Klassisch von papierkorb (KaiHiromi, ReiMao) ================================================================================ Kapitel 13: Ein Schritt ----------------------- Da waren wir also. Kai und ich. An diesem Tisch. Yuriy war wieder verschwunden, er sorgte dafür, dass wir in nächster Zeit nicht von den anderen gestört werden würden. Es hatte mir im wahrsten Sinne die Sprache verschlagen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, in diesem seltsamen Moment, wo ich ein- für allemal klären musste, wie es mit uns weitergehen würde. Das hieß, wenn da überhaupt was gehen könnte. Kai schien sich jedoch nicht anders zu fühlen, denn er sagte ebenfalls kein Wort, und zum ersten Mal glaubte ich zu erkennen, dass ihm dies Unbehagen bereitete. „Tut mir Leid“, seufzte ich schließlich und durchbrach damit das Schweigen. Er runzelte die Stirn. „Warum denn?“ Und ich zuckte die Achseln. Für alles halt. Ich wollte mich für das ganze Durcheinander entschuldigen, das ich verursacht hatte. „Du hast doch nichts Falsches gemacht“, meinte Kai. „Wenn ich keinen Bock gehabt hätte, hättest du es gemerkt.“ „Und…“, setzte ich langsam an, entschlossen, nicht länger um den heißen Brei herumzureden, „…wie sieht es jetzt aus? Hast du immer noch Bock? Auf mich?“ Wir schickten uns gegenseitig ein kurzes, verschwörerisches Grinsen zu, das eher meiner Wortwahl galt als etwas anderem. Doch dann wurde er schnell wieder ernst. „Also wenn ich ehrlich sein soll…“ „Ja?“, fragte ich schnell. „Gott, Hiromi, warte doch mal! Ich bin nicht gut in sowas, ich muss erst überlegen, wie ich das formulieren soll…“ „Hör mal, es ist mir scheißegal, wie du es formulierst. Mach es nur so, dass ich es verstehe.“ Ich war hitzig. Ich wollte es hinter mich bringen. Verdammt, das hier war so peinlich –für uns beide. „Okay, also –ganz ehrlich“, sagte Kai, „Als du damals mit Katsumi anfingst, dachte ich, du willst uns verarschen. Ich glaube, das haben wir alle gedacht. Wir haben erwartet, dass du dich eine Zeit lang austoben und dann wieder auf den Boden kommen würdest… Aber dann sind wir auch noch miteinander im Bett gelandet - “ Er machte eine kurze Pause und ich wagte es trotzdem nicht, ihn zu unterbrechen. „Danach bist du noch komischer geworden. Du bist mir immer aus dem Weg gegangen, hast ständig irgendwas Besseres vorgehabt, wenn wir uns bei Takao treffen wollten. Daran hab ich gemerkt, dass du diese Sache doch irgendwie ernst genommen hast. Und irgendwie wollte ich dann erst recht nicht weiter darauf eingehen; ich wollte nicht, dass du dir irgendwelche Hoffnungen machst und lieber abwarten, was passiert. Andererseits…“ Schon wieder eine Pause. Er fixierte angestrengt die Tapete über meinem Kopf und es war ihm anzumerken, dass er eigentlich nicht weitersprechen wollte. „…andererseits ging das mit Alyona dann auch fürchterlich schief. Die Details kennst du ja nicht einmal. Und deswegen… hab ich mich auch gefragt, wie es wäre…also…“ Ich befürchtete, er würde sich gleich die Zunge abbeißen, anstatt diesen Satz zu Ende zu führen. Dabei wollte ich ihn so gerne hören. „…wenn ich vielleicht doch auf dich eingehen würde.“ Ich glaube, wir atmeten beide erleichtert aus. „Aber dann hast du tatsächlich Katsumi abgeschleppt“, sagte er daraufhin und sah mir dabei endlich wieder in die Augen. „Das war scheiße. Aber so richtig.“ „Wegen Alyona“, schlussfolgerte ich. Kai nickte. „Aber du sagtest doch, es wäre so fürchterlich schief gegangen!“ „Jaah. Aber weißt du…bei uns geht es dauernd fürchterlich schief.“ Er klang beinahe etwas entrüstet über meine Anschuldigung. Rechtfertigte er sich etwa? „Alyona ist nunmal eine Frau, bei der du drüber nachdenken musst, ob du dich auf sie einlassen willst oder nicht. Wir streiten uns verdammt oft. Eigentlich streiten wir uns nur, wenn wir nicht gerade ficken. -Tut mir leid“, fügte er hinzu, als ich missbilligend den Mund verzog. „Wenn sie doch so schrecklich ist, warum machst du dann überhaupt mit ihr rum?“, fragte ich. „Du kannst mir jetzt übrigens nicht erzählen, dass das noch irgendwas mit alter, nie endender Liebe zu tun hat. Das glaube ich dir nämlich nicht.“ „Hat es auch nicht“, brummte Kai. „Oder hat sie dir das so erzählt? Klar, wir haben eine ziemlich…tiefgründige Vergangenheit, aber das ist nun wirklich vorbei. Ich hatte andere Gründe, warum ich mich auf sie eingelassen habe.“ „Und die wären?“ „Gott, liegt das nicht auf der Hand?“, entgegnete er, „Man sagt mir zwar nach, ich hätte die Gefühle eines Steins, und zu einem gewissen Grad stimmt das sicher auch – aber selbst ich möchte irgendwann nicht mehr alleine mit einer Katze in meiner Bude hocken und die Wand anstarren!“ Die Empörung, die bei diesen Worten an den Tag trat, war so ehrlich und untypisch für ihn, dass ich tatsächlich kurz auflachte. Sofort entschuldigte ich mich dafür. „Tut mir Leid, tut mir Leid, aber das kam so unerwartet.“ Es gelang mir, wieder ernst zu werden. „Gut, also warst du hin- und hergerissen zwischen Alyona und …?“ „Nicht wirklich“ Er hob die Schultern. „Als du anfingst, dich mir gegenüber zu benehmen, als würdest du was von mir wollen, bin ich zwar ins ernsthaftes Grübeln verfallen, aber letztendlich fand ich die Möglichkeit, etwas mit dir anzufangen, statt mit ihr, sogar ziemlich gut.“ Wow. Das traf mich zu einem gewissen Grade unvorbereitet. Ich konnte erstmal nichts sagen, die Worte mussten erst ankommen. Als es soweit war, wurde ich kurz sehr wütend auf ihn, weil er sich nichts, aber auch gar nichts, hatte anmerken lassen. Doch dann fiel mir ein, dass das wahrscheinlich an meiner übertriebenen Schwärmerei für Katsumi gelegen hatte. Schließlich hatte ich mich zu dieser Zeit besonders bemüht, diese in den Vordergrund zu rücken. Innerlich fasste ich mir an den Kopf. Ich war sinnbildlich auf dem direkten Weg an Kai vorbeigegangen, obwohl der die Arme schon halb ausgebreitet hatte. Nun, nachdem ich noch einmal reflektieren konnte, hatte ich endlich das Bedürfnis, ihm meine Situation zu schildern. Ich versuchte, ganz sachlich zu bleiben und erzählte, dass meine Gefühle für Katsumi echt waren, ich mir jedoch auch hatte eingestehen müssen, dass ich etwas für ihn empfand. Irgendwann fiel es mir leichter, alles in Worte zu kleiden. Ich konnte ihm alles sagen, er unterbrach mich kein einziges Mal, und ihm war auch nicht anzusehen, wie er über diese Dinge dachte. Trieb mich das sonst oft zur Weißglut, war ich jetzt sogar froh darüber, denn eine unerwartete Gefühlsregung hätte mich wohl sofort innehalten lassen. Und wer weiß, ob ich den Faden wieder hätte aufnehmen können. „Hm“, machte er, als ich zum Ende gekommen war. Typisch. Ich verdrehte die Augen. Kai sah mich nachdenklich an, sodass mir bald mulmig wurde und ich unruhig auf meinem Stuhl hin- und herzurutschen begann. Was sollte mir dieser Blick bloß sagen? „Was hältst du von einer offenen Beziehung?“, fragte er. Ich fiel aus allen Wolken. „Ich? Mit dir?“, hakte ich nach. „Also warte mal –hab ich das richtig verstanden? Du willst mit mir, naja, zusammen sein?“ „Ich rede von einer offenen Beziehung, das ist nicht unbedingt dasselbe, wie richtig zusammen zu sein. Du bist doch eigentlich alt genug, um das zu wissen. Wie weit bist du inzwischen mit Katsumi?“ „Katsu –hä?“ ich war noch immer nicht ganz klar, meine Gedanken schwirrten um das Wort „Beziehung“. Das war das letzte, was ich erwartet hätte. Ich hatte, ganz ehrlich, damit gerechnet, dass Kai und ich beschließen würden, unsere Freundschaft nicht aufs Spiel zu setzen und dass ich dann mit einem weinenden Augen die Finger von ihm lassen würde. „Wir…wir sind nicht zusammen. Wir daten uns, sozusagen“, antwortete ich schließlich dennoch. „Oh, gut. Also: ja oder nein?“ „Du meinst, zur offenen Beziehung?“ „Ja.“ „Oh, äh, jetzt sofort?“ „Ich kann dich auch zu Neujahr noch mal fragen“, brummte er sarkastisch. Nun fing ich an, ernsthaft über diese Möglichkeit nachzudenken. Mit seinem Angebot erlaubte Kai mir praktisch, mich weiter mit Katsumi zu treffen. Das hieß, dass ich mich letztendlich doch noch für ihn entscheiden konnte. Und in diesem Falle wäre eine Trennung weder für mich, noch für Kai besonders schmerzhaft, da wir ja eh nicht gänzlich zusammengehört hatten. So eine offene Beziehung war eigentlich so was wie…Freunde mit Extras. Und Freunde mit Extras bedeutete auch, dass die Freunde vielleicht blieben, wenn die Extras wegfielen. Zumindest im Idealfall. „Was ist, wenn unsere Freundschaft daran kaputt geht?“, fragte ich trotzdem, jedoch eher rethorisch. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber eigentlich hatte ich mich schon längst entschieden. In dem Moment, in dem Kai mir sein Angebot unterbreitet hatte, war es mit meiner Gefühlslage bergauf gegangen. Kai hob die Schultern. „Wer nicht wagt…“, setzte er an und ließ den Satz ins Leere laufen. Diese Antwort passte zu ihm. Ich kapitulierte. „Ja, gut, okay!“ Zum Zeichen meiner Aufgabe hob ich beide Hände. Irgendwie fühlte es sich an, als hätte ich einen langen Dauerlauf gemacht oder zwei Stunden Mathe hinter mir. Ich wollte nur noch, dass sich die Wogen endlich glätteten und wieder Frieden herrschte. Aber es war auch Freude dabei: Ich wollte immer ernsthafter wissen, wie es war, mit Kai so etwas wie eine Beziehung zu führen. „Lass es uns versuchen“, meinte ich. „Gut.“ Kai erhob sich, als hätte er nach einem langwierigen Meeting endlich einen Vertragsschluss erreicht und würde nun zum Mittagessen gehen wollen, und schlenderte auf die Tür zu. Ich konnte nicht anders auf diese plötzliche Bewegung reagieren, als ihm perplex dabei zuzusehen. „Hey, warte mal!“, rief ich, als er schon die Hand an der Klinke hatte, „Na das fängt ja gut an! Krieg ich nicht wenigstens ‘nen Kuss, so als…Besiegelung oder so?“ Er hob eine Augenbraue, hielt aber erst einmal inne. Also stand auch ich auf und ging zu ihm. So sicher ich meine Schritte setzte, so nervös wurde ich auch, je näher ich ihm kam. Kurz, bevor ich auf seiner Höhe war, streckte er den Arm aus, legte ihn mir um die Taille und zog mich zu sich heran. Er küsste mich kurz, aber intensiv. „Zufrieden?“, fragte er dann, woraufhin ich ihm einen kleinen Schlag gegen den Bauch verpasste. „Halt bloß die Klappe. Das wird noch spannend genug“, brummte ich. „Allerdings“, entgegnete er, bevor er meine Hand nahm und mich hinter sich her nach draußen zog. „Na das ging ja richtig fix!“, stellte Yuriy fest. Wir waren auf dem Heimweg; bevor wir wieder zu den anderen gestoßen waren, hatten sich unsere Hände wie von selbst gelöst. Wir hatten beide keine Lust, uns großartig erklären zu müssen. Erst jetzt, wo wir nur noch zu dritt den altbekannten Weg am Kanal entlangliefen, hatten wir Yuriys dezente Fragen beantwortet. „Wenn ich gewusst hätte, dass euch wirklich nur noch ein Arschtritt fehlt, hätte ich euch den schon längst gegeben.“ „Zatknis, Yuriy, du bist erst seit zwei Tagen hier“, sagte Kai. „Ja, und überleg mal, was in diesen zwei Tagen so alles passiert ist. Bleibst du heute bei Hiromi? Ich würd dann in deinem Bett pennen, das ist gemütlicher als diese komische Luftmatratze, die du da hast…“ „Alter, mach mal langsam“, wandte Kai ein, „Wieso sollte ich bei ihr bleiben?“ „Was?“, machte Yuriy gedehnt, „Gibt’s heute etwa keinen Versöhnungssex mehr?“ Kai wandte sich zu mir. „Willst du Versöhnungssex?“, fragte er. „Sag bloß ja, ich hab einen steifen Nacken von der blöden Matratze“, kommentierte Yuriy von der Seite. Ich seufzte. „Weißt du, mir ist egal, was wir heute Nacht noch machen“, sagte ich, „Aber du kannst gerne bei mir bleiben. Bevor Yuriy dir die ganze Zeit in den Ohren liegt.“ Kai nickte nur und begann, in seiner Tasche nach dem Schlüssel zu suchen, den er dann an Yuriy weitergab. Dem gab er auch gleich Instruktionen bezüglich Minerva, denn Madame hatte natürlich ihren ganz eigenen Zeitplan. Unsere Wege trennten sich schließlich an einer Kreuzung. Hier begann normalerweise Kais Umweg, also fühlte sich zuerst alles an, wie immer. Doch nachdem wir ein paar Minuten schweigend nebeneinander hergegangen waren, musste ich einfach nach seiner Hand greifen, und von da an war alles nur noch seltsam. Allein die Tatsache, dass wir uns länger als ein, zwei Sekunden an den Händen hielten und einen auf Pärchen machten, war erschreckend verwirrend, allerdings durchaus im positiven Sinne. Ich musste immer wieder hinsehen, weil ich immer noch nicht so recht fassen konnte, wie schnell das alles gegangen war. Heute Morgen hatte ich mir noch den Kopf über meine verzwickte Lage zerbrochen, jetzt war ich kopfüber hineingestürzt und ließ mich einfach mal treiben. Ich musste irgendwie den Verstand verloren haben: Soweit ich mich zurückerinnern konnte, hatte ich es immer verurteilt, wenn jemand zweigleisig gefahren war. „Alles okay?“, kam es plötzlich von Kai, der auf mich herabsah. „Jaa“, machte ich, „Es ist nur…“ Wir sahen beide auf unsere verschränkten Hände. „Komisch, nicht?“, stellte Kai fest. „Ich hatte auch noch nie was mit jemandem aus dem Freundeskreis.“ „Ja. Wann wollen wir es den anderen sagen?“, fragte ich, denn die Erwähnung unserer Freunde hatte mich wieder darauf gebracht. „Ich weiß nicht“, antwortete er leise. „Sollten wir es ihnen überhaupt erzählen? Immerhin hast du die ganze Sache bisher mit dir rumgetragen –und ich ja auch, irgendwie- und sie würden aus allen Wolken fallen, wenn sie davon erführen. Zumal alle der Meinung sind, dass du fest mit Katsumi zusammenkommen wirst und so eine zweischneidige Sache eher nicht gutheißen.“ „Ja, seh‘ ich auch so“, meinte ich und drückte seine Hand. Fast sofort wurde dieser Druck erwidert. Dennoch: Es würde schwer werden, den anderen etwas vorzumachen, besonders Rei und Mao, die doch am meisten mit uns beiden zu tun hatten. Es war vielleicht ganz gut, dass Yuriy Bescheid wusste und uns notfalls unter die Arme greifen konnte. Aber irgendwie war es auch Schade, dass ich mit Mao nicht darüber reden durfte. Wobei…ich konnte sie ja auch einfach beiseite nehmen, ihr die ganze Sache ruhig erklären und ihr eintrichtern, dass sie Stillschweigen zu bewahren hatte. So wie ich sie kannte, hielt sie sich bestimmt auch daran. Zuversichtlich rückte ich ein Stück näher zu Kai. Bald darauf kamen wir bei mir an. Alle Fenster waren dunkel, also schliefen meine Eltern schon. Konnte mir nur Recht sein. Sie bekamen sowieso kaum etwas von meinem Leben mit. Klar, wir redeten über alles, wenn wir zusammen aßen, aber inzwischen verliefen unsere Tagesabläufe so unterschiedlich, dass sich kaum ein Zeitpunkt finden ließ, an dem mal alle zu Hause waren. Auch von dem Besuch der Jungs neulich wussten sie noch nichts. Ich schloss auf und wies Kai an, leise zu sein. „Herrlich“, flüsterte er belustigt, „Ich komme mir vor, als wäre ich vierzehn und würde heimlich zu einem Mädchen gehen, das eigentlich noch gar keinen Männerbesuch haben darf…“ Ich brach in leises Kichern aus, was es mir erschwerte, die Schuhe auszuziehen. Ich schwankte, musste mich an Kais Schulter abfangen und kam gar nicht mehr aus dem Giggeln raus. Doch dann ging plötzlich die Küchentür auf. Meine Mutter stand dort, gekleidet in einen Morgenmantel und eine Tasse in der Hand. „Oh, hallo“, sagte sie, „Ich habe mich nur gewundert, mit wem du da tuschelst.“ Sie musterte Kai von oben bis unten. Ich kannte diesen Blick: Meine Mutter entschied gerade darüber, ob ich einen guten Fang gemacht hatte oder nicht. Sie war kein Bisschen prüde, im Gegenteil, manchmal wünschte ich mir, sie wäre etwas schüchterner oder so. Wenn es um Männer ging, nahm sie kein Blatt vor den Mund, und auch meinen Vater ließ sie zur Not wissen, dass er allein Dank ihrer unermesslichen Gnade ihr Gatte sein durfte. Ihre Augenbrauen hoben sich anerkennend, als Kai ohne zu zögern die Hand ausstreckte und sich vorstellte. „Ich kenne Sie doch“, sagte sie dann höflich, „Sie begleiten meine Tochter öfter hierher, richtig? Hab mich immer gewundert, dass Sie nie mit reingekommen sind. Ich dachte schon, Sie wären schwul oder so. Wäre schade“, schloss sie mit einem Zwinkern. Peinlich berührt setzte ich an, etwas zu sagen, doch Kai hielt mich davon ab, indem er kurz und ungezwungen auflachte. Ich atmete erleichtert aus. „Na dann, ihr zwei hübschen“, sagte meine Mutter, die sich schon in Richtung Schlafzimmer bewegte, „Ich wünsch euch eine gute Nacht…macht nicht mehr so lange…“ Dabei grinste sie mich noch einmal wissend an, dann verschwand sie in dem anderen Zimmer. „Oh je“, seufzte ich, „Tut mir Leid. Ja, sie ist immer so.“ „Macht doch nix. Sie ist nett.“ Kai machte eine auffordernde Kopfbewegung, damit ich vorausging. Zum zweiten Mal führte ich ihn in mein Zimmer, und wir ließen uns wieder nebeneinander auf meinem Bett nieder. Ich musste plötzlich gähnen, wobei mir auffiel, dass es letztendlich wirklich spät geworden war. Außerdem musste ich mir noch einmal eingestehen, dass es ein wirklich anstrengender Tag gewesen war. An dem, was heute so alles passiert war, würde ich noch eine Weile zu knabbern haben. Trotzdem mochte ich die Wärme, die Kai neben mir ausstrahlte. Ganz automatisch lehnte ich mich an ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter, die dafür genau die richtige Höhe hatte. Genüsslich schloss ich die Augen, und kurz darauf spürte ich, wie er schützend einen Arm um mich legte. Beinahe sofort wurde ich noch müder als zuvor und verfiel ins Dösen, bis Kai auf einmal sagte: „Wir sollten uns vielleicht doch hinlegen, wenn du hier schon fast einschläfst.“ Er bewegte sich, ich verlor den Halt an seiner Schulter und kippte nach hinten. Dennoch hielt ich meine Augen geschlossen; vielleicht konnte ich sie auch schon nicht mehr öffnen. Ich hob die Arme. „Hilf mir mal“, nuschelte ich und hörte ihn leise lachen, bevor seine Hände mich wieder hochzogen und er mir das Shirt über den Kopf zog. Während ich wieder umfiel, nestelte er schon an meiner Jeans herum, bevor ich auch von dieser befreit wurde. Das alles machte er so routiniert, dass ich mich fragte, ob er darin vielleicht schon Übung hatte. „Sag mal“, murmelte ich ins Kissen, „Wie oft hast du schon eine schlafende Frau ausgezogen?“ „Weißt du“, kam seine Stimme vom Ende des Bettes, „es gab da mal eine Zeit, in der wir uns sehr gerne betranken. Und zwei Mitglieder meines alten Teams hatten die dumme Angewohnheit, sofort einzuschlafen, wenn sie besoffen irgendwo zum Liegen kamen.“ Ich gluckste kurz und strampelte lustlos mit den Beinen die Decke weg, damit ich nicht mehr auf ihr lag. Als wäre das schon Kraftanstrengung genug gewesen, blieb ich dann wieder still und fühlte mich schwer wie ein Stein. Ich blinzelte träge und stellte fest, dass er das Licht ausgemacht hatte. Schon bemerkte ich, wie sich die Matratze neben mir absenkte, als er sich ebenfalls hinlegte und die Decke über uns zog. Ich drehte mich auf die Seite und schmiegte mich an ihn. Sein Geruch machte mich schläfrig; ich drückte die Nase in sein Shirt. Diese bloße Nähe vermittelte mir ein Gefühl von Sicherheit, sodass ich gar nicht auf die Idee kam, über Gott und die Welt nachzudenken, wie ich es sonst immer vor dem Einschlafen tat. Mein Kopf war leer und alle meine Sinne auf die kleinen Bewegungen seines Körpers fixiert, die mich auf eine ganz eigene Art und Weise zu hypnotisieren schienen. Ich verweilte auf der Ebene zwischen Wachen und Schlafen, unentschlossen, ob ich nun doch noch einmal zu reden anfangen oder einfach eindösen sollte. Doch dann hob ich den Kopf ein wenig. „Kai?“ „Hm?“ Gut, er war also noch wach. „Ich will mich noch ein Bisschen unterhalten“, sagte ich. „Typisch Frau: Kein Sex, dafür stundenlang reden.“ „Oh, willst du Sex? Können wir gerne vorher noch erledigen…“, ging ich darauf ein. „Dann kann ich aber nicht garantieren, dass ich danach noch lange ansprechbar bin. Außerdem ist es uncool, Sex zu planen. Ich werd einfach irgendwann über dich herfallen, okay?“ „Wenn’s dir Spaß macht…“, entgegnete ich. Dann herrschte auf einen Schlag wieder Funkstille, weil wir den Aufhänger verloren hatten. „Ich dachte, du wolltest dich unterhalten?“, fragte er nach einigen Augenblicken. „Hm, jaah…“ Ich überlegte. „Wir sollten wieder öfter zusammen Party machen. Also, wir alle. Wieder ins ‚Kittchen‘ oder so“, sagte ich dann. „Gute Idee. Takao meinte ja auch, dass Garland ihn gefragt hat, wo wir in letzter Zeit immer stecken.“ „Dann lass uns das einfach machen. Wird sicher toll; mal wieder ein richtiges Konzert, wo man ordentlich schwitzt und Atemnot bekommt…“ Bei dem Gedanken grinste ich in die Dunkelheit. „Du bekommst nie genug, was?“, fragte Kai. „Warst doch gerade erst.“ Ich winkte ab, was er natürlich kaum sehen konnte, also fügte ich hinzu: „Ach was, so ein Arenakonzert ist einfach nicht das Wahre. Klar, man kommt schon ins Schwitzen, aber eigentlich ist das viel zu sehr Massenabfertigung.“ Ich machte eine Pause, doch dann fiel mir noch ein Zusatz ein: „Und außerdem musst du dich gerade beschweren, du bist doch selbst dauernd auf irgendwelchen Shows von irgendwelchen Bands, deren Namen man nicht aussprechen kann.“ Das war eine Anspielung auf die vielen (ost-)europäischen Gruppen, die er sich immer ansah, wenn er wieder ein paar Wochen in Russland verbrachte. Er blieb dann meist nicht lange in Moskau, sondern nutzte die Gelegenheit, um auch den vielen Festivals einen Besuch abzustatten, die jährlich auf dem Kontinent stattfanden. „Erwischt“, gestand er schließlich. „Ich glaube, das ist irgendwie meine Droge. Musik, meine ich.“ Ich nickte. „Wie hat es bei dir angefangen?“, fragte ich, „Ich meine, was war dein musikalisches Schlüsselerlebnis?“ Darüber musste er nicht lange nachdenken, denn er antwortete rasch: „Das war kurz bevor ich Takao und die anderen kennenlernte. Damals…“ Das Wort verlor sich kurz, als müsste er darüber nachdenken, ob er diesen Satz wirklich vollenden sollte. Doch dann sprach er weiter: „Damals fing ich an, mich öfter mir meinem Großvater zu streiten. Bis dahin hatte ich eigentlich alles gemacht, was er von mir wollte, aber dann kam diese Zeit, in der ich aufmüpfig wurde. Ich bin dann im Internet auf Linkin Park gestoßen.“ „Ah ja“, kommentierte ich, denn ich wusste, dass Linkin Park für unsere Generation als „Einstiegsdroge“ galt. Bei mir war es nicht so gewesen, denn ich hatte erst später angefangen, auch härtere Musik zu hören. Eigentlich erst, als ich mich mit den Jungs anfreundete. „Das war total krass“, fuhr Kai inzwischen fort. „Ich meine, diese Musik war eine Offenbarung: Man hört diese Songs, und plötzlich wird einem klar, dass man eben doch nicht der einzige ist, der solche seltsamen Gefühle einem anderen Menschen gegenüber hat. Solche…niederen Gefühle, die man sich eigentlich selbst nicht eingestehen möchte. Und auf der anderen Seite, dass man doch nicht der einzige ist, der auf die einfachsten Dinge im Leben nicht mehr klar kommt und alles am liebsten hinschmeißen würde. So was…diese Verarbeitung von Hass, aber auch andere Sachen…so was gibt dir ‚normale‘ Musik irgendwann nicht mehr. –Naja, und mit Linkin Park kam dann der ganze Rest: Korn, System Of A Down, Papa Roach, Deftones…“ „Deftones“, wiederholte ich und Kai verstummte. „Ja“, sagte er schließlich. „Das war dann etwas später. So nach der zweiten WM. Zu der Zeit haben Alyona und ich uns kennengelernt.“ „Hm.“ Ich wartete darauf, dass er weitersprach. Als er keinen Widerstand von meiner Seite bemerkte, fuhr er fort: „Wir waren beide ganz schön kaputt, glaube ich. Diese ganze Geschichte mit Wyatt, und später mit Zeo, hat mich rückblickend ziemlich fertig gemacht. Ich weiß bis heute nicht, warum –vielleicht ist dabei irgendwas wieder hochgekommen, keine Ahnung. Und bei ihr war es so, dass ihre Familie gerade auseinandergefallen war. Der Vater hat gesoffen –das ist jetzt nichts Ungewöhnliches, aber schön ist es trotzdem nicht– und ihre Mutter hatte einen anderen, der hier in Japan einen Job hat. Und von einem Tag auf den nächsten hat die Mutter dann die Sachen gepackt und ist abgehauen. Wir haben uns praktisch über die Musik angefreundet: Ich weiß noch, dass ich bei ihr zum ersten Mal Placebo gehört habe. Und irgendwann haben wir uns zusammen ‚Queen of the Damned‘ angesehen.“ Erst jetzt machte er wieder eine Pause. Ich war mal wieder überrascht, wie viel er zu erzählen bereit war. Seit ich ihn kannte, war mir bewusst gewesen, dass es einige sehr deutliche Aufs und Abs in seinem Leben gegeben hatte. Von den früheren wusste ich nur durch Erzählungen der anderen, doch es hatte mir bis jetzt genügt. Ich hatte ihn nie ausgefragt, vielleicht, weil ich insgeheim doch befürchtete, dass es irgendwas in ihm wachrütteln und er erneut in irgendein Tief fallen könnte. Dabei war das Unsinn: inzwischen konnte man sicher sein, dass Kai diese Vergangenheit endgültig hinter sich gelassen hatte. Damals aber, nach der zweiten WM der Bladebreakers, hatte selbst ich bemerkt, wie er immer düsterer geworden war. Wir hatten ihn nur noch selten zu Gesicht bekommen. Ich hatte mir ewig viele Gedanken gemacht und auch die anderen ausgefragt; doch die erzählten mir nur das, was sie wussten, und dass Kais Verhalten im Vergleich zu dem, was sie von ihm kannten, sogar recht normal war. Und eines Tages war er dann wieder aufgetaucht. Und kam wieder öfter vorbei. Und schien irgendwie gelöster. Ob das an Alyona gelegen hatte? „Queen of the Damned?“, fragte ich. „Da war doch auf dem Soundtrack…“ „Jepp“, bestätigte er, „Das war unsere erste Begegnung mit den ‚Deftones‘. Alyona benutzt seitdem diesen Namen im Internet. Die Musik hat uns beide damals einfach umgehauen. Das war…wie eine verdammte Droge. Du hast die Musik angemacht und warst einfach weg, egal, was du gerade gemacht hast, dich konnte einfach keiner mehr erreichen. Das hat einfach alles um dich herum und vor allem das, was in dir war, ausgelöscht.“ „Das hört sich unheimlich an“, murmelte ich. „Glaub mir, es war das Beste, was mir in der Zeit passiert ist. Ich hab damals ganz schön viel Scheiße gemacht. Wahrscheinlich wäre es schlimmer gewesen, hätte es die ‚Deftones‘ nicht gegeben.“ Ich nickte und das Bettzeug raschelte unter meinem Kopf. Mehr konnte ich nicht machen. Ich musste erstmal alles, was Kai gerade erzählt hatte, sacken lassen. Nur langsam wurde mir klar, wie viel er mir gegenüber über sich preisgab. Ich verstand ihn ja eigentlich schon recht gut; meistens war ich diejenige, die die anderen beschwichtigte, wenn er wieder irgendetwas tat, was für sie vollkommen unverständlich war. Vielleicht lag das vor allem daran, dass ich mich einfach irgendwann an seine Art gewöhnt hatte, während besonders Takao noch immer von ihm zur Weißglut getrieben werden konnte. Jedoch gab es da diese Lücken -diese Dinge aus seinem Leben, über die wir einfach nichts wussten. Diese Zeiten, in denen er einfach verschwunden war. Natürlich kamen diese Lücken auch dadurch zustande, dass er in einem Internat gelebt hatte, doch das war bei Weitem nicht der einzige Grund. Ich merkte, wie Kai den Kopf drehte und mich von der Seite ansah. Unwillkürlich musste ich lächeln. „Weißt du, was das geilste Gefühl auf der Welt ist?“, flüsterte er, und sein Atem ließ mich erschauern. „Wenn du auf einem Konzert bist“, fuhr er fort, „Du bist nassgeschwitzt und kannst kaum noch stehen, und dann spielen sie ein Lied, das einfach alles für dich bedeutet. Du kannst nichts mehr sehen. Du kannst nichts mehr sagen. Aber du fühlst die Base Drum, du fühlst jeden verdammten Schlag in deinem ganzen Körper. Das ist es.“ „Ja“, bestätigte ich. Unter der Decke tastete ich nach seiner Hand und verschränkte meine Finger mit seinen. „Das ist es.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)