Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 20: ------------ Mit Kais Hilfe hatte es Tyson geschafft, ein winziges Grab für Wolborgs verbliebene Überreste freizulegen. Es war nicht viel, was sich bestatten ließ, doch was sie noch von ihr vorfanden, wie die Fetzen des herrlich weißen Kimonos den sie getragen hatte, legten sie ordentlich zusammengefaltet in das Grab und schütteten es schließlich wieder zu. Stillschweigend saßen sie davor und Tyson wollte ein Gebet anstimmen, bis ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte ob Bit Beasts eine Art Religion besaßen. Tysons Familie gehörte seit Jahrzehnten dem Shinto Glauben an, Max war Protestant und Ray sogar ausgebildeter Zen-Meister. Es gab so viele Religionen, die Tyson im Laufe der Jahre kennen gelernt hatte. Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten, Juden, Konfuzianismus, Shintoismus… Und das waren nur die geläufigsten, von denen er am Rande mitbekommen hatte. Wo unter all dieser Vielfalt sollte er die Religion finden der Wolborg angehörte? Womöglich besaßen Bit Beast gar keinen Glauben. Sie waren Geister, also selbst etwas Überirdisches und mittlerweile musste sich Tyson eingestehen, dass seine Vorstellung vom Leben nach dem Tod, seit ihrem Aufenthalt in der Irrlichterwelt gehörig ins Straucheln geriet. Seine Ratlosigkeit lag ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn kurzerhand hörte er Kai neben sich die Hände falten und ein Gebet flüstern: „Herr, der du bist im Himmel. Bitte lass der Dame Wolborg deine Gnade zu teil werden. Lass ihre Seele in Frieden ruhen und führe sie wieder mit ihrer Schwester zusammen, damit sie im Jenseits vereint sind. Amen.“ Tyson klappte sein Kinn runter. So fromm hatte er Kai noch nie sprechen hören. Das Kind bekreuzigte sich inzwischen und etwas unbeholfen tat Tyson es ihm nach, nicht ahnend, dass er dafür den falschen Arm verwendete. Kai entging das nicht, denn er blinzelte ihn an, bis ein nachsichtiges Lächeln über sein Gesicht huschte. „Warum grinst du?“ „Du bist nicht russisch-orthodox, nicht wahr?“ Tyson schüttelte verneinend den Kopf, etwas verwundert dass Kai auch einer Religion angehörte. Wie sein Freund sich stets gab, war er der festen Überzeugung gewesen, dass er Atheist war. Doch wenn er darüber nachdachte, war es naheliegend, dass in einem russischen Haushalt, auch der russisch-orthodoxe Glaube eine Rolle spielte. Als er zum ersten Mal die heiligen Hallen der Hiwataris besuchen durfte und auf der Suche nach der Toilette in die Küche hineinspazierte, waren ihm nicht die auf Holz gemalten Heiligenbilder entgangen, die eine Seite der Küchenwand zu dutzenden schmückte. Im ersten Moment fand er den Anblick unheimlich, vor allem weil im Zentrum der Wand eine kleine goldene Öllampe flackerte. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Küche lag im trüben Licht und der Schein der Lampe verlieh den Gesichtern auf den Bildern etwas Düsteres. Die Menschen darauf sahen ernst und streng aus, manche sogar melancholisch. Bei näherer Betrachtung erkannte er aber die zierlichen, feinen Linien auf den Bildern, die Liebe zum Detail auf den Gewändern und die schönen Farben. Er hätte noch stundenlang diese befremdlichen Menschen beobachten können, wie sie ihm erhaben entgegenschauten und sich den Kopf darüber zerbrechen können, was diese kyrillischen Buchstaben, an der Seite jedes Bildes heißen mochten, wäre Lew nicht hereinspaziert und hätte ihn kurz darauf aus der Küche gescheucht. Auf seine Frage hin, was das für Bilder waren, meinte der Verwalter nur knapp: „Ikonen.“ „Warum sind die hier?“ „Die gehören Hiwatari Senior. Also fass sie nicht an.“ „Ist das so was wie Kunst?“ Zum ersten Mal in all den Jahren seit Tyson ihn kannte, war ein Lächeln über das Gesicht des Butlers gehuscht. Es verlieh ihm auf Anhieb einen Anflug von Sympathie und er erklärte ruhig: „Das sind Heiligenbilder.“ Kurz darauf wurde er mit sanfter Gewalt aus der Küche geworfen und Tyson suchte überrumpelt die Toilette auf. Er hätte niemals gedacht dass ausgerechnet ein Mann wie Voltaire religiös war, dafür ebnete er seinen Weg zum Erfolg viel zu offensichtlich mit Leichen. Die Vorsicht des Hausverwalters bewies aber deutlich das Gegenteil. Wenn er heute darüber nachdachte, hatte Kais Großvater seinen Enkel sicherlich nicht nur wegen seiner Beybladekünste in eine Abtei gesteckt, auch wenn Tyson sich sicher war, dass Kais Glaube mit jeder Sekunde in der Abtei mehr gebröckelt war – bis er zu der Person wurde, wie ihn Tyson kannte. „Wir müssen uns um deinen Arm kümmern.“, meinte Kai plötzlich und riss Tyson vollkommen aus seinen Gedanken. Er warf einen Blick auf die blutgetränkten Stofffetzen um seinen Arm und entschied, dass er nicht den Wunsch verspürte jemanden an die Wunde heranzulassen, der nicht mit Watte umwickelte Finger besaß. „Das wird schon…“ „Nicht wenn wir uns nicht darum kümmern.“ Kai zog seinen Schal von den Schultern und tat einen Schritt auf Tyson zu. Dem behagte diese Situation weniger. Sein Arm hing schlaff an der Seite, schmerzte bei jeder Regung. Trotzdem ließ er zu, dass das Kind ihm den Schal um die Schultern legte und daraus eine Schlinge formte, in die er seine Rechte bettete. Tyson zog mehrmals scharf die Luft ein, denn auch wenn Kai behutsam vorging, ein Stechen ließ sich nicht vermeiden. Zudem kam ihm die Situation mehr als bekannt vor. Tyson hatte sich schon mal in einem Anflug von Übermut den Arm verletzt. Damals waren Max und er nach einer Feier so betrunken gewesen, dass er sich auf dem Heimweg auf eine Wette eingelassen hatte, die beinhaltete, bei einer geparkten PKW Kolonne, von einem Dach zum Nächsten zu springen. Das Ende vom Lied war, dass Tyson beim letzten Wagen ausrutschte und wie eine menschliche Knetkugel vom Dach rollte. Max wusste sich in dieser Situation nicht anders zu helfen, als um ein Uhr morgens Kai aus den Federn zu holen und ihn um Hilfe zu bitten, da Ray an diesem Abend sein erstes Rendezvous mit Mariah hatte und somit ausfiel. Zwar wären da noch Maxs Eltern gewesen, aber denen wollte er nicht erklären, weshalb sie betrunken durch die Straßen randalierten und auf Autodächern King Kong imitierten. Als Kai aber ankam, verdrehte er nur genervt die Augen und sah schon von weitem, dass der Arm nur verstaucht war. Erbost, weil er damals für seine Abschlussklausur gebüffelt und deshalb nur wenig Schlaf abbekommen hatte, blitzte er seine beiden Freunde zunächst wütend an. Genau wie jetzt, hatte er seinen Schal von den Schultern genommen und Tyson eine provisorische Schlaufe um den Hals gelegt, um den Arm bis zum Krankenhaus stabil zu halten. In dieser Erinnerung schwelgend, ließ Tyson Kai stillschweigend sein Handwerk verrichten, wunderte sich dabei, wie geschickt das Kind doch mit seinen jungen Jahren war. Es war fast wie damals, als hätte Kai niemals etwas anderes gemacht. Es hätte nur noch gefehlt, dass er nach beendeter Arbeit brummte: „Den Schal will ich aber zurück, Kinomiya!“ Tyson hätte alles dafür gegeben, wenn Kai sich endlich an ihre gemeinsame Zeit erinnern könnte… „Den Schal will ich aber zurück!“ Abrupt klappte Tyson der Mund auf und auch Kai hielt für einen winzigen Moment inne, als wäre ihm selber klar, wie vertraut ihm diese Situation eigentlich sein müsste. Der Junge stierte verloren auf Tysons Arm, als wäre er im Gedanken ganz woanders. In einem Anflug von Hoffnung fragte Tyson: „Erinnerst du dich?“ Das Kind hob den Blick und für einen kurzen Moment erschrak Tyson. In Kais Augen herrschte nur gähnende Leere. Er schaute ihn an und sah ihn doch nicht. Fast so als wäre Tyson unsichtbar. Dann blinzelte Kai verstört und der kindliche Ausdruck nahm wieder platz, verdrängte die Leere und ließ ihn wieder zu seinem jüngeren, unwissenden Alter Ego werden. „Was meinst du?“ „Diese Situation kam dir doch genauso bekannt vor wie mir.“ „Ich verstehe nicht was du meinst.“ Wütend fauchte Tyson auf. „Jetzt hör schon auf! Du weißt genau dass ich einmal betrunken über Autodächer gesprungen bin!“ „Warum solltest du so etwas machen?“ Verunsichert von Tysons aufbrausender Art, trat der Junge einpaar Schritte zurück. Der Anblick reichte, um Tyson ein resignierendes Seufzen zu entlocken. Was immer für Erinnerungsfetzen in Kai aufgekeimt waren, sie waren im Erdboden versickert, wie ein Wassertropfen in einem vertrockneten Brunnen. Er fasste sich an die Stirn, nahe der Verzweiflung, einfach alles dafür gebend um endlich wieder daheim zu sein, in seinem Bett zu liegen und die letzten Stunden für einen bösen Traum zu halten. „Scheiß drauf“, meinte er frustriert und stand auf. „Lass uns weitergehen. Irgendwo hier müssen Max und Ray sein. Wir suchen sie und dann verschwinden wir.“ „Bist du sicher dass sie wissen wo die Dame Solowéj lebt?“ Abrupt hielt Tyson inne. Jetzt erst fiel ihm ein, dass er noch dieses Problem aus der Welt schaffen musste. Wie sollte er dem Kind erklären, dass seine heißgeliebte Dame, eigentlich Dranzer war – die vor kurzem das Zeitliche gesegnet hatte? Es war wohl an der Zeit Kai die Wahrheit zu offenbaren, egal wie absurd sie klang. Tyson rieb sich mit dem gesunden Arm unbehaglich am Nacken, sah bedrückt auf das Kind hinab, den passenden Ansatz suchend. Schließlich räusperte er sich, ging vor Kai in die Hocke und sah ihn ernst an. „Kannst du dich an die verstorbene Schwester erinnern von der Wolborg gesprochen hat?“ Kai nickte langsam, blickte ihn ernst an. „Du kennst sie besser als du denkst…“ Erstaunt weiteten sich die Augen des Kindes. Er überlegte kurz und schüttelte schließlich verneinend den Kopf. „Nein, dass kann nicht sein. Außer der Dame Solowéj kenne ich keine andere Frau. Ich war noch nie von Zuhause weg. Wo soll ich ihr begegnet sein?“ Vorsichtig berührte Tyson Kais Schulter. Langsam, damit das Kind auch wirklich jedes Wort begriff, sprach er schließlich: „Deine Dame Solowéj ist Wolborgs Schwester.“ „Aber du hast doch gesagt ihre Schwester heißt Dranzer.“ „Deine Dame und Dranzer sind ein und dieselbe Person.“ Kai blickte auf den Boden, man merkte dass es in seinem Kopf arbeitete. Tyson wusste, dass der Junge ahnte worauf er hinaus wollte. Seine kleinen Hände begannen zu zittern, bis er sie ineinander verhakte und die Finger knetete bis sie rot anliefen. „Nein.“, das Wort kam bestimmt über seine Lippen und Kai schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist nicht wahr. Du irrst dich. Dranzer ist tot und Anastasia lebt. Sie wartet zuhause auf mich.“ „Dein zuhause existiert hier nicht, genauso wenig wie deine Anastasia. Sie war nur eine Täuschung, um dich im Haus zu behalten. Alles in dieser Welt basiert auf deinen Erinnerungen.“ „Nein.“, es kam noch beharrlicher. „Kai, merkst du nicht, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt?“ „Was soll mit ihr nicht stimmen?“ „Das fragst du noch? An jeder Ecke lauert Gefahr!“ „Natürlich. Deshalb wollte Anastasia auch nicht, dass ich hinausgehe. Sie hat gesagt, dass die Welt da draußen gefährlich ist und sie hat Recht behalten. Alles hier ist schlecht.“ „Das ist aber nicht die normale Menschenwelt! In der Realität geht es nicht so grausam zu. Du musst doch spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sieh dich doch mal um! Wir sind mitten in einem Dschungel, davor waren wir in einer Eiswelt gefangen. Kommt dir das nicht seltsam vor? Diese Welt ist wild durcheinander gewürfelt.“ „Ich will nachhause.“, Kai verschränkte bockig die Arme vor der Brust. „Gut. Ich bringe dich nachhause.“ Er musste ja nicht wissen welches Zuhause. „Zur Dame Solowéj!“, betonte das Kind, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Die existiert nicht!“ „Doch!“, schrie der Junge plötzlich auf. „Hör auf zu lügen!“ „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, Dranzer ist tot!“ „Anastasia ist aber nicht Dranzer!“, er deutete auf Wolborgs Grab. „Sie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, wunderschön und nett! Sie könnte niemals mit ihr verwandt sein.“ Tyson begann der Geduldsfaden zu reißen. „Du sturer Esel! Begreifst du nicht dass du an der Nase herumgeführt wirst? Deine Anastasia hat dir nur eingeredet, dass alle Welt schlecht und Menschen verdorben sind, damit du bei ihr bleibst! Sie wollte dich für immer in diesem Haus einsperren, damit du ihr nicht entkommen kannst! Wären wir nicht gewesen, würdest du noch immer dort festsitzen. Diese falsche Hexe hat dich manipuliert.“ „Hör auf so zu reden!“ „Dann wach endlich auf!“ Kai hielt sich die Ohren zu und schüttelte sich, doch Tyson riss ihm die Hände vom Kopf und sprach: „Sie ist ein Monster! Ein blutrünstiges, hinterhältiges Mon- HEY!“ Tyson stürzte zurück. Kai hatte ihm einen Schubs verpasst, dass er auf den Rücken flog. Das Kind sprang über ihn hinweg und rannte in die umliegenden Büsche. Schnell, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, stemmte sich Tyson wieder auf, den Schmerz in seinen Arm ignorierend. Gleichzeitig bereute er, Kai nicht länger belogen zu haben. Hätte er ihn einfach hingehalten, bis sie wieder in der Menschenwelt waren, dann wäre dem Esel von allein aufgefallen, dass Dranzer ihm lächerliche Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Plötzlich ein erschrockener Aufschrei… Tyson hielt inne und hörte kurz darauf, wie mehrere Stimmen miteinander diskutierten. Er horchte in die Richtung und grinste in sich hinein. Das war eindeutig Max. Mit vorsichtigen Schritten folgte er den Stimmen, stieg über einen umgekippten Baumstamm und schob die Blätter des tropischen Gestrüpps zur Seite. Kurz nachdem er über einen kleinen Bach sprang, sah er bereits den flachsblonden Haarschopf seines Freundes hinter einem Gebüsch hervorlugen. Geradezu euphorisch rannte er los und gab Max einen spielerischen Stoß gegen den Rücken, der gleich darauf einen entsetzen Schrei fahren ließ. Panisch sprang Max auf und brüllte: „TYSON! Hast du sie noch alle! Ich dachte du wärst ein Bit Beast!“ Der lachte nur schallend auf und konnte nicht anders als zu Grinsen. Er ließ seinen Blick wandern und sah zu seiner Erleichterung, dass Kai direkt in die Gruppe hineingerannt war. Der Junge presste sich argwöhnisch an einen Baum und schlug Rays Hand weg, der geduldig auf ihn einsprach. „Jetzt bleib doch still. Was ist denn mit dir?“, fragte der verwundert. „Fass mich nicht an!“ Wieder schlug er die Hand weg und Ray zog die Brauen tief ins Gesicht, während Tyson bereits erkannte, dass Kai nach einer neuen Fluchtmöglichkeit spähte. Das die für ihn fremden Jungen anscheinend zu Tysons Bekanntenkreis gehörten, passte ihm überhaupt nicht, denn er taxierte sie mit derselben Feindseligkeit, mit der er zuvor ihn bedacht hatte. „Wieso bist du so bockig Kai?“ „Woher kennst du meinen Namen?“ „W-Woher? Soll das ein Witz sein?“ „Lass ihn, Ray.“, seufzend wandte sich Tyson ihm zu. „Kai denkt dass er sechs Jahre alt ist. Sieh einfach nur zu das er nicht türmt, er versucht nämlich am laufenden Band vor mir wegzurennen.“ Rays Mund klappte auf und zusammen mit Max starrten beide perplex zu Tyson. In einem anderen Moment, wären ihre Gesichter urkomisch gewesen, sie guckten nämlich wie zwei Fische, die bemerkten, dass die Welt aus mehr als ihrem Aquarium bestand. Doch es war genau diese Sekunde der Unachtsamkeit die Kai nutzte, um Ray einen schmerzhaften Tritt gegen sein Schienbein zu verpassen. Ihr Freund knurrte auf, presste die Zähne zusammen, während Kai verschwinden wollte. Max stellte sich ihm in den Weg, hob beruhigend die Hände: „Hey, Rambo! Bleib wo du bist… Was machst du da?“ Kai sprang an einem kleinen Felsen rechts von ihm hinauf, gabelte sich blitzschnell einen dicken Ast darüber und zog sich flink an einer Tanne hoch. Seine Bewegungen waren für sein alter geradezu flüssig. Trotz der Zurufe seiner Freunde, kletterte er weiter und rief ihnen in seiner kindlichen Manier zu: „Geht weg! Lasst mich alle in Ruhe!“ „Euer Freund ist sehr undankbar!“, bemerkte Allegro pikiert, der auf Maxs Kopf saß und den Anblick mit einen kopfschütteln kommentierte. „All die Stunden haben wir um ihn gebangt und jetzt dankt es uns der Lümmel in dem er uns zum Teufel jagt. Schimpft sich so etwas ein Freund?“ „Er ist nur verwirrt“, verteidigte Tyson ihn. „Er erkennt uns nicht! Für ihn sind wir ein Haufen Fremder. Außerdem hat ihm Dranzer seltsame Schauermärchen erzählt. Es ist wie bei einer Gehirnwäsche.“ Ray rieb sich über die schmerzende Stelle und trat an den Stamm heran, blickte mit sorgenvollem Gesicht hinauf. Die Gruppe befand sich in einem kleinen Tal, das mit vielen unterschiedlichen Bäumen bestückt war und von einer hohen Gebirgskette umsäumt war. Die Pflanzenwelt war wild durcheinander gewürfelt. Neben einer Tanne wuchsen Palmen, etwas weiter ein Bonsai und hier und da schoss auch ein Kaktus aus dem Boden. So zog sich das Spiel durch den gesamten Urwald. Feuchtigkeit lag in der Luft. Die Hitze war enorm. Man fühlte sich wie in einem Hexenkessel. Die Ausläufer des Gebirges begannen wenige Meter von ihnen entfernt, waren aber zu steil um an ihnen hinauf zu klettern. Bevor sie auf ihre Freunde trafen, hatten Max und Ray seit Stunden versucht, einen Weg aus dem Talkessel zu finden. „Er ist also wirklich auf dem Stand eines Vorschulkindes?“, fragte Ray inzwischen. Tyson bestätigte das mit einem Nicken. „Alles von unserem Kai ist weg. Er erinnert sich an keinen von uns. Seltsamerweise nicht einmal an seine Familie. Fast als ob Dranzer sämtliche Menschen, die ihm etwas bedeutet haben, aus dem Kopf gestrichen hat. Er weiß nicht einmal etwas von Jana. Außerdem hat sie ihm Glauben gemacht, dass er niemals sein Haus verlassen hat, alle Menschen, bis auf sie, schlecht sind und er nur ihr Vertrauen kann. Er ist komplett auf sie fixiert…“ Betreten blickten seine Freunde zu dem Kind hinauf, das nun auf der Hälfte des Baumes ausharrte und auf einem Ast Platz nahm. Mit wütendem Blick drehte er ihnen den Rücken zu und verschränkte die Arme vor der Brust, als Demonstration seiner Unzufriedenheit. Da Kai von Natur aus störrisch war und Tyson sich gut vorstellen konnte, dass es länger dauern würde, bis er wieder von seinem Ast herunter kletterte, nutzte die Gruppe die Zeit, um sich auszutauschen. Ray und Max berichteten von ihrer Begegnung mit Galman, dem Affen Bit Beast, dass nun seine Zeit damit verschwendete sich eine kaputte Armbanduhr um sein Handgelenk zu schnallen. Anschließend erzählte Tyson ihnen von Wolborg. Beide waren mehr als erstaunt, als sie erfuhren, dass ausgerechnet sie mit Dranzer verwandt war. Sie waren geschockt als sie von Wolborgs Forderung hörten, aber erleichtert, dass sie vor ihrem Ableben, Tyson einen Hinweis auf den Ausgang gegeben hatte – das Wurzelwerk von Yggdrassil. „Na endlich!“, Max bekreuzigte sich und schickte ein Dankgebet Richtung Himmel. „Wenigsten ein Hoffnungsschimmer, nach all dem Herumirren! Hat sie dir auch gesagt, wo wir diese Wurzeln finden?“ Tyson zuckte mit den Schultern. „Sorry, Jungs. Da hört mein Wissen auf. Sie meinte lediglich, dass die Wurzeln das Diesseits mit dem Jenseits verbindet. Die Irrlichterwelt ist ein Teil des Jenseits, wenn wir die Wurzeln also entlanglaufen, müssen wir irgendwann an die Barriere kommen.“ „Barriere? Wie soll die aussehen?“ „Keine Ahnung. Schätze mal wie ein Tor das die Menschenwelt von dieser Welt trennt.“ „Aber dann ist doch die Sache ganz einfach!“, rief Max euphorisch aus. „Wurzeln wachsen in der Erde! Also müssen wir so lange graben, bis wir…“ Ungläubige Blicke trafen ihn und schließlich merkte auch Max, dass es nicht so einfach war, wie es sich anhörte. Losgraben bis man endlich in der Menschenwelt war? Wenn die Irrlichterwelt wie die Erde aufgebaut war, würden sie niemals ihr Ziel erreichen. „Gut. Es ist doch nicht einfach.“, gestand er schließlich. „Sag mal Allegro“, begann Tyson und sah die Maus hoffnungsvoll an. „Du kannst nicht zufälligerweise eine dieser Wurzeln ausmachen?“ Die Maus spitzte die Ohren und sah ihn geradezu verdattert an. „Natürlich nicht! Uns Strommäusen ist dieser Weg zur Menschenwelt verwehrt. Wir sind nur eine Arbeiterklasse und nicht dazu gedacht uns ein eigenes Kind in der Menschenwelt zu suchen. Die Wurzeln dürfen nur die höheren Bit Beast verwenden…“ Tyson seufzte. „War nur ein Gedanke. Wolborg meinte, dass wir ein Bit Beast benötigen, um durch die Barriere zu kommen. Ich hatte gehofft du wüsstest was sie meint.“ Die schwarze Springmaus legte ihren Kopf auf die Seite und dachte nach. „Nun… Ich habe eine Ahnung, was sie gemeint haben könnte. Doch ob Menschen diesen Weg auch benutzen können?“ Sofort horchte die Gruppe auf und drängte das Bit Beast weiterzusprechen. „Es ist nur eine Vermutung! Wenn wir Strommäuse in die Menschenwelt wollen, benutzen wir einen Ort, der als der Quellstrom bekannt ist. Wir tauchen in ihn ein und werden von dort in jedes Gerät geleitet, dass unsere Macht benötigt.“ „Aber wir sind keine Strommäuse…“, schlussfolgerte Ray. „Genau das ist das Problem.“, stimmte Allegro zu. „Im Quellstrom wird man automatisch in ein elektrisches Gerät geführt. Wir treiben es mit unserer Energie an, bis sie aufgebracht ist und kehren dann umgehend wieder zurück. Das heißt im Klartext, wir können das Gerät nicht verlassen, nur nach verrichteter Arbeit auf direkten Weg wieder zurück in die Irrlichterwelt gehen.“ Das ergab durchaus Sinn, wenn man bedachte, dass Dizzy zu Anfang auch nie aus ihrem Laptop herausgekommen war. Womöglich waren Kenny und sie sich so begegnet. Sie war als die Strommaus die seinen Laptop antrieb mit ihm in Kontakt getreten und hatte so ihren Blader gefunden. Doch wie würde das für die Jungs aussehen? Tyson stellte sich vor, wie es wäre, wenn er durch den Quellstrom in einer elektrischen Zahnbürste landete und nicht mehr herauskam. Er schüttelte sich bei der Vorstellung, in dem Mund irgendeines unwissenden Idioten zu landen, der, wenn er Pech hatte, nicht viel von Hygiene hielt und Zahnfäule besaß. „Würg! Scheiße Leute, ohne mich!“, meinte er angeekelt und schüttelte sich. „Aber es ist zumindest ein Hinweis dass es Wege aus der Irrlichterwelt gibt“, meinte Ray. „Es könnte doch gut möglich sein, dass der Quellstrom ein Teil des Wurzelwerks ist. Wir müssen nur zusehen, dass wir ein Bit Beast finden, welches bereit ist uns zu helfen.“ „Wie denn?“, lachte Max freudlos auf. „Nichts gegen unseren kleinen Allegro, aber alle Bit Beasts, denen wir vor ihm begegnet sind, wollten uns töten.“ „Wolborg war aber auch bereit zu helfen.“ „Aber im Gegenzug wollte sie mein Herz!“, nahm Tyson Ray den Wind aus den Segeln. „Und als kleiner Treuebonus noch Kais Augen dazu. Ehrlich Ray, wir sitzen in der Patsche! Alle Bit Beast haben einen an der Waffel, wir haben es nur nicht gemerkt, weil sie uns früher nicht umbrin-…“ Tysons Redeschwall wurde unterbrochen als ein Haufen Tannennadeln auf ihn hinabregnete. Er schüttelte sich und fuhr mit der gesunden Hand schimpfend durch sein Haar, bis ein leises Knistern aller Aufmerksamkeit nach oben richtete. Als sie hinaufspähten, sahen sie Kai weit oben auf dem Baumwipfel. „Was machst du da?“, rief Tyson hinauf und wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn er hinabstürze. Doch der Junge ignorierte ihn. Er hielt sich an der Tannenspitze fest, balancierte vorsichtig auf einem gefährlich dünnen Ast voran und streckte seine Hand nach einem langen Hain aus, der direkt gegenüber seiner Tanne, an einer großen Palmekrone wuchs. „Er versucht auf den nächsten Baum zu kommen“, flüsterte Ray und seine Augen wurden zu Schlitzen. „Wieso das denn?“ Ray deutete hinauf und sprach mit ernster Miene: „Siehst du es nicht, Max? Die Palmenkrone ist fast auf gleicher Höhe wie die Hügel um uns herum. Außerdem ist sie nur einpaar Meter von der Felswand entfernt. Wenn Kai es auf die Palme schafft, kann er an der Felswand hinauf klettern und aus dem Tal entkommen.“ Maxs Mund klappte auf und er meinte entsetzt: „Du sagst das als ob das ein Spaziergang wäre.“ „Ich habe ehrlich gesagt auch schon mit dem Gedanken gespielt.“ „Nicht jeder ist so ein Trapezkünstler wie du, Ray.“ „Deshalb habe ich die Idee auch wieder verworfen.“ Etwas gekränkt weil Ray ihm solch eine Aktion scheinbar nicht zutraute, zog Max eine Schnute. „Fragt sich nur, ob Kai nun auch ein Trapezkünstler ist.“, wandte Tyson inzwischen ein. Mit banger Miene beobachtete er, wie das Kind auf dem dünnen Ast voranschritt und sich nach dem Hain streckte. „Wie will er das denn schaffen? Die Felswand ist viel zu steil, er wird abstürzen. Allein auf den Baum zu gelangen ist die reinste Zirkusnummer.“, entgegnete Max. Seine Freunde hatten keine Zeit zuzustimmen, denn es kam was alle befürchteten. Gerade als Kai sich vorbeugte und den Hain zu fassen bekam, gab der dünne Ast unter ihm nach. Es knackte und mit einem erschrocken Ausruf, sah die Gruppe dabei zu, wie ihr Freund herab fiel und sich nur noch an dem Palmenhain festhielt. Die kleine Gestalt über ihnen, taumelte von einer auf die andere Seite. Der satte Hain zog sich unter Kais Gewicht in die Länge, trotzdem gab der Junge keinen Mucks von sich, versuchte sich stattdessen auf die Baumkrone zu hieven. „Scheiße, ich wusste es!“, rief Max aus. „Lass dich fallen, ich fang dich auf!“, Tyson tänzelte unter der Palme umher und suchte die richtige Position. „Nein! Er soll sich festhalten! Wie willst du ihn denn mit deinem gebrochenen Arm auffangen!“ Tyson sah auf seinen Arm hinab und merkte nun auch, was für eine schlechte Idee das war. „Na… Dann fang du ihn!“ Max hob seine Hand demonstrativ hoch, die noch immer rot und angeschwollen von der Entzündung war. Es sah aus, als hätte er den Arm stundenlang in einem Bienenstock gehabt und obwohl sich sein Freund sichtlich Mühe gab, konnte er seine dicken Finger kaum rühren. Plötzlich stürmte Ray mit vollem Anlauf an ihnen vorbei und machte einen Satz, der ihn weit hoch an den Stamm der Palme beförderte. Geschickt, als hätte er nichts anderes in seinem Leben gemacht, kletterte er hinauf und kam zügig auf der glatten Rinde voran. Obwohl es anstrengend war, verzog Ray keine Miene, sondern konzentrierte sich auf sein Vorhaben. Doch schon bald merkte er dass in Kai Regung kam. Die Vorstellung hinabzufallen, schien dem Jungen weniger Angst zu machen, als von Ray eingeholt zu werden. Er wollte mit aller Macht entkommen. Kai versuchte geradezu verbissen auf die Palmenkrone zu gelangen, um von dort auf die Felswand zu flüchten. „Halt still! Du fällst sonst!“, warnte Ray ihn. „Hau ab!“, fauchte der Junge und trat nach ihm aus. Entgegen jeder Vorsicht, trat er schließlich mit den Füßen auf die Rinde, um sich anschließend, wie ein Bergsteiger an dem Hain senkrecht hinauf zu ziehen. Das war zu viel für die Pflanze. Der Hain löste sich von der Krone… und Kai fiel. Ray sah die kleine Gestalt über sich in sekundenschnelle auf ihn zurasen. Der Abstand zwischen ihnen war zu groß, damit Ray ihn noch zu fassen bekam, deshalb tat er das Einzige, was ihm auf die Schnelle einfiel. Kurz bevor Kai an ihm vorbei rauschte, stemmte er sich mit den Füßen vom Stamm, stieß sich ab, fing den Jungen im Fall auf und versuchte sich auf das Geäst eines anderen Baumes gegenüber zu retten. Der erste Ast brach sofort. Ein weiterer peitschte Ray ins Gesicht und hinterließ eine blutende Wunde. Der dritte und vierte Ast brach ebenfalls unter seiner Last. Von unten hörte er die erschrockenen Rufe seiner Freunde. Einen weiteren Zweig bekam er schmerzhaft in den Rücken gerammt. Erst einpaar Meter vor ihrem Aufprall, bekam Ray einen Ast zu fassen, der stark genug war, um das Gewicht der beiden Jungen auszuhalten. Vor Anstrengung keuchend und übersät mit Kratzern, hielt Ray sich eisern daran fest, die andere Hand umschlang Kais Oberarm. Der Schweiß rann ihm in den Nacken und Ray wurde sich eines bewusst: Das, war mit Abstand, das Dümmste was er je gemacht hatte! Er ließ sich einpaar Sekunden Zeit - sammelte seine Kräfte. Erst dann zog er Kai hoch und forderte ihn auf, sich an seinem Rücken festzuhalten. Genauso geschockt wie er, kam der Junge dem Befehl nach, schlang seine Arme um Rays Nacken -diesmal ohne Widerworte. Von unten war kein Laut mehr zu hören. Tyson und Max waren verstummt, blickten wie gebannt hinauf und fieberten mit, während Allegro sich die Pfoten auf die Augen presste. Schließlich hangelte sich Ray, mit beiden Händen Richtung Stamm, ertastete mit den Füßen einen Ast unter sich und ab da schien der Abstieg für ihn kinderleicht. Einige Meter unter ihnen atmete Tyson aus und schickte ein Dankgebet gegen Himmel, dafür das Ray ein so talentierter Kletterer war. Für eine Sekunde malte er sich aus, wie kläglich seine eigenen Kletterversuche ausgesehen hätten und er musste daran denken, wie sehr er es doch verflucht hatte, dass sein Freund vor Jahren Tokyo den Rücken gekehrt und stattdessen nach seiner Hochzeit, in seinem kleinen Bergdorf sesshaft geworden war. Damals war Tyson ziemlich deprimiert gewesen. Max war nach Amerika gegangen und Ray kurz darauf auch fort. Er hatte das Gefühl gehabt, dass alle die er mochte ihm den Rücken zuwendeten. Jedoch wurde ihm jetzt klar, dass Ray das einzig Richtige für sich getan hatte. Er war kein Stadtmensch, auch wenn er mit dem Gedanken spielte, nach Tokyo zurückzukehren. Er gehörte nach China, wo er seinen Kindern irgendwann selber sein Talent weiterreichen konnte. Das beste Beispiel für seine Fähigkeiten präsentierte sich nun hier. Trotzdem atmeten seine Freunde erst erleichtert aus, als Ray neben ihnen auf sicherem Boden landete und brachen dann in euphorischem Beifall aus. „Das war der Wahnsinn!“, jubelte Max. Doch Ray sagte nichts. Stattdessen ging er auf die Knie und ließ Kai von seinem Rücken gleiten. Der Junge trat mit steinerner Miene einpaar Schritte von ihm weg, als müsste er selbst begreifen, was sich gerade abgespielt hatte, doch zum Erstaunen aller, packte Ray ihn blitzschnell am Handgelenk und zog ihn zurück… KLATSCH Die Ohrfeige schallte laut durch den Wald und Kais Augen wurden vor Überraschung groß. Auf seiner Wange entbrannte ein feuerroter Abdruck, der genauso schmerzte wie er aussah. Das Kind torkelte zurück, presste sich die freie Hand auf die Stelle und sah Ray schockiert an, genau wie der Rest der Gruppe. „Bist du verrückt?“ „Das hat er verdient, Max!“ „Aber…“ „Was hast du dir dabei gedacht?!“, blaffte Ray Kai unvermittelt an. Der Junge zuckte zurück und blinzelte ihn an. „Verdammt noch mal! Hast du auch nur eine Sekunde überlegt wie gefährlich das war?! Das war kein Spaß mehr Kai, das war lebensgefährlich!“ Wütend haute Ray mit der Faust auf den Boden und zum ersten Mal waren sich seine Freunde bewusst, dass man ihn besser nicht provozierte wenn er zornig wurde. Er hielt Kai eine Standpauke die sich gewaschen hatte, machte ihm klar, wie viel Glück er eigentlich gehabt hatte und zeigte auch keine Scheu davor, ihm einzureden, dass er jetzt mit gebrochenem Nacken, tausender zertrümmerter Knochen und aufgeplatzten Schädel, tot auf dem Boden liegen könnte. Seine Worte waren so hart, dass Kai sich auf die Unterlippe biss. Er ließ die Wut über sich ergehen, versuchte ein trotziges Gesicht zu machen, was aber kläglich misslang. Sein erwachsenes Alter Ego hätte wohl meisterhaft Kühnheit vorgetäuscht, doch das sechsjährige Kind vor ihnen, schaffte es gerade noch die aufkommenden Tränen zu verkneifen. Ray bombardierte ihn mit Fragen. Ob er lebensmüde sei? Kai schüttelte den Kopf. Ob ihm die Flucht sein Leben wert wäre? Kai schüttelte wieder den Kopf und als der Strom aus Fragen, immer noch nicht abklang, begann der Junge doch zu schluchzen. Er wandte das Gesicht ab und erst die Tränen bremsten Ray aus. Er atmete zwar noch heftig, seine Brauen waren noch wütend verzogen, doch der Zorn verebbte. „Ray…“ Ihr Freund blickte zu Tyson. „Du hat ja Recht mit dem was du gesagt hast, aber ich denke, Kai hat begriffen, wie gefährlich seine Aktion war.“ Er richtete sich an die besagte Person. „Nicht wahr, Kai?“ Ein beklommenes Nicken war die Antwort und tränennasse Augen senkten den Blick. Erst da bemerkte Ray, dass er noch immer sein schmales Handgelenk in einem schraubstockartigen Griff umschlungen hielt. Er seufzte resignierend, bemerkte wie erleichtert er doch war, dass nichts von dem was er gesagt hatte eingetroffen war und entließ Kai aus seinem Griff. Der Junge tat einpaar Schritte von ihm weg, als fürchtete er einen weiteren Zornausbruch. Die Art wie er einen Sicherheitsabstand zwischen ihnen aufbaute kränkte Ray. Die Wangen des Kindes leuchteten auf dem blassen Gesicht, vor allem die Stelle, welche die Ohrfeige zu spüren bekommen hatte. Das war wirklich nicht der Kai den sie kannten. Der Anblick löste tiefe Betroffenheit in Ray aus. Er legte seine Hand versöhnlich auf den Haarschopf des Kindes und meinte nur: „Tut mir Leid wegen der Ohrfeige. Ich bin einfach nur froh, das dir nichts passiert ist…“ Augenblicklich hörte Kai auf zu schluchzen. Er blinzelte zu ihm hinauf, als wäre er überrascht die Worte zu vernehmen. Und als Ray ihm ein reumütiges Lächeln schenkte, konnte er nicht anders, als es ihm gleichzutun. Schließlich senkte er schüchtern den Blick und nuschelte: „Mir tut es auch Leid. Ich mach es nie wieder…“ „Versprochen?“ Ein Nicken als Antwort. „Gut. Denn wenn du dich nicht dranhältst, versohl ich dir den Hintern so lange, bist du es gelernt hast! Ich schwöre dir, du wirst nie wieder eine Tanne sehen ohne in Panik zu geraten!“ Zuerst starrte Kai ihn verdattert an, doch als die Gruppe anfing zu prusten und sich über seinen panischen Ausdruck lustig machte, huschte auch über seine Lippen ein zauderndes Lächeln. Erneut knetete er seine Finger und blickte auf seine Hände. Schließlich beugte sich Max zu ihm hinab, wischte dem Kind eine verbliebene Träne weg und sagte freundlich: „Und jetzt weg mit dem traurigen Gesicht. Da kriegt man ja Gewissensbisse wenn man dich so sieht.“ An die Gruppe gewandt, fügte er noch hinzu: „Auf den Kleinen müssen wir ab jetzt besonders aufpassen.“ Er stupste dem Jungen spielerisch gegen die Nase, der den Kopf verlegen wegzog und ihn vorsichtig musterte. Max musste lachen und rief: „Schaut euch das mal an, der ist ja richtig schüchtern. Ausgerechnet unser Kai.“ Nun begann auch Ray das Kind genauer unter die Lupe zu nehmen. Die beiden Freunde stellten dem Jungen haufenweise Fragen, entdeckten vollkommen unerwartete Verhaltensmuster an ihm und schienen mit jeder Minute begeisterter von der Situation. Sie verglichen die Größe seiner Hände mit ihren, zählten auf, was im Gegensatz zu Kais erwachsenem Alter Ego anders war, wie er sich äußerlich verändert hatte und staunten über die großen Augen, die sie voller scheu anblinzelten. Die vollen Kinderbacken verführten die Jugendlichen mehrmals dazu, ihm in die Wangen zu kneifen, bis er hilfesuchend zu Tyson blickte, sichtlich überfordert von all der Zuneigung. Der beobachtete die Szene aber nur mit einem Lächeln, als wolle er den Jungen dazu ermutigen, aus sich herauszukommen. Die angeblich verdorbenen Leute, vor denen Kai gewarnt worden war, entpuppten sich als lachende Meute, die Witze riss, ihn neckte, sich um ihn sorgte und ihn geradezu mit Aufmerksamkeit überschüttete. Irgendwann schien Kai nicht mehr zu wissen, wo ihm der Kopf stand, denn als Max charmant meinte, dass er noch nie so ein niedliches Kind gesehen hätte, liefen Kais Wangen puterrot an und er stolperte zu Tyson, wo er sich hinter seinen Beinen versteckte und das Gesicht in dessen Jeans vergrub. „Wie jetzt?“ rief der aus. „Vorhin wolltest du vor mir wegrennen, jetzt klebst du förmlich an mir.“ Wieder schallte ein Lachen durch den Wald und die Jugendlichen versuchten Kai eine Reaktion abzugewinnen, doch das Kind versteckte sich vor ihren Blicken, wie ein Strauß der den Kopf in den Sand steckt. „Der Unterschied zu der Zeit nach der Abtei ist gewaltig.“, meinte Max erstaunt. Er legte den Kopf schief und grinste Kai verschmitzt an, als das Kind einen flüchtigen Blick auf ihn warf und sich kurz darauf wieder in Tysons Hose vergrub. Es war unübersehbar das Max diese Situation mehr als amüsant fand. Tysons selbst konnte es ihm nicht verübeln. Falls sie jemals aus der Irrlichterwelt herauskamen und Kai endlich wieder bei klarem Verstand war, würden sie ihm diesen Vorfall jahrelang unter die Nase reiben! Allerdings mussten sie dazu endlich von hier verschwinden… Sie begannen erneut zu beraten, wie es nun weitergehen sollte, dabei eröffneten sich ihnen zwei Optionen: Zum Einen konnten sie sich von Allegro zum Quellstrom führen lassen. Wenn der Quellstrom Strommäuse in die Menschenwelt führte, bestand vielleicht die Möglichkeit, dass er mit Yggdrassil verbunden, oder zumindest eine seiner Wurzeln dort entlanglief. Sie stellten sich das ganze wie ein Netzwerk vor, welches an derselben Stelle zusammenlief. Das alles war aber nur eine Vermutung, sie würden also ihre ganze verbliebene Zeit auf eine Karte setzen. Zudem beichtete ihnen Allegro, dass er noch nie in diesem Teil der Irrlichterwelt war, was das vorhaben also noch einmal erschwerte. Die andere Möglichkeit beinhaltete, dass sie ein Bit Beast fanden, dass ihnen bereitwillig half – ohne ihnen eine absurde Forderung an den Kopf zu werfen. Doch die Wahrheit war, dass die Gruppe seit ihrem Aufenthalt in der Irrlichterwelt, das Vertrauen in die Wesen aus ihrer Kindheit verloren hatte. Sie waren nicht mehr die liebenswerten Geschöpfe, die an ihrer Seite kämpften, sondern unheimliche Geister, die Kinderseelen fraßen, in Leichen schlüpften und ihre Spielchen mit ihnen trieben. Schließlich überwog ihr Misstrauen der Befürchtung, dass sie es nicht mehr rechtzeitig aus der Irrlichterwelt schaffen könnten und sie beschlossen, ihre Hoffnung auf den Quellstrom zu setzen. Zunächst einmal mussten sie dazu aber aus dem Talkessel finden. „Da müssen wir wohl oder übel die Felswand nach einem günstigen Aufstieg absuchen.“, meinte Ray und tastete mit den Augen bereits die Hügel um sie herum ab. Tyson seufzte innerlich. Das konnte ewig dauern. Das Tal schien eine beachtliche Größe zu besitzen, doch es ließ sich wohl nicht vermeiden. Also nahm er Kai an die Hand und die Gruppe begann an der Felswand entlang zu laufen. Er bemerkte nicht die belustigten Blicke die seine Freunde dabei austauschten, zumal dass doch ein recht ungewohnter Anblick war – ein geradezu vorbildlich verantwortungsbewusster Tyson, der einen unvorsichtigen kleinen Kai an der Hand hielt. Das sah man auch nicht alle Tage… * In einem anderen Teil des Dschungels, an dem kleinen Bach, an dessen feuchten Felsen Ray den Frauenmantel aufgesammelt hatte, tat sich inzwischen auch etwas… Eine massige, hochgewachsene Gestalt trat aus dem Dickicht hervor, ihre mit Fell überzogenen Stiefel, hinterließen tiefe Abdrücke auf dem lehmigen Boden. Die tiefgrüne Kriegertracht, verschmolz geradezu mit ihrer Umgebung, genauso wie die braungebrannte Haut des Mannes und trotz des warmen Klimas, trug er ein weißes Tigerfell über seinen Schultern, was ihn umso erhabener wirken ließ – allerdings auch tierische Züge verlieh. Er schritt auf das kleine Gefälle zu, über den das Wasser munter hinabplätscherte. Der Aufstieg war für ihn ein Kinderspiel, denn die Felsen, die Erde, die starken Bäume, gehorchten seinem Willen und formten wie von Zauberhand eine kleine Treppe, um ihn problemlos auf die Spitze des Gefälles zu geleiten – als würde selbst Mutter Natur den Zorn dieses Mannes fürchten. Oben angelangt glitten seine raubtierhaften Augen über ein Gestrüpp, das er vor nicht allzu langer Zeit selbst hier angepflanzt hatte, direkt neben den feuchten Felsen des Baches. Eine für Menschen unbekannte Pflanze – seine eigene, neueste Schöpfung. Ihre Wurzeln waren rötlich und gruben sich tief in das harte Gestein auf dem sie wuchs. In pulsierenden Intervallen zogen sich kleine Funken vom Innern der Wurzeln, zum Stiel hinauf, der länglich nach oben spross und umsäumt von kleinen, gelblichen, transparenten Kugeln war. Im Zentrum dieser seltsamen Früchte, schwamm jeweils ein kleiner schwarzer Punkt, der an einen winzigen Wurm erinnerte, wenn er ab und zu zuckte. Driger kniete sich vor der Pflanze nieder und streckte die Hand nach einer der Früchte aus. Doch in jenem Moment kam Regung in das Kraut und es machte einen Laut, wie eine Katze die zuschnappen wollte. „Beiß nicht die Hand die dich füttert!“, zischte Driger die Drohung. Sofort zuckte die Pflanze zusammen und beugte ihren Stiel nach vorne, wie ein Kind das sich schämte. „Schon besser…“ Er begann die Kugeln zu untersuchen, bis er auf eine traf, die sich von den anderen deutlich abzeichnete. Sie war durchtränkt mit Blut, um einiges größer und der kleine Wurm im Innern glich einem schwarzen Fötus. Der Anblick entlockte Driger ein Lächeln und er bereute keine Sekunde, die Pflanze hier gesät zu haben. Der kalte, steinerne Untergrund würde dieses Geschöpf genauso steinern machen, wie er es sich wünschte. Mit einem kräftigen Ruck, riss er die Frucht vom Stiel. Die Pflanze gab ein Jaulen von sich und begann zu zittern, als würde sie Schmerzen leiden. „Nicht doch, du bist doch schon groß und stark, nicht wahr mein Mädchen?“, sprach Driger auf sie ein und streichelte behutsam ihre Spitze. Die Pflanze schmiegte sich in seinen rauen Griff, lechzte nach seiner Zuneigung. „Ich weiß. Das hast du gut gemacht.“ Er griff mit der anderen Hand in seine Tracht hinein und zog eine zappelnde Strommaus aus seinem Kragen. „Hier. Eine Belohnung.“ Ein angstvolles Fiepen ertönte, als die Maus sich ihrer Lage bewusst wurde, sie begann umso mehr zu strampeln, doch Driger ließ sie an ihrem Schweif über der Pflanze baumeln, bis eine ihrer Früchte sich öffnete und eine Reihe spitzer kleiner Reißzähne entblößte. Die Pflanze schnappte nach oben und verschlang die Strommaus in einem Happen, trennte dabei ihren Schweif vom Rest des Körpers. Driger ließ ihn achtlos zu Boden fallen… Im Innern der Pflanze zappelte die Strommaus um ihr leben, bis sie sich in der gelblichen Flüssigkeit auflöste und nur noch ihre Knochen in der seltsamen Brühe umher schwammen. „Gutes Kind.“, sprach Driger, tätschelte die Pflanze ein letztes Mal, bevor er die Frucht in seiner Hand gegen die Sonne hob. Die Strahlen schienen das kleine Geschöpf in ihrem Innern lebendiger werden zu lassen, denn es öffnete träge die Lider und blinzelte ihn aus seinen großen Glubschaugen an. Driger grinste und entblößte seine scharfen Schneidezähne. Dann zerquetschte er die Frucht in seiner Faust und als er die Handfläche wieder öffnete, rührte sich der kleine Fötus darin wie ein Fisch auf dem Trockenen. Driger hob das Geschöpf näher an seinen Mund und flüsterte: „Such ihn.“ Dann schaufelte er mit seiner freien Hand eine kleine Kuhle, wo er den Fötus platzierte. Sofort begann das Geschöpf zu graben. Seine kleinen Gliedmaßen schaufelten sich immer tiefer ins Erdreich und das in einem atemberaubenden Tempo, bis es gänzlich von der Oberfläche verschwand. Driger erhob sich, ließ die Kuhle dabei nicht aus den Augen, dann entrang sich seiner Kehle ein Brummen. Er hob den Blick Richtung Himmel und sprach: „Ich wollte es nie soweit kommen lassen, Ray.“ * Eigentlich wollte ich dieses Kapitel nicht hochladen, weil ich in den letzten Monaten zu keinem einzigen weiteren Satz gekommen bin. Es ist echt ärgerlich, ich weiß wo die Geschichte hinführen soll, aber ich bekomme es auf Biegen und Brechen nicht hin, die Fäden ineinander überlaufen zu lassen. Das raubt einem jegliche Lust am Schreiben. Jedenfalls hoffe ich das dieses Kapitel jemandem gefallen hat und werde mich bemühen endlich den Schlussakt hinzubekommen. Lg Eris Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)