Post Team Plasma von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Mangelware --------------------- Geschichte. Wenn es nach Touko und den anderen Zehntklässlern der Orion City-Oberschule ging, schrie dieses Fach geradezu nach Dokus. Und offenbar dachte ihr gegenwärtiger Geschichtslehrer, Abe-sensei, nicht anders als sie, denn heute spielte er ihnen mit einem verstaubten Fernseher von einer Firma, die schon vor Jahrzehnten dichtgemacht hatte, eine VHS-Kassette aus den Sechzigern vor. Der Play-Knopf wurde gedrückt, der Sprecher fing an zu leiern, und schon drehte jeder in der Klasse sein eigenes Ding. Die Mädchen in der ersten Reihen schwatzten über den üblichen Kram, die Jungs in den letzten Reihen reichten eine Tüte Chips von Hand zu Hand und unterhielten sich über das anstehende Baseballspiel gegen die Mannschaft der Stratos City-Oberschule, und Abes halbherzige Aufforderung, sie mögen sich doch am Besten Notizen zu dem Film machen, wurde einhellig ignoriert. Nun, fast einhellig. „Cheren, du wirst doch jetzt nicht ernsthaft mitschreiben, oder?“, brummte Kuro und folgte mit einem missmutigen Blick Cherens Hand, die gerade dabei war, wie von selbst feinsäuberliche Mitschriften anzufertigen. „Was spricht denn dagegen?“, fragte Cheren, ohne innezuhalten. „Na, zum Beispiel, dass Abe das nie und nimmer kontrollieren wird.“ „Ich tu das nicht für ihn, sondern für mich!“ Cheren klang ernsthaft empört. Kuro verdrehte die Augen. „Schon klar, Konfuzius, ich gebe auf.“ Er legte die Arme auf seinem Tisch übereinander und bettete den Kopf darauf. „So hab ich keinen zum Quatschen“, beschwerte er sich. „Tauschen wir doch die Plätze, dann kannst du mit Touko quatschen“, schlug ihm Cheren vor, den Blick wieder auf den Bildschirm geheftet. „Nee, danke“, erwiderte Kuro aufgebracht. „Die will ja über nichts anderes reden als diesen N!“ Cheren spähte kurz zu Touko herüber, die mit auf den Handflächen gestütztem Kinn neben ihm saß und den Fernseher mit glasigen Augen anstarrte. „Hat er in letzter Zeit mal wieder von sich hören lassen?“, fragte Cheren, um Interesse vorzuschützen. Touko blinzelte ein paar Mal, wandte den Blick vom Fernseher ab, und seufzte. „Nein. Ich habe ihm meine Handynummer überlassen“, sie dachte an den Zettel zurück, den sie bei ihm fallen gelassen hatte, „aber er hat nicht angerufen. Ich wollte ihn mal besuchen kommen, nur… irgendwie ist er immer weg, und ich traue mich nicht, allzu spät noch bei ihm zu klingeln.“ Es war, als hätte Cheren einen Stöpsel gezogen; war ihr Mund eben noch fest verschlossen gewesen, so brachen die Wörter nun wie ein Wasserfall aus ihm hervor. „… Sogar am Sonntag war er nicht da, ich hab vor seinem Haus gesessen und gewartet, stundenlang hab ich gewartet, da fällt mir ein, vielleicht war er auch im Wald bei seinen Pokémon oder er arbeitet auch sonntags –“ „Touko.“ Zum ersten Mal widmete Cheren ihr seine volle Aufmerksamkeit. „Ja?“ „Hör auf.“ „Aber wieso denn? Was hast du eigentlich gegen N?“ Touko hatte einen vorwurfsvolleren Tonfall angeschlagen, als Cheren es für angemessen hielt. „Er ist ein Spinner!“, meldete sich Kuro aus dem Hintergrund. „Er hat Recht, weißt du“, stimmte Cheren ihm unvermittelt zu. „Einmal Plasma, immer Plasma. Wir wissen nicht, ob er sich wirklich geändert hat oder vielleicht einen neuen Plan verfolgt und uns nur in Sicherheit wiegen will.“ Er wandte sich wieder seinen Notizen zu, als wäre er gar nicht gestört worden. Daran hatte Touko noch gar nicht gedacht: Dass er einfach nur log. Dass er sie anlog. Vielleicht, sagte eine ungebetene Stimme in ihrem Kopf, hat er Concordia direkt, nachdem du gegangen bist, gesagt, dass er doch ein neues Team Plasma bilden würde, dass er es vor den anderen nur nicht zugeben wollte … Touko verscheuchte den Gedanken. So gut konnte niemand lügen. Cheren hatte ihn nicht reden gehört. Er hatte eindeutig die Wahrheit gesagt. Ja. Welchen Grund gab es, daran zu zweifeln? Touko schloss die Augen und versuchte die Stimmen um sie herum auszublenden. Wie sollte sie nur Kontakt mit ihm aufnehmen, wenn er sich im Pokémoncenter nicht vor Besuchern zeigen durfte? Ging er ihr letzten Endes vielleicht sogar aus dem Weg? Hatte er doch etwas zu verbergen …? Auf einmal hatte sie das dringende Bedürfnis, alleine zu sein. Alleine zu sein und … sich zu bewegen. Diese Bewegungslosigkeit in der Schule war unerträglich – wie hatte sie es nur den ganzen Tag lang ausgehalten, ohne durchzudrehen? Laufen gehen, durch den Wald, allein, bis sie zusammenbrach. Musik hören, etwas von den Tohaidos vielleicht. World So Wrong. Dead End. Crooked. Blurring the fine line between truth and lie You know your trade like a thief knows his pry I confess this sounds like superstition But there is no doubt, it’s intuition I know if we stay this way forever There won’t be no frickin’ life together Touko gab sich ganz der Musik in ihrem Kopf hin, und als es endlich zum Unterrichtsschluss klingelte, war sie beinahe wieder gut gelaunt. Bell stand bereits auf dem Schulhof und winkte die drei zu sich heran. „Los, beeilt euch!“, feuerte sie ihre Freunde lauthals an, was ihr einige hochgezogene Brauen von den anderen Schülern einbrachte. „Ich will keine Sekunde von Liebesbriefe aus Ondula verpassen!“ Ach ja, Bells Lieblings-Seifenoper. Touko erinnerte sich vage, dass Bell einmal erwähnt hatte, Ende April würde die letzte Folge der laufenden Staffel ausgestrahlt. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief Bell entgegen, ließ den Wind über ihr Gesicht streichen und genoss das plötzliche Gefühl der Freiheit. Sie nahm Bells Hand und lief mit ihr weiter. „Los, wir rennen nach Hause!“, rief sie begeistert. „Ich bin aber nicht so schnell wie – Vorsicht, Auto!“ Hand in Hand wichen sie nach links aus, um einen schwarz glänzenden Auto vorbei zulassen. Er drehte eine Runde um den Schulhof, dass die Reifen quietschten und einige Schüler sicherheitshalber auf die anliegende Wiese auswichen, und machte wieder neben Bell und Touko Halt. Eine getönte Scheibe wurde heruntergelassen. „Soll ich euch mitnehmen?“ „Hallo! Was machen Sie denn hier, Handsome?“, fragte Touko überrascht. Obwohl sie längst seinen wahren Namen kannte, sprach sie ihn immer noch mit seinem alten Codenamen an: Handsome. Der Polizist deutete mit dem Daumen hinter sich. „Ausnahmsweise bin ich mal nicht im Dienst, da dachte ich mir, ich könnte doch Kuro abholen.“ Er zwinkerte ihnen zu. „Aber die Damen dürfen natürlich zuerst einsteigen.“ „Danke.“ Touko beschloss, sich nicht darüber aufzuregen, und setzte sich mit Bell auf die komfortable Rückbank. „Wow, hier sitzt man ja wie auf Wolken!“, sagte Bell und strich bewundernd über den gepolsterten Sitz. Akio Nakano grinste ihr über den Rückspiegel zu. „Europäische Autos haben einfach was, nicht wahr? Wenn man schon mal das nötige Kleingeld hat, dann kann man sich schon etwas gönnen, findet ihr nicht auch?“ Natürlich, dachte Touko und verkniff sich eine sarkastische Bemerkung. Es war kaum zu glauben, dass er gar nicht mit Kuro verwandt sein sollte, sie waren sich einfach zu ähnlich. Während seines Aufenthalts in Einall wegen der Fahndung nach den Sieben Weisen hatte Handsome Kuros geschiedene Mutter kennengelernt und sich in sie verliebt. Inzwischen war er zu ihr nach Avenitia gezogen und hatte eine Stelle als Polizist in Einall angetreten. Durch das Fenster beobachtete Touko, wie Kuro mit geschwellter Brust auf das Auto zumarschierte und die Beifahrertür öffnete. „Ahh, das nenne ich einen Service!“, sagte er und ließ sich auf den Sitz fallen. „Da braucht man keine Limousine, um sich wie ein VIP zu fühlen.“ In diesem Moment öffnete Cheren die Tür rechts von Touko und setzte sich neben sie. „Hallo, Herr Nakano“, sagte er steif. Anscheinend mochte er Handsome genauso wenig wie sie, dachte Touko. „Also, so langsam könntet ihr mich auch mal beim Vornamen nennen!“, entgegnete Handsome vorwurfsvoll. „Wir kennen uns doch inzwischen …“ Den Rest bekam Touko allerdings nicht mehr mit, denn mit einem Mal schoss ihr siedendheiß ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn Kuro Handsome von N erzählte? Bisher hatte er wohl dichtgehalten, aber sobald er genervt genug war, würde ihm vielleicht etwas herausrutschen … „Kuro?“, platzte sie heraus, ohne darauf zu achten, was er gerade gesagt hatte. Er verstummte und drehte sich zu ihr um. „Ja? Wo brennt’s denn?“ „Wollen wir uns heute treffen?“ Auf Kuros Gesicht breitete sich ein Ausdruck unerwarteten Glücks aus. „Es ist schon nach fünf … aber wenn du meinst, es lohnt sich noch, gerne!“ „Warum kommst du nicht zum Abendessen?“, meinte plötzlich Handsome mit einem väterlichen Unterton. „Ich lade dich ein.“ Touko biss sich auf die Lippe. Verdammt! Sie musste mit Kuro allein reden. Vielleicht, wenn sie schnell genug aßen, hatten sie noch Zeit, zusammen auf sein Zimmer zu gehen, bevor sie nach Hause musste „Danke, da sage ich nicht nein. Ich muss nur meine Eltern anrufen.“ Den Rest der Fahrt verbrachte sie damit, Kuro mit Belanglosigkeiten vollzutexten, damit er nicht auf ein ganz anderes Thema abdriftete. Glücklicherweise machte er sich nicht die Mühe – er genoss das Gespräch sichtlich. Touko war schon oft bei Kuro zu Besuch gewesen, seit sie sich vor drei Jahren in der Kampfmetro kennengelernt hatten, und ein paarmal hatte sie auch schon bei ihm gegessen, aber nie zusammen am Tisch mit Handsome. Er und Miru Taya, Kuros Mutter, schienen sich alle Mühe zu geben, die beiden nicht voneinander abzulenken, und aßen schweigend. Handsome dachte wohl, dass sie noch nicht mit ihrem Gespräch im Auto fertig waren, aber warum Kuros Mutter mitmachte, war ihr schleierhaft. Das Problem war nur, dass Touko inzwischen der Gesprächsstoff ausgegangen war. Egal, beim Abendessen würden sie ohnehin nicht über N reden. Anstatt ihre Zeit mit Palaver zu vergeuden, aß sie Frau Tayas Misosuppe so schnell, wie sie sich traute, ohne den Eindruck von Unhöflichkeit zu erwecken. Als sie schon beim Bodensatz angekommen war, brach plötzlich Handsome das Schweigen. „Mir fällt gerade ein, Kuro, ich hab’s dir ja noch gar nicht gezeigt. Ich habe heute ein neues Pokémon vom Chef bekommen. Willst du es mal sehen?“ Das war natürlich eine rhetorische Frage. Noch bevor Kuro sein „Ja!“ gegeben hatte, nestelte er an seinem Gürtel herum und zog einen Hyperball hervor. „Doch nicht beim Essen, Akio!“, meinte seine Verlobte vorwurfsvoll, aber Handsome tat so, als hätte er sie nicht gehört. „Arkani, raus mit dir!“ Ein stattliches Hundepokémon brach aus dem Ball hervor und erleuchtete das Zimmer mit seinem glühenden orangeroten Fell. Touko sah Kuros Augen erstrahlen. „Wow, so eins hab ich noch nie gesehen!“ „Tja, der Chef hat sie extra von den besten Trainern trainieren lassen, um uns mit ihnen auszurüsten. Die besten Polizeihunde, die es gibt, meint er!“ Kuro war sofort Feuer und Flamme. „Ich werde mir auch ein Arkani fangen. Das ist einfach zu cool …“ Touko verkniff sich ein Augenverdrehen. Natürlich wollte er auch so eins haben, er wollte alles haben, was sein Stiefvater auch hatte; für ihn war Handsome einfach das Idol schlechthin. Unnötig zu erwähnen, dass er seinen Traumberuf des Arenaleiters längst fallengelassen und kurzerhand entschieden hatte, es sei schon immer sein größter Traum gewesen, Polizist zu werden. Sie war schon fertig mit der Suppe, als sich Handsome und sein Fast-Stiefsohn über Fukanos auf der Route 7 unterhielten und das Arkani währenddessen wie ein zu groß geratener Dekorationsgegenstand in der kleinen Küche herumstand und unruhig sein Gewicht von einer Pfote auf die nächste verlagerte. „Wie wäre es“, schlug sie nach einer Weile vor, „wenn wir gleich losziehen, um ein Fukano zu fangen?“ Die perfekte Gelegenheit, um ohne Mithörer ein Wort an Kuro zu richten. Keine Minute später war es entschieden: Kuro und Touko würden zunächst zum örtlichen Pokémarkt gehen, um Pokébälle zu kaufen, und sich dann auf den Weg zur Route 10 machen. Touko bedankte sich bei Frau Taya für das Essen und verließ mit Kuro die Küche. Sie schloss die Tür hinter sich. Kuro sagte etwas von wegen, er müsse noch kurz ins Badezimmer, und Touko setzte sich auf den Treppenabsatz zum Obergeschoss, um sich die Schuhe anzuziehen. Unterdessen war zu hören, wie sich Handsome und Miru in der Küche unterhielten, und Touko gab sich alle Mühe, nicht mitzuhören – bis sie die Worte ‚N Harmonia’ hörte und erstarrte. Mit einem Gefühl, als wären ihre Eingeweide zu Eis gefroren, schlich sie zurück zur Küchentür und lauschte durch das Schlüsselloch. „… ‚Route 9, da hab ich ihn gesehen, das war so um viertel nach vier’, das hat er gesagt und sofort danach aufgelegt“, sagte Handsome gerade. „Hm“, machte Miru nachdenklich. „Glaubst du nicht, das war nur ein Scherz?“ „Ich gehe davon aus. Aber es ist trotzdem meine Pflicht, diesem Hinweis nachzugehen. Auch wenn ich das ehrlich gesagt für Zeitverschwendung halte.“ Es entstand eine kurze Pause, in der nur das Klappern von Stäbchen zu hören war, die auf einen Teller gelegt wurden. „Hast du auch vor, Kuro und seine Freunde zu fragen, ob sie etwas Verdächtiges bemerkt haben? Immerhin waren sie doch an dem Tag im Kaufhaus 9.“ Touko hielt den Atem an. „Tatsächlich.“ Handsome schwieg einen Moment. „Ja, ich denke, wenn Kuro wieder zurückkommt, werde ich ihn fragen.“ Mit zitternden Knien richtete sich Touko auf, ließ sich wieder auf die unterste Treppenstufe fallen und schlang die Arme um ihre Knie. Es war entschieden. Handsome würde Kuro nach N fragen. Kuro würde sein Idol nicht anlügen. Und wenn er erst einmal erwähnte, dass Touko Ns Wohnort kannte … Auf einmal ergriff eine lähmende Müdigkeit von ihr Besitz. Wie sollte sie N nur vor der Polizei warnen? Und wenn sie es tatsächlich schaffte, bevor es zu spät war – was konnte N auch unternehmen? Ist doch klar, meldete sich die boshafte Stimme wieder. Er wird wegziehen müssen. Touko zog sich den zweiten Schuh an und knotete die Schnürsenkel fester zu als nötig. Das hast du davon, N, dachte sie mit einem süffisanten Lächeln und setzte sein schockiertes Gesicht vor ihr inneres Auge. Das hast du nun davon, mir aus dem Weg zu gehen. Ich hätte dich gewarnt, du hättest fliehen können, aber nein, du hast mir ja keine Möglichkeit gegeben, und jetzt sitzt du hinter Gittern. Toukos Lächeln erlosch. Nein, das war es nicht, was sie wollte. Nicht Schadenfreude. Nicht dieses selbstgefällige Wenn-du-mich-nicht-hättest-Getue. Sie wollte nicht mehr das kleine Mädchen sein, das es wundersamerweise geschafft hatte, den Bösewicht Geechisu zu besiegen. Sie wollte für N eine ebenbürtige Partnerin sein. Ihm helfen, sein neues Leben in den Griff zu bekommen. Das war der Grund, warum sie sich Tag für Tag vor seine Haustür setzte und wartete, bis ihr alles wehtat, das und nichts anderes. Heute, wenn Kuro endlich sein verdammtes Fukano gefunden hatte, würde sie sich zu ihm begeben und auf ihn warten, wenn es sein musste, auch bis zum nächsten Morgen. „Auf zum Pokémarkt!!“, schallte plötzlich Kuros Stimme hinter ihr und ließ sie zusammenzucken. Kaum dass die Haustür hinter ihnen zugefallen war, konnte sich Touko nicht mehr halten. „Kuro?“ „Ja?“ Sie überlegte kurz, wie sie anfangen sollte. „Hast du Handsome irgendetwas über N erzählt?“ Kuro zog die Brauen hoch. „Hältst du mich wirklich für so ein Kameradenschwein?“ Touko starrte ihn an. „Ich dachte, du könntest ihn nicht ausstehen.“ „Ich meine ja auch nicht ihn“, sagte er, als wäre es offensichtlich. „Wenn ich ihn verraten würde, dann würdest du mir niemals verzeihen, hab ich Recht?“ Touko ignorierte seine Frage. „Wirst du ihn auch weiterhin geheim halten?“ „Ja.“ „Versprichst du es mir?“ „Worauf willst du hinaus?“ Touko erzählte ihm von dem anonymen Anruf, den Handsome erhalten hatte. Kuro kratzte sich am Kinn und sagte nichts. Sie wiederholte ihre Frage. „Versprichst du mir, N nicht zu verraten?“ Nur allzu deutlich sah man den Kampf, der sich in seinem Inneren abspielte: Natürlich wollte er es sich nicht mit Touko verscherzen – aber andererseits war es beinahe eine Folter, diese einmalige Gelegenheit verstreichen zu lassen, seinem Stiefvater zur Hand zu gehen und vielleicht sogar den entscheidenden Hinweis zu liefern, der N ins Gefängnis bringen würde. „Du weißt, wo N wohnt, nicht wahr?“ „Das war die falsche Antwort“, versetzte Touko bissig. „‚Ja, ich verspreche es dir, Touko’ ist alles, was ich dazu hören will.“ Kuro seufzte schwer und verbittert. „Okay, ich tue es, aber du sollst wissen, dass ich es nicht gerne tue und dass unter bestimmten Umständen das ganze Versprechen nichtig wird.“ „Ach ja?“ „Wenn N wieder anfängt, hier oder sonst irgendwo Scheiße zu bauen, dann werde ich meinem Vater sofort alles sagen, was ich weiß, inklusive der Tatsache, dass du seinen Wohnort kennst. Verstanden?“ Touko nickte einmal. „So spricht ein wahrer Polizistensohn.“ Kuro versenkte die Hände in den Hosentaschen und blickte missmutig vor sich hin. Zeit, ihn auf andere Gedanken zu bringen, bevor sich das schlechte Gewissen meldet. „Wann werden deine Eltern noch mal heiraten? Ich hab’s ganz vergessen.“ „Am 5. Mai, wir werden bald die Einladungen verschicken.“ „Ach ja, zur Kirschblüte. Das wird bestimmt schön. Sind wir auch eingeladen?“ „Ja, natürlich.“ Einen Moment lang sah es so aus, als läge ihm noch etwas anderes auf der Zunge, dann schien er es jedoch wieder zu verwerfen. Touko ließ den Blick über die Bäume in den umliegenden Gärten schweifen; noch sah man überall nur winzige grüne Knospen aufkeimen. „Wenn ich einmal heirate, dann auch während der Kirschblütezeit.“ Kuros Blick hellte sich auf. „Ja, das ist einfach die beste Zeit im Jahr.“ Jetzt schien er auch Mut für das gefasst zu haben, was er gerade hatte sagen wollen: „Touko… gehen wir dieses Jahr zusammen zum Kirschblütenfest?“ „Natürlich.“ Sie machte eine Pause. „Du, ich, Cheren und Bell, so wie immer.“ „Ähm… ja. Genau.“ Wieder breitete sich dieser unzufriedene Ausdruck auf seinem Gesicht aus. Touko dachte an N. Würden es ihr die anderen wohl sehr übel nehmen, wenn sie ihn auch zu ihnen einlud? „Das gibt es doch nicht.“ Kuro schüttelte den Kopf und konnte gar nicht mehr damit aufhören. „Das kann echt nicht wahr sein. Warum immer ich?“ Touko stellte sich breitbeinig vor das Pokéballregal, um einen festen Stand zu haben, und wähnte sich beinahe in einem bösen Traum: Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie es leer. Komplett ausgeräumt, bis auf die letzte staubige Ecke, wie eine Kraterlandschaft aus Plastik. „Okay, wir können ja immer noch in Panaero City nachschauen …“ „Ja sicher! Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort noch welche haben?“ Kuro drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Laden im Laufschritt. Touko indes fand einen Angestellten, der gerade einen Karton voller Tränke zum Kühlregal hievte, und fragte ihn nach den Pokébällen. Der zuckte nur die Schultern. „Keine Ahnung, wann die nächste Lieferung ankommen soll. Anscheinend hat das Massensterben der Aprikokos mehr Schaden angerichtet, als die in den Medien zugeben wollten. Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Versuch’s doch mal mit dem Secondhandshop in Gavina, da sollen zurzeit welche zum Verkauf stehen. Nur leider sollen die unglaublich teuer sein …“ Touko bedankte sich und verließ den Laden. Vor der Tür stand Kuro und wartete auf sie. „Ich geh jetzt nach Hause“, sagte er sogleich mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Alternativvorschlag erlaubte. „Na schön, dann gehen wir eben morgen zu diesem Secondhandshop in Gavina.“ Kuro nickte, ohne verstanden zu haben, was sie meinte. Bevor sie sich trennten, sagte er noch: „Ich weiß, du wirst das nicht gerne hören, aber... das sieht ganz nach einer Aktion aus, wie sie N gefallen würde.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)