersten Mal wirkte Dragoon überrascht. „Du weißt davon?“ „Wir haben Wolborg getroffen. Bevor sie gestorben ist.“ „Sie ist tot? Wann ist das denn schon wieder passiert?!“ „Das ist eine lange Geschichte…“ Dragoon schaute aus geweitetem Blick von ihm weg. Mehr zu sich selbst flüsterte er: „Bei allen Gestirnen… Dranzer darf das nicht erfahren. Sie ist ohnehin schon aus dem Gleichgewicht, aber diese Nachricht würde ihr endgültig das Herz brechen.“ „Das Miststück hat doch gar kein Herz!“ Da geschah es ganz ohne Vorwarnung… Grober als jemals zuvor packte Dragoon seinen Hals. Tyson hatte gar keine Zeit noch nach Luft zu schnappen. Es war anders als sonst, wenn er eine Grenze bei seinem Bit Beast überschritt. Tyson spürte das das hier mehr als eine Drohgebärde war. Jetzt wurde es tödlicher Ernst... Ein Keuchen entrang sich seiner Kehle. Er spürte wie ihm das Blut förmlich in den Kopf stieg. Tyson schielte röchelnd auf Dragoons verbliebenem Arm. Unter dem Ärmel von dessen Jacke konnte er etwas Haut ausmachen. Dort pressten sich erneut die Drachenschuppen gegen die obere Schicht. „Nimm das zurück!“, brüllte sein Gegenüber auf einmal in blinder Raserei. Und zum ersten Mal konnte Tyson beobachten, was mit einem Bit Beast geschah, dass sich ernsthaft an seinem Menschenkind vergriff. Das sich nicht an seinen Teil des Paktes hielt. Dragoons Finger schienen zu qualmen. Genau dort wo sie Tysons Hals gepackt hielten. Dennoch verstärkte er den Griff als sei es ihm egal geworden. Das Gesicht vor ihm war verzerrt, besaß nun mehr tierische Züge. Gleich darauf dröhnte Dragoons Stimme über den Platz. Sie klang verzerrt, total unmenschlich und sie schallte gespenstisch nach. „Wag es nicht sie so zu nennen! Niemand außer mir hat das Recht sie zu beleidigen! Niemand! Hast du das verstanden?!“ Ein Fauchen folgte – wie von einem Drachen eben. Tyson wurde fordernd gerüttelt. Er packte nach den Fingern die ihn hielten, um den Griff zu lockern. Sie begannen nach verkohltem Fleisch zu stinken. Dragoon war wohl bereit ihm den Hals zu brechen, selbst wenn die Strafe dafür verheerend sein könnte. „Denk an deinen Schwur!“, krächzte Tyson. „So langsam scheiße ich auf den Schwur!“, spie Dragoon bedrohlich aus. „Irgendwo sind Grenzen und du hast deine jetzt überschritten! Beleidige mich! Stell dich trotzig! Trag mir meine Vergehen nach und schimpf mich einen verdammten Feigling! Doch Dranzer wirst du nicht beleidigen – geht das in deinen Kopf?!“ Der Groschen fiel endlich… „Du liebst sie?“, keuchte Tyson als er endlich verstand. Da kehrte auch schon Stille zwischen ihnen ein. Das einzige was zu hören war, waren die Klänge aus dem Laden. Noch immer berichtete der Nachrichtensprecher vom Zugunglück. Mittlerweile hatten sich die Straßen geleert, auch wenn dann und wann ein Schrei aus einer Seitengasse erklang. Die meisten Autos waren verlassen, offenbar weil Dranzers Diener die Menschen vor sich her trieben, wie Schäferhunde eine Herde Lämmer. Irgendwann fühlte Tyson wie der Griff um seinen Hals sich ein wenig lockerte. Sofort schnappte er nach Luft. Dennoch baumelten seine Füße noch weiter in der Luft. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um endlich Bodenkontakt zu bekommen. Und doch starrte Tyson Dragoon wissend an. Er beobachtete wie dessen Blick lange auf ihm ruhte – bis er irgendwann mit einem Schnalzen von ihm wegsah. „Mag sein…“ Tyson wurde endlich losgelassen. Während er sich über den Hals fuhr, starrte er sein Bit Beast mit erhobener Braue an. „Wie kannst du so jemanden nur lieben?“, wollte er wissen. „Sie ist grausam und boshaft…“ „Sie war nicht immer so!“, rief Dragoon geradezu verzweifelt aus. Es kam ihm vor, als würde er mit aller Macht an ihr festhalten. „Das mit Wolborg hat ihr mehr zugesetzt, als ich geglaubt habe. Ich dachte nicht das es sie so sehr verändert…“ „Und wenn schon! Wie kannst du jemanden in Schutz nehmen, mit dem du dich vor wenigen Tagen noch bis aufs Blut gefetzt hast? Ich war bei eurem letzten Kampf dabei! Du hast sie sogar gefressen!“ „Ein Tiefpunkt kommt immer Mal vor.“ „Das ist mehr als das! Was ihr da treibt ist doch verrückt!“ „Den Begriff Rosenkrieg habt ihr Menschen definiert. So absonderlich dürfte das für dich also nicht sein.“ „Rosenkrieg?!“, wiederholte Tyson fassungslos. „So nennst du das?!“ „Wie denn sonst?“ „Ihr tut euch gegenseitig nur noch weh! Nicht nur seelisch sondern auch körperlich!“ „Als wären du und Kai besser!“ Tyson zuckte zurück. „Was hat das eine mit dem an-...“ „Oh bitte! Hör auf du blöder Heuchler!“, fuhr ihm Dragoon dazwischen. „Wie oft hast du ihn wieder in deine Nähe gelassen, obwohl er uns ständig in den Rücken gefallen ist?! Er hat dir in jungen Jahr so oft ein Bein gestellt, glänzte mit Egoismus und Unfreundlichkeit – hast du das etwa schon vergessen?“ „Das ist nicht das Gleiche! Kai hatte eine verdammt schwere Vergangenheit!“ „Dranzer genauso! Und wenn Bit Beasts sich streiten, dann hat das eben größere Ausmaße! Eure Rangeleien sind doch nur eine kleinere Ausgabe von unseren Kämpfen. Glaub mir, ich habe genauso eine schlechte Meinung von deinem Liebling, wie du von Dranzer!“ „Kai ist nicht wie Dranzer!“, beinahe hätte sich Tysons Stimme vor Zorn überschlagen. Bis er bemerkte, dass er ebenso heftig reagierte, wie sein Bit Beast zuvor. Ein hochmütiger Blick traf ihn. Nun hob Dragoon wissend die Braue, schaute ihn geringschätzig an. „Was ist los, Junge? Erschrickst du darüber, wie schnell dein Blutdruck hochschießt, wenn man deinen Kleinen beleidigt?“, kam es geradezu gehässig. „Du kannst mir nichts vormachen. Meine Sinne sind vielleicht nicht auf dem Höchststand, aber Kais Geruch klebt an dir, wie eine zweite Haut. Ihr müsst euch in der letzten Nacht ja richtig eng umschlungen haben, damit du so intensiv nach ihm riechst. Gestern hast du jedenfalls noch anders gerochen.“ Tyson schnalzte erbost mit der Zunge. Doch er fühlte auch dass seine Wangen heiß wurden. Es kam nicht oft vor, dass ihm etwas unangenehm war, doch das sein Bit Beast ihn so leicht durchschaute, brachte ihn doch in Verlegenheit. Da ließen ihn Dragoons nächste Worte aufhorchen. „Du musst mich zu ihm bringen.“ „Nicht wenn du Kai als Lockmittel missbrauchst!“ „Er ist doch schon längst ein Lockmittel! Wenn ich ihn an dir riechen kann, was glaubst du macht Dranzer, mit ihren intakten Sinnen jetzt?“, Dragoon schaute ihn warnend an und zum ersten Mal, fragte sich Tyson, ob es nur ein Trick oder ernstgemeinte Sorge war. Er begann kurz seine Lage zu überdenken. Seine Familie lebte weiter außerhalb von Stadtzentrum. Wenn er sich beeilte, könnte Tyson nachhause fahren und mit allen dort verschwinden, bevor Dranzer auftauchte. Allerdings war sein Auto zugeparkt und er müsste Hiro auch noch zurücklassen. Tyson biss sich auf die Unterlippe. Da fuhr Dragoon auch schon fort. „Im Gegensatz zu mir hat Dranzer sich in den letzten Stunden reichlich mit Energie versorgt. Dadurch verkümmern ihre Sinne nicht so wie meine. Schlimmer noch. Sie ist wird immer stärker.“, er ballte die Faust vor sich. Schaute auf die Finger, welche sich ungelenk krümmten. Zum ersten Mal fiel Tyson auf, dass sie geradezu starr wirkten. Als Dragoon seinen Hals packte, waren sie eiskalt gewesen. „Meine Bewegungen dagegen werden immer steifer. Dieser Körper kommt mir wie ein nasser, unförmiger Sack vor, den ich mühselig mit mir herumschleppen muss.“ „Du willst also in deinen Blade zurück?“ In Tysons Kopf tat sich ein Hintertürchen auf. Er könnte Dragoon nach dem Kampf gegen Dranzer wegsperren. Womöglich sogar anschließend den Blade verschwinden lassen. Irgendwohin wo ihn niemand mehr fand. Wenn Dragoon ähnliche Ängste teilte wie Tyson, wäre es vielleicht gar nicht so dumm, den Blade unter der Erde verschwinden lassen, dort wo es furchtbar eng und stickig war. Oder vielleicht in eine kleine Kiste die auf den Meeresgrund sank… „Ganz schön ausgefuchst, Junge.“ Er biss sich auf die Unterlippe. Diese Fähigkeit hatte Tyson ganz vergessen. Es war einfach zu ungewohnt, sich immer ins Gedächtnis zu rufen, dass er seine Atmung in Dragoons Gegenwart gezielt steuern musste. „War nur so ein Gedanke…“, kam es unterkühlt von ihm. „Natürlich.“, kam es ebenso frostig zurück. „Wie auch immer. Es wäre vorteilhafter wenn ich gegen Dranzer in einem menschlichen Körper antrete. Sie hat durch ihre Hülle mehr Bewegungsfreiheit und um mit ihrem Level mitzuhalten, muss ich zumindest die gleichen Voraussetzungen schaffen. Dein Blade reicht da nicht mehr aus.“ „Ich wüsste nicht wie ich dir da noch helfen kann.“ Dragoons Augen huschten zu ihm, wurden zu Schlitzen. „Was hältst du davon mir deinen Körper auszuborgen?“ Tyson starrte zurück. Er blinzelte mehrmals, einfach weil er dachte sich verhört zu haben. „Wie bitte?“ „Du hast mich schon richtig verstanden…“ „Vergiss es!“ „Nur für ein oder zwei Stunden! Ein Menschlein wie du würde sowieso nicht viel länger aushalten.“ „Nicht einmal eine Sekunde bekommst du!“ „Takao, es wäre der beste Weg um geg-…“ „Nein!“, er wich geradezu panisch zurück. Irgendwie kam Tyson sich allein bei dem Gedanken vergewaltigt vor. „Ich habe gesehen was Dranzer mit Kai angestellt hat! Er hatte keine Befehlsgewalt mehr über sich und war ihr vollkommen ausgeliefert! Sogar eine Frau hat er im Krankenhaus angegriffen! Glaubst du wirklich ich bin so blöde und lasse mich freiwillig auf so einen Kuhhandel ein?!“ „Es ist doch nur vorübergehend!“ „Nein verdammt! Ich will nichts mehr darüber hören, verstanden?!“ Dragoons Gesicht verzog sich verärgert. Tyson sah ihm an, dass er bereits ein böses Kontra auf den Lippen hatte, als der Nachrichtensprecher im Fernsehen seine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Zwischen all den brutzelnden Monitoren, verkündete der letzte heile Bildschirm, dass gerade eben eine weitere Eilmeldung hereingekommen sei. Ein Flugzeug war über dem Pazifischen Ozean abgestürzt, offenbar weil es in eine Luftturbulenz geraten war. Dragoon schnalzte erbost. „Diese nutzlosen Böcke! Lässt man sie aus den Augen, machen sie nur was sie wollen!“ Doch Tyson hörte gar nicht mehr richtig hin. Aus aschfahlem Gesicht starrte er auf die eingeblendete Flugnummer, die er von letzter Nacht noch kannte und vernahm die schreckliche Botschaft, dass man mit keinen Überlebenden rechnete. ENDE KAPITEL 46 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)