Post Team Plasma von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Schatten der Vergangenheit ------------------------------------- Touko schubste N unsanft in ihr Zimmer, wo er sich ganz verkrampft und unsicher umsah, wie ein wildes Pokémon, das zum ersten Mal eine Großstadt sah. Es war ein großes, helles Zimmer, ganz in weichen Beige- und Lilatönen gehalten. Ein blumiges Aroma lag in der Luft – Lilie? Lavendel? – und die Wand über Toukos Bett war so dicht mit Postern behangen, dass man die Tapete dahinter kaum noch sehen konnte. Die hoenner Rockgruppe 'Die Tohaidos' gesellte sich zu einem rührseligen pastellblauen Plakat mit Felilou-Babys, dem lebensgroßen Abbild eines blonden Schönlings in Designerklamotten, und unzähligen weiteren Postern. Ein typisches Mädchenzimmer. Touko schloss die Tür hinter sich; diesmal war ganz klar sie Herr der Lage. Sie packte N an den Schultern und stieß ihn rücklings auf das Bett (Wie leicht er ist!, dachte Touko), auf dem er mit einem lauten Ächzen des Gestells landete und liegen blieb wie erschlagen. „Du wehrst dich ja gar nicht“, schmollte Touko. „So macht das keinen Spaß.“ „Was hast du mit mir vor, Touko?“, krächzte N und starrte mit geweiteten Augen zu Touko auf, die vor dem Bett stand und auf ihn hinabblickte wie eine Katze auf eine Maus. Touko seufzte bedauernd. „Na gut, wenn du nicht spielen willst, dann komme ich eben gleich zur Sache.“ Und sie kletterte mit geschmeidigen Bewegungen, die ein seltsames trockenes Gefühl in seiner Kehle verursachten, zu ihm aufs Bett und ließ sich neben ihm nieder. Das Bett war eng; Touko musste nah an ihn heranrücken, so nah, dass sich ihre Oberschenkel leicht berührten. N schluckte hörbar. Touko wandte ihm das Gesicht zu und lächelte. „Bequem so?“, erkundigte sie sich unschuldig. Ns Kehle ließ nur ein undefinierbares Krächzen entweichen. „Also dann, erzähl mal, N“, flüsterte sie geheimnisvoll. „Was hast du in den letzten drei Jahren so erlebt?“ Ns Blick blieb beharrlich an die Decke gerichtet. „Auf die Frage habe ich dir schon eine Antwort gegeben.“ „Jetzt sei doch nicht so dickköpfig.“ Touko rollte sich zur Seite, sodass ihr Mund direkt an seinem Ohr lag. „Was du eine Antwort nennst, nenne ich ein Ausweichmanöver, wie es billiger nicht geht.“ Sie streckte die rechte Hand nach ihm aus und ließ sanft ihre Fingerspitzen über die Knöpfe seines Hemdes gleiten. „Du schuldest mir die Wahrheit“, hauchte sie, ihre Lippen nur Millimeter von seinem Ohr entfernt. N musste tief durchatmen, um sein wild schlagendes Herz zu beruhigen. Wie schaffte sie es nur, solche Reaktionen in ihm auszulösen? Damals, vor drei Jahren, war sie ja noch ein halbes Kind gewesen, doch jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Noch nie hatte ein Mensch es geschafft, ihn so sehr in seinen Bann zu ziehen wie das Mädchen, das neben ihm lag und ihm mühelos den Kopf verdrehte. Nie hatte er gedacht, dass einmal ein Mensch solch eine Faszination auf ihn ausüben würde, dass er, N, seinen Menschenhass überwinden würde. Im Haus war es still; weder Touko noch N machten eine Bewegung, und das hatte eine so beruhigende Wirkung auf ihn, dass er wieder zu Atem kam und anfangen konnte. „Es war keine besondere Reise“, meinte N und ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern, hierhin und dorthin, nur nicht zu Touko. „Ich war einfach überall, habe die ganze Welt bereist, aber nicht fürs Sightseeing oder sonst etwas, mit dem du oder jemand anders etwas anfangen könnte. Nein, ich war auf der Suche nach meiner Wahrheit.“ Er holte tief Luft, als fiele es ihm schwer, weiterzureden. „Du weißt nichts über meine Kindheit“, fuhr N fort. „Du weißt nicht, wie mich – Geechisu –“ Beim Klang seines Namens schienen Schmerzen seinen Körper wie Messer zu durchzucken, „– erzogen hat, dass ich zu dem wurde, was ich jetzt bin.“ „Doch, ich weiß es“, widersprach Touko ihm fest, „Anthea und Concordia haben es mir erzählt.“ Ns Gesichtszüge schienen einzufrieren. „Was haben sie dir erzählt?“ „Concordia sagte, Geechisu hätte dich von anderen Menschen ferngehalten und dir nur den Kontakt mit Pokémon erlaubt, die von Menschen missbraucht, gequält und verletzt worden sind. Und Anthea sagte, dass … dass du längst begriffen haben sollst, dass Trainer ihre Pokémon nur gegeneinander antreten lassen, um erfahrener zu werden, doch nie, um sie zu verletzen … Nur hat dich deine Vergangenheit so sehr geprägt, dass du dir das selbst nicht eingestehen wolltest.“ „Das stimmt“, sagte N leise. „Du weißt weit mehr über mich, als ich dachte. Schon mein erster Kampf gegen dich hat meine innere Überzeugung, dass die Menschen den Pokémon nur Böses wollen, bis ins Mark erschüttert. Dein Pokémon hatte mir tatsächlich erzählt, dass es dich mochte und dass es gerne für dich kämpfte, etwas, das ich mein ganzes bisheriges Leben lang für ausgeschlossen gehalten habe. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, nur von einer einzigen Gewissheit am Leben gehalten zu werden, tief überzeugt, dass sie dein Leben ausfüllen wird und dass du mit ihr eine edle und ehrenhafte Lebensaufgabe verfolgst, nur um nach und nach festzustellen, dass diese Gewissheit nur ein Irrtum war, ein Floh, der dir ins Ohr gesetzt worden war, bevor du überhaupt denken konntest, und dass dein Lebenssinn nur eine Illusion war, die die ganze Zeit über in dir gewohnt und dich ausgesaugt hat wie ein Parasit, ohne dass du es je gemerkt hast? Ich werde es dir sagen. Es ist, als würde plötzlich der Boden, der immer vorgegeben hatte, felsenfest zu sein, unter deinen Füßen wegbröckeln. Und bei jedem Kampf mit dir ist ein Stück mehr dieses Bodens eingestürzt, bis Geechisu ihn ganz weggerissen hat. Du befindest dich im freien Fall. Du weißt nicht, wofür du noch lebst. Du weißt, dass dein ganzes Leben eine Lüge war, geschickt von deinem … Vater in dein Gehirn eingepflanzt. Und ich fühlte mich befleckt, für immer gebranntmarkt, wertlos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte einfach nur weg.“ Darauf schwieg N mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er nie wieder den Mund öffnen. Noch nie hatte er so viel von sich ihr, Touko, gegenüber preisgegeben. „Du sagtest, du hättest nach der Wahrheit gesucht“, sagte sie sanft. „Hast du sie denn gefunden?“ „Die Wahrheit ist nichts, was endgültig und definitiv feststeht“, erklärte er ihr beinahe missbilligend. „Gewissermaßen gibt es für jeden seine eigene Wahrheit. So auch für mich. Noch nicht einmal ich weiß, ob ich einen Teil dieser Wahrheit nun für mich gefunden habe oder nicht, nur eines stand für mich am Ende meiner Reise fest: Ich wollte wieder nach Hause.“ „Zurück dorthin, wo du all diesen Schmerz erfahren hast?“, sagte Touko leise. „Genau dorthin“, bestätigte er. „Ich habe eingesehen, dass nur hier meine Heimat ist, dass ich, wenn überhaupt, dann nur hier glücklich werden kann, so widrig es auch klingt. Also habe ich mich hierhin zurückbegeben in dem Wissen, dass ich dieses Land und seine Bewohner jetzt mit ganz anderen Augen sehen würde, mit klarem, unverfälschtem Blick, der nur das erfasst, was wirklich und beweisbar ist, genau wie in der Mathematik, und dieser eine Gedanke hat mich darin bestärkt, dass ich das Richtige tue.“ „Du wirst hier also ein neues Leben anfangen.“ Touko drehte sich wieder auf den Rücken und blickte verträumt zur Decke. „Wo wohnst du eigentlich?“, fragte sie nach einer kurzen Pause. „Hier, in Avenitia.“ „Wieso das denn?“, kicherte Touko. „Hier ist doch tote Hose!“ „Genau das mag ich doch an Avenitia.“ Mit einem schiefen Lächeln drehte er den Kopf zu ihr. „Wenn du erst mal mit der Schule fertig bist, heißt es wohl nichts wie raus aus diesem öden Nest, was? Wohin soll’s denn gehen, nach Stratos, vielleicht?“ Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher. „Sag mal, hast du eigentlich schon einen Job gefunden?“, fragte Touko, um das Thema zu wechseln. N runzelte die Stirn. „Du willst mich wohl ganz genau durchleuchten, was?“ Touko schwieg. Er musste ja nicht unbedingt erfahren, dass sie die ganze vergangene Nacht lang wachgelegen, sich hin und hergewälzt und dabei ununterbrochen über ihn nachgedacht hatte. Als er keine Antwort bekam, räumte er ein: „Ja, glaub es oder glaub es nicht, ich arbeite als Pfleger im Pokémon-Center.“ „Das ist bestimmt ein schöner Job“, sagte Touko vorsichtig, „aber mit deinem Grips könntest du doch locker was besser Bezahltes machen, sagen wir, irgendwas im Bereich Mathe oder so …“ Touko verstummte, als sie Ns Gesichtsausdruck sah. „Du begreifst es wohl nicht, oder? Ihr Menschen immer mit eurem Geld … Mir geht es nicht um Reichtum. Ich suche nach einem neuen Lebenssinn, schon vergessen?“ „Ja, ’tschuldige, meine Fantasie ist mit mir durchgegangen.“ Dennoch, der Gedanke, dass N wieder nur mit verletzten Pokémon in Kontakt kam, bereitete ihr unweigerlich Kopfschmerzen. „Ach ja, da fällt mir ein – wo sind eigentlich deine Pokémon? Wollen wir vielleicht dein neues Leben mit einem Kämpfchen einweihen?“ N reagierte kaum. „Du weißt, dass ich nicht viel von Pokémonkämpfen halte.“ „Komm schon, früher hat es dir auch nicht viel ausgemacht.“ Nun gut, irgendwann wäre es ja ohnehin noch rauskommen. „Ich habe mit dem Kämpfen aufgehört.“ Toukos meerblaue Augen blickten ungläubig. „Du hast was?“ „Ich kämpfe nicht mehr mit meinen Pokémon. Schon seit unserem Kampf damals. Ich hab’s aufgegeben.“ Er klang kalt und entschlossen. Touko war fast nach weinen zumute. „Aber – aber –“, stotterte sie und wusste selbst nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Ohne Vorwarnung flog die Tür auf. „Touko, ich habe eine Überraschung für dich –“ Der stämmige Mann an der Tür verstummte schlagartig, als er N und Touko erblickte, und sein Lächeln wich einem Ausdruck des Entsetzens. Wie von Ganovilen gebissen sprangen beide ungelenk vom Bett und stellten sich nebeneinander auf, Touko mit trotzig verschränkten Armen, N mit einem schuldbewussten Mienenspiel. „Papa, ich hab dich gar nicht so früh hier erwartet“, sagte Touko und N bewunderte unverhohlen die Heiterkeit, die sie trotz der peinlichen Situation an den Tag legte. „Das sieht man wohl“, sagte Toukos Vater und machte einen bedrohlichen Schritt auf N zu. „Wer sind Sie und was wollen Sie von meiner Tochter?“ „Ach, du kennst ihn ja noch gar nicht! Das ist ein Freund von mir, N.“ „Sie meint Nori“, korrigierte N sie rasch und machte eine Verbeugung vor ihrem Vater. Der machte keine Anstalten, sie zu erwidern. „N“, wiederholte er und sah die beiden abwechselnd an. „So ist das also. Lügen tut er auch noch.“ Seine Miene nahm einen furchteinflößenden Ausdruck an, und N rechnete halb mit einer Faust im Gesicht; es war nicht einfach, sich den schützenden Reflex des Kopfeinziehens zu verkneifen. „Du bist doch dieser größenwahnsinnige Spinner, der seine albern verkleideten Helfershelfer überall das Hirngespinst verbreiten ließ, die Pokémon müssten freigelassen werden.“ Er ließ ein verachtungsvolles Schnauben hören. „Ich lasse nicht zu, dass meine Tochter sich mit solch einem Psychopathen abgibt. Verlassen Sie sofort dieses Haus.“ „Papa!“, rief Touko schockiert. „Wie kannst du nur so etwas sagen? Er ist kein Psychopath, er hat seine Meinung geändert, er –“ „Lass gut sein, Touko“, unterbrach er sie ruhig, den Blick auf die wutglimmenden Augen ihres Vaters fixiert. „Wenn Sie darauf bestehen, verlasse ich Ihr Haus. Aber Sie verfügen nicht über das Recht, zu bestimmen, wer mit Ihrer Tochter befreundet sein darf.“ „Ja ja, jetzt sehen Sie aber zu, dass Sie noch heute hier wegkommen!“ N nickte einmal steif, zwinkerte Touko zum Abschied zu und ließ sich von ihrem Vater aus dem Haus geleiten. Als die Tür hinter N zugeschlagen war, kam er mit einem Gesichtsausdruck zu ihr zurück, als hätte er sie bei einem Verbrechen erwischt. „Ich glaube, wir müssen mal ein ernstes Wort miteinander wechseln, junges Fräulein –“ „Ich darf N nie wieder sehen, oder?“, fragte Touko sachlich. Ihr Vater schien verblüfft. „Nun ja …“ „Also, wenn du es sagst, Papa“, meinte sie und sah ihn ein wenig geknickt an. „Du wirst schon das Richtige für mich entschieden haben. Ach ja, du sagtest doch eben, du hättest eine Überraschung für mich.“ „Ähm, ja, stimmt. Es gibt heute Fisch zum Abendessen.“ So ganz schien er die Situation noch nicht erfasst zu haben. Warum, um alles in der Welt, war sie auf einmal so gelassen?, schien er sich zu fragen. Touko lächelte. „Mmh, ich liebe Fisch.“ Damit hüpfte sie nach unten ins Wohnzimmer und wählte Bells Nummer. Es soll ja tatsächlich Leute geben, die sich an Verbote halten. „Bell Adachi“, meldete sich Bell nach einigen Sekunden. Touko gehörte eher zu den Leuten, die ein Verbot als Einladung zum Weitermachen sahen. „Hallo Bell, hier ist Touko. Hör mal, ich hab da eine Idee …“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)