Klassisch von papierkorb (KaiHiromi, ReiMao) ================================================================================ Kapitel 1: Auf Teufel komm raus ------------------------------- Der Abend war nahezu friedlich. Es wurde gerade erst richtig warm in diesem Jahr, und zum ersten Mal kühlte die Erde nicht sofort aus, sobald es dunkel wurde. Takao und Daichi sahen sich irgendeine Quizshow im Fernsehen an, man hörte sie ab und zu lachen, und Kjouyju war von seiner Mutter schon nach Hause beordert worden. Die anderen Jungs saßen mit mir auf der Veranda, schweigend, aber sie genossen sicher auch das Gefühl des warmen Holzes unter sich. Reis Handy hatte vorhin gesummt, und dann war das nervöse Klackern der Tasten erklungen, als er schnell eine SMS schrieb, doch seitdem war es ruhig gewesen. Selbst das leise Atemgeräusch, das Kai manchmal machte, wenn er Zigarettenrauch in die Nacht blies, hörte man nicht. Den ganzen Tag lang lag mir schon etwas auf der Zunge, das herauswollte, aber ich wartete noch immer vergeblich auf den geeigneten Zeitpunkt. Man könnte sagen, ich war bereit, einen Pakt zu schließen und wusste nur noch nicht, mit wem. Max brummte ungeduldig. „Sind sie dort etwa immer noch bei dieser James-Bond-Frage?“, murmelte er. Wahrscheinlich hatte er mit halbem Ohr der Quizshow gelauscht. Seine Bemerkung riss Rei aus den Gedanken; dessen Blick klärte sich mit einem Mal wieder, und er setzte sich etwas gerader hin. Er setzte schon an, etwas zu erwidern, doch ich kam ihm zuvor: „Ich möchte einen Freund“, sagte ich. Rei und Max sahen mich verwundert an, doch Kai drückte nach einem kurzen Seitenblick seine Kippe in dem Aschenbecher aus, den er Takao eigens vermacht hatte, und meinte: „Geh auf die Straße und nehm dir einen.“ Ich verdrehte die Augen. „So meinte ich das nicht. Ich will etwas absolut Ernstes –so mit Liebe und so“, fügte ich grinsend hinzu, erntete aber nur erneut eine gehobene Augenbraue. „Du bist aber schon zwanzig, oder?“, fragte Kai. Ich wandte mich demonstrativ ab. Es gab Momente, in denen Kais seltene, bissige Kommentare eine sinnlose Diskussion wunderbar verkürzen konnten, aber wenn man sich ernsthaft mit ihm unterhalten wollte, sollte man nicht das Thema Beziehungen wählen. Ich war überzeugt, dass Kai tief in seinem Innern auch eine Romantikecke versteckt hielt, und sei es nur eine Pritsche mit roter Bettwäsche und einem Teelicht auf dem Nachtschrank. Aber wahrscheinlich hatte nicht mal er selbst die geringste Ahnung davon, dass sie existierte. „Was sagt ihr, Jungs?“, fragte ich deswegen Rei und Max, die jedoch fast synchron die Schultern hoben. „Naja, was soll ich schon sagen, Hiromi?“, meinte Rei, „Ich glaube nicht, dass es sich heutzutage loht, an die eine, wahre Liebe zu glauben.“ „Na, so meinte ich das gar nicht! Nur…mal wieder verliebt sein wäre schön. Ich meine, ich fühle mich so abgestumpft. Nach der ersten Jugendliebe ist man völlig desillusioniert, schwört sich, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen und sieht eine Beziehung nur noch als zeitweiliges Zusammensein mit einer anderen Person an, bis man vielleicht irgendwann jemanden gefunden hat, den man länger ertragen kann und ihn heiratet.“ „Erfasst“, sagte Kai, doch ich machte nur eine abwinkende Handbewegung in seine Richtung, weil es offensichtlich war, dass er das nur sagte, um mich noch mehr zu triezen. Genauso gut hätte er sagen können „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“, das hatte bei ihm in etwa die gleiche Bedeutung. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, meinte Rei da. Man sah ihm an, dass er sich redlich bemühte, meine Worte nachvollziehen zu können, jedoch scheiterte er kläglich. Dabei verstand Rei die Frauen oft sogar besser, als ich. „Da gibt es nicht groß was zu verstehen“, sagte ich, „Ich will den ganzen Scheiß noch mal. Mich in jemanden verknallen. Mit ihm flirten und zusammenkommen. Die Zeit des Verliebtseins. Und das Gefühl, dass er der absolut eine für mich ist.“ „…die Erkenntnis, dass er dich betrügt, die Qual der Trennung, Tränen, Schmerz, Wut, Selbstmittleid, schon klar.“ „Halt die Klappe, Kai.“ „Okay.“ Er hob die Hände. „Geh raus, verknall dich und mach alle Fehler der Pubertät noch mal. Aber wenn du dann irgendwann mit den Überresten deines Herzens vor der Tür stehst, wirst du von mir nichts weiter hören, als: ich habs dir doch gesagt.“ „Schon klar. Rede bloß nicht so viel, Hiwatari, sonst wirst du heiser“, entgegnete ich. „Außerdem, wer sagt denn, dass ich ausgerechnet zu dir komme, wenn einer mit mir Schluss macht?!“ Der Blick, den ich daraufhin kassierte, erinnerte mich daran, dass ich nach den letzten Trennungen mein Herz jedes Mal in Takaos Küche ausgeschüttet hatte –in Anwesenheit aller. „Jaja, schon klar“, murmelte ich. „Wie bist du denn überhaupt auf diese Idee gekommen?“, fragte Rei nun betont sanft. Dafür liebte ich ihn; er glich Kai in diesem Punkt perfekt aus; diskutierte man mit beiden über irgendetwas, war es wie mit den kleinen Engelchen und Teufelchen, die den Figuren in manchen Trickfilmen auf den Schultern sitzen. Dazu kamen dann noch Takao, der durch seine oft einfachen Fragen alle wieder auf den Boden der Tatsachen brachte, und Max, der immer zur Stelle war, wenn sich ein Streit anbahnte. Nur Daichi konnte meistens nicht mithalten; in solchen Momenten wurden die vier Jahre, die uns trennten, wieder bemerkbar. Jetzt beneidete ich Daichi um seine Jugend. Er durfte sich ungestraft in Liebe stürzen, und alle würden sagen, der arme Junge, er hat es nicht besser gewusst. „Jetzt tu mal nicht so doof, Rei“, fuhr ich ihn trotzdem an, „Ich hatte seit zwei Jahren keinen allzu innigen Kontakt zu Männern mehr, weißt du, was das bedeutet?“ „Geht’s also doch nur ums Ficken. Weißt du, das können wir dir auch besorgen, kein Thema“, mischte sich Kai nun wieder ein. „Schatzi, ich weiß, dass du eine geile Sau bist“, entgegnete ich mit unüberhörbar genervtem Unterton, „Aber ich steh halt nicht so drauf, wenn einer nach dem Sex in den Spiegel guckt, „Man, war ich gut!“ sagt und geht.“ „Eins zu null für Hiromi“, kommentierte Rei. „Halt dich da raus, Rei“, sagte Kai, „ich wollte sie grad klar machen. Sie hat Schatzi zu mir gesagt, da läuft heut noch was!“ Es war nicht gerade befriedigend, mitansehen zu müssen, wie das Gespräch, dass ich für so wichtig erachtet hatte, vor meinen Augen den Bach runterging, aber ich ließ mich trotzdem zu einem kurzen Lachen hinreißen. Sie waren Männer; wahrscheinlich hatten sie einfach kein Talent für solche Themen. Selbst Max, der die ganze Zeit von einem zum anderen gesehen hatte, taute jetzt wieder auf, setzte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schultern. „Ach, so schwer kann das nicht sein. Wir finden schon einen Kerl für dich, Hiromi!“ „Genau, wir fangen morgen auf dem Konzert damit an“, sagte Rei, und: „Ja, da finden wir bestimmt einen tollen Metaler für dich“, fügte Kai monoton hinzu. Es war nicht zu erkennen, wie ernst es ihm damit war. Wir waren für den nächsten Abend von Garland eingeladen worden, der in einem einschlägigen Schuppen arbeitete und uns regelmäßig Karten für kleinere, gitarrenlastige Konzerte besorgte. Diese Konzerte waren zu einem etwa monatlichen Highlight unserer Clique geworden. An diesen Abenden wurden aus meinen Jungs grobmotorische, pöbelnde, testosteronstrotzende Männer. Dann warfen sie sich in Bandshirts und mehr oder minder enge, schwarze Jeans, verzichteten auf jegliches Haarstyling und soffen literweise billiges Dosenbier. Max stürzte sich regelmäßig in diverse Circles und Moshpits, von denen er aber nach ein paar Minuten die Schnauze voll hatte und dann jedes Mal von Kai und Rei gerettet werden musste, die als einzige von uns groß und breit genug waren, um ihn herauszuziehen und selbst nichts abzubekommen. Ich liebte es, wenn sie betrunken waren. Takao konnte dann nicht still sitzen, und man brauchte eine Leine, wollte man ihn nicht aus den Augen verlieren. Wir verzichteten meistens darauf und hofften einfach, dass er am Ende der Veranstaltung irgendwie wieder zu uns finden würde. Max übte sich, wie schon gesagt, in vielerlei Tanzstilen. Rei wurde ganz philosophisch; wenn man sein Lallen verstand, konnte er einem die Weltformel herleiten und Kant zitieren. Kai schließlich offenbarte seinen stupiden Humor, indem er über Witze lachte, wie: Kommt ein Cowboy vom Friseur –Pony weg! Seitdem er einmal mehrere Minuten über diesen Witz gelacht hatte, war mir seine sonstige Humorlosigkeit etwas verständlicher geworden. Was mich anging, so sah ich mir gern die Gothic-Frauen an, die wahrscheinlich jedes Mal zwei Stunden lang vor dem Spiegel zubrachten, ehe sie einen Schritt nach draußen und in Richtung Konzert machten. Für mich waren sie alle gleichermaßen von fremder, dunkler Schönheit. Ellenlanges Haar, Katzenaugen, rote Lippen, Spitze, Lack und Leder, gefährlich hohe, gefährlich designte Highheels. Ich kannte mich kein Stück in der Szene aus, aber ich beneidete diese Frauen um ihre Ausstrahlung. Sie waren wie Schwarze Witwen; wenn ihre Männer ausgedient hatten, fraßen sie sie einfach auf. „Du bist viel zu süß“, hatte Max gesagt, als ich in seiner Gegenwart einmal davon gesprochen hatte, mir auch ein Korsett kaufen zu wollen. Kai hatte damals den Vogel abgeschossen mit den Worten: „Das würde dir dein Bisschen Oberweite auch noch wegquetschen.“ Ich war eine geschlagene Woche stinksauer auf ihn gewesen und hatte mich demonstrativ die meiste Zeit mit Rei und Takao abgegeben. Dabei waren meine Jungs, was Frauen anging, wirklich pflegeleicht. Will heißen, sie schleppten nicht andauernd irgendwelche Mädchen an. Zumindest nicht in meiner Gegenwart; was sie bei sich zu Hause machten, war mir egal. Rei hatte bestimmt keine Zweitfrauen; er führte seit Jahren eine Halbbeziehung mit Mao –sie waren schon öfter zusammen und wieder getrennt gewesen, als ich zählen konnte. Max flirtete gerne, besonders, wenn er getrunken hatte. Ich erinnerte mich immer gern an ein Erlebnis zurück, an dem er tatsächlich versucht hatte, bei einer der schwarzen Schönheiten zu landen und eiskalt ausgelacht worden war. Takao hat sich als Max‘ gelehriger Schüler erwiesen. Er kam bei Mädchen an, die früher auch auf Klassenclowns gestanden hatten. Kai…nun, Kai bekam die Mädchen einfach. Es war, als müsste er sie nur zwei, drei Mal länger ansehen, und sie kamen zu ihm, als hätte er ihnen eine telepathische Nachricht gesandt. Allerdings ließ er sie auch oft genug gleich wieder abblitzen. Wahrscheinlich probierte er nur ab und an aus, ob seine Telepathie noch funktionierte. Neben mir kam Bewegung auf. Rei war aufgestanden. „Ich werd langsam nach Hause“, meinte er, woraufhin Kai sich auch aufsetzte. „Ich komm mit.“ Damit war unsere Runde für heute wohl aufgelöst. „Bringt ihr Jungs mich nach Hause?“, fragte ich und sah zu ihnen hoch. Natürlich würden sie. So machten wir es immer. Rei wohnte irgendwo auf dem halben Weg von Takao zu mir, aber Kai machte immer noch einen kleinen Schlenker und brachte mich vor die Tür. Als ich ihn einmal gefragt hatte, warum er das tat, hatte er geantwortet, es wäre nicht richtig, ein Mädchen allein im Dunkeln nach Hause gehen zu lassen. Seitdem fühlte es sich immer ein Bisschen so an, als hätte ich einen Bodyguard, wenn wir zusammen zu mir liefen. Wir verabschiedeten uns von den anderen; Max setzte sich zu Takao und Daichi auf die Couch und aß ihnen prompt die letzten Chipskrümel weg. Nachdem wir den Garten verlassen hatten, war von ihnen nichts mehr zu hören. In der Ferne brummte irgendwo der Verkehrslärm, aber das war ein Geräusch, das man nur allzu schnell ausblenden konnte. Als wir den Kanal erreichten, wehte ein kühler Wind vom Wasser mir die Haare aus dem Gesicht. Rei und Kai unterhielten sich über Reis Hausarbeit, die er in ein paar Wochen abgeben musste. Den Namen von Reis Studiengang konnte ich mir einfach nicht merken. Irgendetwas mit Kultur. Bei Kai war es einfacher, der machte Medizin, obwohl ich mich ernsthaft fragte, was er damit anfangen wollte. Ich hörte ihnen bloß zu, obwohl ich nicht viel von den gemurmelten Worten verstand, aber zwei tiefe, männliche Stimmen von der Seite geben einem Mädchen das Gefühl, absolut sicher zu sein. Einige Minuten später erreichten wir das klobige Backsteingebäude, in dem Rei wohnte. Es war grau und schlicht, und die Wohnung das Geld nicht wert, das Rei für sie zahlte, aber es war ein Dach über dem Kopf und ein Ort, an den er sich zur Not zurückziehen konnte. Auf mehr durfte man als Student hier auch nicht hoffen. Als wir um die Ecke kamen und den Eingang sehen konnten, bemerkte ich einen zusammengekauerten Schatten im Türrahmen. In diesem Moment blieb Rei stehen. Ich hörte seine Schuhsohle über den Asphalt schleifen und wandte mich um. Auch Kai sah ihn verwirrt an, bevor sein Blick langsam zum Haus wanderte, wo der Schatten sich erhoben hatte und mit kleinen, schüchternen Schritten auf uns zukam. Es war Mao. Sie begrüßte uns mit offensichtlicher Verlegenheit. Ich sah über ihre Schulter hinweg einen riesigen Koffer vor der Tür stehen und konnte aus Kais gehobener Augenbraue schließen, dass auch er erkannt hatte, worum es hier ging. Noch bevor Rei und Mao die ersten Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten, räusperte er sich. „Wir gehen dann weiter, Rei.“ „Äh, jaja, geht nur“, stammelte er hilflos, doch damit würde er allein klarkommen müssen. „Gute Nacht!“, sagte ich noch, bevor ich Kai hinterherlief. Kaum hatte ich ihn erreicht und waren wir aus dem Blickfeld der beiden getreten, machte ich mir Luft. „Ach du meine Güte!“, seufzte ich, „Was war das denn bitte? Wie in einem dieser Liebesfilme!“ „Ein schlechter Liebesfilm, wenn du mich fragst“, murmelte Kai und kramte aus seiner Hosentasche eine Zigarettenschachtel hervor. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er auch nicht recht wusste, was er von der Sache eben halten sollte. „Sieht ganz so aus, als müsste Rei jetzt etwas Platz in seiner Bude schaffen“, meinte ich. Kai verdrehte bekräftigend die Augen. „Warum fängst du eigentlich nicht an zu Kichern, Hiromi?“, fragte er, „Das ist doch genau so eine Szene, wo ihr Frauen immer anfangt zu seufzen.“ „Frag mich morgen nochmal. Heute bin ich viel zu überrumpelt. Und hör auf, auf mir herumzuhacken.“ In den nächsten Minuten herrschte Waffenstillstand. Ein Schlagabtausch mit Kai machte schon Spaß, war aber oft auch einfach nur anstrengend. „Also…hältst du mich wirklich für dumm, weil ich das heute Abend gesagt habe?“, fragte ich dann. „Ich halte dich nicht für dumm. Aber was du gesagt hast, halte ich für ausgemachten Schwachsinn“, antwortete er. Ich verzog den Mund zu einem unverbindlichen Schmollen. „Du bist so unromantisch.“ „Gebranntes Kind“, entgegnete er. Ich verkniff mir, ihn nach dieser Bemerkung weiter auszufragen. Natürlich war ich neugierig; ich konnte mir beim besten Willen kein Mädchen vorstellen, das es ernsthaft schaffte, Kai die Finger zu versengen, sodass er den Glauben an eine große Liebe –sollte er ihn je gehabt haben– schon längst aufgegeben hatte. Wobei das Gleiche jedoch auch für Max und Takao galt. Rei war der einzige der Jungs, den ich mir ernsthaft mit einem Mädchen vorstellen konnte, und damit meinte ich nicht nur Mao. Was war nur passiert, dass Mao so plötzlich vor Reis Tür gestanden hatte? Hatte sie ihn so sehr vermisst? Gab es Ärger bei ihr zu Hause in China? Der riesige Koffer, den sie mitgebracht hatte, sprach Bände. Vielleicht war es, wie in einem Anime, sie hatten sich als Kinder das Versprechen gegeben, dann und dann zusammenzuziehen, und jetzt war der Tag gekommen, und Rei hatte es einfach über die Jahre vergessen, im Gegensatz zu Mao. So sind Männer nun mal. Wobei, sollte Rei Mao tatsächlich so ein Versprechen gegeben haben, musste er schrecklich verliebt in sie gewesen sein. „Na, ich bin ja mal gespannt, wie lange das gut geht“, sagte Kai neben mir und riss mich aus den Gedanken. „…hm?“ „Ich frage mich, wie lange Rei das aushalten wird“, erklärte er. „Ich könnte mir vorstellen, dass er sich ziemlich schnell in die Enge getrieben fühlt.“ „Woher willst du das wissen?“, fragte ich. Automatisch fühlte ich mich mit Mao solidarisiert, die doch immerhin die Strapazen der langen Reise auf sich genommen hatte, um bei ihrem Liebsten zu sein. Kai verdrehte die Augen zum Himmel. „Echt, Hiromi, jetzt ist mir klar, warum du auf die bekloppte Idee gekommen bist, ausgerechnet jetzt die große Liebe zu finden“, sagte er. „Du hast überhaupt keine Ahnung von Männern.“ „Was soll das heißen?“, fuhr ich ihn an, was ihn natürlich nicht im Mindesten beeindruckte. Er nahm die Kippe aus dem Mund und sah mich an. „Hör mal, Rei ist einundzwanzig und so gesehen ein freier Mann. Er war immer froh, mit Mao zusammen zu sein. Er konnte sie sehen, aber sie war auch immer wieder weg und hat ihm nicht ständig an den Hacken geklebt. Entfernung kann eine Beziehung auch verlängern, weißt du.“ Er machte eine kleine Pause und runzelte die Stirn. „Oder dazu führen, dass man es immer wieder versucht, weil man vor lauter Vermissen nie weiß, wie eine richtige Trennung ist. Wie man‘s nimmt. Jedenfalls war es gut so. Und jetzt ist sie plötzlich hier, und er wird befürchten dass er sie jetzt heiraten, ihr ein Haus kaufen und Kinder zeugen muss.“ „Aber das stimmt doch gar nicht!“, rief ich. „Aber mal ehrlich, das wollt ihr Frauen doch von dem Mann, den ihr liebt.“ Ich stutzte. Ja, so gesehen hatte er wohl Recht. Wenn ich meine vagen Vorstellungen von großer Liebe weiterspann, kamen unweigerlich ein gemeinsames, kleines Häuschen und eine Schar Kinder dabei heraus. Waren wir Frauen wirklich so durchschaubar? „Siehst du“, sagte Kai, der meine Gedanken wohl erahnt hatte. „Jedenfalls wird Rei sich unter Druck gesetzt fühlen, und dann wird er ganz schnell aus dieser Misere rauswollen.“ Ich erschrak. Für mich waren Rei und Mao das perfekte Paar gewesen. Sie hatten sich doch immer ellenlange Mails und tausende SMS geschrieben und waren, wenn sie sich gegenseitig besucht hatten, nie aus ihren Zimmern heraus gekommen. War Mao hier gewesen, hatte man Rei tagelang nicht zu Gesicht bekommen. Ich war mir immer sicher gewesen, dass ich eines Tages Maos Brautjungfer sein, einen Kuchen zum Einzug backen und auf ihr Kind aufpassen würde, wenn sie mit Rei ins Kino wollte. „Aber es muss ja nicht so kommen“, argumentierte ich hilflos. Kai hatte wohl den weinerlichen Ton in meiner Stimme, für den ich mich sofort verfluchte, gehört, also lenkte er ein: „Nein…wenn Rei die Eier hat, wird er es aushalten, bis die Zweifel wieder weg sind. Aber ich werde ihm da nicht reinreden. Ach, komm, Hiromi!“ Er wuschelte mir durch die Haare. „Ich kanns nicht sehen, wenn Mädchen wegen mir anfangen zu flennen.“ „Ich flenn doch gar nicht…“, murmelte ich. Was er gesagt hatte, machte mich furchtbar traurig. Ich konnte es nicht mitansehen, wie eine harmonische Beziehung den Bach hinunter ging. Jedoch, wenn es kam, wie Kai prophezeit hatte, würde ich wohl auch keinen Finger rühren, um die beiden beieinander zu halten. Man sollte sich da nicht einmischen. Aber schade war es schon. Ich streckte den Arm aus und hakte mich bei Kai unter. Er sagte nichts dazu. Das mochte ich an ihm, er war zwar alles andere, als sanft oder gar zärtlich, aber in ihm steckte unübersehbar der Instinkt, Frauen beschützen zu müssen, wenn es nötig war. Deswegen machte er jedes Mal einen Umweg, um mich nach Hause zu bringen. Deswegen ließ er es zu, dass ich mich an seinen Arm klammerte, wenn mich etwas so deprimierte, dass ich nicht auf den Weg achten konnte. Immer, wenn ich mir in Takaos Küche die Augen ausgeheult hatte, war er am nächsten Tag mit einer Tüte gekommen, in der Zigaretten, ein paar Dosen Bier und eine Tafel Schokolade steckten, als wäre es einfach mal wieder an der Zeit, sich etwas zu gönnen, wenn wir zusammen saßen. Er machte das so selbstverständlich, dass einem gar nicht auffiel, wie ungewöhnlich das für ihn war. Ich fragte mich, ob er auch etwas für Rei tun würde, wenn der uns irgendwann eröffnete, dass er mit Mao Schluss gemacht hatte. Wir erreichten die Straße, in der ich mit meinen Eltern wohnte. Langsam wurde ich zu alt, um die Beine noch unter dem Tisch meines Vaters zu haben, aber so war es am einfachsten. Wohnungen waren teuer. Und schließlich wohnte Max auch noch zu Hause, ich war also nicht die einzige. Meine Mutter hatte schon oft gefragt, warum ich den jungen Mann, der immer so nett war, mich nach Hause zu bringen, nie mit herein bat. Aber es war selbstverständlich, dass Kai nur bis zur Tür mitkam. „Danke“, nuschelte ich und ließ ihn los. Doch anstatt wie sonst nur kurz zu nicken, sah er mich ernst an. „Hör auf, Trübsal zu blasen“, sagte er streng. „Es ist nicht deine Beziehung. Sorg lieber morgen dafür, dass du endlich eine anfängst. Scheinst es nötig zu haben.“ Für die letzte Bemerkung knuffe ich ihn, eine Bewegung, die in eine kurze Umarmung zum Abschied überging. Kai roch nach Rauch und Pfefferminze, typischer Rauchergeruch. Beruhigend, doch ausblenden konnte ich die Gedanken, die ich mir um Rei und Mao machte, nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)